Rezensierte Publikation:
Heiko Kleve / Tobias Köllner (Hrsg.), Soziologie der Unternehmerfamilie. Grundlagen, Entwicklungen, Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS 2019, 300 S., kt., 44,99 €
Heiko Kleve und Tobias Köllner, der erstgenannte ist Professor, der zweitgenannte wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Familienunternehmen an der Universität Witten/Herdecke, verantworten die Herausgabe eines Buches mit dem Titel „Soziologie der Unternehmerfamilie“. Neben den Herausgebern treten 14 weitere Verfasser als Autoren auf. Auch wenn nicht alle dieser AutorenInnen nominell der Soziologie zuzuordnen sind, ist es doch das ungeschminkte Bestreben des Sammelbandes, zu einer Soziologie der Thematik Unternehmerfamilie beizutragen. So deklarieren die Herausgeber es als eine zentrale Aufgabe des Buches, „die Wandlungsprozesse der Unternehmerfamilie soziologisch zu untersuchen und ihre gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit zu diskutieren“ (3).
Insgesamt gibt die Herausgabe Einblick in die Forschungen und den systemtheoretisch inspirierten Ansatz des Wittener Instituts für Familienforschung, das eine akademische Einrichtung ist. Das Buch als solches ist unter dem Gesichtspunkt der Fragestellung und einer Reihe von Thesen zwangsläufig interessant.
Unternehmerfamilien werden als „Familien eigener Art“ charakterisiert. In ihrem Doppelbezug, einmal ein emotional-reziproker sozialer Zusammenschluss auf Basis von Blutsverwandtschaft zu sein, wie es Familien gewöhnlich sind, und zum anderen auch Kernbestand einer rationalen Wirtschaftsorganisation mit spezifischen Kommunikationsformen, Entscheidungslogiken und professionellen Regeln, liegt die theoretische und empirische Herausforderung. Während in einem Unternehmen Personen prinzipiell weitgehend austauschbar sind, sind die sozialen Rollen, ihre Besetzungen, Erwartungen und Freiheitsgrade in der Familie gesetzt. Außerdem rekrutieren Familien sich nach dem Prinzip von Geburten, während Unternehmen Selektionsprozesse auf der Basis von Arbeitsmarktkriterien betreiben. Diese „Verdoppelung von Familie“, von der im Buch mehrfach die Rede ist, macht das Eigentümliche von Unternehmerfamilien und ihrer Soziologie aus.
Das Buch ist im Anschluss an ein Einführungskapitel in drei Hauptteile gegliedert, die etwas inhaltsleer mit „Grundlagen“, „Entwicklungslinien“ und „Perspektiven“ überschrieben sind. Der erste Beitrag unter „Grundlagen“ ist von Hans Bertram. Dieser Artikel beschäftigt sich in sozialhistorischer Fragestellung mit der Entwicklung des Kapitalismus seit dem 19. Jahrhundert und den Implikationen für die Institution Familie, den Haushalt, die Rolle von menschlicher Arbeitskraft und der größer werdenden Rolle von Wissen, der Neuformierung von Lebensverläufen und Fragen der Geschlechterteilung. Der Beitrag von Bertram wird in der Einleitung der Herausgeber lediglich kursorisch in einem Halbsatz angesprochen, während Bertram selber sich nirgends zur Frage des Globalthemas der Unternehmerfamilien positioniert, auch nicht andeutungsweise. Der folgende Beitrag von Désirée Waterstradt „Westliche (Unternehmens-)Familienmodelle im historischen Wandel“ holt historisch (noch) weiter aus, ist jedoch deutlich stärker um eine Anbindung an das Thema der Buchherausgabe bemüht.
Der dann folgende Artikel von Stefan Kühl „Familien und Organisationen“ argumentiert stark in Anlehnung an Luhmanns Systemtheorie über die Frage der Grenzziehungen von Familien und Organisationen. Schließlich ist es Isabell Stamm, Fabian Bernhard und Nicole Hameister vorbehalten, mit ihrem Beitrag empirische Befunde zu Unternehmerfamilien in Deutschland darzulegen. Die Verfasser stellen ihren Datensatz der „Panel Analysis of Intimate Relationships and Family Dynamics“ differenziert vor, porträtieren die Ergebnisse und verbinden diese mit konzeptuellen Überlegungen. Unter mehreren Ergebnissen fielen die höhere Arbeitszeitbelastung, keine feste Arbeitszeitregelung und deutlich höhere Arbeitszeiten von zu Hause auf. Der Artikel gehört zweifelsohne zu den Stärken des Buches.
Teil II des Buches beginnt mit dem Beitrag von Rudolf Wimmer und Fritz B. Simon, die grundlegende Paradoxien der Existenzform von Familienbetrieben und Unternehmerfamilien herausarbeiten und anfangs zwischen „essence based definitions“ und „components of involvement“ unterscheiden, um sich von der Begrifflichkeit der Alltagssprache abzugrenzen, wobei die Autoren sich bewusst für eine weitere Definition entscheiden.
Die weiteren Artikel von Gabriela Leiß und von Daniela Jäkel-Wurzer problematisieren Fragen der Identität von Familienunternehmen am Beispiel der Unternehmensnachfolge bzw. der weiblichen Nachfolge (Jäkel-Wurzer), während Elke Schröder sich mit den Sozialisations- und Erziehungsprozessen in Unternehmerfamilien auseinandersetzt.
Schließlich stellt der Teil III unter der Überschrift „Perspektiven“ eine Art Theoretisierung des Untersuchungsgegenstandes dar. In vier Kapiteln von Tom A. Rüsen, Arist von Schlippe und Heiko Kleve, von Heiko Kleve, Arist von Schlippe, Tom A. Rüsen, von Arist von Schlippe und Torsten Groth sowie im Abschlusskapitel von Heiko Kleve geht es um unterschiedliche, zumeist systemtheoretische Perspektiven auf Unternehmerfamilien und – in den ersten dort versammelten beiden Artikeln – auf dynastische Unternehmerfamilien.
Kleve resümiert schließlich: „Der Unternehmerfamilie kann trotz ihres anachronistischen Charakters des weitgehenden Zusammenfallens von Familie und Arbeit, der paradoxerweise zugleich hypermoderne Züge aufweist, eine dauerhafte Präsenz in der modernen Gesellschaft attestiert werden. Diese Präsenz ist umso erstaunlicher, je genauer die hybriden Interaktionen in diesen Familien sowie die Kombination aus Familien- und Organisationslogik in den Blick genommen werden“ (297).
Das Buch ist zweifelsohne interessant und wichtig, weil eine Soziologie der Thematik ein Stiefkind in der Diskussion zu sein scheint. In der Industrie- und Betriebssoziologie deutscher Prägung wurden die verhandelten Fragen im Gegensatz zu mancher Art anglo-amerikanischer Organisationssoziologie zu lange entweder komplett ignoriert oder nur sehr zögerlich rezipiert. Das Buch wirft aber gleichzeitig auch einige Fragen auf:
Die meisten Beiträge unter der Etikette von Soziologie beziehen sich auf ein systemtheoretisches Verständnis. Die Luhmannsche Idee von Weltgesellschaft wird hier akademisch nicht realisiert bzw. umgesetzt, zu eng ist das ganze Unterfangen auf einen relativ engen Kosmos von Zitationen und Rezeptionen begrenzt. Die weltweit florierende Literatur zur Entrepreneurship-Forschung kennt diverse Beiträge zum Gegenstand des Buches, die nicht systematisch aufgearbeitet (und ausgewertet) sind. Es fehlt auch ein interdisziplinärer und systematischer Literaturreview zur Familienforschung in dutzenden internationalen Topjournals. Beschränken wir uns auf Familienunternehmen, fallen zunächst nur – unter wesentlich mehr Zeitschriften – die SSCI-Journals Family Business Review (IF 3.824), Journal of Family Business Strategy (IF 2.605) oder Journal of Family and Economic Issues (IF 0.924) auf, die zahlreiche Jahrgänge mit diversen Beiträgen haben. Es gibt keine systematischen Bezugspunkte zu diesen Diskussionsforen, weil es auch kein Bestreben um eine systematische Literaturrecherche des vorliegenden Publikationsstandes gibt. In den Kapiteln über Unternehmensdynastien hätte man beispielsweise einen Bezug auf das Buch des Historikers David S. Landes „Dynasties: Fortunes and Misfortunes of the World's Great Family Businesses“ (Landes, 2006) erwarten können, der aber unerwähnt bleibt.
Eine Bezugnahme auf die oben erwähnten internationalen Referenzen bleibt in diesem Buch aus, wäre allerdings häufig wünschenswert. Auch die Reduzierung von Soziologie auf Systemtheorie, die in einigen Überlegungen im Buch gelegentlich nur in einer metaphorischen Art verstanden wird, ist eine spezifische Engführung. Das Junktim von Wirtschaft und Gesellschaft, wie es zunächst von Marx und später von Max Weber eindrucksvoll inszeniert worden war, findet heute in diversen Anwendungen von „Social Embeddedness of Institutions and Economic Behaviour“ bei Karl Polanyi, Mark Granovetter und Richard Swedberg deutliche Anknüpfungspunkte, die für eine „Soziologie der Unternehmerfamilie“ und deren soziologische Orchestrierung so bedeutsam sind. Gerade Familienunternehmen an der Schnittstelle von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur wären hier eine wunderbare Herausforderung für die Diskussion.
Last but not least, das Thema der Unternehmerfamilie, gerade wenn das Credo einer Soziologie der Unternehmerfamilie ausgegeben wird, provoziert natürlich auch Fragen nach ethnischen Diversitäten und Familienkohäsionen. Das Florieren zahlreicher migrantischer Unternehmen in Ländern Europas und in Nordamerika lässt sich ohne das Verstehen der Besonderheiten und der sozialen Netzwerke sowie der Kohäsion von Familien in einer transnationalen Existenz nicht adäquat verstehen. Obwohl es hierzu ausufernde Literatur gibt, finden sich im Buch weder ein eigener Beitrag noch andere integrierende Gedanken. Zur Thematik von Familienunternehmen und Unternehmerfamilien gehören schließlich vermutlich auch die in der Kriminalistik immer stärker diskutierten Familienclans, die häufig unternehmerisch tätig sind und nicht selten zwischen Legalität und Illegalität oszillieren.
Überhaupt plagen die meisten Artikel sich mit dem Problem einer Definition des Gegenstandes der Unternehmerfamilie. Offensichtlich reicht die Interpretation von den größten Einheiten im Sinne von Dynastien über sogenannte mittelständische (Familien-)Unternehmen bis hin zu den kleinsten Einheiten wie Mikro-Firmen und One-(Wo-)Man-Unternehmen. Während in Europa auf der Ebene der EU etwa 73 Prozent aller beruflich Selbständigen ohne weitere angestellte Beschäftigte in ihren Unternehmungen tätig sind (EUROSTAT), sind es in Deutschland immerhin noch 55 Prozent. Viele dieser Betriebe im Handwerk, im Gaststättengewerbe, im Tourismus, aber auch im Handel und Verkehr, in der Landwirtschaft und vor allem bei den Freiberuflern sind Familienbetriebe. Bäuerliche Betriebe werden geradezu als Synonyme für Familienbetriebe angesehen, häufig mit geschlechterspezifischen Arbeitsteilungen zwischen Produktion, Vertrieb, Buchhaltung, Küche und Kinderaufsicht.
Diese enorme Spannbreite unterschiedlicher wirtschaftlicher und sozialer Existenzen findet in dem Buch keine oder zumindest nur kaum Erwähnung. Vielmehr ist zwischen den Zeilen immer die Idee versteckt, es gäbe einen Durchschnittstypus von Unternehmerfamilie, aber es ist gewissermaßen entgegen vielen Menetekeln am Anfang des 20. Jahrhunderts das Los des modernen Kapitalismus geworden und geblieben, dass die Wirtschaft geprägt wird von einer überragenden Vielzahl von Kleinst-, kleinen und mittelgroßen Unternehmen, die immer ohne den Einsatz von Familienmitgliedern nicht denkbar wären. Das (soziologisch) zu erklären, ist und bleibt eine der Hauptaufgaben entsprechender Forschungen. Gerade die Soziologie kann hier wichtiges Terrain gewinnen, vor allem auch, wenn sie historisch und international-vergleichend denkt und fragt. Bei allen unbestreitbaren Stärken, die das Buch zeigt, wird letztlich auch die Komplexität soziologischer Amplifikationen deutlich. Ein adäquates Verständnis von Unternehmertum und Familienstrukturen aus der Sicht der Soziologie reicht über eine vage interpretierte systemtheoretische Perspektive hinaus.
Literatur
Landes, D. Dynasties. Fortunes and Misfortunes in the World´s Great Family Businesses; Penguin Books: London, 2006.Search in Google Scholar
© 2020 Dieter Bögenhold, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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