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BY-NC-ND 3.0 license Open Access Published by De Gruyter September 12, 2016

Liv Andresen. 2015. Persönlichkeitsspezifische Sprachvariation. Eine empirische Untersuchung zum Zusammenhang von Extraversion und Nähesprachlichkeit

  • Sylvia Bendel Larcher EMAIL logo

Rezensierte Publikation:

Andresen Liv 2015 Persönlichkeitsspezifische Sprachvariation. Eine empirische Untersuchung zum Zusammenhang von Extraversion und Nähesprachlichkeit (Germanistische Linguistik – Monographien 31) Hildesheim u. a. Georg Olms 177 S. + CD


Auf eine Untersuchung zum Zusammenhang von Gesprächsverhalten und Persönlichkeit hat die Gesprächsforschung lange gewartet. Die vorliegende Studie, die sich theoretisch und methodisch an der Psychologie orientiert, weist den Weg, vermag aber die Erwartungen nur teilweise zu erfüllen.

Das Forschungsdesiderat ist offensichtlich. Wie die Autorin im äusserst knapp gehaltenen Forschungsüberblick zur linguistischen Literatur darlegt, belegen Studien sowohl aus der Dialektologie als auch aus der Gesprächsforschung, dass sprachliche Individualität auf allen Ebenen existiert und durch soziologische und situative Variablen allein nicht erklärt werden kann. Mehrere Autoren vermuten, dass die Persönlichkeit das sprachliche Verhalten von Menschen beeinflusst, konnten das bislang aber nicht nachweisen. Hier hakt Liv Andresen ein. Mit ihrer Studie will sie überprüfen, ob der Wesenszug Extraversion mit ­bestimmten sprachlichen Verhaltensmerkmalen korreliert. Sie empfiehlt, zukünftig den Begriff Psycholekt zur Beschreibung persönlichkeitsspezifischer Varietäten zu verwenden (S. 22) – ein innovativer Vorschlag für die Soziolinguistik.

Von Seiten der Psychologie liegen viele Einzelergebnisse zum Zusammenhang von Extra- bzw. Introversion und sprachlichem Verhalten vor. Als weitgehend gesichert gilt, dass Extravertierte mehr reden, schneller sprechen, mehr Rückmeldungen geben, mehr Wörter mit hoher Gebrauchsfrequenz sowie mehr Wörter aus den Wortfeldern certainty, (positive) emotions und social processes benützen. Introvertierte machen demgegenüber mehr und längere Pausen, verwenden mehr Heckenausdrücke, Verzögerungssignale und mehr Wörter aus dem Wortfeld tentative. Einzelne Studien wiesen nach, dass Extravertierte lauter sprechen, häufiger das Gespräch eröffnen, eher dialogisch orientiert sind, die Themen eher oberflächlich behandeln und abrupt wechseln, während Introvertierte eher monologisch orientiert sind sowie Themen vertieft behandeln und graduell wechseln (S. 38ff.). Diese Erkenntnisse wurden allerdings vorwiegend an schriftlichen Texten und eher monologischen mündlichen Äusserungen gewonnen, was die Autorin neben der Heterogenität der Probandengruppen zu Recht kritisiert.

Andresen will die bestehenden Forschungslücken wie folgt schliessen: mit einem Korpus mündlicher, dialogischer Texte, einer homogenen Probandengruppe sowie der Fokussierung auf bislang nicht untersuchte sogenannte „pragmatische Wortarten“ (S. 45). Das Korpus besteht aus 15 Dialogen von 13 bis 29 Minuten Länge, die im elektronischen Anhang der Dissertation eingesehen werden können. Die Probandinnen sind 30 Studentinnen der Germanistik zwischen 19 und 29 Jahren, deren Extra­versionsgrad mittels eines Fragebogens gemäss dem NEO-Fünf-Faktoren-Inventar erhoben wurde (N = Neurotizismus, E = Extraversion, O = Offenheit). Je zehn der Pro­bandinnen gehören zur Gruppe der Extravertierten, Ambivertierten und Introvertier­ten. Danach mussten die Probandinnen eine Mission Survival Task lösen, das heisst in einem fiktiven Setting die Ausrüstungsliste für einen rettenden Marsch durch die kanadische Wildnis zusammenstellen. Die Dialoge wurden aufgenommen und vollständig transkribiert.

Entsprechend den Gepflogenheiten der experimentellen Psychologie erfolgt die Auswertung der Transkripte nicht in einem offenen Verfahren, sondern hypothesengeleitet. Zu diesem Zweck formuliert Andresen acht zu überprüfende Hypothesen, welche sie aus der bisherigen Forschung zu Sprache und Extraversion, den Charakteristika extra- und introvertierter Personen sowie aus der Beschreibung von Nähe- und Distanzsprachlichkeit nach Ágel & Hennig ableitet. Dabei lässt sie sich von der Annahme leiten, dass Extravertierte „häufiger prototypisch nähesprachliche Merkmale verwenden“ (S. 49). Diese Annahme erscheint trotz der mitgelieferten Erklärung etwas willkürlich.

Die ausführlich hergeleiteten Hypothesen lauten zusammengefasst (S. 76f.): Extravertierte verwenden häufiger als Introvertierte Gliederungspartikeln, Modalpartikeln, Interjektionen, prototypisch nähesprachliche Vagheitsausdrücke, umgangssprachlich markierte Varianten und inkludierende Personalpronomen, sie funktionalisieren die Lexeme weil, obwohl und wobei häufiger als Diskursmarker (das heisst mit Verbzweitstellung) und fahren im Falle von Simultanereignissen häufiger in der Rede fort als Introvertierte.

Es fällt auf, dass bei sechs Hypothesen Einzelwörter (vereinzelt auch Wortgruppen) untersucht werden. Eine Hypothese widmet sich einer syntaktischen Kategorie und nur die letzte einem genuin interaktiven Phänomen. Das ist recht erstaunlich, nachdem Andresen selber kritisiert hatte, die bisherige Forschung habe sich zu sehr auf Einzelwörter fokussiert (S. 34).

Auf immerhin 20 Seiten erläutert Andresen anhand von Beispielen aus dem Korpus, welche Wörter ausgezählt und welche von der statistischen Auswertung ausgeschlossen wurden. Homonyme mit anderen als den in Frage stehenden Funktionen wurden sorgfältig aussortiert, so zum Beispiel doch als Adverb anstatt als Modalpartikel (S. 89f.). Dabei geht die Autorin ausgesprochen restriktiv vor, sodass keine falschen Einträge die Auswertung verfälschen. Die ausführlichen Erläuterungen schaffen nicht nur Transparenz, sondern belegen eindrücklich, dass eine solche Studie nur mit einer händischen Annotation der Gesprächsdaten valide Ergebnisse liefert. Die Belege wurden für jede Probandin aufsummiert und in Relation zur Gesamtwortzahl gesetzt.

Die dergestalt erhobenen Daten wurden inferenzstatistisch ausgewertet, mit folgendem Ergebnis: Extravertierte fahren bei Simultanereignissen signifikant häufiger mit ihrem Beitrag fort, benützen weil, obwohl und wobei häufiger als Diskursmarker und gebrauchen weniger Vagheitsausdrücke als Introvertierte (p < .01). Sie verwenden signifikant häufiger Interjektionen, umgangssprachliche Varianten und Personalpronomina der 1. Person Plural (p < .05). Kein signifikanter linearer Zusammenhang ergab sich bei den Gliederungs- und Modalpartikeln. Somit können sechs von acht Hypothesen bestätigt werden.

Eine deskriptive Auswertung der Daten schlüsselt die Ergebnisse weiter auf, wobei einige Details besondere Aufmerksamkeit verdienen. So zeigt sich zum Beispiel, dass Extra- und Introvertierte andere Gliederungspartikeln bevorzugt verwenden. Bei Ersteren sind das Startsignale, Aufforderungssignale, Korrektursignale sowie Rückversicherungspartikeln, bei Letzteren Partikeln mit Bezug auf die eigene Äusserung sowie Rezeptionssignale (S. 120). Das gleiche Bild bietet sich beim Gebrauch der Modalpartikeln: Extravertierte bevorzugen ja, doch, auch und denn, die Introvertierten mal, eben, halt, schon und eigentlich (S. 122). Wie die Autorin im Diskussionskapitel erläutert, zeigt sich in diesen Präferenzen ein Hang zur Bestimmtheit und Dominanz bei den Extravertierten bzw. eine gewisse Unbestimmtheit und Zögerlichkeit bei den Introvertierten.

Eine weitere aufschlussreiche Beobachtung betrifft den Einsatz von umgangssprachlichen Varianten. Sie werden von Extravertierten gebraucht, um der imaginierten Situation die Brisanz zu nehmen (S. 142), von den Introvertierten hingegen, um eigene Einwände, Vorschläge oder Argumente abzuschwächen (S. 145). Es sind diese ins Detail gehenden, den interaktiven Kontext berücksichtigenden Beobachtungen, die den grössten Ertrag der Arbeit ausmachen und viel mehr als die schieren Zahlen die wesentlichen Unterschiede zwischen Intro- und Extravertierten erahnen lassen.

Hinter dem dünnen Büchlein steckt eine immense Transkribier-, Annotations- und Rechenarbeit, worüber der über 500-seitige Anhang Aufschluss gibt. So sorgfältig das Vorgehen der Autorin war, so sorgfältig wurde auch der Text erstellt, der durch seine schlichte, präzise und knappe Ausdrucksweise ebenso überzeugt wie durch die fehlerfreie Sprache. Für ihre aufwändige, interdisziplinär ausgerichtete Arbeit sei der Verfasserin voller Respekt gezollt. Trotzdem bleibt eine Leserin, die von der Seite der Gesprächsforschung kommt, nach der Lektüre einigermassen ratlos. Wären mit einer offeneren Herangehensweise dem phantastischen Korpus nicht ertragreichere Erkenntnisse abzugewinnen gewesen? Drei Fragen drängen sich auf:

Die erste Frage betrifft die Auswahl der ausgezählten Items. Sie ist weitgehend an grammatischen Kategorien orientiert und ausgesprochen restriktiv. Aber ist es sinnvoll, Emotionalität ausschliesslich anhand von Interjektionen zu messen? Es befremdet, wenn jede Interjektion unbesehen als Ausdruck von Emotionalität gewertet wird, gleichzeitig jedoch explizite Gefühlsäusserungen wie „ich bin da ganz optimistisch“ (S. 142) oder „ich würd erstma n heulkrampf kriegen“ (S. 143) nicht in die Auswertung eingehen. Bei den Diskursmarkern zeigt die Detailanalyse, dass Introvertierte ihren Einwänden eine Zustimmung und eine Pause vorausschicken (nach dem Muster „ja – aber“), während Extravertierte ihre Einwände nicht abmildern. Die vollzogenen Sprechakte (z. B. Selbstkorrektur vs. Fremdkorrektur, Einwand mit vs. ohne Hedging) wären an vielen Stellen die viel interessanteren Items gewesen als die ausgezählten Wörter oder Grammatikstrukturen.

Die zweite Frage betrifft die Interpretation der Ergebnisse. So sollen die Bestimmtheit ausdrückenden Modalpartikeln ja, auch, doch und denn der sozia­len Orientierung Extravertierter zuzuschreiben sein (S. 137) oder die vielen Vagheitsausdrücke den Introvertierten helfen, ihren Sprachfluss aufrechtzuerhalten (S. 141). Beides mutet eher seltsam an. Noch abwegiger ist die Einschätzung, Extra­vertierte würden „das Auftreten von Simultanereignissen besser tolerieren als Introvertierte, da es ihrem Bedürfnis nach Stimulation entgegenkommt“ (S. 152). Dass Extravertierte bei Simultanereignissen einfach weiterreden, ist vermutlich eher ihrer Dominanz zuzuschreiben. Dass Introvertierte sich vage ausdrücken und bei Simultanereignissen ihre Äußerung abbrechen, deutet weniger auf Unsicherheit und Sprachplanungsschwierigkeiten hin als vielmehr auf einen submissiven Gesprächsstil.

Daran schliesst sich die dritte Frage an: Ist die Grundannahme zutreffend, Extravertierte würden eher eine Sprache der Nähe verwenden? Die Resultate und deren Interpretation durch Andresen weisen in eine andere Richtung. Wenn Extravertierte häufiger in der Wir-Form sprechen, häufiger „äußerst bestimmt“ für ihren Gesprächspartner mitentscheiden (S. 148), bekräftigende Modalpartikeln verwenden, Widerspruch ohne Hedging anmelden (S. 151), sich umgangssprachlicher ausdrücken, weniger Vagheitsausdrücke verwenden und bei Simultanereignissen einfach weiterreden, so ist das keine Sprache der Nähe, sondern eine Sprache der Dominanz (vgl. Müller 1996, Thimm et al. 2001). Dies zu erkennen hat sich die Autorin mit ihrer Annahme zu Beginn der Untersuchung verbaut.

Ein Blick in einige Gesprächstranskripte zeigt, dass die Unterschiede zwischen Intro- und Extravertierten noch viel eklatanter sind, als die punktuellen Untersuchungen von Andresen erahnen lassen. Die beiden Gespräche unter Introvertierten (2, 3) werden durch eine offene Frage eingeleitet: „was machen wir jetzt?“ (2: Z. 3). Dann wird ausführlich diskutiert, ob man beim Flugzeug bleiben soll, ob man den Weg zur Blockhütte überhaupt findet, wie man eine Nachricht beim Flugzeug hinterlassen könnte, bevor einvernehmlich entschieden wird, dass man losläuft (2: Z. 132ff., 3: Z. 32ff.). Erst dann beginnt das Zusammenstellen der Ausrüstungsliste. Es folgen vorsichtige Verhandlungen über jeden einzelnen Gegenstand, wobei Vorschläge, was mitzunehmen oder dazulassen sei, grundsätzlich im Konjunktiv geäussert werden. Für jeden Gegenstand erfolgt eine separate Einigung. Thematische Abschweifungen oder Ironisierungen kommen nicht vor. Die Gespräche gehören zu den längsten vier des Korpus.

In den drei Gesprächen unter Extravertierten (13, 14, 15) gibt es keinerlei Präliminarien. Die ersten Entscheidungen, was mitgenommen wird, fallen in den Zeilen 4, 14 und 3 und werden teilweise sehr dezidiert vorgenommen: „also auf jeden fall brauchen wir ja ähm (–) lebensmittel […] und ich würd auch sagen dass (–) wir alle lebensmittel mitnehmen“ (13: Z. 4 + 6). Danach werden in rascher Folge Entscheidungen gefällt, wobei viele Entscheidungen einseitig getroffen werden. Alle sechs Probandinnen hüpfen sprunghaft von einem Thema zum andern und lassen teilweise Gesprächsbeiträge der Partnerin unbeantwortet. Einige der überstürzt gefällten Entscheidungen müssen später revidiert werden, was den Gesprächsverlauf noch chaotischer erscheinen lässt. Trotzdem sind die Gespräche wesentlich kürzer.

Zusätzlich fällt auf, dass die Extravertierten, ganz im Gegensatz zu den Introvertierten, dazu neigen, die bestmöglichen Vorannahmen zu treffen und Bedenken wegzuschieben: In der Blockhütte gibt es bestimmt Vorräte und Wasser (13: Z. 26–31), wir sind sportlich und können viel tragen (14: Z. 7 + 595), der Schlafsack ist bestimmt ein Hightechmodell (15: Z. 136), wir gehen „einfach“ davon aus, dass Sommer ist (15: Z. 680) und dass man Gefriergetrocknetes ohne Wasser essen kann (15: Z. 317). Schliesslich entwickeln die Extravertierten zum Spass auch absurde Szenarien, was sich bei den Introvertierten nicht findet. Sollte sich bei einer Reanalyse der Gespräche bestätigen, dass dieser Eindruck zutrifft und Extravertierte eher vorschnell agieren, ohne gegenseitige Abstimmung handeln und unüberlegte Entscheidungen fällen, während Introvertierte zwar langsam, aber umsichtig handeln und Entscheidungen erst nach vorsichtigen Verhandlungen und in gegenseitigem Einvernehmen fällen, so wären diese Resultate von eminenter Bedeutung für gesellschaftlich relevante Fragen wie Personalselektion oder Ausbildung von Führungskräften. So bleibt zu hoffen, dass Andresen ihr phantastisches Korpus mit einer offeneren Herangehensweise noch einmal gründlich unter die Lupe nimmt.

Literatur

Müller, Andreas Paul. 1996. Reden ist Chefsache. Linguistische Studien zu sprachlichen Formen sozialer Kontrolle in innerbetrieblichen Arbeitsbesprechungen (Studien zur deutschen Sprache 6). Tübingen: Gunter Narr.Search in Google Scholar

Thimm, Caja, Sabine Koch & Sabine Schey. 2001. Sprach- und Kommunikationsforschung inter­disziplinär: Ein methodischer Ansatz zur Analyse innerbetrieblicher Kommunikation. In: Helmut Gruber & Florian Menz (Hg.). Interdisziplinarität in der Angewandten Sprachwissenschaft. Methodenmenü oder Methodensalat? (Sprache im Kontext 10). Bern: Peter Lang, 189–206.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2016-9-12
Erschienen im Druck: 2016-12-1

© 2016, Sylvia Bendel Larcher, published by de Gruyter

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.

Downloaded on 29.3.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2016-0006/html
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