Rezensierte Publikation:
Robert Bernsee, Moralische Erneuerung. Korruption und bürokratische Reformen in Bayern und Preußen, 1780–1820. Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. für Universalgeschichte, Bd. 241. 2017 V&R unipress Göttingen, 978-3-525-10144-5, € 80,–
Das bemerkenswerte Buch von Bernsee setzt sich mit der Beziehung zwischen öffentlichen Debatten über Staat und Verwaltung einerseits und internen Reformplänen andererseits auseinander. Im Mittelpunkt der Analyse stehen mit Korruption und Bürokratisierung ein, wie er in der Zusammenfassung betonen wird, „Zwillingspaar der beginnenden Moderne“ (S. 382). Der Autor privilegiert in seiner Auseinandersetzung mit der ambivalenten Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen die Diskursebene, d. h. die Kommunikation über Korruption und deren Bekämpfung. Deshalb beginnt seine Studie mit einem Blick auf die öffentliche Korruptionsdebatte und deren wesentliche Akteure und fährt fort mit Überlegungen zur Bedeutung der dort formulierten Idealvorstellungen für die Reform von Staat und Verwaltung.
Der Begriff der „moralischen Erneuerung“, den der Autor in den Titel stellt, signalisiert die Weite seines analytischen Zugriffs auf Fragen von Korruption und bürokratischer Reform. Er untersucht die sich zur Sattelzeit verändernden Erwartungen an Staat und Verwaltung, die in Reformprojekten aufgegriffen wurden und zu einem Wandel des Korruptionsverständnisses führten. Korruption als analytischer Bezugspunkt in diesem Buch wird verstanden als „Missbrauch eines öffentlichen Amtes zum privaten Nutzen“. Das umfasst für Bernsee eine breite Palette von Handlungsweisen – von fürsten- und hofzentrierten Gemeinwohlvorstellungen und den damit verbundenen Zugriffen auf Ressourcen bis hin zu Fragen von Rekrutierung und Entlohnung von Beamten.
Seine Geschichte spielt in der Sattelzeit, ein Begriff, den er nicht einfach aus der Werkzeugkiste des Historikers übernimmt, sondern bewusst und reflektiert einsetzt. Seine Begründung für dessen Verwendung ist schlüssig. Er verweist auf die Konvergenz einer verstärkten öffentlichen Debatte über Staat und Verwaltung, die neue Vorstellungen von Gemeinwohl und Verwaltung etabliert hat, mit den Reformbestrebungen der europäischen Regenten. Bei der Frage nach der Beziehung zwischen öffentlicher Debatte und Reformprojekten kommt sein weit gefasstes Amtsverständnis erneut zum Tragen und erweist sich als brauchbares heuristisches Instrument. Damit kann er die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre im staatlichen bzw. fürstlichen Haushalt ebenso in seine Überlegungen einbeziehen wie die Neubestimmung des Treueverhältnisses von Beamten sowie deren Rekrutierung, Beförderung und Entlohnung.
Welche Rolle schreibt Bernsee der öffentlichen Debatte in seiner Analyse zu? Sie erscheint keinesfalls beschränkt auf die Rolle einer „Mitschrift“ (Kerstin Stüssel) von Korruptionspraktiken, was nicht zuletzt durch sein Verständnis von Korruption bedingt ist. Korruption sieht er von der Wahrnehmung der Zeitgenossen abhängig. Deshalb hatten die neuen Erwartungen an Staat und Verwaltung, wie sie in öffentlichen Debatten artikuliert wurden, eine strategische Bedeutung. Sie stellten aus seiner Sicht die Grundlage dafür bereit, traditionelle Herrschaftspraktiken als korrupt umzudeuten: „Das alte Herrschafts- und Verwaltungssystem galt quasi in toto als moralisch defizitär“ (S. 373).
Seine anspruchsvolle Fragestellung, die neben der öffentlichen Debatte und der Verwaltungsreform auch noch die praktische Umsetzung der neuen Normen umfasst, verfolgt er mit einem vergleichenden Untersuchungsdesign. Jede vergleichende Studie muss die Wahl der Vergleichsobjekte gut begründen. Bernsee hat sich dafür entschieden, Preußen und Bayern als Objekte seiner Analyse heranzuziehen. Er rechtfertigt seine Wahl mit dem Hinweis auf deren „herausragende Bedeutung“ für das Heilige Römische Reich, mit der Existenz von Verwaltungsreformen um 1800 und mit unterschiedlichen Lösungen von gemeinsamen Problemstellungen. Das ist plausibel, auch wenn das Argument gegen die Einbeziehung von Österreich auf die fehlenden Reformen zu dieser Zeit verweist, was angesichts der weit reichenden Umgestaltung der Verwaltung unter Joseph II. nicht zu überzeugen vermag.
Max Weber ist für Bernsee ein konzeptueller Ankerpunkt. Mit den Modellen der bürokratischen bzw. der patrimonialen Verwaltung stellt Weber das Raster bereit, mit dem Bernsee die Kritik am Staat des Ancién Regime und die Thesen der Reformer sortiert. Dadurch wird der Transformationsprozess und seine publizistische Mitschrift heruntergebrochen auf den Übergang vom Fürstendiener zum Staatsdiener, der entlang der Vektoren von Loyalität, Rekrutierung und Remuneration verfolgt wird. Das lässt, wie bei Max Weber selbst, den Prozess der Neugestaltung des öffentlichen Dienstes in seiner Komplexität nur rudimentär in den Blick treten. Bernsee ist sich dessen bewußt und widmet der Umsetzung der Reformen und dem Wandel der als korrupt stigmatisierten Praktiken ein eigenes Kapitel. Mit dem stärker praxeologisch gefärbten Blick eröffnet sich ein Befund, der sich mit dem Kategoriensystem Webers nur bedingt erfassen lässt. Wir sind dort nämlich konfrontiert mit dem Nebeneinander von Normen und darauf bezogenen Praxisformen, mit deren Amalgamierung bzw. Transposition, wie etwa durch die Ausbildung einer Gesinnungspatronage.
Die Analyse von Bernsee bleibt trotz der starken Orientierung an Weber offen für neue Perspektiven. Er verfolgt mit Geheimgesellschaften eine Spur, die für ein akteursbezogenes Verständnis der Verwaltungskritik relevant ist. Anregend sind seine Überlegungen zur Spiegelung des kritisierten Arkanbereichs des Fürsten im Arkanbereich dieser Gesellschaften. Die ausführlichen Exkurse über Geheimgesellschaften, in denen diese Argumentationslinie entwickelt wird, leisten nur bedingt einen Beitrag zum Verständnis von Korruption und Verwaltungsreform.
Das Buch von Bernsee ist insgesamt eine anregende Lektüre für alle, die sich mit politischer Kritik am Ancien Régime und deren Einfluss auf die Neugestaltung von Staat und Gesellschaft interessieren. Bernsee präsentiert sein Argument in einer klar strukturierten Form, wozu die kurzen Zusammenfassungen am Ende eines jeden Kapitels ihren Beitrag leisten. Man kann dem Buch nur viele Leserinnen und Leser wünschen.
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