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Publicly Available Published by De Gruyter June 27, 2017

Müller, Claudia Agnes: Forschendes Theater. Chancen und Potential im Kontext von Spracherwerb, transkultureller Landeskunde und studentischer Performance. Berlin: Universitätsverlag der TU, 2015. – ISBN 978-3-7983-2740-5. 343 Seiten, € 12,00 [online: 978-3-7983-2741-2; https://depositonce.tu-berlin.de/]

  • Jens F. Heiderich EMAIL logo

Rezensierte Publikation:

Müller Claudia Agnes: Forschendes Theater. Chancen und Potential im Kontext von Spracherwerb, transkultureller Landeskunde und studentischer Performance. Berlin: Universitätsverlag der TU, 2015. – ISBN 978-3-7983-2740-5. 343 Seiten, € 12,00 [online: 978-3-7983-2741-2; https://depositonce.tu-berlin.de/ ]


Was tun mit einer deutlich über dreihundert Seiten umfassenden Studie, deren Titel einerseits lockt, Ungewöhnliches jenseits des Mainstreams verheißt, zur Projektionsfläche für das Spannungsfeld von avancierten Theaterprojekten und im Zeichen von Transkulturalität stehendem Spracherwerb gerät, deren Klappentext andererseits jedoch eine so abschreckende wie unprofessionelle Melange aus Wortwiederholungen („Breiter Raum wird Zeit und Raum auflösenden Verfahren eingeräumt [...],“ Herv. JFH), Interpunktions- und Grammatikfehlern sowie der Tendenz zu einem floskelhaften Sprachgebrauch und mangelnder Kohärenz bildet? Soll man sich tatsächlich dem zuwenden, was sich zwischen den Buchdeckeln befindet? Oder doch lieber das Rezensionsexemplar an den Verlag zurücksenden und die Herausgeber der Auswahlbibliographie von Info DaF benachrichtigen, man könne die Schrift aus terminlichen Gründen nicht besprechen, bitte um Verständnis und Entschuldigung? Da Letzteres unehrlich gewesen wäre und zugleich die Neugierde überwog, fiel die Entscheidung für Ersteres. – Und, so viel sei wertend vorweggenommen: Trotz einiger gravierender Mängel war es eine, zumindest für den Rezensenten, richtige Entscheidung.

Die Autorin leitet ihre Studie mit allgemeinen Bemerkungen zu forschender Kunst und insbesondere forschendem Theater sowie einem Ausblick darauf, was die Lesenden inhaltlich (nicht) erwarten können, ein. Als Annäherung an den eigentlichen Themengegenstand sind darüber hinaus die beiden folgenden Kapitel zu verstehen. Zunächst stellt Müller mit biographischem Theater und Psychodrama vergleichsweise traditionelle Wege theaterpädagogischer Inszenierungen in Grundzügen dar (Kapitel 2) und liefert mit dem „Erfahrungsbericht: forschender Ansatz im studentischen Theater“ (Kapitel 3) in plaudernd-subjektivem Ton einen weitschweifenden, mit irrelevanten Nebenschauplätzen (vgl. 38) versehenen Einblick, wie sie selbst zu forschendem Theater im Laufe ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit kam. Hier geraten konkrete, experimentelle Projekte unter studentischer Beteiligung in den Fokus, die u. a. an der Universität Novi Sad/Serbien durchgeführt wurden. Entwicklungslinien des forschenden Theaters werden hinsichtlich der Arbeiten von Jerzy Grotowski, Peter Brook, Augusto Boal (Theater der Unterdrückten) und Christoph Schlingensief in Kapitel 4 unter Anführung einzelner Theaterarbeiten nachgezeichnet und anschaulich illustriert. Als Zwischenfazit wäre unter einer vergleichenden Perspektive eine Zusammenfassung dessen, was die Entwicklungslinien im Kern jeweils ausmacht, wünschenswert. Auch wäre es – bei aller Schwierigkeit – von Interesse, den Versuch einer Definition in diesem Zusammenhang zu erhalten. Kapitel 5 widmet sich der Kontaktzone von Kunst und Wissenschaft. Es geht um Kon- und Divergenzen der beiden Sphären, Erkenntnisinteresse und -wege sowie Zielgruppen künstlerischer Forschung. Der Titel des letzten Unterkapitels dieses Abschnitts, „Experiment des Verschmelzens: der versuchsweise Einstieg in eine andere Persönlichkeit“, lockt, ähnlich wie der Titel der gesamten Studie, annonciert Ungewöhnliches, ruft den homo ludens in uns auf den Plan – und enttäuscht abermals. Im Kern wird hier nichts Außergewöhnliches beschrieben, im Gegenteil: Es geht um alltägliche Prozesse des Spielens unterschiedlicher (sozialer) Rollen (vgl. 111–113).

Kapitel 6 bildet den Hauptteil der Arbeit. Hier stellt die Autorin eine Vielzahl aktueller Projekte des forschenden Theaters aus dem deutschsprachigen Raum vor. Als Auswahlkriterium gibt sie fälschlicherweise „die mögliche Nutzbarmachung der künstlerischen Ideen für eigenständige Projekte eines studentischen Theaters“ (9) an. Dass es sich dabei, anders als behauptet, um kein Auswahlkriterium, sondern um ein mögliches Ziel handelt, lässt sie außer Acht. Tatsächliche, nachvollziehbare Kriterien sucht man vergebens.

(‚Nicht‘-)Ziel des Hauptteils umreißt Müller wie folgt: „Mir geht es weder um einen repräsentativen, nach Möglichkeit vollständigen Überblick, noch um eine theoretische Durchdringung postdramatischer Prinzipien. Ich möchte einen Impuls für die praktische Arbeit vermitteln. Ich möchte Neugier wecken und Quellen für eine gründlichere Recherche zur Verfügung stellen.“ (9). Damit dämpft sie die Erwartungen an eine wissenschaftliche Arbeit erheblich. Gleichwohl gelingt es ihr (so), ihr selbstgestecktes Ziel – und deutlich mehr (!) – zu erreichen. Der Umfang der Recherchen, die Vielschichtigkeit diverser Diskurse, die Findefreude der Autorin beeindrucken und gehen erwiesenermaßen über das Bereitstellen von Quellen und die bloße Impulsgabe hinaus. Bereits der weitgehend geglückte Versuch einer Systematisierung des umfangreichen Materials ist respektabel. Er spiegelt sich in der Gliederung des Hauptteils wider, der die folgenden Unterkapitel umfasst: (1) „Labor der Möglichkeiten: Körper kommunizieren“, (2) „Wanderung auf der Achse der Zeit: Zukunft und Erinnerung in der künstlerischen Forschung“, (3) „Realitätswerte für das Nichtreale“, (4) „Räume als Transformationsanordnung“, (5) „Textvorlage zwischen Wirklichkeit und Verdichtung (Literatur und künstlerische Forschung)“ sowie (6) „Alles ist Zeichen und Performance: Labor des Alltäglichen“. (Nahezu) ein jedes dieser Unterkapitel umfasst weitere. Durch diese sorgsame Struktur wird eine Orientierung im Text erleichtert.

In Anbetracht der Fülle an Material und Perspektiven ist es im Rahmen dieser Besprechung unmöglich, den Hauptteil in Gänze zu besprechen, wohl aber soll eine Auswahl Einblick in den Reichtum der Ausführungen geben. Der Unterabschnitt „Realitätswerte für das Nichtreale“ (vgl. 164–178) beschäftigt sich u. a. mit zwei Inszenierungen der letzten Jahre, die viel Aufmerksamkeit erfahren haben und im Zeichen des Ökonomiediskurses stehen: mit Andreas Veiels Das Himbeerreich (vgl. 164–167) und der Kinderbank aus Hamburg des Performancekollektivs Geheimagentur (vgl. 167–172). Das erstgenannte Projekt geht zurück auf 25 Einzelgespräche, die der Autor jeweils über mehrere Stunden mit Bankern zur Zeit der Occupy-Bewegung in Frankfurt führte. Um die in den rund 1500 Seiten umfassenden Gesprächsprotokollen enthaltenen und zum Teil hoch brisanten Informationen der Öffentlichkeit preisgeben zu können, ändert Veiel das Setting. Die Interviewanlage weicht einem Theatertext, der sechs Personen in den Mund gelegt wird. Müller dazu: „Das Theater gab in seiner Eigenschaft als quasi teilgeöffnete Laborsituation den Raum ab, der ein Sprechen überhaupt erst ermöglichte. Das Ziel der Banker – ein Maximum an – auch heiklen – Informationen freizugeben, bei einem Minimum an persönlicher Identifizierbarkeit – ließ sich gerade über das Medium Theater realisieren. Dennoch blieben die Schutzreflexe in Kraft: Jedes Interview musste autorisiert und freigegeben werden, keiner der Banker erschien zur Premiere.“ (165). Und weiter präzisiert sie im Hinblick auf die intendierte Wirkung dieses Theaterprojekts: „[...] jede Katharsis wird verweigert. Die theatertypische Klärung der Affekte bleibt aus. Das entspricht dem, was Veiel während der Forschungsarbeit erfahren musste: Unter den Bankern fehlt es weder an dem Bewusstsein, die Krise verursacht zu haben, noch an möglichen Szenarien für existenzgefährdende Folgen. Es fehlt jedoch an jeder noch so geringen Andeutung eines Paradigmenwechsels.“ (167). Müller gelingt es, auf wenigen Seiten nur, die Genese und Anlage des Theatertextes sowie überzeugende Lesarten zu präsentieren. Sie vermittelt Lust, sich näher mit dem Stück und seiner Inszenierung auseinanderzusetzen.

Zu den Ausführungen die Kinderbank betreffend: Müller ruft eingangs die zum Teil nur schmalen Grade zwischen Wissenschaft und Kunst in Erinnerung und ordnet die Inszenierungen des Performancekollektivs Geheimagentur in diesen Zusammenhang ein: „Die Arbeiten der Geheimagentur leben von der Energie der Wünsche. Über die gemeinsamen Wünsche bildet sich ein Kollektiv, das im Kontext der erfundenen Welt daran arbeitet, die Wünsche zu erfüllen. Da das Material, das zur Errichtung der erfundenen Welt benötigt wird, der realen Umgebung entstammt, kommt es zu Kontakt und Grenzüberschreitung und zum spontanen Erproben der Regeln der fiktionalen Realität in der Wirklichkeit. Darin besteht letztlich der Wissensgewinn der Forschung: Am Modell der Wunschwelt erfahren die Beteiligten, wie sie leben möchten.“ (168–169). In einem zweiten Schritt leitet die Autorin zum Ökonomiediskurs – konkreter zum Thema Geld – über, der hier, wie auch im Falle von Das Himbeerreich, grundlegend ist. Dabei gibt sie am Rande einen Einblick in die Werkgeschichte des Künstlerkollektivs (Asche zu Asche, 2003); im Zentrum steht jedoch das Projekt der Kinderbank, die ausgehend von dem Wunsch der beteiligten Kinder, einmal reich zu sein, entstanden ist. Das Forschungstheater Hamburg und Studierende der Hafen City Universität haben zusammen mit Schülerinnen und Schülern der Grundschule Richardstraße ein Abenteuergeld ins Leben gerufen, mit dem Kinder in an dem Projekt partizipierenden Geschäften einkaufen können, wobei die Kinder das Geld selbst entworfen haben. Müller profiliert anschaulich das Oszillieren dieses Projekts zwischen den Polen eines fachbezogenen Planspiels und künstlerischer Performance, schildert positive wie negative Reaktionen auf diese Anlage.

Neben den vorgestellten Beispielen rückt die Autorin eine Vielzahl weiterer Inszenierungen in den Blick, darunter weniger bekannte und von der einschlägigen Kritik kontrovers diskutierte (wie z. B. Arbeiten des lettischen Regisseurs Hermanis) ebenso wie Größen der deutschsprachigen Theaterlandschaft, wie das der Hochschule für angewandte Theaterwissenschaft in Gießen entstammende Autorenkollektiv Rimini Protokoll, dessen zentrale Verfahren von Dekontextualierung und neuer Rahmung an zahlreichen Projekten illustriert und in dem Fall von Remote Berlin um einen Einschub eines Teilnahmeprotokolls, verfasst von Charlotte Buchsbaum, bereichert werden. Auf diese wie auch auf andere Darstellungen kann nicht näher eingegangen werden, wohl aber ist deutlich zu betonen: Der Hauptteil weist die Autorin als große Kennerin der gegenwärtigen deutschsprachigen Theaterlandschaft aus. Es bereitet große Freude, an ihrer Seite Ausschnitte aus einzelnen Inszenierungen besuchen zu dürfen.

Das siebte Kapitel befasst sich mit Reenactment und kollektiven Rollenspielen. Damit stehen theaternahe Formen im Fokus, die mit vergleichbaren Verfahren wie das forschende Theater arbeiten. Warum die Autorin dieses Kapitel an dieser Stelle einfügt, wird nicht recht deutlich. Wäre es nicht eher vor dem Hauptteil anzusiedeln, zumal dieser z. T. ausdrücklich auf die besagten Verfahren rekurriert? Wäre es nicht sinnvoll, die Inhalte dieses Kapitels für eine Wesensbestimmung und einen Abgrenzungsversuch des forschenden Theaters gegenüber anderen Theaterformen nutzbar zu machen – und damit auch in der ‚räumlichen‘ Nähe der Kapitel zwei bis vier zu positionieren?

Das letzte Kapitel schließlich zeigt am Beispiel von „Wittenberge. Überleben im Umbruch“ auf, dass eine Umsetzung von forschendem Theater an der Universität möglich ist und, in diesem Fall, Studierende philologischer und kunstbezogener Fächer mit Wissenschaftlern aus den Bereichen Architektur, Stadtplanung, Geschichte, Soziologie, Ethnographie oder Ingenieurswissenschaften zusammenbringen kann. Mit diesem praxisnahen Ansatz schließt die Autorin ihre Ausführungen.

Eine abschließende Bewertung der Arbeit von Müller fällt schwer. Da sind zum einen gravierende Mängel: An der Grenze zum Inakzeptablen ist die Fehlerdichte in einigen Passagen, die neben den bereits einleitend erwähnten Kategorien z. B. auch Orthographie, Tempus, Treffsicherheit im Ausdruck, Absatzgestaltung und damit Leserführung umfasst. Es wäre müßig, die Monita im Einzelnen aufzuzählen, ein Beispiel soll hier genügen: „Dass dies so nicht zutrifft, beweisen die zeitgenössischen Projekte immer wieder, aber bereits Grotowski oder Brook arbeiten bereits mit dem Publikum, indem sie es immer wieder aktiv einbezogen.“ (7, Herv. JHF). Formal irritiert zudem die zwar umfangreiche, aber ungewöhnlich angelegte Bibliographie: Vornamen werden vor Nachnamen angeführt. Erstaunen auch darüber, dass z. B. der Kapiteltitel 5.7. im Inhaltsverzeichnis anders als im Fließtext ausgewiesen wird. Ein Register über die zahlreichen aufgerufenen Primärtexte und Inszenierungen vermisst man schmerzlich – das wiegt umso schwerer, wenn man sich das selbstgesteckte Ziel der Autorin, Quellen zu weiterer Recherche bereitzustellen, vor Augen führt. Hinsichtlich der Gedankenführung wären verschiedentlich kleinere Redundanzen zu vermeiden, Überleitungen zu schaffen, Verbindungen oder Gegensätze deutlicher zu konturieren. Inhaltlich – und hiermit sei auf den Untertitel der Studie verwiesen – sind der Autorin zwei große Vorwürfe zu machen: Erstens: Es fehlt an einer ausführlichen und argumentativen Anbindung des forschenden Theaters an Spracherwerbstheorien. Die Verbindung, die Müller zwischen beiden Bereichen zieht, wird allenfalls angedeutet, bleibt jedoch allzu assoziativ; eine wissenschaftliche Fundierung sucht man vergebens. Gleiches gilt für den im Untertitel aufgerufenen Begriff der transkulturellen Landeskunde. Weder Landeskunde noch Transkulturalität noch die Relation von Attribut und Bezugswort werden definiert noch erfolgt eine Diskussion des Transkulturalitätsbegriffs in Abgrenzung zum Interkulturalitätsbegriff, geschweige denn eine Begründung, warum die Autorin mit dem erstgenannten arbeitet. Und auch hier mangelt es an der ausdrücklichen Verbindung zwischen forschendem Theater und Landeskunde. Wie das besser geht bzw. überhaupt gehen kann, stellen Dawidowski, Hoffmann und Walter (2015) in ihrem Sammelband Interkulturalität und Transkulturalität in Drama, Theater und Film eindrücklich unter Beweis.

Auf der anderen Seite sprechen die interessanten und vielschichtigen Darstellungen im Hauptteil, deren Lektüre so sehr Freude zu bereiten vermögen, deutlich für die Arbeit von Müller. Hier ist die Autorin ganz in ihrem Element, hier erweist sie sich als Fachfrau und Kennerin eines häufig vollkommen unerforschten Feldes. Vergehen bis zur Publikation größerer Darstellungen zu Zusammenhängen der Gegenwartsliteratur nicht selten gut und gerne mal zehn Jahre, so gelingt es Müller, bis in die unmittelbare Publikationsgegenwart ihrer Studie Interpretationsansätze zu liefern, die hoch aktuell sind und zum Weiterdenken anregen. Aus den Quellen heraus erschließt sie eine terra ingognita, ermöglicht Teilhabe auch da, wo man nicht physisch vor Ort die jeweilige Inszenierung anschauen kann. Das ist das große Verdienst von Müller. Und ja, diese große Stärke der Arbeit sowie die Tatsache, dass ein genaueres Arbeiten zulasten der Aktualität gegangen wäre, können die Mängel zumindest teilweise kompensieren.

Literatur

Dawidowski, Christian; Hoffmann, Anna R.; Walter, Benjamin (Hrsg.) (2015): Interkulturalität und Transkulturalität in Drama, Theater und Film. Literaturwissenschaftliche und -didaktische Perspektiven. Frankfurt am Main: Lang (Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik, 28).10.3726/978-3-653-04180-4Search in Google Scholar

Online erschienen: 2017-6-27
Erschienen im Druck: 2017-6-8

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 28.3.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/infodaf-2017-0066/html
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