Abstract
Die frühen 1970er Jahren waren eine Zeit intensiver Arbeitskämpfe. Auch in der traditionell sozialpartnerschaftlichen Chemieindustrie rief die Gewerkschaft Chemie – Papier – Keramik zum ersten und einzigen Flächenstreik in dieser Branche auf. Sebastian Voigt zeichnet seine Entstehung, den Verlauf und den Ausgang nach. Am Beispiel der besonders heftig geführten Auseinandersetzung bei Merck in Darmstadt beleuchtet er anhand eines Schlüsseldokuments aus dem Nachlass des Darmstädter Gewerkschaftsfunktionärs Heinz-Günter Lang die unterschiedlichen Konfliktebenen und die innergewerkschaftliche Konstellation. In abschließenden Thesen plädiert Voigt dafür, den Gewerkschaften und den Arbeitskämpfen einen zentralen Ort in der Geschichte der Bundesrepublik und des „Rheinischen Kapitalismus“ einzuräumen.
Abstract
The early 1970s were a time of intensive industrial action. Even in the traditionally social partnership orientated chemical industry, the Chemie – Papier – Keramik union called for the first and so far only comprehensive strike in this industry. Sebastian Voigt recounts its origin, course and results. Using the example of the especially fiercely conducted confrontation at Merck in Darmstadt, he sheds light on the different levels of the conflict and the intra-union constellations by using a key document from the papers of Darmstadt union functionary Heinz-Günter Lang. In his conclusions, Voigt advocates affording the trade unions and industrial conflicts a central place in the history of the Federal Republic of Germany and “Rhenian Capitalism”.
Vorspann
Schwere Arbeitskämpfe mit massiven Streiks und Aussperrungen sind in der Bundesrepublik vergleichsweise selten, und wenn es doch dazu kommt, werden sie nach strengen Regeln und in klaren Schlachtordnungen ausgefochten – auf der einen Seite die Arbeitgeber, auf der anderen Seite die im Deutschen Gewerkschaftsbund organisierten Industriegewerkschaften. Dass die Realität der industriellen Beziehungen in der Bundesrepublik weitaus komplexer war, zeigt Sebastian Voigt an einem prominenten Fallbeispiel auf. Er spürt anhand des Streiks, der 1971 die chemische Industrie Westdeutschlands lahmzulegen drohte, den Bruchlinien im sozialpartnerschaftlichen Gefüge des „rheinischen Kapitalismus“ nach und wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf vergessene innergewerkschaftliche Konflikte und blockierte Entwicklungsalternativen.
I. Die Vertrauensleuteversammlung
Am 4. Juli 1971 versammelten sich Vertrauensleute der Industriegewerkschaft Chemie – Papier – Keramik (IG Chemie) in einer Turnhalle in Bessungen, einem Stadtteil von Darmstadt. Insgesamt nahmen etwas über einhundert Personen teil, darunter einige Mitglieder linker Gruppierungen der örtlichen Hochschule.[1] Einen Tag zuvor hatten die Gewerkschaft und der Arbeitgeberverband der chemischen Industrie in Bonn ein Abkommen ausgehandelt, um den bislang einzigen Flächenstreik in der westdeutschen Chemieindustrie beizulegen.
Die Tarifpartner hatten sich unter Vermittlung von Georg Paul Wannagat,[2] dem Präsidenten des Bundessozialgerichts, auf eine Lohn- und Gehaltserhöhung von 7,8 Prozent, eine Einmalzahlung sowie die stufenweise Einführung des 13. Monatseinkommens verständigt. Ferner hatten die Arbeitgeber darauf verzichtet, Schadenersatzansprüche gegen die Gewerkschaft zu erheben oder Arbeitnehmer zu maßregeln, die sich am Streik beteiligt hatten.[3]
Das Abkommen musste noch von den zuständigen Gremien gebilligt werden, traf aber keineswegs bei allen Mitgliedern und gewerkschaftlichen Vertrauensleuten auf Zustimmung, die in der IG Chemie eine einflussreiche Stellung innehatten. Gerade bei Merck in Darmstadt waren die gewerkschaftlichen Vertrauensleute zusammen mit dem Leiter der örtlichen Verwaltungsstelle, Heinz-Günter (HG) Lang, besonders kritisch gewesen und hatten eine konfrontative Strategie befürwortet. Entsprechend erbittert war der Arbeitskampf dort geführt worden. Als Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstands der IG Chemie wohnte Hermann Rappe der Versammlung bei, um das ausgehandelte Ergebnis zu erläutern.
Geboren 1929 in Hannoversch Münden, war Rappe bereits 1946 der Sozialistischen Jugend Deutschlands ‒ Die Falken und der Arbeiterwohlfahrt beigetreten. Im Jahr darauf wurde er Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV). Nach einer Lehre und einer zweijährigen Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter wechselte er 1953 als hauptamtlicher Mitarbeiter zur IG Chemie nach Hannover. 1966 wurde er schließlich in den Hauptvorstand gewählt, wo er die Abteilung Jugend, Schule, Bildung leitete. Ab 1978 hatte er auch das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden inne, bevor er 1982 zum Vorsitzenden gewählt wurde. Diese Position bekleidete Rappe bis 1995. Außerdem saß er von 1972 bis 1998 als direkt gewählter Abgeordneter (Wahlkreis Hildesheim) für die SPD im Bundestag.[4]
Rappe gilt heutzutage als Vertreter einer dezidiert sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftspolitik und entschiedener Antikommunist.[5] 1971 jedoch – zum Zeitpunkt des Streiks – gehörte er eher zum linken Flügel im geschäftsführenden Hauptvorstand der IG Chemie. Auch deshalb war gerade er zur Darmstädter Versammlung geschickt worden, wo ihn keine leichte Aufgabe erwartete. Die Atmosphäre war angespannt, die Stimmung aggressiv. Buh-Rufe und Beleidigungen unterbrachen seine Ausführungen immer wieder, bis er schließlich gar nicht mehr weiterreden wollte. Rappe befand sich während des gesamten Treffens in der Defensive. Zwar traten inhaltliche Differenzen zwischen hauptamtlichen Funktionären und Vertrauensleuten häufiger auf, jedoch waren derart heftige Anfeindungen im Kollegium ungewöhnlich.
Das hier präsentierte Dokument – die Tonbandabschrift der turbulenten Vertrauensleuteversammlung – ist aber nicht nur deswegen eine Rarität, sondern auch weil solche Zusammenkünfte in der Regel nicht ausführlich protokolliert wurden. Folglich stuften bereits Zeitgenossen die Versammlung als überlieferungswürdig ein. Das Original befindet sich im Nachlass von HG Lang, der die Versammlung moderierte. Er war nicht nur der örtliche Verwaltungsstellenleiter der IG Chemie, sondern übte beim Streik als Organisator eine wichtige Funktion aus.
Der Arbeitskampf bei Merck markiert ein lokal- und gewerkschaftsgeschichtlich bedeutendes Ereignis und eignet sich zugleich als Sonde, um grundlegende Elemente des bundesdeutschen Systems der Sozialpartnerschaft und die Stellung einer großen Industriegewerkschaft darin auf den Prüfstand zu stellen. Am Beispiel des Streiks lässt sich, mit anderen Worten, die Verfasstheit der industriellen Beziehungen im „rheinischen Kapitalismus“ Anfang der 1970er Jahre wie in einem Brennglas untersuchen.[6]
Das für die Bundesrepublik spezifische System der dualen Interessensvertretung basiert auf den beiden Säulen Betriebsverfassung und Tarifautonomie.[7] Die jeweiligen Akteure, also Management und Betriebsrat einerseits sowie Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften andererseits, regeln ihre Interessendivergenzen autonom, aber in einem rechtlich-institutionellen Rahmen.[8] Die Tarifpartner handeln vertraglich Löhne und Arbeitszeiten für ihre Branchen aus. Darüber hinaus können Unternehmensleitungen und Betriebsräte Vereinbarungen für einzelne Betriebe abschließen, die über die Flächentarifverträge hinausgehen.
Alle betrieblichen Akteure sind gesetzlich dem Unternehmenswohl verpflichtet. Den Verhandlungspartnern stehen im Rahmen der Tarifautonomie hingegen Mittel für einen Arbeitskampf zur Verfügung: Streiks für Gewerkschaften und Aussperrungen für Arbeitgeber. Als Organisationen der Interessenvertretung und zugleich Tarifpartner im Regelwerk der industriellen Beziehungen geraten Gewerkschaften notwendigerweise in Widersprüche. Ihre gesellschaftspolitische Rolle lässt sich somit als „Konfliktpartnerschaft“ definieren.[9]
In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren folgten mehrere Arbeitskämpfe nicht dem vorgesehenen institutionellen Ablauf. Auch der Chemiestreik 1971 begann aufgrund einer spezifischen Satzungsbestimmung ohne vorherige Urabstimmung der Mitglieder. Generell können Gewerkschaften in der Bundesrepublik einen rechtmäßigen Streik erst verkünden, wenn die bisherigen Tarifverträge keine Geltung mehr besitzen, also ausgelaufen oder gekündigt worden sind. Die in einem Arbeitskampf verfolgten Ziele müssen stets funktional auf die Tarifautonomie bezogen bleiben, das heißt eine tarifvertragliche Verbesserung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen anstreben.[10] Aufgrund dieses klar festgelegten rechtlichen Handlungsrahmens eignen sich die konfrontativ ablaufenden Arbeitskämpfe besonders, um einen Blick auf die Kernaspekte des „rheinischen Kapitalismus“ zu Beginn der 1970er Jahre zu werfen.
Ein Streik als kollektiver Protest stellt für alle Beteiligten ein Moment verdichteter Erfahrung dar, das den üblichen Betriebsalltag durcheinanderwirbelt. Die betrieblichen Hierarchien werden durchbrochen, Machtverhältnisse temporär neu austariert. In solchen Konfliktsituationen offenbaren sich bestehende Differenzen zwischen Lohnabhängigen und Arbeitgebern, zwischen Gewerkschaft und Betriebsrat, aber auch innerverbandliche Konflikte in seltener Klarheit.[11] Diese Erfahrung brachte Ludwig Kaufmann, betrieblicher Streikleiter bei Merck, in der Vertrauensleuteversammlung auf den Punkt: „Kolleginnen und Kollegen, auch wenn dieser Streik nicht eine Mark mehr gebracht hätte, dann möchte ich ihn nicht missen. [...] Dieser Streik war für mich persönlich so wertvoll, weil ich da einmal endlich unterscheiden konnte, wer sind eigentlich diejenigen, die zu uns stehen, und wer sind diejenigen, die gegen uns sind.“[12]
II. Die Vorgeschichte des Streiks
Der erste konjunkturelle Einbruch seit Gründung der Bundesrepublik war 1966/67 nicht zuletzt deshalb rasch überwunden worden, weil die Gewerkschaften sich mit Lohnforderungen bewusst zurückgehalten hatten. Von der bald wieder erstarkten Konjunktur profitierten die Arbeitnehmer deswegen zunächst kaum. Entsprechend groß war der Unmut, der sich schließlich im September 1969 in „wilden Streiks“ Bahn brach.[13] Auch Beschäftigte in über 40 Betrieben der chemischen Industrie legten die Arbeit nieder. Die IG Chemie hatte diese Maßnahmen weder geplant noch durchgeführt, war aber gezwungen, darauf zu reagieren.[14]
Unorganisierte Arbeitskämpfe jenseits des gesetzlich festgelegten Ablaufs und des gewerkschaftlichen Streikmonopols waren in der Bundesrepublik bis dato nahezu unbekannt. Dies galt umso mehr für die chemische Industrie, die sich traditionell durch eine sozialpartnerschaftliche Struktur, ein betriebliches Gratifikationssystem und eine damit einhergehende starke Firmenbindung der Mitarbeiter auszeichnete. Diese Spezifika reichen ins 19. Jahrhundert zurück und kennzeichnen bis heute die Branche, in der traditionell wenige Großunternehmen dominieren. Nach der Zerschlagung der Interessengemeinschaft Farbindustrie AG – kurz I. G. Farben ‒ 1952 durch die Alliierten fiel der Bayer AG in Leverkusen, der Badischen Anilin- & Soda-Fabrik (BASF) in Ludwigshafen und den Farbwerken Hoechst in Frankfurt am Main diese Rolle zu.[15] Wegen dieser Ausgangslage hatte die IG Chemie massive Schwierigkeiten, die Beschäftigten in Großunternehmen zu organisieren. Während die Firmen die Gewerkschaft zunächst recht erfolgreich draußen hielten, entwickelten sich die Betriebsräte zu Institutionen des Co-Managements. Die strukturelle Differenz und gelegentliche Opposition zwischen Gewerkschaft und Betriebsrat in Chemieunternehmen zeigte sich im Streik 1971 in aller Deutlichkeit.
Bereits 1952 hatte das Betriebsverfassungsgesetz die Trennung von Betriebsrat und Gewerkschaft rechtlich verankert.[16] Die Vertretung der Belegschaftsinteressen oblag ausschließlich dem Betriebsrat, während die Gewerkschaft aus dem Unternehmensalltag ausgeschlossen bleiben sollte. Auch deshalb erreichte die IG Chemie bei den Betriebsratswahlen in Großunternehmen meist nur eine knappe Mehrheit und war mit oppositionellen Listen konfrontiert. Aufgrund der Dominanz der Großbetriebe erlangten die Betriebsratsvorsitzenden – oft als Betriebsratsfürsten bezeichnet – außerdem großen Einfluss und agierten nicht selten unabhängig von der Gewerkschaft, selbst wenn sie ihr angehörten.
Ein weiteres Spezifikum der Chemiebranche stellten die betrieblichen Vertrauensleute dar, die primär zwischen Unternehmensführung und Belegschaft vermitteln sollten. Damit fungierten sie zugleich als Frühwarnstelle für die Stimmung der Beschäftigten.[17] Als Gegengewicht dazu baute die IG Chemie eine gewerkschaftliche Vertrauensleutestruktur auf, um die Präsenz der Organisation auf Betriebsebene sicherzustellen.[18]
Ihre verhältnismäßig schwache Stellung musste die Gewerkschaft in einer Branche schmerzen, deren volkswirtschaftliche Bedeutung unbestritten war. Seit Mitte der 1950er Jahre wuchs die chemische Industrie übermäßig stark und entwickelte sich zu einem der exportintensivsten Industriezweige mit hohen Umsatzsteigerungen. Insgesamt verdoppelte sich bis in die späten 1960er Jahre die Anzahl der Beschäftigten auf fast 600.000; in diesem Jahrzehnt expandierten die Unternehmen außerdem verstärkt im europäischen wie außereuropäischen Ausland.[19] Ebenso nahmen die Konzentrationstendenzen zu. Die entwicklungsintensive Chemieindustrie kam in den 1970er Jahren für gut ein Drittel der privaten Forschungstätigkeit in der gesamten Bundesrepublik auf.[20] Daraus resultierte ein überdurchschnittlich hoher Anteil an Angestellten, von denen viele studiert hatten und außertariflich bezahlt wurden. Diese Beschäftigtengruppe stand den Gewerkschaften traditionell distanzierter gegenüber als gewerbliche Arbeiter.[21]
Neben hoch qualifizierten Tätigkeiten war in der chemischen Industrie auch einfache Handarbeit erforderlich. Daher differierten die Löhne und Gehälter innerhalb der einzelnen Unternehmen markant. Die umfangreichen Sozialleistungen in den Großunternehmen verschärften wiederum die Einkommensdifferenzen zwischen verschiedenen Firmen. Die IG Chemie suchte seit langem nach einem angemessenen Umgang mit dieser Situation.
Eine Möglichkeit dazu boten Festbeträge statt prozentuale Lohnerhöhungen. So forderte beispielsweise der Bezirk Hessen für die Tarifrunde 1971, die Löhne und Gehälter einheitlich um mindestens 120 DM anzuheben. Dass der Hauptvorstand der IG Chemie diese Forderung in der Einigung letztlich nicht berücksichtigte, hielt Horst Keimig, der Sprecher der Vertrauensleute bei Merck, Hermann Rappe unmissverständlich vor: „Warum [...] könnt ihr [es] nicht dem Bezirk Hessen [...] überlassen, darüber zu entscheiden, ob er den Kampf weiterführt oder nicht? [...] Ihr hättet die Verräter in der SPD-Regierung und im Hauptvorstand [...], ihr hättet diesen Leuten sagen können, bitte, wendet euch mit euren Vermittlungsversuchen an die Bezirke.“[22]
Als weiteres Mittel, um die Lohnspreizung in der Branche einzudämmen, hatten die Delegierten bereits auf dem 8. Ordentlichen Gewerkschaftstag Ende August 1969 in Wiesbaden eine betriebsnahe Tarifpolitik forciert. In einem vom Hauptvorstand eingebrachten Antrag hieß es: „Die Schließung der Schere zwischen tariflicher und effektiver Entwicklung der Löhne, Gehälter und Arbeitsbedingungen wird weiterhin Gegenstand unserer Anstrengungen sein. Wo immer sich die Möglichkeit anbietet, Sparten-, Unternehmens-, oder Betriebstarife abzuschließen, und sei es nur als Zusatztarife, werden wir diese ergreifen.“[23]
In der Tarifrunde 1970 beabsichtigte die Gewerkschaft, in ausgewählten Bezirken erste Schritte in diese Richtung zu unternehmen.[24] Die Arbeitgeber stellten sich diesem Vorhaben konsequent entgegen, und die Verhandlungen scheiterten sofort. Die IG Chemie rief zu punktuellen Warnstreiks auf und konnte schließlich eine Erhöhung von Löhnen und Gehältern um gut 16 Prozent durchsetzen. Dieses Ergebnis wertete das Hauptvorstandsmitglied, Erwin Grützner, als überwältigenden Erfolg und als „eine erste Etappe auf dem Wege zu einer betriebsnahen Tarifpolitik“.[25] Aus gewerkschaftlicher Perspektive hatte das neue Jahrzehnt mit beachtlichen Erfolgen begonnen; diese Linie galt es weiter zu verfolgen.
Fristgerecht kündigte die IG Chemie Mitte Februar 1971 die Tarifverträge für die gut 400.000 Beschäftigten der chemischen Industrie in den Bezirken Nordrhein, Hessen und Rheinland-Pfalz, in denen die Großunternehmen ihren Sitz hatten.[26] Zunächst deutete noch alles auf das rituelle Muster jährlicher Tarifrunden hin – doch der Schein trog. Der Arbeitsring der Arbeitgeberverbände der Deutschen Chemischen Industrie e.V. verfolgte nämlich eine ungewohnt konfrontative Strategie, die sich schon seit den Herbstmonaten 1970 abgezeichnet hatte. Der Verband wies in einem internen Schreiben alle Mitgliedsfirmen darauf hin, dass bei künftigen Tarifverhandlungen heftige Auseinandersetzungen aller Voraussicht nach nicht zu vermeiden seien, und forderte die Unternehmen zur gegenseitigen Unterstützung bei Streiks auf, um die Produktion unter allen Umständen aufrechtzuerhalten.[27] Das Präsidium hatte diese Richtlinien bereits am 1. Oktober 1970 verabschiedet; die Arbeitgeber bereiteten sich also bereits auf eine Eskalation vor, bevor die IG Chemie überhaupt Forderungen erhoben hatte. Erst in der Auftaktrunde Mitte April 1971 forderte die gewerkschaftliche Tarifkommission für den Bezirk Nordrhein, die Löhne um zwölf Prozent anzuheben, das 13. Monatsgehalt tariflich abzusichern und die Ausbildungsvergütungen zu erhöhen.[28] Die hessische Kommission erweiterte diesen Katalog um den Sockelbetrag von monatlich mindestens 120 DM.[29]
Im Vorfeld der Tarifrunde 1971 hatte der Hauptvorstand vereinbart, bundesweit gewisse Mindestforderungen zu stellen. Kein Bezirk sollte einem Vertrag mit weniger als acht Prozent Lohn- und Gehaltserhöhung zustimmen.[30] Während die ersten Verhandlungen in den anderen Bezirken ergebnislos blieben, scherte die gewerkschaftliche Tarifkommission in Rheinland-Pfalz aus der Einheitsfront aus. Die dortigen Verhandlungspartner einigten sich, die Einkommen bei einer Vertragslaufzeit von zehn Monaten um 7,8 Prozent anzuheben. Umgerechnet auf das ganze Jahr entsprach dieses Ergebnis einer Steigerung von 6,5 Prozent.[31]
Die rheinland-pfälzische Tarifkommission konnte eine Einigung herbeiführen, weil die Bezirke satzungsmäßig befugt waren, eigenständig Verträge einzugehen, um der jeweiligen spezifischen Lage vor Ort Rechnung zu tragen. Ursprünglich hatte die Gewerkschaft die bezirkliche Tarifhoheit vor dem Hintergrund des langen wirtschaftlichen Aufschwungs festgeschrieben, also aus einer Position der Stärke heraus. Im Streik 1971 hatte diese Eigenständigkeit allerdings problematische Auswirkungen.
Unbestreitbar schwächte der Alleingang der Tarifkommission in Rheinland-Pfalz mitten in den laufenden Verhandlungen die Position der Gesamtorganisation empfindlich, zumal die Arbeitgeber die ganze Zeit über geschlossen auftraten. Zugleich machten sie mit Verweis auf den rheinland-pfälzischen Abschluss die Gewerkschaft für die sich zuspitzende Lage im Arbeitskampf verantwortlich.
III. Der Beginn des Arbeitskampfs und die Eskalation bei Merck
Mit dem Scheitern der Schlichtung in Nordrhein am 2. Juni 1971 galt die Friedenspflicht nicht mehr. Der geschäftsführende Hauptvorstand der IG Chemie verkündete daraufhin den aktiven tariflosen Zustand: „Als Kampfmaßnahmen können ergriffen werden: Arbeit nach Vorschrift, Bummelstreik, Sitzstreik, befristete Warnstreiks, kurzfristige Unterbrechung der Arbeit in einzelnen Abteilungen, Streiks.“[32] Die Satzung gestattete Arbeitskampfmaßnahmen auf Veranlassung des Hauptvorstands ohne vorherige Urabstimmung unter den Mitgliedern.[33] Diese Bestimmung war auf dem 6. Gewerkschaftstag der IG Chemie 1963 beschlossen worden, nachdem die IG Metall aufgrund eines mehrwöchigen Streiks für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1956/57 vom Bundesarbeitsgericht nachträglich zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden war. Die Richter hatten damit der Klage der Arbeitgeber entsprochen und bereits die von der Gewerkschaft anberaumte Urabstimmung als „Kampfmaßnahme“ gewertet. Damit sei gegen die noch bestehende Friedenspflicht verstoßen worden.[34] Um ein vergleichbares Urteil künftig zu vermeiden, änderte die IG Chemie ihre Satzung.
Nachdem zunächst die Beschäftigten in der Kölner Firma Clouth Gummiwerke die Arbeit niedergelegt hatten, schlossen sich in den kommenden Tagen Beschäftigte weiterer Unternehmen an.[35] Die IG Chemie rief ihre Mitglieder am 8. Juni in Köln zu einer Großkundgebung auf und weitete die Aktionen in Nordrhein sukzessive aus. Trotz aller Bemühungen gelang es nicht, die Belegschaft von Bayer in Leverkusen ausreichend miteinzubeziehen.
Nachdem der Streik bereits Anfang Juni in Nordrhein begonnen hatte, kamen Mitte des Monats schließlich die Tarifpartner in Hessen zusammen.[36] Ein paar Tage vorher hatte eine Versammlung gewerkschaftlicher Vertrauensleute nachdrücklich angemahnt, in Hessen unter keinen Umständen von der Forderung nach einem Festbetrag abzurücken. Die Arbeitgeber hingegen plädierten dafür, den rheinland-pfälzischen Abschluss zu übernehmen. Die Schlichtung scheiterte, und die IG Chemie verkündete auch für Hessen den aktiven tariflosen Zustand.[37] Am 15. Juni beteiligten sich bereits mehrere Tausend Personen an unterschiedlichen Aktionen – auch bei Merck.
Im Darmstädter Hauptsitz der zweitgrößten hessischen Chemiefirma arbeiteten ungefähr 8.000 Beschäftigte, knapp die Hälfte davon als Angestellte. Die gewerkschaftliche Organisationsquote lag mit 60 Prozent über dem Branchendurchschnitt. Den Grundstein für dieses älteste chemische Unternehmen Deutschlands hatte Friedrich Jacob Merck im späten 17. Jahrhundert mit dem Kauf der EngelApotheke in Darmstadt gelegt.[38] Nach einer grosso modo kontinuierlichen Expansion bis ins frühe 20. Jahrhundert markierten der Erste Weltkrieg und dann besonders die NS-Zeit und der Zweite Weltkrieg tiefe Zäsuren. Das Unternehmen hatte seinerzeit nicht nur Kriegsgefangene beschäftigt, sondern auch sogenannte Zivilarbeiter aus Westeuropa und Zwangsarbeiter aus Osteuropa rekrutiert. Mit der Produktion von Wasserstoffperoxid als Raketentreibstoff nahm Merck ebenfalls eine wichtige Rolle in der Rüstungswirtschaft ein.[39] Schließlich zerstörte ein alliierter Bombenangriff 1944 gut 80 Prozent der Produktionskapazitäten. Trotz der aktiven Verstrickung der Unternehmensleitung in das NS-Regime erholte sich das Unternehmen nach 1945 schnell. Bereits in den 1950er Jahren öffnete ein weiterer Standort in Gernsheim am Rhein seine Tore.
Bis ins späte 19. Jahrhundert war Merck das umsatzstärkste deutsche Pharmaunternehmen mit einer breiten Produktpalette von Naturstoffen gewesen. Mit dem Aufstieg von Bayer und Hoechst in jenen Jahren wuchs die Konkurrenz, und Merck konzentrierte seine Anstrengungen verstärkt auf synthetische Wirkstoffe. Die Pharmasparte ist seitdem der dominante, aber keineswegs einzige Geschäftsbereich. In den 1950er Jahren brachte das Unternehmen einige neue Wirkstoffe auf den Markt und forcierte seine Forschung in der anorganischen Chemie und ab den späten 1960er Jahren speziell im Bereich der Flüssigkristalle. Vor diesem Hintergrund wuchs die Mitarbeiterzahl im Hauptwerk in den Nachkriegsjahrzehnten kontinuierlich.
Als größter Arbeitgeber Darmstadts war Merck für die IG Chemie von zentraler Bedeutung. Die örtliche Verwaltungsstelle kümmerte sich deshalb intensiv um die Beschäftigten des Unternehmens. Insgesamt war sie zuständig für etwa 15.000 Gewerkschaftsmitglieder in knapp 100 Betrieben und beschäftigte sechs Personen, darunter zwei Sekretäre und einen Geschäftsführer – seit 1964 HG Lang. Der 1935 in Wiesbaden geborene Lang trat bereits als Jugendlicher in die HBV ein. Nach einer Lehre als Großhandelskaufmann begann er 1955 seine Beschäftigung bei der IG Chemie, zunächst als Jugendsachbearbeiter, dann als Organisationssekretär in Darmstadt. Nach mehreren Zwischenstationen kehrte er Mitte der 1960er Jahre dorthin zurück. Von Beginn an baute er gezielt die Bildungsarbeit aus und organisierte unzählige Seminare im Gewerkschaftshaus.[40]
Die IG Chemie legte, wie viele Gewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) in der Nachkriegszeit, großen Wert auf die Schulungsangebote für ihre Sekretäre und Mitglieder. Einige Verbände besaßen bereits seit den frühen 1950er Jahren wieder eigene Bildungsstätten. Um die Verankerung in den Unternehmen zu konsolidieren, entwickelten Gewerkschaftsfunktionäre und sympathisierende Wissenschaftler in den 1960er Jahren das Konzept einer betriebsnahen Bildungsarbeit.[41] Einen wichtigen Anstoß dazu lieferte Oskar Negts „Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen“.[42] Eine herausgehobene Rolle für die Debatte über die gewerkschaftliche Bildungspolitik allgemein spielten Hans Matthöfer, der damalige Leiter der Bildungsabteilung beim Vorstand der IG Metall, und für die Diskussion in der IG Chemie besonders Peter von Oertzen und Helmut Dahmer.[43] Unter anderem in der Heimvolkshochschule Hustedt in Celle, unweit von Hannover, dem Sitz des IG Chemie-Hauptvorstands, diskutierten Funktionäre, Mitglieder und Wissenschaftler über das neue Konzept. In etwa einem Dutzend Verwaltungsstellen der Gewerkschaft kam die betriebsnahe Bildungsarbeit schließlich zur Anwendung, darunter auch in Darmstadt.
Generell zielten gewerkschaftliche Schulungen darauf, die politische Handlungsfähigkeit von Beschäftigten zu stärken. Dazu gehörten aus gewerkschaftlicher Perspektive nicht nur Kenntnisse über die Betriebsverfassung und die Tarifpolitik, sondern auch die Fähigkeit, die sozio-ökonomischen Bedingungen kritisch zu hinterfragen. Die Festigung der Urteilskraft sollte die Mitglieder in die Lage versetzen, ausgehend von den eigenen Erfahrungen ihre Situation besser zu verstehen und daraus Handlungsoptionen abzuleiten. Dieses Konzept verfolgte auch HG Lang. Sein kontinuierliches Engagement trug ohne Zweifel zum ausgeprägten politischen Bewusstsein und zur kämpferischen Haltung vieler Merck-Beschäftigter bei.
Bereits am 15. Juni 1971, dem ersten Aktionstag in Hessen, nahmen in Darmstadt über 1.000 Personen an einer Protestversammlung teil. Am Tag darauf legten viele Beschäftigte ihre Arbeit komplett nieder. Sie wählten eine 15-köpfige Streikleitung unter Vorsitz von Ludwig Kaufmann und beriefen eine Betriebsversammlung ein. Die Firmenleitung ermahnte daraufhin alle Abteilungsleiter, ihren Mitarbeitern nahezulegen, sich nicht an einem Arbeitskampf zu beteiligen, den sie für illegal hielt.[44]
Die Auseinandersetzung beschränkte sich nicht auf das Unternehmensgelände. Schon frühzeitig strahlte der Streik in die Stadtöffentlichkeit aus.[45] Verschiedene Gruppierungen verteilten Flugblätter vor den Werkstoren, der Allgemeine Studentenausschuss der Technischen Hochschule Darmstadt solidarisierte sich mit den Streikenden ebenso wie verschiedene marxistisch-leninistische Kleingruppen.[46] Der Ring Christlich-Demokratischer Studenten hingegen warnte vor dem Einfluss von Kommunisten.[47] Vom Vorwurf der kommunistischen Unterwanderung distanzierte sich die IG Chemie ausdrücklich. Die Situation bei Merck spitzte sich in den kommenden Tagen weiter zu. So verlief eine Betriebsversammlung am 21. Juni in Anwesenheit der Firmenleitung äußerst kontrovers.[48] Letztlich stellte sich jedoch der Betriebsrat ohne Abstriche hinter die gewerkschaftlichen Forderungen. Anschließend formierten sich die Teilnehmer zu einer Demonstration. Auf der Abschlusskundgebung rief HG Lang zum unbefristeten Vollstreik auf.
Als Linkssozialist gehörte er zweifellos zu einer Minderheit unter den hauptamtlichen Funktionären. Dennoch war eine kämpferisch-konfrontative Haltung, die sich nicht mit der sozialpartnerschaftlichen Rolle der Gewerkschaften im „rheinischen Kapitalismus“ zufrieden geben wollte, in vielen DGB-Gewerkschaften seinerzeit wahrnehmbar – ganz besonders in der IG Chemie. Dieser Befund verweist auf soziopolitische Entwicklungen, die in die späten 1960er Jahre zurückreichten. Vor allem die Wahl des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt und die von der sozial-liberalen Regierung angekündigten Reformvorhaben weckten bei vielen Gewerkschaftern große Hoffnungen.[49] Zugleich brachten im Herbst 1969 wilde Streiks und die sich formierende Lehrlingsbewegung die Gewerkschaften in Zugzwang.[50] Die verbreitete Reformstimmung in der bundesdeutschen Gesellschaft und die Politisierung der jungen Generation verschafften auch den kritischen Stimmen in den Gewerkschaften mehr Gehör, die einer tiefgreifenden Transformation der bestehenden Verhältnisse das Wort redeten.
Das langjährige SPD-Mitglied HG Lang versuchte, seinen politischen Anspruch zeitlebens sowohl in der Arbeiterbewegung als auch in zivilgesellschaftlichen Organisationen umzusetzen. Er engagierte sich in den 1950er Jahren in der „Kampagne gegen den Atomtod“ und kämpfte im folgenden Jahrzehnt gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze. 1969 kandidierte er für einen Sitz im Bundestag gegen seinen Parteifreund und Abgeordneten des Wahlkreises Groß-Gerau Hermann Schmitt-Vockenhausen, einen Befürworter der Notstandsgesetze.[51] Obwohl Lang die Parteispitze gegen sich hatte, unterlag er in der Abstimmung nur knapp.
Darüber hinaus war er 1969 Mitbegründer des Sozialistischen Büros (SB) in Offenbach. Diese Organisation der Neuen Linken führte nach dem Abflauen der Studierendenbewegung undogmatische Linkssozialisten unterschiedlicher Couleur unter einem Dach zusammen. Unter anderem gab das SB den Express – Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit heraus.[52] Unter dem Pseudonym A. D. Timm kritisierte Lang auch als hauptamtlicher Funktionär die offizielle Gewerkschaftspolitik. Außerdem verfasste er regelmäßig Artikel in dem erstmals 1972 erschienenen Jahrbuch „Gewerkschaften und Klassenkampf“. Im Rahmen dieser vielfältigen Aktivitäten etablierte Lang gute Kontakte zwischen der IG Chemie und linken studentischen Gruppen der Darmstädter Hochschule. Er verkörperte die Verbindung zwischen der gewerkschaftlichen Arbeit und den außerparlamentarischen Aktionen, zwischen Betrieb und Universität.[53] Ohne seine Person und seine Bemühungen wäre der Konflikt bei Merck sicherlich anders verlaufen.
Nachdem Lang am 21. Juni 1971 zum Arbeitskampf aufgerufen hatte, versperrten Streikposten am nächsten Morgen zur Frühschicht die Werktore.[54] In den kommenden Tagen legten rund 5.000 Beschäftigte, also mehr als die Hälfte der Belegschaft, die Arbeit nieder. Die Firmenleitung wies in Zeitungsanzeigen darauf hin, dass nur diejenigen weiter ihren Lohn erhielten, die zur Arbeit erschienen. Außerdem dürfe niemand am Betreten des Werkgeländes gehindert werden.[55] Damit Arbeitswillige das Gelände betreten konnten, ließ die Geschäftsleitung Löcher in den Maschendrahtzaun schneiden und Leitern aufstellen.[56] In den kommenden Tagen gerieten arbeitswillige Beschäftigte deshalb mehrfach handgreiflich mit Streikposten aneinander.[57] Die Polizei wurde einige Male gerufen, um die Tore frei zu machen.[58] Der sozialdemokratische Oberbürgermeister Heinz Winfried Sabais bot sich als Vermittler an,[59] aber die Streikenden legten die Produktion trotzdem nahezu vollständig lahm.
Letztlich beantragte die Firmenleitung eine einstweilige Verfügung gegen die IG Chemie.[60] Sie forderte eine drei Meter breite Gasse zum Werkgelände, weil bewaffnete Streikposten arbeitswillige Kollegen bedrohen würden. Zunächst verfügte das Arbeitsgericht Darmstadt am 26. Juni den unbeschränkten Zugang.[61] Der Einspruch der Gewerkschaft mündete zwei Tage später in einen Vergleich.[62] Darüber informierte die Unternehmensleitung wie folgt: „In der Zeit von 6.45 Uhr bis 7.45 Uhr können alle Werkangehörigen das Haupttor und das Südtor über einen durch weiße Linien gekennzeichneten Durchgang betreten.“[63] Dieser Durchgang war zweieinhalb Meter breit und ist als „Schandgasse“ in die Geschichte von Merck eingegangen.[64]
IV. Notwendiger Kompromiss oder Verrat?
Auf einer Sitzung am 27. Juni mit den Streikleitern aus den verschiedenen Bezirken und Regionen beschloss der Hauptvorstand der IG Chemie, den Druck nochmals zu erhöhen. Noch immer befanden sich bundesweit mehrere 10.000 Beschäftigte im Ausstand. Allerdings manifestierte sich mittlerweile in vielen Unternehmen ein deutlicher Dissens zwischen Gewerkschaft und Betriebsräten. So lehnte beispielsweise der Betriebsrat von Hoechst jegliche Aktion ohne Urabstimmung ab und unterminierte damit das gewerkschaftliche Ansinnen, das wichtigste hessische Unternehmen noch in den Streik einzubeziehen.[65]
Ein weiteres Gespräch der Tarifparteien scheiterte am 29. Juni 1971.[66] Beide Verhandlungspartner beharrten auf ihren Positionen und schoben jeweils der Gegenseite die Verantwortung für die festgefahrene Lage zu. Jedoch hatte sich das Blatt mittlerweile zu Ungunsten der Gewerkschaft gewendet. Vor allem im Bezirk Nordrhein bröckelte die Front der Streikenden. Nicht zuletzt deshalb erklärte Karl Hauenschild, der Vorsitzende der IG Chemie, am 1. Juli, sich nicht gegen eine Vermittlung zu sperren.[67] Daraufhin bereitete die Bundesregierung Gespräche unter Leitung von Georg Paul Wannagat vor.
Im Gegensatz zur allgemeinen Lage hatten die Beschäftigten in vielen hessischen Betrieben – besonders bei Merck – die Streikbereitschaft aber nicht nur aufrechterhalten, sondern weiter gesteigert und sogar die Auszubildenden mobilisiert. Deshalb sah sich die Geschäftsleitung am 1. Juli genötigt, in einem Brief an alle Lehrlinge und deren Eltern darauf hinzuweisen, dass eine Teilnahme am Streik gegen die Pflichten des Ausbildungsvertrags verstoße: „Wir behalten uns deshalb vor, arbeitsrechtliche Konsequenzen aus solchen Vertragsverletzungen zu ziehen. Dies kann die Auflösung des Ausbildungsverhältnisses zur Folge haben.“[68] In seinem offenen Antwortbrief betonte Lang, das Streikrecht gelte selbstverständlich auch für Lehrlinge.[69]
Auf Bundesebene einigten sich die Tarifpartner am 3. Juli auf eine Lohn- und Gehaltserhöhung von 7,8 Prozent ab Juni, eine Einmalzahlung von 60 DM für die Monate April und Mai sowie die stufenweise Einführung des 13. Monatseinkommens.[70] Hauenschild erklärte in einer Pressemitteilung, dass die IG Chemie dem Ergebnis nur mit größten Bedenken zustimme. Ein solcher Konflikt ende jedoch notwendigerweise mit einem Kompromiss. Dennoch stelle die Einigung einen Erfolg dar, denn das „erzielte Ergebnis durchbrach die Arbeitgeberschallmauer“. Hauenschild führte weiter aus: „Im Gegensatz zu den Arbeitgebern sind wir der Auffassung, dass dieses Ergebnis weder die Fortentwicklung der chemischen Industrie überfordert, noch die Stabilitätsbemühungen der Bundesregierung stört.“[71]
Trotz des im Vergleich zu den anfänglichen Forderungen mageren Resultats präsentierte die Gewerkschaftsführung die Einigung als Erfolg. Nach dem härtesten und längsten Arbeitskampf in der chemischen Industrie musste sie ein annehmbares Ergebnis vorweisen, um ihr Gesicht nicht zu verlieren. Der einmonatige Streik durfte nicht umsonst gewesen sein. Aber viele Beteiligte waren davon nicht überzeugt. Weil sich die Einigung kaum von dem rheinland-pfälzischen Separatabschluss unterschied, griff Ludwig Kaufmann, der betriebliche Streikleiter bei Merck, den IG Chemie-Vorstand auf der Vertrauensleuteversammlung mit spöttischer Ironie an:
„Ja, Kolleginnen und Kollegen, wenn wir hier schon so überlegene Strategen im Hauptvorstand sitzen haben, dann hätte man doch auch bedenken müssen, dass bei einer solchen Tarifrunde der Ausspruch ‚Hessen vorn‘ beachtet hätte werden müssen. [...] Es hätte in keinem Fall passieren dürfen, dass Rheinland-Pfalz hier eine Marke setzt, die dann letzten Endes der Abschluss der gesamten Tarifrunde bedeutet.“[72]
Weil der Hauptvorstand eine derartige Kritik erwartet hatte, suchte er das Gespräch mit den Streikenden – wie Rappe am 4. Juli in Darmstadt.
Doch auch an den folgenden Tagen nahmen dort mehrere Tausend Beschäftigte an weiteren Versammlungen teil.[73] Bereits nachdem das Schlichtungsergebnis bekannt geworden war, hatte die betriebliche Streikleitung in einem Telegramm an den IG Chemie-Vorstand die Einigung als inakzeptables „Lohndiktat“ und „betrügerisches Pokerspiel“ bezeichnet. Das Schreiben schloss mit deutlichen Worten: „Wir fordern den verräterischen Hauptvorstand auf, sofort zurückzutreten und Neuwahlen einzuleiten.“[74] In einer verzögerten Antwort, einige Monate später, beklagte Hauenschild den unkollegialen Ton. Da mittlerweile bei Merck eine Diskussion mit Mitgliedern des geschäftsführenden Vorstands stattgefunden habe, erübrige sich eine ausführlichere Reaktion.[75] Der Brief spielte auf die Versammlung an, bei der Rappe den Ärger der Basis zu spüren bekommen hatte.
Trotz der lautstarken Kritik stimmte die Tarifkommission der IG Chemie letztlich dem Ergebnis zu. In der Abstimmung sprachen sich lediglich drei ehrenamtliche Mitglieder des Hauptvorstands dagegen aus. Anschließend erklärte die Gewerkschaft den Arbeitskampf für beendet. Seine Nachwehen zogen sich allerdings noch eine ganze Weile hin. So strebte die Unternehmensleitung von Merck post festum doch gerichtliche Sanktionen gegen die Streikenden an.[76] Darüber hinaus versetzte sie Horst Keimig, Sprecher der gewerkschaftlichen Vertrauensleute und Mitglied der Streikleitung, in eine Abteilung außerhalb des Hauptwerks.[77] Ferner lehnte das Unternehmen die Übernahme von 18 Lehrlingen ab, die alle bis auf einen im Arbeitskampf aktiv gewesen waren. Diese Entscheidungen begründete die Leitung mit internen Umstrukturierungen. Außerdem erklärte sie den bereits genehmigten Urlaub von Beschäftigten, die am Streik teilgenommen hatten, für hinfällig.
Dieses aggressive Vorgehen gegen streikende und politisch aktive Beschäftigte wies im Unternehmen eine lange Kontinuität auf. Bereits in der Hochphase der Industrialisierung hatten Neueingestellte schriftlich versichern müssen, nicht Mitglied in einer sozialdemokratischen Organisation zu sein.[78] Noch die Betriebsordnung von 1957 legte fest, dass Beschäftigte fristlos entlassen werden konnten, wenn sie sich während der Arbeitszeit politisch betätigten.[79]
Neben den Repressalien gegen alle am Arbeitskampf beteiligten Beschäftigten verklagte die Unternehmensleitung 1971 zusätzlich den gewerkschaftlichen Streikleiter HG Lang und den betrieblichen Streikleiter Ludwig Kaufmann jeweils auf Schadenersatz in Höhe von 100.000 DM plus Zinsen. Sie warf ihnen vor, den Arbeitskampf vertragswidrig in die Länge gezogen zu haben. Sie trügen Mitverantwortung dafür, dass Arbeitswillige durch Gewalt und Drohungen am Betreten des Werkgeländes gehindert worden seien. Der Prozess zog große Aufmerksamkeit auf sich; bei der Urteilsverkündung am 9. September 1971 war der Gerichtssaal bis auf den letzten Platz gefüllt. Das Arbeitsgericht verwarf die Klage, da sie der Einigung widerspreche, in der die Arbeitgeber auf juristische Maßnahmen verzichtet hatten.[80] Trotz dieses Erfolgs besserte sich das Verhältnis zwischen HG Lang und dem IG Chemie Hauptvorstand nicht.
V. Heinz-Günter Lang und die IG Chemie
Der Arbeitskampf bei Merck hatte die Entfremdung sogar noch weiter vertieft. Lang war beim Hauptvorstand ohnehin nicht wohlgelitten gewesen, doch nun erwiesen sich die Differenzen als unüberbrückbar. Ein Konflikt um die Betriebsratswahl bei Merck brachte das Fass 1972 schließlich zum Überlaufen, wobei vor allem das Verhältnis zwischen gewerkschaftlichen Vertrauensleuten und den bisherigen Betriebsräten strittig war.
Die Vertrauensleute bei Merck gewährten den zum Teil langjährigen Betriebsräten keine sicheren Plätze mehr auf der Wahlliste der IG Chemie. Daraufhin stellten diese eigene Listen auf. Die Verwaltungsstelle Darmstadt strengte deswegen ein Ausschlussverfahren gegen die betreffenden Personen an. Der Beschwerdeausschuss der Gewerkschaft lehnte die Ausschlüsse ohne Begründung ab, und auch der Hauptvorstand schlug sich auf die Seite der Betriebsräte.[81] Als Verfechter innerverbandlicher Demokratie ergriff Lang hingegen Partei für die von Gewerkschaftsmitgliedern gewählten Vertrauensleute und gegen die vom Hauptvorstand unterstützten Betriebsräte.
Letztlich setzte sich der Vorstand durch. Lang sah die Satzungsbestimmungen verletzt und kündigte sein Arbeitsverhältnis zum 31. März 1973. In seinem Kündigungsschreiben betonte er die Notwendigkeit demokratischer Entscheidungsprozesse und die Bedeutung der Vertrauensleute. Mit den vom Hauptvorstand unterstützten Betriebsräten hingegen könne er „keine gewerkschaftlich sinnvolle Arbeit mehr leisten, ohne meine eigene gewerkschaftliche Überzeugung aufgeben zu müssen, da ich sie nicht mehr als Vertreter der Arbeitnehmerinteressen akzeptieren kann“.[82] Nach seinem Ausscheiden aus der IG Chemie arbeitete Lang für ein gutes Jahrzehnt als pädagogischer Mitarbeiter an der Hessischen Jugendbildungsstätte in Dietzenbach, bevor er 1983 in die Hauptverwaltung der HBV nach Düsseldorf wechselte. 1986 wurde er schließlich zum Geschäftsführer der Verwaltungsstelle Mannheim gewählt. Sein letztes Amt trat er 1989 als HBV-Landesleiter in Baden-Württemberg an.[83] Am 18. Dezember 2016 verstarb Heinz-Günter Lang im Alter von 81 Jahren in Darmstadt.[84]
VI. Zum Stand und den Desiderata der Gewerkschaftsgeschichte
Der Arbeitskampf bei Merck in Darmstadt unterstreicht die große Bedeutung von mittleren Funktionären für die zentralen Auseinandersetzungen innerhalb der IG Chemie in den 1970er Jahren. Die Forschungen zu Gewerkschaften konzentrierten sich jedoch hauptsächlich auf die Führungsebene, und das liegt nicht zuletzt an der Quellenlage. Während sich die Nachlässe von Vorsitzenden und Mitgliedern des Hauptvorstands meist in Archiven befinden, haben Dokumente von Funktionären aus der zweiten Reihe Seltenheitswert.
Umso interessanter ist der umfangreiche Nachlass von HG Lang, der zahlreiche Trouvaillen wie die Tonbandabschrift der Vertrauensleuteversammlung in Darmstadt am 4. Juli 1971 bietet. Derartige Dokumente sucht man in dem entsprechenden Band der „Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert“ – der wichtigsten Edition zum Themenbereich – vergeblich.
Die dokumentierte Versammlung spielte sich gewissermaßen im „Maschinenraum der Mitbestimmung“[85] ab. In der Tonbandabschrift manifestieren sich prismenhaft die grundlegenden Konflikte der DGB-Gewerkschaften im Allgemeinen und der IG Chemie im Besonderen: die interne Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Strömungen um die Ausrichtung der Gewerkschaftspolitik und die innerverbandliche Demokratie, die in den 1970er Jahren vehement ausgetragen wurde. Gerade in Bezug auf solche Konflikte bestehen noch zahlreiche Forschungsdesiderata.
Auch diese Dokumentation zeugt von einer Renaissance der Gewerkschaftsgeschichte, die sich seit einigen Jahren beobachten lässt, nachdem das akademische Interesse daran seit den 1980er Jahren merklich zurückgegangen war.[86] Auch in den jüngeren Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik werden die gesellschaftspolitische Bedeutung der Gewerkschaften und ihr Beitrag zur Demokratisierung nach 1945 zu wenig berücksichtigt.[87] Das Interesse an Fragen der Sozialgeschichte erlebte jedoch in Folge der Wirtschaftskrise 2007/08 einen Aufschwung.[88] Die dadurch hervorgerufenen nationalen wie transnationalen Verwerfungen haben die sozialen, genderspezifischen und regionalen Ungleichheiten verstärkt auf die gesellschaftspolitische und mit etwas Verzögerung auf die akademische Agenda gesetzt.[89] Dasselbe gilt angesichts der sozio-ökonomischen Verschiebungen und technischen Fortschritte auch für die Arbeitswelt und die sich verändernden Formen von Erwerbstätigkeit.[90]
Neben anderen Forschungsprojekten erweitert auch das gemeinsam vom Institut für Zeitgeschichte München–Berlin, vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und vom Institut für soziale Bewegungen (Bochum) durchgeführte Graduiertenkolleg „Soziale Folgen des Wandels der Arbeitswelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ diese gesellschaftspolitische Diskussion um die notwendige historische Tiefendimension.[91] In diesem Rahmen entstehen mehrere Qualifikationsarbeiten zur Gewerkschaftsgeschichte, wie die Habilitationsschrift „Westdeutsche Gewerkschaften und der ,Strukturbruch‘“, die dieser Dokumentation zugrunde liegt. Das Vorhaben knüpft an kürzlich abgeschlossene Arbeiten zu den westdeutschen Gewerkschaften in den 1970er und 1980er Jahren an, allerdings mit einem deutlich anderen Fokus.[92]
Langsam verdichten sich die beschriebenen Tendenzen zu einer intensiveren Beschäftigung mit der Gewerkschaftsgeschichte. Überblicksaufsätze zum Stand der Labor History haben darüber hinaus dargelegt, wie heterogen das Forschungsfeld geworden ist.[93] Daran anschließend sollte auch das Verständnis von Gewerkschaftsgeschichte künftig erweitert werden. Die Organisationsgeschichte bildet zweifellos die unverzichtbare Basis, darf allerdings nicht Selbstzweck sein. Erst rückgebunden an allgemeine sozio-ökonomische Verschiebungen kann sie ihr volles Erkenntnispotenzial entfalten. Als intermediäre Verbände par excellence eignen sich die Gewerkschaften, um zwischen den verschiedenen Ebenen der Arbeitswelt zu vermitteln. Folglich kann die Gewerkschaftsgeschichte dazu beitragen, ein differenziertes Bild vom „rheinischen Kapitalismus“ in der Bundesrepublik zu gewinnen.
Die Untersuchung der Gewerkschaften in den frühen 1970er Jahren einschließlich ihrer internen Konflikte und Richtungsauseinandersetzungen sowie ihrer gesellschaftspolitischen Funktion unterstreicht ihre paradoxe Rolle als Ordnungsfaktor und Gegenmacht.[94] Bei aller Stabilität des „rheinischen Kapitalismus“ mit den staatlichen Regulationsmechanismen, der Verflechtung von Unternehmen und Banken, dem ausgeklügelten System der Sozialpartnerschaft sowie der dualen Berufsausbildung brodelte es in diesen Jahren unter der Oberfläche. Die Unzufriedenheit vieler Beschäftigter, der Aufbruchswille der jüngeren Generation und die Stärke der linkssozialistischen Strömung in den DGB-Gewerkschaften einerseits, die gleichzeitige Persistenz der bestehenden Strukturen andererseits kulminierten in den Arbeitskämpfen Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre und ganz besonders im Chemiestreik 1971.
Gewerkschaftsgeschichte ist immer auch Konfliktgeschichte. In Streiks spiegelt sich die Komplexität der Arbeitswelt mit ihren rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen, mit ihren unterschiedlichen Akteuren – von den Unternehmen über die Betriebsräte bis zu den Gewerkschaften und ihren Mitgliedern – und nicht zuletzt mit ihren technischen und materiellen Grundlagen.
Mit den sozio-ökonomischen Veränderungen wandelte sich der Handlungsrahmen für die Gewerkschaften grundlegend.[95] Gewerkschaftsgeschichte dient somit als ein Gradmesser für die Transformationen in der Bundesrepublik. Sie ermöglicht eine Verbindung von der Mikroebene über die Mesoebene des Betriebs hin zur Makroebene der politischen und wirtschaftlichen Veränderungen. Die Arbeitswelt und die industriellen Beziehungen stellen keine beliebigen Bereiche dar, sondern bestimmen das Alltagsleben der meisten Menschen in hohem Maße. Die Gewerkschaften wiederum sind zentrale Akteure auf diesem Feld. Unter dieser Perspektive kommt der Gewerkschaftsgeschichte allgemein ein hohes Erkenntnispotenzial zu. Das hier präsentierte Dokument ist nicht zuletzt deshalb von so großem Interesse, weil sich daran die aufgeworfenen Problemstellungen in nuce diskutieren lassen.
VII. Editorische Notiz und zusammenfassende Thesen
Das Dokument entstammt dem Nachlass von Heinz-Günter Lang, der sich im Besitz des Autors befindet und baldmöglichst in das Archiv des Instituts für Zeitgeschichte überführt wird. Der Nachlass umfasst zehn Kisten mit über 60 Ordnern und zahlreichen Fotografien. Darin befinden sich unter anderem Materialien aus der Verwaltungsstelle Darmstadt, zu Merck und zum Chemiestreik. Außerdem sind im Nachlass die Unterlagen der beiden hauptamtlichen IG Chemie-Funktionäre Paul Plumeyer und Ferdinand Patschkowski zu finden, die wie HG Lang den linken Gewerkschaftsflügel repräsentierten und für die Eskalation der verbandsinternen Auseinandersetzung in den späten 1970er Jahren standen. So wurde Patschkowski 1979 als Geschäftsführer der Verwaltungsstelle Hannoversch Münden entlassen, offiziell weil er interne Dokumente des Vorstands weitergeleitet hatte, um eine vermeintlich vorgesehene Satzungsänderung zu verhindern.[96] De facto handelte es sich bei der Auseinandersetzung aber um einen grundlegenden Konflikt um die Richtung der IG Chemie. Plumeyer wurde als Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstands auf dem Gewerkschaftstag 1980 nicht wiedergewählt, obwohl er kandidiert hatte – ein einmaliger Vorgang in der IG Chemie.[97] Auch Patschkowski hatte erfolglos kandidiert.
Der einst recht starke linke Gewerkschaftsflügel verlor auf dem Gewerkschaftstag auf ganzer Linie. Mit der Wahl Hermann Rappes zum Vorsitzenden 1982 war ein tiefgreifender Veränderungsprozess der IG Chemie endgültig abgeschlossen, der mit dem Streik 1971 begonnen hatte und der weit über die Organisation hinaus von Bedeutung war. Viele Funktionäre verließen die IG Chemie und fanden bei anderen DGB-Gewerkschaften eine Anstellung. Der Nachlass von HG Lang bietet neben dem hier präsentierten Dokument umfangreiches Material zur weiteren Aufarbeitung dieser Auseinandersetzung.
Das Dokument wurde für die Veröffentlichung gekürzt, orthografische Fehler und Interpunktion wurden stillschweigend nach den Regeln der neuen Rechtschreibung korrigiert. Auslassungen wurden gekennzeichnet und Abkürzungen teilweise aufgelöst. Zur Erhöhung der Lesbarkeit finden sich die Reaktionen und Zwischenrufe der Versammlungsteilnehmer kursiv hervorgehoben. Biografische Angaben zu Rednern und erwähnten Personen ergänzen das Protokoll. Das Originaldokument kann auf der Homepage der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (Rubrik Zusatzangebote – Beilagen) eingesehen werden. Das Erkenntnispotenzial des präsentierten Dokuments geht weit über ein lokales Ereignis hinaus. Deshalb lassen sich abschließend zehn Thesen formulieren:
Der Streik 1971 bei Merck kann als Sonde dienen, um den Zustand des „rheinischen Kapitalismus“ und der industriellen Beziehungen in der Bundesrepublik am Ende des „Wirtschaftswunders“ zu untersuchen.
Ein Streik als kollektiver Protest bringt den üblichen Ablauf durcheinander und bringt die vielfältigen Spannungen im Betrieb ebenso zum Ausdruck wie die innerverbandlichen Konflikte. Arbeitskämpfe sind folglich ideale Ansatzpunkte für die Gewerkschafts- und die Unternehmensgeschichte.
Die Auseinandersetzungen in Darmstadt lassen die Bedeutung basisnaher Funktionäre deutlich werden. Der Fokus auf diesen Personenkreis ermöglicht es, Gewerkschaftsgeschichte jenseits der Hauptvorstände und Bundesgremien zu schreiben.
Die Rolle von HG Lang im Arbeitskampf und in der örtlichen IG Chemie-Verwaltungsstelle unterstreicht paradigmatisch die Relevanz der Gewerkschaftslinken in den 1970er Jahren, deren Geschichte nach wie vor ein Desiderat der Forschung darstellt.
Der Blick auf basisnahe Funktionsträger und die Gewerkschaftslinke begünstigt die Neukonzeption der Gewerkschaftsgeschichtsschreibung.
Gewerkschaftsgeschichte kommt nicht ohne Organisationsgeschichte aus. Sie stellt den unerlässlichen Rahmen dar, sollte aber nicht im Mittelpunkt stehen oder gar Selbstzweck sein. Die vorgeschlagene Re-Fokussierung gibt innergewerkschaftlichen Auseinandersetzungen und Arbeitskämpfen mehr Raum.
Diese Verschiebung trägt dazu bei, die Bedeutung der Gewerkschaften als Interessenvertretung der Lohnabhängigen in der Bundesrepublik und ihre ambivalente gesellschaftspolitische Rolle zwischen Konflikt- und Sozialpartnerschaft besser zu verstehen.
Diese Neuausrichtung fügt der sich seit einigen Jahren abzeichnenden Renaissance von sozialgeschichtlichen Fragestellungen, von historischen Untersuchungen zu sozialer Ungleichheit und der Entwicklung des Kapitalismus einen notwendigen gewerkschaftsgeschichtlichen Aspekt hinzu.
Die Untersuchung der Gewerkschaften verbindet die lebensweltliche Mikroebene über die Mesoebene des Betriebs mit der Makroebene der sozio-ökonomischen Transformationen.
Der Gewerkschaftsgeschichte kommt damit allgemein ein hohes Erkenntnispotenzial für die Entwicklung der modernen Industriegesellschaft zu.
Dokument
Vertrauensleuteversammlung der IG Chemie – Papier – Keramik Verwaltungsstelle Darmstadt, 4. Juli 1971 in der Bessunger Turnhalle, Beginn 10 Uhr, Leitung: Heinz-Günter Lang, Geschäftsführer der Verwaltungsstelle
HG Lang: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße euch recht herzlich und will mich nicht lange bei der Vorrede aufhalten, sondern gebe dem Kollegen Hermann Rappe vom geschäftsführenden Hauptvorstand das Wort. (Gelächter)
Hermann Rappe: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte vorweg sagen, dass ich bei der Diskussion in den beiden letzten Tagen, und auch in der letzten Nacht über die Frage, wer nun von den Vertretern des Hauptvorstandes oder die Bezirksleiter in die einzelnen Betriebe fährt oder in die einzelnen Vertrauensleutesitzungen der Betriebe fährt, ich der Meinung war, dass ich hier nach Darmstadt fahren sollte, unter anderem deshalb, weil ich in der letzten Woche auf einer Streikversammlung gesprochen habe, und unter anderem deshalb, weil ich weiß, dass mindestens hier bei der Firma Merck und auch bei den anderen oder kleineren Betrieben dieser Arbeitskampf mit beachtlichen Erfolgen geführt worden ist. [...]
Zunächst einmal wäre also eine Beurteilung der Streiklage in den Bezirken zu sehen. Es gab keinen Zweifel darüber, aufgrund der Meinungen im Bezirk Nordrhein und auch nach persönlichen Diskussionen mit den verantwortlichen Kollegen in Nordrhein, mit den Streikleitungen der Betriebe, dass bis auf einen Betrieb, und zwar die Firma Clouth in Köln, die übrigen Betriebe in Nordrhein nach vier Wochen Streik in eine fünfte Woche nicht mehr zu bringen waren. [...][98]
Ich sehe bei dem einen oder anderen das Grinsen auf dem Gesicht, ist möglich, dass mir das so, wie ich es hier sage, nicht abgenommen wird, das kann ich nicht ändern, aber ich sage das. [...] Jedenfalls, das war die Situation in Nordrhein. Und nach einer zweitägigen Diskussion mit der Vertrauensleuteleitung und allen Vertrauensleuten der Firma Bayer in den einzelnen vier Bayer-Betrieben stand fest, dass [...] eine weitere Unterstützung des Arbeitskampfes durch ihre Betriebe nicht gegeben sei. Damit schied der Bezirk Nordrhein – und er ist einer der Herzstücke der chemischen Industrie – [...] aus der Gesamtbetrachtung aus. Der Hauptvorstand musste einkalkulieren, dass ab der fünften Woche mit dem Bezirk Nordrhein jetzt nicht zu rechnen sei. [...] Das war die übereinstimmende Meinung auch der Kollegen, die in den einzelnen Verwaltungsstellen dafür verantwortlich sind. Auch die Diskussion darüber, ob Verbundbetriebe stillzulegen wären, hat sich nicht als eine Möglichkeit ergeben.
Ein zweiter Gesichtspunkt – ich gehe einfach besser einmal so chronologisch vor – ich selbst bin stundenlang in der Vertrauensleuteleitung und in einer Vertrauensleutevollversammlung der Farbwerke Hoechst gewesen. Und nach stundenlanger Diskussion, bei der ich in Frage und Antwort den in Hoechst anwesenden Funktionären nichts geschenkt habe, in Bezug auf ihre Haltung gegenüber den streikenden Kollegen in den Streikbetrieben in Hessen, haben sie dennoch nach stundenlanger Diskussion beschlossen, dass sie zur Unterstützung dieses Arbeitskampfes ohne die Möglichkeit einer Urabstimmung nicht in der Lage seien. Einer Urabstimmung würde ich – und hätte ich persönlich – in Hoechst nie zugestimmt, da ich mir über das Ergebnis sozusagen im vornherein klar war. Damit schied im Bezirk Hessen das zweite große Werk – Hoechst – aus der Streikfront oder einer möglichen Streikfront aus. [...][99]
Die Situation war dann so, dass jedenfalls für den Bezirk Hessen zu registrieren war, dass im Wesentlichen die Streikfront stand in dem Bereich Degussa und in dem Bereich Darmstadt. Im Bezirk Nordmark geht es im Wesentlichen um zwei oder drei Betriebe, die auch standen, aber mehr ist in Nordmark nicht zu holen, da der Bezirk Nordmark kein Chemieschwerpunkt ist. Chemieschwerpunkt sind nun einmal die drei westlichen Bezirke: Nordrhein, Hessen und Rheinland-Pfalz. Und den Kommentar über Rheinland-Pfalz kann ich mir ja hier wirklich nun sparen, denn die Nagelprobe in Bezug auf das Großwerk BASF ist ja da erst gar nicht gemacht worden. Der vierte Bezirk, der im Streik stand, war der Bezirk Westfalen. Die Streikfront hätte hier im Laufe der nächsten Woche noch gehalten. [...] Ich selbst bin auch in Marl-Hüls gewesen, um mit den Funktionären dieses Großwerks zu reden. Wir haben ja dann – es war möglich – an dem Tag nach langer Diskussion im Rahmen einer verlängerten Mittagspause die Kollegen aus dem Betrieb herauszuholen, das war drin, ob aber zu einer regelrechten Streiksituation in diesem vierten Werk der Großchemie möglich gewesen wäre, das stand in den Sternen.
Das war die Situation, und neu hereinkommen in die Streikfront hätten können die Bezirke Niedersachsen, und der Bezirk Baden-Württemberg und zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt [...] der Bezirk Bayern. Im Bezirk Niedersachsen wäre die bestimmte Möglichkeit, über eine Reihe von Betrieben den Streik zu entwickeln, diese Betriebe würden auch stehen, bloß – sie treffen nicht das Herzstück der Chemie und würden überhaupt nie das Verbundsystem der chemischen Industrie [treffen]. [...] Das Gleiche gilt mit einer Ausnahme – [...] in Freiburg – für den Bezirk Baden-Württemberg.
Ich will zunächst einmal sagen, es gibt also kein Drumherum: jede Lohnauseinandersetzung in der chemischen Industrie, jeder Streik, muss und wird entschieden oder nicht entschieden in den Bezirken Nordrhein, Hessen und Rheinland-Pfalz, möglicherweise mit der Ergänzung von Westfalen. Das war die Situation, darüber ist schon immer in den ganzen Wochen diskutiert worden.
Und nun ein zweiter Gesichtspunkt: die Vermittlungsgespräche bei Minister Figgen in Nordrhein brachten überhaupt keine Möglichkeit, ein anderes Ergebnis zu bekommen.[100] [...] Nach dem letzten gescheiterten Gespräch in Düsseldorf war uns klar, und dazu stehe ich auch als Person, [...] dass wir über irgendeinen außenstehenden Minister, über einen Politiker aus Düsseldorf, Bonn oder Wiesbaden kein anderes Ergebnis bekommen hätten als etwa in dieser Größenordnung, um die es geht. Das mag eine ganze Reihe von Komplexen sein, die dabei eine Rolle spielen; fest stand jedenfalls, ein Ergebnis über eine politische Ebene war anders nicht zu erzielen.
Es gab also nur eine einzige Alternative: Entweder wird der Arbeitsring der chemischen Industrie mittels Streik zu einem anderen Ergebnis gezwungen, und zwar auf größerer Ebene, [oder] ein Außenstehender wird uns ein besseres Ergebnis nicht bringen. Das war uns auch klar, und auch mir persönlich klar, als es wiederum ein Schlichtungsangebot von dem Präsidenten des Sozialgerichts gab.[101] Die einzige Frage, die jetzt noch zur Debatte stand und steht, ist die Frage: ob ein solches Vermittlungsergebnis angenommen wird oder ob mittels eines verstärkten Streiks der Arbeitsring der chemischen Industrie zu einem anderen Ergebnis hätte [kommen] können.
Und ein dritter Aspekt: [...] ich jedenfalls will das für mich ganz offen sagen, ich war immer der Auffassung, die chemische Industrie verträgt keinen vier- oder dreiwöchigen Streik, allerdings war ich auch immer dieser Auffassung, in Ergänzung der Überlegungen, dass auch andere größere Betriebe in den Arbeitskampf einzubeziehen waren.[102] Aber ich muss schon ehrlich sagen, dass ich nicht mal es für möglich gehalten habe, dass die Firma Merck einen längeren Streik – so lange jedenfalls, wie er bisher hier gelaufen ist – ertragen kann. [...] Eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen haben jedenfalls in früheren Jahren die Verwundbarkeit der chemischen Industrie für schneller möglich gehalten, als es jetzt zu verzeichnen ist.
Nun ein weiterer Gesichtspunkt: es gibt zum guten Schluss noch folgende Frage, die sich gestellt hat, und die sich auch noch während des ganzen heutigen Tages stellt, bis zur Beratung und Beschlussfassung des Hauptvorstandes in Hannover heute Nachmittag um 17 Uhr, die Frage nämlich, ob [...] ein offener Zustand – hingenommen werden kann, hingenommen werden soll. [...] Das gebe ich zu, darüber brauchen wir, darüber hat sich nun stundenlang in Bonn hinter (Zuruf: verschlossenen Türen) verschlossenen Türen abgespielt, jetzt nicht bei den Verhandlungsgesprächen, sondern unter uns, mit dem Hauptvorstand und den Bezirksleitern. Stunden und Aberstunden, eine Nacht und einen ganzen Tag lang, rund um die Uhr die Frage [gestellt], lässt sich die Front halten, lässt sie sich nicht halten, kann man den offenen Zustand hinnehmen ohne Tarifvertrag, und den Kollegen offen erklären, die Streikfront ist nicht in der Lage, einen besseren Tarifabschluss, als das, was hier vorliegt, herauszuholen. (Unruhe, Zwischenrufe) (Zuruf: Ist doch lächerlich! Bei Merck war bekannt schon seit März, dass die ‘nen langen Arm haben [...]!) [...]
Hermann Rappe: Ich habe doch erklärt... (Zuruf: Ist denn die IG Chemie so dumm, so dumm, dann darf man uns in so ‘nen Arbeitskampf nicht reinführen! Das gibt’s doch gar nicht! – Schämt ihr euch denn nicht! – Ist doch undiskutabel – )
Hermann Rappe fährt fort: Die Frage, um die es geht, hier den Streik stückweise beenden zu lassen, [wenn] die Truppen sich nicht mehr halten lassen (Zwischenrufe, Tumult: Dann brauchen wir keinen Arbeitskampf zu führen!) Das ist ja keine Frage des Hauptvorstandes, wenn die Betriebe erklären, in Nordrhein und in anderen Bereichen, dass sie nicht streikbereit sind... (Zuruf: Dann macht doch gleich zentrale Verhandlungen! Tumult. Aber machen wir es autonom, und jetzt kommt der Tarif!)
Es ist – ich bitte doch wenigstens (Zuruf: Ist doch wertlos, noch zuzuhören!) da kann ich nichts dran ändern (Zuruf: Wir haben vierzehn Tage lang den Kopf hingehalten, und ihr habt uns verraten!) (Beifall, Klopfen!) (Am Freitag, da war das bekannt, dass ihr das Ergebnis annehmen würdet, für mich war das klar, und so ist bis jetzt jede Tarifrunde gewesen!) (Ihr seid die wahren Arbeiterverräter!) (Und ihr habt uns auf die Straße gebracht und habt uns verraten, so war es doch!)
Wir haben zu diesem Streik aufgerufen in derselben Gewissheit wie ihr, dass auch andere Betriebe mitgehen, und nicht nur die Firma Merck. Wenn ihr uns etwas vorwerfen könnt, dann das, aber das könnt ihr dem Hauptvorstand nicht vorwerfen. (Tumult, Protest, Pfui!) Das könnt ihr dem Hauptvorstand nicht vorwerfen. (Zuruf: Ihr seid doch zu weit ab, Mensch!) (Zurücktreten!) Ihr könnt doch dem Hauptvorstand nicht vorwerfen, dass die Farbwerke Hoechst und andere Betriebe nicht streiken. (Zuruf: Wenn man weiß, dass das nicht geht, dann darf man uns in so ‘nen Arbeitskampf nicht führen!) (Das kann man vom Hauptvorstand verlangen, wir halten doch nicht den Kopf hin für nichts und wieder nichts!) (Aufhören!) (Ist doch sinnlos, ist doch traurig!) Ich höre mir jetzt zunächst eure Diskussionsbeiträge an... (Pfui!!!)
HG Lang: Ich kann den Ausdruck eures Zorns verstehen. Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir den Kollegen Rappe hier zu Ende hören und nachher diskutieren! (Unruhe, Tumult)
Hermann Rappe: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werde zur Politik des Hauptvorstandes am Schluss noch etwas sagen. Mir kommt es zunächst auf die Skizzierung der Situation an. Ich möchte hier nur noch einmal darlegen, dass bei der Frage eines stückweisen Abbröckelns dieses Streiks und der anderen Frage, die zur Debatte steht, keinen offenen Zustand ohne Vertrag hinzunehmen, für den Hauptvorstand in der vergangenen Nacht folgende Frage zur Debatte stand: Und das ist die Frage, das zu empfehlen an die Tarifkommissionen, wenn wir einen offenen Zustand hinnehmen, bedeutet das, dass wir nicht, wie das bei einem beendeten Streik üblich ist, ein Streikabschlussprotokoll oder Streikabschlussvereinbarung machen, [...] dass alle am Streik Beteiligten wieder eine Stellung [erhalten,] in ihre alten Rechte, Arbeitsplätze und ohne weitere Maßnahmen eingestellt werden müssen. [...] (Zwischenrufe! Unruhe)
Ich will hier nur darlegen, ein Ergebnis ohne Tarifvertrag, eine stückweise Wiederaufnahme der Arbeit ohne Tarifvertrag bedeutet, dass wir keinen Vertrag haben, in dem steht, dass alle am Streik Beteiligten wieder eingestellt würden. Das sind auch Rechtsfragen, die dabei eine Rolle spielen. (Zuruf: Da hat man anscheinend Angst davor!) Und – das hat mit Angst nichts zu tun – wir haben die unendliche Sorge, (Ha, Ha) (Wir haben keine Sorge!) dass bei einer solchen Situation möglicherweise in den Streikbetrieben eine Reihe der hauptbeteiligten Kolleginnen und Kollegen, Vertrauensleute, nicht wieder eingestellt werden. Das ist nämlich das Ergebnis, wenn man einen Streik beendet ohne Vertrag. (Unruhe)
Und zu dieser Auffassung oder zu einer solchen Haltung wird sich und konnte sich überhaupt nicht der Hauptvorstand hergeben. Denn jede Entlassung, die an irgendeiner Stelle vorgenommen wird, potenziert sich dann, in der gleichen Art und Weise, wie das hier schon zum Ergebnis geschieht. Was wäre denn, wenn also stückweise die Sache zusammenbricht und unsere Hauptbeteiligten bei diesem Streik in Nordrhein und in Hessen jeweils im einzelnen Betrieb nicht wieder eingestellt werden?
Das ist eine Sache, die als Verantwortung sehr viel heißt, wie vieles anderes zusammen. (Zwischenrufe, Tumult!) Das ist ja die Frage, wer sie dann halten kann, wenn kein Friedensschlussabkommen [zustande kommt]. Nun, Kolleginnen und Kollegen, der Präsident des Sozialgerichts hat dann den Tarifvertragsparteien als Vermittlung das Ergebnis angeboten, was ja bekannt ist, die 60,– DM für die beiden Leermonate, (Pfui!) die 7,8 % (Zuruf: auf 10 Monate!) und das 13. Monatsgehalt in Form einer Staffel 1971, 72, 73 und dann 74.[103](Tumult) Liebe Kolleginnen und Kollegen, (Zuruf: Lehrlinge?) sie sind erhöht. [...] (So ‘ne Scheiße!)
Nun, liebe Kollegen, ich brauche, ich verschwende keinen Tropfen Spucke etwa zu erklären, dass dieses materielle Ergebnis ein Erfolg wäre. (Tumult) Wird von mir niemand hören. Ich diskutiere hier nur darüber, wie der Hauptvorstand aus der Gesamtbeurteilung des Bundesgebietes, aller Bezirke, überhaupt ein Ergebnis erzielen kann, dass nach diesem Streik niemand der Beteiligten auf der Strecke bleibt. Und das ist für uns mehr wert als möglicherweise für irgendjemand anderen. (Tumult, Protest, einiger Beifall)
Ludwig Kaufmann, betrieblicher Streikleiter:[104] Kolleginnen und Kollegen, ich rege mich auch in dieser Situation nicht auf. Wer in diesen Tagen so die Ruhe bewahrt hat, der wird sie auch jetzt bewahren und trotzdem was er zu sagen hat, deutlich sagen. Zu der apologetischen Rede von Hermann Rappe, das ist eine Entschuldigungsrede, will ich gar nicht allzu viel sagen. (Bravo!) Ich werde auch den Hauptvorstand nicht nach Personen unterscheiden, sondern der Hauptvorstand ist für mich ein Ganzes, die Beschlüsse wurden dort einstimmig gefasst.
Ich werde auch zu dem, was gelaufen ist, kein Wort der Verteidigung sagen. Wir haben den Eindruck hier in Darmstadt, dass wir in Darmstadt hier verheizt worden sind. (Beifall, Klopfen) Und zwar die besten unserer Organisation, hier meine ich alle diejenigen, die Tag für Tag vor den Toren gestanden haben, die sind verheizt worden. (Beifall) Wir müssen uns ernsthaft fragen, wozu haben wir eigentlich einen Hauptvorstand, wozu haben wir eine Organisation, wenn diese nicht vorher beurteilen können, wie die Voraussetzungen, wie die Möglichkeiten (Jawoll!) in der Bundesrepublik sind. (Beifall)
Wir sind einfach der Meinung, dass eine Organisation vorher die Analyse führen muss und beurteilen muss, wie sieht es aus. (Jawoll! Beifall) Wir müssen uns auch jetzt, nachdem wir in den vergangenen Wochen den aktiven tariflosen Zustand verteidigt haben,[105] wir konnten gar nicht anders, weil man uns von Hannover gesagt hat, wir geben nicht die Zustimmung, wir müssen jetzt die Frage stellen, warum hat man die Zustimmung für die Urabstimmung nicht gegeben? (Beifall) Wir sind der Meinung, weil man einfach einmal testen wollte, wie ist denn eigentlich die Bereitschaft in den Betrieben, wie sieht denn das eigentlich aus? Weil man dann die Möglichkeit in der Hand haben und behalten wollte, im entscheidenden Moment, im richtigen Moment, so wie sie ihn verstehen, den Hahn abzudrehen. Nur, Kolleginnen und Kollegen, wir werden also die Dinge noch längere Zeit analysieren müssen.
Ich möchte aber jetzt einiges sagen, was auf uns zukommt. Die Ratten werden jetzt wieder aus ihren Löchern hervorkommen. (Zustimmung) Und sie werden uns sagen: Seht ihr, sie werden uns ins Ohr zischen, seht ihr, wir haben doch recht gehabt, ihr lagt falsch. Nur eines wäre die schlechteste Reaktion, die wir jetzt in dieser Situation treffen könnten: Kolleginnen und Kollegen, ich meine, die schlechteste Reaktion wäre, jetzt, wenn wir der Organisation den Rücken kehren würden. Das wäre die allerschlechteste Reaktion, ich will es auch begründen, warum.
[...] [D]ie richtige Reaktion ist die, dass wir verstärkt in der Organisation aktiv bleiben, dass wir (Beifall) dafür sorgen, dass dieser Streik, ganz egal wie er ausgeht, zu einem Reinigungsprozess in unserer Organisation führt. (Zustimmung) Und dieser Reinigungsprozess darf auch nicht vor dem Hauptvorstand Halt machen. (Bravo!) Wir werden bis zum nächsten Gewerkschaftstag die Satzungen verändern müssen. (Vorher! Jawoll!) – Die Anträge müssen aber vorbereitet werden – wir werden also die Tarifhoheit wegnehmen müssen. (Beifall) Sonst bleibt nämlich alles, was man über betriebsnahe Tarifpolitik und bezirkliche Tarifhoheit sagt, ein leeres Gewäsch. (Beifall) Von mir werdet ihr also, solange das nicht geklärt ist, kein Wort mehr über betriebsnahe Tarifpolitik und bezirkliche Tarifhoheit hören.[106]
Und ich habe hier persönlich, nach dem, was geschehen ist, eine persönliche Konsequenz zu ziehen, und das möchte ich in dieser Versammlung heute Morgen hier zur Abstimmung stellen. Für mich steht die Frage, nach allem was ich euch in diesen Wochen gesagt habe, ob ich noch in dieser hessischen Tarifkommission bleiben kann oder nicht? Ich will das hier in diesem Rahmen heute Morgen geklärt haben. (Zurufe: Nicht raus! Nein! Nein! Wenigstens ein vernünftiger Mann!)
Freunde, in den nächsten Tagen wird natürlich auch sehr viel über den Verlust gesprochen werden, den die Firma Merck erlitten hat. Nur dazu eine Bemerkung: Die Firma Merck wird keine Mark verlieren. Der ganze Ausfall wird vom Arbeitgeberverband gedeckt.
Und noch eine persönliche Bemerkung, die nur auf mich bezogen gilt, das braucht also keiner für sich in Anspruch zu nehmen, Kolleginnen und Kollegen, auch wenn dieser Streik nicht eine Mark mehr gebracht hätte, dann möchte ich ihn nicht missen. (Bravo) Dieser Streik war für mich persönlich so wertvoll, weil ich da einmal endlich unterscheiden konnte, wer sind eigentlich diejenigen, die zu uns stehen, und wer sind diejenigen, die gegen uns sind. Und noch etwas, die Kolleginnen und Kollegen, die in diesem Streik an der Spitze gestanden haben, sich für euch eingesetzt haben, für unsere Forderungen, die werden auch in Zukunft im Betrieb für alle diejenigen eintreten, die Tag für Tag im Betrieb ihre Arbeit verrichten, das dürfen wir nicht vergessen. (Beifall) Die anderen, die sich jetzt nicht gezeigt haben, die werden sich auch im Betrieb genauso verhalten und werden die Interessen derjenigen, die Tag für Tag arbeiten, nur so mau und halbherzig wahrnehmen.
Ich möchte an dieser Stelle abschließend allen für ihre aktive Unterstützung danken und die Bitte aussprechen, lasst uns jetzt auch in dieser schwierigen Situation nicht im Stich, und dies gilt ganz besonders auch für den Geschäftsführer unserer Verwaltungsstelle, für den Kollegen Lang und die Sekretäre.[107](Beifall) Wir in Darmstadt werden in nächster Zeit sowohl von der Organisation und auch von der Geschäftsleitung derartig unter Beschuss genommen werden, dass wir auch in diesen nächsten Monaten eure ganze Unterstützung brauchen [...]. Wenn wir da im Stich gelassen werden, dann können [wir] wirklich für Jahre hinaus einpacken. Dann war alles umsonst. Danke. (Beifall)
Horst Keimig, Sprecher der Vertrauensleute:[108] Vielen Dank, Ludwig. Ich hoffe, Kollegen, dass der Günter Lang und die Sekretäre genauso hier unter uns bleiben, und ich bitte euch alle, dem Günter, wer immer dieser Ansicht ist, ihm das zu sagen, denn schwieriger als für einen Sekretär in dieser Stunde ist es für keinen von uns. Denn ihr müsst bedenken, der Sekretär ist den gesamten Verfolgungen, würde ich schon sagen, und Anfeindungen, derer ausgesetzt, die diesen Verrat verbrochen haben. Und ich würde sagen, wir brauchen dich, Günter. Aber euch, das will ich euch sagen, Rappe, die Sicherheit, die wir brauchen in den Betrieben, um nicht verlassen und verraten zu werden, und rausgeworfen zu werden, diese Sicherheit, das ist nicht euer Papier, sondern das ist unsere Solidarität. Und die seid ihr dabei zu zerstören mit solch einer Art. (Beifall) Du breitest hier groß aus, Rappe, ihr hättet die ganze Situation im Bundesgebiet beachtet; was stellt ihr euch eigentlich vor, was hier in Hessen los ist? Warum [...] könnt ihr [es] nicht dem Bezirk Hessen, der als einziger Bezirk eine sozial akzentuierte, lineare Forderung abgesetzt hat, nicht überlassen, darüber zu entscheiden, ob er den Kampf weiterführt oder nicht?[109](Beifall)
Ihr hättet die Verräter in der SPD-Regierung und im Hauptvorstand (Pfui, Protest, Beifall), ihr hättet diesen Leuten sagen können, bitte, wendet euch mit euren Vermittlungsversuchen an die Bezirke. Wendet euch an den hessischen Bezirk. Der wird dann selber entscheiden müssen, der hätte auch zu diesen Vermittlungsgesprächen, da hätten die Bezirke eingeladen werden müssen, und die Tarifautonomie hätte erhalten werden müssen. Wir haben noch vor Tagen gehört, und das hat in den Nachrichten unserer Organisation gestanden, da hat gestanden: IG Chemie-Papier-Keramik auf diesen Flugblättern. [...] Und da hat darauf gestanden, der rheinland-pfälzische Hut, das sind die 7,8 Prozent, passt nicht auf einen hessischen Kopf.[110]
Und dafür haben wir einen halben Monat gestreikt, um das wahr zu machen, und dann bekommen wir ein Handgeld von 60,– DM, um uns das abkaufen zu lassen. Wir werden es in den Betrieben schwer haben, ich glaube auch nicht, dass es hier viel Sinn hat, Dampf abzulassen, deshalb seid ihr hierhergekommen. [...] Wir schreien uns hier mal aus, und unsere Wut bleibt ohnmächtig, das habt ihr einkalkuliert. Ihr wisst auch ganz genau, was wir für Merck getan haben, und was es für Merck für Folgen hat, ihr wisst es sehr genau, du selbst warst hier bei Merck und hast die Mobilisierung gesehen. [...] Ich kann mich nur den Worten meines Vorredners Kaufmann anschließen, wir müssen nun zusammenhalten, wir müssen sehen, dass Kerle wie ihr aus dem Hauptvorstand wegkommen. Außerdem sollten wir uns überlegen, ob wir nicht heute Nachmittag nach Frankfurt fahren und einmal diese Tarifkommission fragen, was sie in dieser Situation macht und welche Erklärungen sie in dieser Situation abgibt. Die tagen ab 12 Uhr. (Bravo!)
Ludwig Kaufmann: Wir möchten natürlich jetzt einmal genau wissen, Kollege Rappe, was nun eigentlich vereinbart worden ist und wie das nun für uns weitergehen soll. Wir befinden uns ja noch im Streik. (Bravo!) [...] Die Vertreter der betrieblichen Streikleitungen in Hessen verlangen, dass – bevor die hessische Tarifkommission einen Beschluss über das Bonner Ergebnis fasst – die Streikversammlungen am Montag abgewartet werden. Erst danach kann die Tarifkommission ihr Votum abgeben [...]. (Beifall) Und dieser Antrag wurde von den streikenden Betrieben und den beteiligten Geschäftsführern gegen fünf Stimmen angenommen.
Armin Dressler, Stellvertretender Vertrauensleutesprecher Merck: Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Hauenschild äußerte gestern Abend genauso wie sein Gegenüber, Herr Esser vom Arbeitgeberverband, schwere Bedenken, ob dieser Kompromiss genommen werden könne.[111] Er schloss dabei mit den Worten: [...] ich hoffe, er wird Zustimmung finden. Wir hoffen jedoch, dass der Kollege Hauenschild nicht im Ernst erwartet hat, dass wir in Hessen in dieser Weise das Ziel unseres Streiks verraten können. Ich glaube, wir sind uns sicher alle einig, dass wir ohne die Linearforderung den Streik in diesem Ausmaß nie bekommen hätten. Nur gemeinsam sind wir stark für die 120,– DM, das war die zündende Parole, mit der wir Arbeiter und Angestellten unsere Arbeitsstätte verlassen haben. [...] [D]as Schlimmste ist, dass jetzt der Eindruck entsteht, dass plötzlich unsere Widersacher in unserer eigenen Organisation und unserem Hauptvorstand sitzen. (Beifall) Und ich meine, jeder, der aus den Reihen des Bezirks- und des Hauptvorstandes – vor allem des Hauptvorstandes – den aufgezwungenen Prozentabschluss gegenüber streikenden Arbeitern als eine gute Sache zu vertreten wagt, der sollte nach § 7 unserer Satzung aus der Gewerkschaft ausgeschlossen werden. (Beifall) § 7, Absatz 1a, da steht: wer die Gewerkschaft oder die Interessen seiner Mitglieder gröblich verletzt, [ist] auszuschließen.[112] Das gilt auch für die Verantwortlichen dieses Abschlusses. (Beifall) Kollegen, wir sind für eine Linearforderung in den Streik gegangen, und wir haben nur das Recht, einem Linearangebot zuzustimmen, und keinem anderen. [...]
HG Lang: Kolleginnen und Kollegen, ich möchte jetzt auch mal Stellung nehmen. Ich möchte eigentlich jetzt sagen: ich schäme mich. Ich schäme mich, weil ich diese Situation, wie sie heute vor uns steht, nicht vorausgesehen habe. Man hätte eigentlich von mir erwarten können, dass ich das sehe. Man hätte von mir erwarten können [zu erkennen, dass] in dem Moment, wo der Hauptvorstand unserer Organisation ablehnt, Urabstimmung zuzulassen, nur ein solcher Ausweg für den Hauptvorstand möglich war. Wir haben in Hessen vor Beginn des aktiven tariflosen Zustandes in der Tarifkommission und auch unter den Hauptamtlichen darüber gesprochen, der aktive tariflose Zustand ist sicherlich ein gutes Mittel, um in den Betrieben die Kampfkraft unserer organisierten Kolleginnen und Kollegen darzustellen. Es muss aber nicht unbedingt ein gutes Mittel sein, um den Streik vor dem Betrieb weiterzuführen. Wir haben uns vorgestellt, dass eben diese Frage aktiver tarifloser Zustand und Urabstimmung in einem Zusammenhang stehen muss mit der Ausweitung des Kampfes. Das heißt: Dass die Urabstimmung notwendigerweise vorhanden sein muss, um eine weitere Ausdehnung des Streiks in verschiedenen Bereichen zu ermöglichen. Der Hauptvorstand hat dieses unser Ansinnen abgelehnt. Trotzdem glaubte ich nicht daran, dass der Hauptvorstand bereit ist, in einem Gespräch in Bonn so ohne Konsequenzen gegenüber den Streikenden zu handeln. Ich meine, das muss man feststellen, dass die Kolleginnen und Kollegen, die im Streik waren, bei der Entscheidung des Hauptvorstandes überhaupt nicht beachtet wurden. (Beifall) Dass diese Entscheidung getroffen wurde, [lag] an den Laumännern in dieser Organisation (Bravo, Beifall) Ich bleibe bei der Auffassung, Freunde, dass dieses Scheiß-Ergebnis auch in der nächsten Woche noch möglich gewesen wäre. Das hätten wir auch noch in der nächsten Woche erreichen können. Denn schlechter konnte es ja gar nicht werden. (Jawoll!) (Bravo, Beifall) [...]
Ich meine, Freunde, mit diesem Ergebnis können wir, bei all dem, was wir sonst tun, nicht erhobenen Hauptes zurückkehren. Sondern wir müssen uns sicherlich einigen Anfeindungen aussetzen. Ich persönlich bin traurig darüber, dass eine sechsjährige Arbeit, die wir hier geleistet haben, durch einen Federstrich zerstört wurde.[113](Beifall) Ich weiß nicht, ob ich und meine Kollegen in der Lage sind, das alles noch einmal von vorne zu beginnen. Den Willen dazu haben wir sicherlich, und es kommt – meine ich – jetzt wirklich darauf an, Freunde, dass wir das Feld der Organisation [nicht denen] überlassen, die mit grinsendem Gesicht dieses Ergebnis zur Kenntnis nehmen und sich als die Klügeren vielleicht sogar noch feiern lassen. Wenn wir das tun, Freunde, dann sind wir sicherlich verraten und verkauft. Und dann gibt es auch keine Möglichkeit mehr, in dieser Organisation noch Pflöcke zu setzen, die eben dahin führen sollen, dass diese Selbsthilfeorganisation geschaffen wurde für die Interessenvertretung der Arbeitnehmer. Wenn wir diesen Leuten, wie gesagt, das Feld überlassen, dann damit, dass die Enttäuschung bei denen am größten sein muss, die am härtesten in dieser Auseinandersetzung standen, und das verstehe ich, weil ich da selbst betroffen bin, aber trotzdem meine ich, dass diese Enttäuschung nicht dazu führen darf, dass diese Entscheidung keine Konsequenz hat. Ich, Freunde, bin der Auffassung, bei der nächsten Bezirksdelegiertenkonferenz darf keiner, von denen, die hier uns in den Rücken gefallen sind, auch nicht von den ehrenamtlichen Hauptvorstandsmitgliedern, wieder in den Hauptvorstand gewählt werden. (Beifall – Bravo, Günter) Ich bin der Auffassung, dass in diesem Bezirksvorstand Hessen kein Vertreter der Farbwerke Hoechst mehr hineingehört. (Jawoll. Beifall) Es muss unsere Aufgabe sein, das zu verhindern. Und das können wir nur, Freunde, wenn die, die aktiv hier mitgestreikt haben, bei der Stange bleiben. Wenn die die Politik dieser Organisation in Zukunft bestimmen werden. Und, Freunde, ich bitte euch darum, mit jedem Einzelnen darüber zu diskutieren, jeden Einzelnen davon zu überzeugen, dass es gerade jetzt notwendig ist, den Kampf gegen diese Verräter der Arbeiterschaft aufzunehmen. (Bravo, Beifall) (langer Beifall, Zwischenrufe)
Hermann Rappe: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zunächst einmal ein paar Gesichtspunkte sagen über die Frage, warum wir keine Urabstimmung zugelassen haben. (Oh, Aha, Unruhe) Zunächst einmal ging es um die Frage, ob bei Scheitern der Bundesschlichtungsverhandlungen eine Urabstimmung überhaupt möglich war.
Ob wir aus innerorganisatorischen Gründen diesen Weg gehen sollten oder nicht. Unsere Einschätzung in Bezug auf die Großbetriebe war, dass wir hier keine Urabstimmung gewinnen würden, ich meine bei Bayer und Hoechst. (Zwischenruf: Dann darf man uns aber nicht verheizen!) Ihr könnt mit dem Hauptvorstand auf jeder Ebene in eine Abrechnung treten, ich verschweige hier ja gar nicht, warum wir uns so verhalten haben. Wir haben jedenfalls diese Frage so eingeschätzt, und dieser Einschätzung haben sich auch eine Reihe Kollegen aus dem Lande angeschlossen. (Unruhe. Zwischenrufe) Darum wurde die Entscheidung so gefällt, ohne Urabstimmung diese Situation zu beginnen, d. h. nicht diesen üblichen Weg einer Urabstimmung zu gehen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, (Zwischenrufe, Unruhe) wenn man diesen Weg beschreitet, dann kann man ihn auch mittendrin nicht ändern, weil das eine Frage der Rechtsverfolgung ist vor dem Gericht. (Unruhe) Wenn wir, wenn wir die Satzung so auslegen und eine Aktion beginnen, kann man mitten im Strom nichts ändern. (Weil ihr euch in die Hosen geschissen habt!) Das ist eine Frage, die der Hauptvorstand – das hat doch damit nichts zu tun – das hat doch damit etwas zu tun, ob man in einem Rechtsstreit nachher die ganze Organisation aufs Spiel setzt. (Unruhe, Zwischenrufe, Sirene) Und das war der Tatbestand (Zwischenrufe) Ruhe, seid doch mal ruhig. (Lang über Megaphon: Ruhe, lasst den Kollegen Rappe ausreden) Es gibt nur zwei Möglichkeiten jetzt: ich kann hier meine Äußerungen an den Mann bringen, und ihr ertragt das, ihr könnt euch ja mit mir auseinandersetzen, mit dem Hauptvorstand, oder ich muss es gleich von vornherein lassen, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. (Zwischenrufe) Ich will ja nur einmal darlegen, was zu einer Beendigung und zu einem Erfolg des Tarifkonflikts unsere Auffassung war. Wir gehen in diese Auseinandersetzung ohne Urabstimmung, wenn wir mit Urabstimmung gehen, haben wir schon die Schlacht verloren, bevor sie beginnt. (Und was ist jetzt? Das habt ihr uns vorher nicht gesagt! Das war ein Spiel, das war ein Spiel auf unsere Kosten. Lumpen! Das war eure Haltung von vornherein, wenn ich das weiß vom Hauptvorstand [...], dann muss ich die Finger davon lassen. – Und das Vertrauen hatten wir in den Hauptvorstand) (Tumult)
Gebauer, Betriebsrätin Merck: Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns die Sache noch mal ganz anders vor Augen halten. Glauben wir, dass im Hauptvorstand Herrgötter sitzen? [...] Ich sehe ein irgendwie, wir kommen uns verraten vor. Ich selbst möchte absolut zu diesem Streik stehen, obwohl ich davor gewarnt habe. Aber jetzt in dieser Situation gibt es nur eins, dazu zu stehen und diese Situation, die nicht mehr zu ändern ist, nicht durch Auseinandersetzungen in dieser Organisation zu bringen. (Pfui! Pfiffe) (Unruhe) (Lang über Megaphon: Freunde, lasst doch die Kollegin Gebauer reden, sie hat auch jeden Tag vor dem Tor gestanden) Denn, es ist immer gut, wenn man andere verurteilt, und selbst nichts dazu tut. (Wir haben auch genug getan) [...] Wir sollten vernünftig überlegen, was tun wir jetzt. Was tun wir jetzt, wenn wir wirklich wieder hineingehen müssen, jetzt müssen wir unseren Standpunkt sauber vertreten. Etwas anderes wird uns gar nicht übrigbleiben. (Beifall) [...]
Krug, Merck: Kolleginnen und Kollegen, der Hauptvorstand hat ja gerade eben bekannt gegeben, aus welchen Gründen er der Meinung war, warum das Mittel Urabstimmung für den bezirklichen Streik nicht geeignet sei. Er hat eben gesagt, bei den Farbwerken Hoechst und bei Bayer Leverkusen wäre eine Urabstimmung zwecklos, und zwar die Kollegen dort, wären nicht in der Lage, was zu tun. Offensichtlich war es aber so, dass die Kollegen gar nicht gefragt worden sind. Vor eineinhalb Wochen ist eine Konferenz der Vertrauensleuteleitung bei den Farbwerken Hoechst gewesen, und da ist darüber diskutiert worden, welche Kampfmaßnahmen überhaupt eingeleitet werden könnten zur Durchsetzung, überhaupt von Kampfmaßnahmen in diesen großen Mammutbetrieben. Und da haben sich gerade die Abteilungen, die Vertrauensleute der kampfbereiten Abteilungen, für die Urabstimmung ausgesprochen. Und genau deswegen, weil diese Kollegen die Urabstimmungsforderung gestellt haben, genau deswegen ist dann das Ergebnis dieser Diskussion weiter in den Bezirk hineingedrungen. Ich möchte noch einmal kurz erinnern, [...] wir haben gesehen, Kollegen, dieser aktive tariflose Zustand hätte auch zentralisiert werden können, er ist nicht zentralisiert worden. Die Streikmaßnahmen, die bisher stattgefunden haben, in diesen vergangenen drei Wochen, wir sind auf betrieblicher Ebene sitzengeblieben, manche Kollegen sind im Streik gewesen, sind dann wieder malochen gegangen, und sind jetzt wieder draußen. So kann man die Unternehmer jedenfalls nicht in die Knie zwingen. Wenn der Hauptvorstand der Meinung ist, und das hat der Kollege Rappe eindeutig gesagt, dass die chemische Industrie nicht in der Lage ist, einen dreiwöchigen oder vierwöchigen Streik durchzuhalten, dann hätte man diesen Streik zentral organisieren müssen. Dann hätten wir beweisen müssen, dass wir in der Lage sind, die chemische Industrie auch in Hessen in die Knie zu zwingen. (Beifall) Und das hat der Hauptvorstand wiederum unterlassen. Diese zentralisierten Kampfmaßnahmen. Ja, jetzt stehen wir also vor der Frage, was zu tun ist. Der Kollege Heinz-Günter Lang und der Kollege Ludwig Kaufmann haben es schon angedeutet: Wir haben dafür zu sorgen, dass wir, die kampfbereiten Kollegen, die Mitglieder unserer Industriegewerkschaft, [...] dass wir in den Gewerkschaften mehr Demokratie haben, damit wir in den Gewerkschaften stärkeren Einfluss auf die Tarifauseinandersetzungen, auf sämtliches gewerkschaftliches Leben bekommen. [...]
Heinrich Schwind, Merck: Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Rappe hat eine schöne Rede geredet, der Kollege Rappe ist ein ehrenwerter Mann. Genauso ehrenwerte Männer sitzen im Hauptvorstand. Kollegin Gebauer, es geht jetzt hier darum, [...], dass wir jetzt nicht hier sagen, der böse Rappe oder der böse Hauenschild, sondern dass wir ganz klar erkennen, welche Funktion der Hauptvorstand als Hauptvorstand hat, und der Hauptvorstand hat diese Funktion einstimmig ausgefüllt. Da gibt es also keine Widerrede bis jetzt, ich glaube auch nicht, dass da noch was auftauchen wird. Das wird auch heißen, dass diese Funktion des Hauptvorstands, ganz egal welche Person nun dort steht, einstimmig weg muss vom Fenster. Und wenn der Kollege Rappe vorhin, in einem Gespräch, das ich zufällig mitgehört habe, wo ein Kollege gesagt hat, der Hauptvorstand muss weg, da hat der Kollege Rappe gesagt: Habt ihr denn bessere Männer? Da kann ich sagen, Kollege Rappe, es haben bessere Männer vor den Betrieben gestanden. (Beifall) Im Hauptvorstand sind lauter ehrenwerte Männer, von denen werden wir jetzt sehr viel hören, doch leider haben wir vom Hauptvorstand keine zentrale Linie für die Auseinandersetzung und in der Auseinandersetzung gehört. Da haben wir vom Hauptvorstand nicht sehr viel gehört. Kollege Rappe hat gesagt, der Hauptvorstand hat die Lage sondiert. Vielleicht hat er auch Betriebe gezählt und die Streikenden gezählt. Aber dass der Hauptvorstand Initiativen ausgegeben hätte, Richtlinien ausgegeben hätte, Parolen ausgegeben hätte, davon ist mir nicht sehr viel bekannt geworden, Kollege Rappe. (Beifall) Und der Kollege Rappe sagt, wir können in der Auseinandersetzung nicht auf einmal die Taktik ändern. Ich bin mir da nicht sicher. Wenn wir sagen, unsere Satzung lässt zu, dass wir ohne Urabstimmung den tariflosen aktiven Zustand führen, dann lässt die Satzung aber genauso zu, dass wir den aktiven tariflosen Zustand nach einer Weile beenden und übergehen zum Flächenstreik oder einer sonstigen Maßnahme. Und wenn die Kollegen von der Firma Hoechst bereit gewesen wären und die Urabstimmung gefordert haben und der Kollege Rappe hier sagt, ich persönlich – ehrenwerter Kollege Rappe – konnte das nicht zulassen, dann kann ich nur sagen, hätten wir die Kollegen bei Hoechst gefragt, und wenn bei Hoechst ein mieses Ergebnis rausgekommen wäre, dann wäre der Abschluss auch nicht schlechter gewesen wie so, wo überhaupt kein Ergebnis rausgekommen ist. (Beifall) Eins ist klar, Kolleginnen und Kollegen, mit solchen Maßnahmen machen nicht wir, machen nicht die linken Hessen oder – ich bin also kein Mitglied der KPD/ML[114] – solche Gruppen, die teilweise sehr verschrien worden sind in der Auseinandersetzung, machen die Gruppen nicht unsere Organisation kaputt, sondern wir selber machen die Organisation kaputt, wenn wir uns sowas bieten lassen. (Jawoll, Bravo)
Hermann Rappe, Hauptvorstand: Kollegen, ich will gleich eine Bemerkung vorweg machen. Unter dem Odium, unter dem Eindruck, unter den Zwischenrufen dass ihr mich oder andere Vorstandsmitglieder als Verräter oder Lumpen bezeichnet, rede ich hier kein weiteres Wort mehr, das ist unter meiner Würde, das geht nicht. (Pfui, Beifall) Das mögt ihr nun beurteilen, wie ihr wollt, aber wir haben uns mit diesem Streik Tag und Nacht beschäftigt, und wir haben sehr wohl Konzeptionen bedacht und überlegt. Und es kann nicht so sein, dass hier mit einer Handbewegung ohne weitere Diskussion und ohne weitere Kenntnis wir einfach als Arbeiterverräter gestempelt werden, weder bei euch noch bei uns. (Zwischenrufe)
So, ich möchte [mich] jetzt noch einmal mit dem Gesichtspunkt der möglichen Urabstimmung und der Entwicklung dieser Streiksituation beschäftigen, mindestens darlegen, wieso wir uns so verhalten haben. Es gibt keinen Zweifel darüber, unsere Satzungsbestimmung, diesen Arbeitskampf ohne Urabstimmung führen zu können oder überhaupt Arbeitskämpfe so führen zu können, hat bis zum Eintreten dieser Situation, wo wir es benutzt haben einmal in diesem Jahr, niemand Außenstehenden gestört. Diese Frage wird ganz sicher von unseren Gegnern rechtlich aufgegriffen und entschieden werden. Dagegen werden wir uns höchstwahrscheinlich gar nicht wehren können, dass einzelne Unternehmer in der Bundesrepublik möglicherweise einen solchen Rechtsstreit führen (Was soll’s?) Nun, was soll’s? Aber, gesetzt den Fall, ein solcher Rechtsstreit läuft uns bei der bekannten Situation in den deutschen Gerichten ans Bein, dann würden wir, hätten wir diese Frage mitten im Streik verändert, möglicherweise Ausfallentwicklungen auf den Tisch gelegt [bekommen]. Ob es die Unternehmer getan hätten oder nicht, ist auch nicht zu beweisen. Aber der Hauptvorstand hat zu überlegen, ob er die Organisation in eine solche Frage bringen kann. Denn die ist ja mit 10, 20 oder 30 Millionen nicht gemacht, sondern es kann um den Bestand der Organisation gehen. Das mindestens hat der Hauptvorstand zu überdenken. Deshalb also war der Hauptvorstand der Auffassung, und auch ich persönlich, mitten im Strom sind die Pferde nicht zu wechseln. Nun ein zweiter Gesichtspunkt: Ich habe schon angedeutet in Bezug auf die Großbetriebe, warum wir diesen Weg so gegangen sind. Wir sind ihn aber auch gegangen, weil wir der Auffassung waren, und hier kann man, das [sei] hier jetzt nur unterkühlt festgestellt, hier kann man dem Hauptvorstand nicht übel nehmen, dass er eine Forderung der Tarifkommission, eine einstimmige Forderung der Tarifkommission auch als ein Votum nimmt, dass dahinter etwas sitzt. Und wenn Tarifkommissionsmitglieder hier in Hessen eine Forderung aufgestellt haben, deren Absicht oder deren Betriebe schon von vornherein hinter der Forderung nicht standen, das ist ja nicht auf euch gezielt, sondern auf einige andere Betriebe, dann ist der Tatbestand, dass einer nicht zu dieser Forderung steht, keine Schuld des Hauptvorstandes, sondern eine Schuld der Kollegen, die aus diesem Betrieb kommen. (Zwischenrufe) Nun gut, dann ist es die Schuld der Männer, die da sitzen. Aber es ist (Zwischenrufe) nicht die Schuld, wir haben die Tarifkommissionen (Ihr wollt die Schuld abschieben!) – ich will hier gar keine Schwarzen Peter verteilen, die Schwarzen Peter habe ich in der Vertrauensleutesitzung Farbwerke Hoechst verteilt, wo sie hingehören. (Aufhören!) Ja, Freunde, das hat ja keinen Sinn. Ich stimme mit denen hier überein, die diese Auffassung vertreten, dass die Funktionäre der Farbwerke Hoechst bis auf Ausnahmen höchstwahrscheinlich nicht geglaubt haben, dass diese Situation so heiß wird. Sie haben geglaubt, auch in dieser Tarifrunde... (Zwischenrufe, Unruhe) Ich schlage euch vor, mit den Funktionären auf der Ebene des Bezirks Hessen selber zu diskutieren. (Das tun wir auch!) Das ist der zweite Tatbestand, um den wir nicht herumkönnen.
Nun, liebe Kollegen, ich will (Hör doch auf mit liebe Kollegen!) noch einmal feststellen, dass der Bezirk Hessen also eine lineare Forderung hatte. Dass für diese lineare Forderung auch die Betriebe im Bezirk Hessen, wenn es heiß wurde, auf die Straße mussten, dazu gehörten auch andere als die hier versammelten Betriebe. Aber sie sind nicht auf die Straße gegangen. Aber auch das ist keine Schuld des Hauptvorstandes, sondern eine Einschätzung der Situation in den Betrieben. [...] Und ein weiterer Gesichtspunkt: Hier ist in der Diskussion erklärt worden, es muss nicht eure Sorge in Hannover sein, ob Kollegen auf der Strecke bleiben oder nicht. Und ihr könnt damit nicht begründen, dass ihr einen Tarifvertrag wollt mit einem solchen Streikschlussprotokoll. Wenn jemand auf der Strecke bleibt, ist es unsere Sache und nicht eure Sorge. Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, das scheint mir ein bisschen weitgegriffen zu sein. (Unruhe) [...] Das heißt also: Unsere Einschätzung war und ist und war nicht vom grünen Tisch, sondern unmittelbar aus den Betrieben und aus den Meinungen, die es aus den Bezirken dazu gab, dass ein anderes Ergebnis materiell nicht zu erreichen ist, weil dazu die Streikfront nicht steht. (Haben wir die Streikfront oder nicht? Buh!) Auf Bundesebene, auf Bundesebene nicht steht, so bitter das für euch ist, das weiß ich ja. (Zwischenrufe. Unruhe) Liebe Kollegen, liebe Kollegen, ihr braucht uns doch keine Vorwürfe für die Kollegen in anderen Bezirken zu machen. Das könnt ihr euch doch schenken. Glaubt denn ein einziger von euch, glaubt denn ein einziger von euch, wir würden diese Empfehlung abgeben in irgendeiner Überzeugung, dass das das gewollte Ergebnis dieser Aktion ist? Das wird doch keiner uns zutrauen. (Doch! Sicher!) Wir betrachten das materielle Ergebnis genauso wie ihr. Aber ein anderes materielles [Ergebnis] ist nach unserer Einschätzung nicht zu holen gewesen in der nächsten Woche. (Pfui, Pfiffe, Buh-Rufe) (Ist doch jedes Jahr das Gleiche!) Weil – entschuldige bitte, ich werde dazu noch was sagen – jede Tarifkommission und jeder verantwortliche Mann im Bezirk und im Hauptvorstand kann ohne streikende Kollegen in den betroffenen Betrieben kein anderes Ergebnis holen. Dass das hier anders ist, bezweifele ich ja gar nicht, aber wir haben die Nachbartruppen dazu nicht. Das war die Situation.
Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiterer Gesichtspunkt. Ihr sagt, hier haben Diskussionsredner erklärt, der Hauptvorstand muss die Situation vorher einschätzen. Nun gut, was wäre denn für eine Diskussion entstanden, wenn wir etwa aus Kleingläubigkeit schon vorher gesagt hätten, wir glauben, dass es nicht geht? In einer solchen Situation kann er nur mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, und das haben wir getan, auch als Personen (Zwischenrufe!), genauso wie ihr, genauso wie ihr. (Pfui, Pfiffe) (Zwischenrufe) (Bitte?) Dann müsst ihr einen Gewerkschaftstag einberufen! Die Tatsache also, dass dieser Hauptvorstand genauso in dieser Situation stand, nicht sagen zu wollen und sagen zu können, es ist überhaupt keine Aktion denkbar. Wenn ihr uns, wenn ihr uns angreifen wollt in dieser Frage, dann eigentlich in umgekehrter Position wie manches Mal in den vergangenen Jahren, dass wir überhaupt solch eine Aktion versucht haben, auch aus unserer Sicht in einer Reihe von Bezirken, in Bewegung zu bekommen. Wir waren der Auffassung und sind der Auffassung gewesen, bis zuletzt, dass mit dieser Form des Streiks ein anderes Ergebnis zu erreichen ist. Hier wird diskutiert, was haben wir gemacht in Sachen Rheinland-Pfalz. [...] Das ist nun die andere Seite der Medaille, dass es eine bezirkliche Tarifhoheit gibt. Das Ergebnis Rheinland-Pfalz war von uns nicht wegzuwischen. Und wir konnten auch nicht wegwischen, dass der Bezirk Rheinland-Pfalz mit einer solchen Regelung vorausgeht. Ihr könnt heute, vielleicht sagt das der eine oder andere, als das Ergebnis Rheinland-Pfalz auf dem Tisch lag, hättet ihr zu gar keiner Aktion mehr aufrufen dürfen. [...] Aber, liebe Freunde, dann hätten wir von vornherein das dort aufgestellte Ergebnis als Lohndiktat für die ganze Bundesrepublik hingenommen (Das hat man ja gemacht! Weitere Zwischenrufe), ohne den ernsthaften Versuch, es zu verändern. Ich will eines dazu sagen (Nur, dass wir den Versuch mit unserem Blut bezahlen müssen!) – Nein, (Weiter gar nichts) nein – das Ergebnis von Rheinland-Pfalz und das da aufgestellte Diktat des Arbeitgeberverbandes ist minimal zwar, aber es ist durchbrochen worden. Wenn man vom Grundsatz ausgeht, dann ist es durchbrochen worden. (Gelächter) Nun, liebe Kollegen, einen anderen Gesichtspunkt: Es ist hier von einem Diskussionsredner gesagt worden, das Ganze ist ein Ergebnis von irgendwelchen Ministern, oder Politikern der SPD, von Schiller[115] oder von irgendwelchen anderen Leuten. (Jawoll!) Auch wenn ihr es mir hier nicht abnehmt, das weiß ich, auch wenn ihr es hier nicht abnehmt, wir wollten kein Minister-Gespräch, keine Minister-Vermittlung in Bonn. (Das war das kleinere Übel für euch!) Entschuldige bitte, jeder Hauptvorstand und jede Tarifkommission kommt dann, wenn ein – überleg dir das auch mal – wenn ein Streik am Abbröckeln ist, (Tumult) liebe Kolleginnen und Kollegen (Tumult), im Bundesgebiet hat es nun mal gebröckelt und auch im Bereich von Hessen. (Tumult) Da gibt es keine andere Frage, als dass man versucht, den Tarifkonflikt dann zu beenden, ehe Schlimmeres passiert. (Ha, Ha) Und insofern (Tumult) sind wir diesem Schlichtungsgespräch des Bundessozialgerichtspräsidenten nicht ausgewichen.
Nun, Freunde, wie geht es weiter. Es gibt keinen Zweifel darüber, (Dass wir uns schämen müssen!) die Tarifkommissionen werden diese Frage heute behandeln, der Hauptvorstand tagt heute Nachmittag um 17 Uhr. Der Hauptvorstand kann keinen Tarifvertrag abschließen. Aber er kann, (Zwischenrufe, Tumult) aber der Hauptvorstand muss überlegen, wie die Situation aussieht in den einzelnen Bezirken, wie die Ergebnisse in den Tarifkommissionen aussehen, wie die Streikfront aussehen könnte und welche Chancen darin liegen, und welche anderen Ergebnisse und Resultate auch erzielt werden könnten. Und das müssen wir für die Bundesrepublik und nicht nur für Darmstadt entscheiden. Diese Entscheidung wird uns heute Nachmittag nicht abgenommen. Ob wir da sitzen oder andere 8, das ist völlig egal. (Zwischenrufe) (Dann macht doch gleich Bundestarife, das wollt ihr doch) Diese Frage muss entschieden werden. (Das ist ja entschieden) Das ist nicht wahr, das ist nicht entschieden. Der Hauptvorstand rät den Tarifkommissionen zur Annahme, und, liebe Freunde, das eine bitte ich mir abzunehmen, wir geben diesen Rat mit der Faust in der Tasche. (Gelächter. Deine Faust möchte ich sehen!) Wir sind der Überzeugung, (Ihr seid auf der falschen Seite, Mensch) wir sind davon überzeugt, (Ruhe!) dass dieser Streik, mag er momentan beurteilt werden wie er will, auch für die Arbeitgeber der chemischen Industrie eine erhebliche Lehre gewesen ist. Sie werden bei Tarifverhandlungen der kommenden Jahre sich anders verhalten als bisher. (Ha, Ha!) Ihr schätzt eure eigene Position nach eurem Streik, den ihr geschlossen geführt habt, falsch ein, wenn ihr meint, ihr müsst mit dem Kopf unter dem Arm in den Betrieb gehen. (Du musst ja nicht in den Betrieb gehen!) (Vereinzelter Beifall, Ruhe!)
HG Lang: Kolleginnen und Kollegen, ich habe jetzt hier noch zwei Wortmeldungen, ich will also mal die Frage stellen, wer noch weiter das Wort wünscht. Wer will noch was sagen? [...]
Ludwig Kaffenberger, Röhm: Kolleginnen und Kollegen, einer der bedeutendsten Funktionäre, für mich einer der bedeutendsten, hat gesagt: Bist du Amboss, dann trage es geduldig, bist du Hammer, dann schlage ich zu. Wir sind kein Amboss mehr, das haben wir durch unsere Aktionen bewiesen. Wir sind aber auch noch nicht der Vorschlaghammer, der wir sein müssen. Nur durch diese Entschlossenheit, durch unsere Entschlossenheit in der Zukunft, können wir zu diesem Vorschlaghammer werden, zu dem wir werden wollen. [...] Diese Situation hat uns mehr Schulung eingebracht als jede theoretische Schulung. Dies war praktisch Schulung für uns alle. [...] Wir sollten uns nach dem Kampf bewusst werden, egal wie er ausgeht, dass wir diese Leute in die Spitze der Funktion hineinbekommen, die uns genehm sind und nicht die uns für irgendwelche vagen Vorstellungen verraten und verkaufen. (Bravo, Beifall) [...]
Armin Dressler, Merck: Ja, Freunde, ich habe nur eine kurze Frage an den Kollegen Rappe und erwarte von dem Kollegen Rappe eine kurze und klare Antwort: Was passiert, wenn unsere Bezirksleitung und unsere Tarifkommission heute diesen faulen Kompromiss, wie wir erwarten dürfen, ablehnt, und falls nichts passiert, falls der Hauptvorstand dann immer noch das Recht hat, diesen Abschluss zu akzeptieren, dann frage ich als Zusatzfrage: Warum [be]ruft man dann erst diese Gremien noch einmal ein? (Zwischenrufe) Ich möchte darum bitten, dass der Kollege Rappe das sofort kurz und klar beantwortet!
Hermann Rappe: Ich kann dazu nur noch einmal erklären, die Tarifkommissionen werden darüber heute befinden. Die Ergebnisse der Tarifkommissionen sollen bis 17 Uhr in Hannover sein, und der Hauptvorstand wird ab 17 Uhr, und zwar nicht der achtköpfige geschäftsführende Hauptvorstand, sondern der Gesamtvorstand mit den ehrenamtlichen Kollegen, wird seine Entscheidung dann fällen. Es kann keine andere Möglichkeit geben, als dass dann der Hauptvorstand eine Entscheidung über Streikende oder Streikweiterführung zu fällen hat. (Zwischenfrage) Das kann ich nicht voraussagen, wie der Hauptvorstand dazu entscheidet. (Zwischenrufe) Die Frage Hessen ist nämlich eine Frage, was denn in Hessen ‒ (Zwischenrufe) Merck allein oder auch andere. (Aufhören!) Das ist doch die Frage. (Zwischenrufe) [...]
HG Lang: Kollegen, ich würde sagen, wir kommen jetzt zum Schluss hier. Hier liegt noch ein Antrag des Kollegen Schock vor, der natürlich dann erst in der bezirklichen Tarifkommission beraten werden muss, ...
Horst Keimig: Ein[en] Entschließungsantrag dieser Versammlung, dass diese genannten Hauptvorstandsmitglieder aufgefordert werden, am Montag hier zu erscheinen, bitte ich noch zur Abstimmung zu stellen. (Beifall)
HG Lang stellt den Antrag des Kollegen Schock zur Abstimmung. Einstimmige Annahme
Antrag des Kollegen Keimig. Einstimmig
Ludwig Kaufmann: Kolleginnen und Kollegen, ich muss noch einmal fragen ob ich legitimiert bin, weiterhin als Mitglied in dieser Tarifkommission für euch zu sprechen? (Ja, Beifall) – Einstimmig – (Beifall)
HG Lang: Aber, Freunde, zum Schluss noch ein paar Bemerkungen. Bei allem, was heute Morgen diskutiert wurde und was sicherlich auch noch in den nächsten Monaten Inhalt unserer Diskussionen in der Verwaltungsstelle sein wird, möchte ich doch noch einmal unterstreichen, dass dieser Streik zumindest einen bestimmten Klärungsprozess eingeleitet hat. Und dass dieser Klärungsprozess auch für eine solche Organisation notwendig ist. Wir wissen, wer wo steht. Wir haben uns diejenigen genau angesehen, die vor dem Streik in Versammlungen große Töne geredet haben und zwei Tage später in den Betrieb marschiert sind. Und wir werden das nicht vergessen, und wir können und dürfen das auch nicht vergessen, weil das eben keine Funktionäre dieser Organisation sein dürfen, weil diese Funktionäre ihre eigenen Kolleginnen und Kollegen verraten haben. (Beifall) Ich meine auch, dass wir diesen Kolleginnen und Kollegen [das] deutlich sagen werden. Für mich zum Beispiel steht die Frage, ob der bestehende Angestelltenausschuss der Verwaltungsstelle noch aktionsfähig ist, da bin ich der Meinung, wir brauchen den nicht mehr einzuladen, denn darunter befindet sich gar eine ganze Reihe solcher Kollegen. Es gibt auch andere Ausschüsse, wo das gleiche zutrifft, und wir haben gestern Abend einmal in unserem Kreis darüber gesprochen, dass wir zumindest bis zu den Neuwahlen nur noch das Gremium des Verwaltungsstellenvorstands tagen lassen. Das halte ich auch für richtig und notwendig. Ich meine, wir müssen jetzt aus unserer ganzen Situation lernen, [...] wir müssen auch lernen festzustellen, wie wichtig es ist, Satzungsbestandteile in dieser Organisation zu verändern, und wir müssen lernen, uns weiterhin auseinanderzusetzen. Den Anfang haben wir gemacht, ich würde auch sagen, wenn das auch bei meiner ersten Rede etwas anders klang, wir müssen auch denen, die in die Betriebe gegangen sind, unseren Kolleginnen und Kollegen, deutlich sagen, dass sie Mitschuld haben an der Situation, die wir heute vorfinden. Das sollten wir ihnen klar und deutlich sagen, wir sollten uns nicht in die Minderheitenposition drängen lassen, sondern wir sollten schon deutlich machen, dass sie selbst mit daran gearbeitet haben, dass dieses Lohndiktat herauskommen konnte. Ich darf euch bitten, morgen früh... alle die Streikversammlungen zu besuchen in Biebesheim, in Darmstadt und in Marienberg. Ich darf für heute unsere Zusammenkunft beschließen und euch an dieser Stelle für euren harten Einsatz in den letzten Wochen sehr herzlich danken. (Beifall)
NL Lang (Privatbesitz), K3.
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