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BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published by Deutscher Kunstverlag (DKV) March 9, 2023

Textur, Transparenz und Täuschung: Blaue Papiere in Pastellen und Schriftquellen des 18. Jahrhunderts*

  • Iris Brahms

    IRIS BRAHMS schloss ihre Promotion an der Freien Universität Berlin ab, wo sie 2013–2018 Wissenschaftliche Mitarbeiterin war. Anschließend war sie Postdoctoral Fellow am Zentralinstitut für Kunstgeschichte München und ist seither Kooperationspartnerin in internationalen Projekten (u. a. Getty, Oxford-Berlin Research Partnership). Aktuell hat sie eine Vertretungsprofessur für Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Hamburg inne.

Abstract

Blue paper was probably the most common substrate onto which pastels were painted during the eighteenth century. Nevertheless, the associated implications have not yet been researched comprehensively. Based on case studies and contemporary source documents as well as in cooperation with conservators from international collections, this article argues for incorporating the supposedly invisible into art historical analyses. The aim is also to question both the categorisation of pastel painting as drawing and its assumed “sweet” aesthetics in order to open our eyes to the versatility of pastel painting. Through an art-theoretical discussion of underlying materials and the dissecting gaze, the article reflects on artificiality, illusionism, verisimilitude, and the subjectified view.

Wenn wir heute unter ›Pastellen‹ mit Pastellstiften ausgeführte Bilder verstehen, gehen wir von einer klaren Definition des Begriffs aus. Etymologisch stellt sich seine Entwicklung indes komplizierter und undurchsichtiger dar, hängen verschiedene materielle wie verfahrenstechnische Fragen damit zusammen. Pastellstifte laufen Gefahr, unter farbigen Kreiden subsumiert zu werden, wohingegen Stimmen aus der kunsttechnologischen und konservatorischen Forschung dafür plädieren, von Pastellen erst ab dem 17. Jahrhundert zu sprechen, als diese auch gebrauchsfertig im Handel waren.[1] Um einen Ursprung der begrifflichen Verwirrnisse anzuführen, lässt sich auf Leonardo da Vinci zurückkommen, der wegen der zunächst teigigen Masse von pastellj spricht, wenn er die Herstellung von Farbkreiden mittels eines eigens entwickelten Models erläutert, in dem er die Farbmasse zu Stiften trocknen lässt.[2] Bei Pastellstiften handelt es sich indes um eine Verfeinerung der Kreiden sowohl in der Konsistenz als in der Aufhellung des schier unerschöpflichen Farbspektrums. Denn sie bestehen aus gemahlenen (an-)organischen oder synthetischen Pigmenten vermischt mit einem Füllstoff wie Kalziumkarbonat oder Bolus alba (Kaolin),[3] der für die Helligkeitsstufen sowie die weichere oder härtere Konsistenz entscheidend ist; hinzu kommt ein geringer Anteil an Bindemittel (meist gummi arabicum).[4]

Die Herstellung derartiger Abstufungen eines Tons und deren Bereithaltung für den Malprozess waren insofern notwendig, da das Mischen auf dem Trägermaterial nur bedingt möglich war.[5] Daraus folgt die Aufbewahrung der Stifte in Kästen mit Abteilungen, in die sie nach verschiedenen Farbtönen sortiert und eingeordnet werden konnten.[6] John Russell etwa vermerkte 1772, dass sein Pastellkasten zwanzig unterschiedlich farbintensive Stifte eines Tons enthalte.[7] Von den individuellen Rezepten ist nur ein Bruchteil überliefert,[8] doch konnten Künstler:innen wie Amateur:innen im 18. Jahrhundert auf einen florierenden Markt von Pastellstiften und ein reichhaltiges Angebot durch Farbhändler:innen zurückgreifen.[9] In diesem Spannungsfeld gab es Künstler:innen, die wie etwa John Russell für die eigene Herstellung einstanden,[10] andere, die sich wie Rosalba Carriera des vorgefertigten Angebots bedienten,[11] und wieder andere, denen wie Jean-Etienne Liotard durchaus entsprechende Kenntnisse für die eigene Herstellung nachgewiesen werden können, die jedoch auf Reisen etwa zur pragmatischen Lösung griffen.[12]

Pastelle wurden vorwiegend auf Papier und Pergament ausgeführt, aber auch auf Leinwand, Seide, Holz oder Kupfer.[13] Diese Materialien sind kein neutraler Untergrund, vielmehr stellen sie einen integralen Bestandteil der Werke dar, wirken sich ihre unterschiedliche Oberflächentextur und Farbigkeit, ihre jeweilige Stärke und Dichte, ja ihr Gewicht und Format unmittelbar auf deren Erscheinungsbild aus.[14] Oft bestätigen erst der Blick auf die Rückseiten und jüngere kunsttechnologische Untersuchungen,[15] was zahlreiche Quellen besagen: Wenn Papier als Trägermaterial für Pastelle gewählt wurde, kamen kaum feine, creme-weiße Schreibpapiere, sondern vorwiegend blaue Papiere in Frage.[16] Deren Rolle in Pastellen erhielt in der Forschung allerdings zu wenig Beachtung, was mit diesem Beitrag nachgeholt werden soll. Vorab lässt sich konstatieren, dass die raue Oberflächenstruktur solcher gering geleimten Papiere zur besseren Haftung der pulvrigen Pigmente verhilft.[17] Partiell wurden sie gar mit einem Bimsstein aufgeraut, um eine noch bessere Haftung zu gewähren.[18] Dass die Papiere, auch wenn sie von den Malschichten im abgeschlossenen Zustand vollständig verdeckt sein sollten, gleichwohl das Erscheinungsbild mitprägen, liegt daher nicht nur an etwaiger Farbigkeit, die durch die mehr oder weniger transparenten Malschichten durchscheint (Abb. 1),[19] sondern auch an der jeweiligen Textur, wie etwa in Liotards Selbstbildnis in türkischer Tracht (um 1746) die filzige Struktur des blauen Papiers die gesamte Oberflächenwirkung mitbestimmt.[20] Um spezifische Transparenz des Trägermaterials indes ging es Liotard bei seiner viel häufigeren Verwendung von Pergament für seine Pastelle, wenn er die Lichthaltigkeit seiner Malerei so zu steigern wusste. Laut Leila Sauvage und Cécile Gombaud legte Liotard außerdem hellere Pastellschichten über dunklere und erzielte mit dem Durchscheinen der Farbe einen der Ölmalerei ähnlichen Effekt.[21]

1 Leichte und starke Applikation von Pastell auf dunkelblauem, weißem und hellblauem Papier, Demonstrationsmodell von Kimberly Schenck, 2022
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Leichte und starke Applikation von Pastell auf dunkelblauem, weißem und hellblauem Papier, Demonstrationsmodell von Kimberly Schenck, 2022

Anhand von Fallstudien und Quellenschriften wird in diesem Beitrag nun nach materiellen Voraussetzungen, daraus resultierenden Handhabungen sowie darüberhinausgehenden Implikationen gefragt, etwa einem ästhetischen surplus, die zur Wahl des blauen Papiers führten. Für die Argumentation wird bislang separat verhandeltes Material zusammengetragen, um Aspekte von Sicht- und Unsichtbarkeit in einem Rahmen kunsttechnologischer Untersuchungen sowie damaliger Diskurse von illusion und vraisemblance aufzuspannen. Ausgehend von der Prämisse, dass künstlerische Techniken aus soziokulturellen Zusammenhängen entstehen und demzufolge selbst kulturelle Bedeutung in der Gesellschaft erlangen,[22] lassen sich an der Pastellmalerei paradigmatisch einschneidende Veränderungen der Porträtkunst in ihrem Werkprozess ablesen.

Herstellung und Verwendung von blauem Papier

Schon das Bologneser Statut von 1389 belegt den geringeren Preis von reale azura gegenüber weißem Papier gleichen Formats.[23] Zwar entdeckten Künstler:innen das blaue Papier nachweislich im frühen 15. Jahrhundert für ausgefeilte Kompositionszeichnungen sowie Studien und wussten die zugrundeliegende Farbigkeit für eine abgestimmte Licht-Schatten-Modellierung zu nutzen,[24] doch steht diese ästhetische Aufwertung der umfangreichen Verwendung des meist gröberen, weder geblichenen noch gefärbten Papiers als Verpackungsmaterial gegenüber.[25] Festzuhalten ist, dass es sich zunächst nicht um Künstler:innenpapier handelt, zusätzliche Färbemittel dem Papierbrei vermehrt erst mit dem 17.–18. Jahrhundert hinzugefügt wurden und von Künstler:innenpapieren generell erst ab dem späten 18. Jahrhundert gesprochen werden kann.[26]

Die Frühzeit der Herstellung farbiger Papiere liegt im Dunkeln und dürfte wie die Papierherstellung allgemein auf asiatische Quellen zurückzuführen sein; zunächst nach Spanien exportiert, wurde Papier ab dem 13. Jahrhundert in Italien hergestellt.[27] Vermutlich sind farbige Papiere seit jeher Bestandteil der Papierherstellung gewesen, wenn es nicht um feine, helle (und später geblichene) Schreibpapiere ging, die in verbesserter Qualität in Italien ab dem 15. Jahrhundert geschöpft wurden.[28] Belege über Papiermühlen, in denen farbige Papiere seit dem 14.–15. Jahrhundert hergestellt wurden, sind beiderseits der Alpen bekannt.[29] Anhand der Häufung von oberitalienischen Zeichnungen des 15. Jahrhunderts auf blau-grauen Papieren liegt auch ihre Herstellung in der Region nahe.[30] Im 16. Jahrhundert lassen Wasserzeichen auf ihre Produktion ebenso in der Alpenregion und weiträumig darum schließen.[31] Die seit dem 17. Jahrhundert exportierten und im 18. Jahrhundert für Pastelle begehrten holländischen Papiere zeichnen sich laut Constant de Massoul durch ihre Stärke und größeren Formate aus,[32] aber auch durch die einwandfreie Herstellung besonders der leicht violetten Papiere.[33] Während Peter Bower für die englische Papierherstellung im 18. und 19. Jahrhundert annahm, dass es neben den häufigeren spezialisierten Papiermühlen auch welche gab, die hochqualitative weiße wie gröbere farbige Papiere zugleich produzierten, merkte John Krill an, dass hierbei die Gefahr der Verfärbung für die Schreib- und Druckpapiere zu groß gewesen sein dürfte. Letzterer führte für das 17. Jahrhundert in England einen Papiermacher namens William Phipps an, der damit warb, die »blue and brown line« zu vertreten.[34] Wenn die Herstellung von blauen wie braunen Papieren aus solchen Quellen bezeugt ist, grenzt deren heutige Bestimmung selbst mit dem Mikroskop aufgrund ihrer häufigen Farbveränderung mitunter an den Bereich des Unmöglichen und bedarf weiterer kunsttechnologischer Untersuchungen.[35] Ein sprechendes Beispiel für die Farbveränderung des blauen Papiers hin zu einem hellbraunen Ton findet sich in Maurice-Quentin de La Tours Porträt von Louis de Silvestre (Abb. 2), einem der Rektoren der Académie Royale. Während sich das Blau an den vormals durch eine Rahmung verdeckten Rändern erhalten hat, ist es mit Ausnahme der Kopfbedeckung ausgeblichen.[36]

2 Maurice-Quentin de La Tour, Louis de Silvestre, um 1753, schwarze und weiße Kreide, blau- und rosafarbige Pastellstifte auf ausgeblichenem blauem Papier, 32,5 × 21,4 cm. Los Angeles, J. Paul Getty Museum, Inv.-Nr. 2002.50
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Maurice-Quentin de La Tour, Louis de Silvestre, um 1753, schwarze und weiße Kreide, blau- und rosafarbige Pastellstifte auf ausgeblichenem blauem Papier, 32,5 × 21,4 cm. Los Angeles, J. Paul Getty Museum, Inv.-Nr. 2002.50

Blaues Papier zum Zeichnen

Wenn das blaue Papier fürs Zeichnen von Schatten und Lichtern einen arbeitsökonomischen Vorteil hat, weil es nicht eigens grundiert werden musste, um einen für die Licht-Schatten-Modellierung angestrebten Mittelton herzustellen, können sich damit unterschiedliche Ansprüche verbinden. Liegt in der zugrundeliegenden Farbigkeit geradezu eine Aufforderung zur Lichtgestaltung, bedeutet sie Einladung wie Herausforderung zugleich. Es ist demzufolge differenziert zu betrachten und nicht eilfertig als Rat zur bloßen Vereinfachung zu erachten, wenn Roger de Piles 1684 argumentierte, dass sich für die Anfänge im Zeichnen vor allem helle Farbpapiere eignen, weil sie die gezielte Darstellung von Licht auf flinke, effiziente Weise ermöglichen, ohne dass es wie bei dunkelfarbigen Sorten erforderlich sei, über die Kontraste zur Lichtmodellierung allzu präzise zu entscheiden.[37] Damit ist letztlich angedeutet, dass sich auch auf weißen Papieren ähnlich und sogar besser Unstimmigkeiten verschleiern lassen, da hier seltener ein Zeicheninstrument eigens für die Lichter eingesetzt wird und diese allein durch das Papier selbst zur Darstellung kommen; so besteht allerdings die Gefahr, graduelle Beleuchtungen und etwaige Farbtonqualitäten zu verschmelzen und nicht klar von etwaigen Glanzlichtern zu unterscheiden. Können weiße Papiere gerade deshalb als besondere Herausforderung für eine präzisere Zeichenweise verstanden werden, dulden sie andersherum wegen des höheren Abstraktionsgrades eine gewisse Unklarheit, die in der Betrachtung assoziativ gedeutet werden kann. Da, wo der Zeichenstift nicht hinkommt, ist also Licht und Helligkeit. Dass dieses Auslassen, Umgehen, Umfahren eine eigene Schwierigkeit darstellt, lässt sich ebenso an anderen Techniken wie dem Holzschnitt und Clair-Obscur-Holzschnitt oder dem Aquarell beobachten.[38] Ihnen gemein ist, dass die Lichter durch das blanke Papier vertreten werden und aus einer ex negativo Relation entstehen.

Ein stimmiges und überzeugendes Helldunkel konnte indes auf einem Mittelton besser gelingen, schon deshalb, weil die Wege von einem Kontrast zum anderen kürzer sind: Die generell zuerst ausgeführte Dunkelmodellierung bezieht sich zunächst auf den Mittelton, wie es infolgedessen ebenso für die Lichtmodellierung zutrifft, mit dem zusätzlichen Vorteil, dass sie an die bereits bestehenden dunklen Konturen und Schraffuren angelegt werden kann, damit sie nicht zu flach oder zu prägnant ausfällt und sich vielmehr in diese Relation einfügt. Doch auch wenn farbige und farbig grundierte Papiere in der Hinsicht als didaktisches Material angesehen werden können und vielen Zeichner:innen für Studien und etwaige Erprobungen dienten,[39] stechen meisterhafte Zeichnungen heraus, die verschiedenste Funktionen haben und beispielsweise als abgeschlossene Monochromata den Status eigenständiger Werke erhalten. Jean-Baptiste Oudrys Folge von Tier- und Landschaftsdarstellungen, welche zur Illustration von Jean de La Fontaine’s Fables in den frühen 1730ern über fünf Jahre hinweg ausgeführt und in einigem Abstand 1755 veröffentlicht wurden (Abb. 3),[40] veranschaulicht dies anhand der aufwendig gestalteten, eigens mit Wasserfarben in Blau intensivierten fingierten Rahmungen.

3 Jean-Baptiste Oudry, Der Adler und die Elster, 1733, Pinsel und schwarze Tinte, grau laviert, weiß gehöht auf blauem Papier, 30,6 × 25,6 cm. Los Angeles, J. Paul Getty Museum, Inv.-Nr. 2002.52.3
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Jean-Baptiste Oudry, Der Adler und die Elster, 1733, Pinsel und schwarze Tinte, grau laviert, weiß gehöht auf blauem Papier, 30,6 × 25,6 cm. Los Angeles, J. Paul Getty Museum, Inv.-Nr. 2002.52.3

Blaues Papier für Pastelle

Auf etlichen Selbstbildnissen von Pastellmaler:innen wird blaues Papier als Bildträger für die Pastellmalerei gezeigt.[41] Dies mutet im Fall von Liotards Selbstporträt mit langem Bart von 1751 in Genf (Abb. 4) befremdlich an,[42] ist Liotard doch gerade für seine Pastelle auf Pergament bekannt. Dennoch ist es auf blauem Papier ausgeführt, ebenso das Selbstbildnis mit Hand am Kinn von etwa 1770 in Genf und jenes in türkischer Tracht von 1744/45 in Dresden.[43] Die Wahl dieses Trägermaterials ließe sich am ehesten mit dem persönlichen Sujet und den vergleichsweise großen Formaten begründen, so dass ein kostengünstiges Material erforderlich gewesen sein könnte. Auffallend ist auf dem Selbstporträt mit langem Bart der in der Farbtheorie der Zeit gefürchtete Rot-Blau-Kontrast, den Liotard hier ostentativ ausspielt und so eine gegenteilige Position vor Augen führt.[44] Auf zurückhaltende Weise indes wird diese Dissonanz etwa in Alexander Roslins Selbstporträt mit Marie-Suzanne Giroust-Roslin von 1767 eingebunden und auf Diskurse von Sein und Schein, Illusion und Täuschung in der Kunst wie höfischen Kosmetik bezogen.[45] Für Marie-Suzanne Giroust-Roslins Selbstporträt mit Maurice-Quentin de La Tours lachendem Selbstporträt von 1769/70 (Abb. 5) hat Marianne Koos unlängst dargelegt, wie geschickt sich die Malerin ihrem Lehrer La Tour gegenüber nicht nur als ebenbürtig inszeniert, sondern ihn gar übertrifft: Auch wenn das Bild einen zunächst bescheiden anmutenden Vorgang des Kopierens wiedergibt, indem die Schülerin das gewitzte lachende Selbstbildnis La Tours begonnen hat, auf blauem Papier abzuzeichnen, erweist sich die Komposition als raffinierter. Denn zunächst veränderte Giroust-Roslin das Vorbild zum Oval, unterband somit das im Original angelegte Übertreten der Bildebene und reduzierte so die Dominanz ihres Lehrers.[46] Hingegen weist das blaue Papier ihrer Kopie ein rechteckiges Hochformat auf, worauf die mit schwarzem und weißem Stift angelegte Skizze schon jetzt überaus lebendig erscheint. Wie Koos nahelegte, entwickelt sich eine dicht ineinander verschränkte Referenzialität zwischen dem Vorbild und der Kopie, dem zweifachen Antlitz La Tours also, und Giroust-Roslins Selbstbildnis, indem sich die Malerin dazwischen aus dem Bild heraus zur Betrachtungsebene wendet, dabei einen weißen Pastellstift in einer solchen Geste anspitzt, dass sie auf La Tours Bildnis im Oval zeigt und damit zugleich dessen augenfälligen, obwohl in seiner Zielrichtung ambivalent zu deutenden Zeigegestus einmal mehr bekräftigt. Dies geschieht auch dadurch, dass sie sich in ihrer vornehmen blauen robe à la française beinahe dem dahinter angeordneten blauen Papier assimiliert und allein ihre Hände über das Format hinausreichen. Wie sehr das Blau auch für La Tour eine Rolle spielte, vermag sein Selbstbildnis von etwa 1750 in Amiens zu zeigen,[47] auf das sich Giroust-Roslin nach Koos bei dieser koloristischen Bildfindung beziehen könnte. Mit ihrem sanften Lächeln kommentiert Giroust-Roslin überdies scharfsinnig La Tours Kunstgriff und vermag in seinem Einvernehmen – welches die Kopie suggeriert, deren Blick im wahrsten Sinne des Wortes hinter dem Rücken der Malerin ein Zwiegespräch mit den Betrachtenden eingeht – ihre Kenntnis und ihr Vermögen zu demonstrieren, nicht ohne über ihren Lehrer mit Geschick zu triumphieren.

4 Jean-Étienne Liotard, Selbstporträt mit langem Bart, um 1751, Pastell auf blauem Papier, auf Leinwand aufgezogen, 97 × 71 cm. Genf, Musée d’art et d’histoire, Inv.-Nr. 1843-0005
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Jean-Étienne Liotard, Selbstporträt mit langem Bart, um 1751, Pastell auf blauem Papier, auf Leinwand aufgezogen, 97 × 71 cm. Genf, Musée d’art et d’histoire, Inv.-Nr. 1843-0005

5 Marie-Suzanne Giroust-Roslin, Selbstporträt mit Maurice-Quentin de La Tours lachendem Selbstporträt, um 1769–1770, Pastell auf Papier, auf Leinwand aufgezogen, 92 × 111 cm. Privatbesitz
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Marie-Suzanne Giroust-Roslin, Selbstporträt mit Maurice-Quentin de La Tours lachendem Selbstporträt, um 1769–1770, Pastell auf Papier, auf Leinwand aufgezogen, 92 × 111 cm. Privatbesitz

Wird Pastellen – da sie mit trockenen Stiften häufig auf Papier ausgeführt sind – eine Nähe zu Zeichnungen attestiert, so sind sie weit besser in ihrem breiten, nicht-linearen Farbauftrag der Malerei zuzuordnen.[48] Wie sehr gattungshierarchische Denkmodelle die kunsthistorische Disziplin bis heute prägen, lässt sich besonders gut anhand der Pastellmalerei demonstrieren, die vorschnell unter die Zeichnungstechniken subsummiert wird. Tatsächlich stellt sie jedoch eine hybride Gattung dar, die im 18. Jahrhundert als Äquivalent zur Ölmalerei gelobt wurde,[49] nicht zuletzt, weil ihr Status eines Gemäldes durch das übliche Aufziehen des Trägermaterials auf Holz oder Leinwand sowie die mit Schutzglas versehene Rahmung verstärkt wurde, so dass solche Werke in den heutigen Sammlungen zumeist unter den Gemälden aufbewahrt werden. Daran zeigen sich drei Probleme: 1. Die Kategorisierung nach den üblichen Gattungen übersieht viele Medien, anhand derer jedoch die Komplexität und intellektuelle Reflexion der künstlerischen Praxis jenseits einer adäquaten Versprachlichung deutlich wird. 2. Innerhalb solcher Kanonisierungen werden vergleichende Diskurse geführt, die eine Nobilitierung oder Abwertung des einen oder anderen hervorrufen, was erneut den Blick auf die eigentliche Leistung des jeweiligen Mediums versperrt. 3. Zudem vermag der Zeitgeschmack, von dem sich auch die Forschung nicht ganz freimachen kann,[50] die Marginalisierung einer vermeintlich unattraktiven Ästhetik zu bewirken. Auch hierfür steht die Pastellmalerei paradigmatisch, scheint sie doch zunächst vom Ideal der weichen Modellierung bestimmt zu sein, die die Materialität und damit die Spur der künstlerischen Arbeit negiert oder zu negieren vorgibt. Inwiefern Pastellmalerei indes erstaunlich viel mehr und anderes leistet, wird in der folgenden Argumentation herausgestellt.

Während das Durchscheinen des zugrundeliegenden blauen Papiers für Pastelle des 17. Jahrhunderts laut Neil Jeffares einen wesentlichen Aspekt darstellt, steht dies für jene des 18. Jahrhunderts aufgrund des zunehmend opaken Pigmentauftrags zur Diskussion. Daraus folgt die Frage, ob sich der Nutzen in der Verwendung farbiger, vorwiegend blauer Papiere im Schaffensprozess erschöpft, insofern sich die Darstellungen ob des erzeugten Kontrastes zur Malfläche zunächst abheben und diesen sukzessiv überdecken. Oder ob der Farbeffekt von der sich im Prozess allmählich schließenden Malfläche aufgenommen wird, indem er durchschimmert oder durch die spezifische Farbwahl aufscheint. Dieser Aspekt ist auch vor dem gegenläufigen Hintergrund zu betrachten, dass es laut John Russells und Paul-Romain Chaperons Traktaten nicht unüblich war, blaue Papiere zunächst mit einer unbunten Pigmentschicht zu präparieren, die durchaus in unterschiedlichen Abtönungen partienweise ins Papier eingerieben wurde, noch bevor das Blatt auf eine Leinwand montiert wurde.[51] Die Papiere konnten mit einer Mixtur aus Fischleim, Wein und feinem Bimssteinpulver überzogen werden, wie es Liotard beschreibt,[52] sowie in Vorbereitung auf die Malerei in kochendes Wasser getaucht werden, um auch nur die geringste Leimung zu entfernen, durch ein Federmesser von etwaigen Unebenheiten befreit oder mit einem Schulp leicht aufgeraut werden, um mehr Pigmente aufzunehmen.

Die Parallelität dieser gegensätzlichen Ansichten kulminiert in Maurice-Quentin de La Tours OEuvre wie nirgendwo sonst. Einerseits beklagte er 1770 das stets durchscheinende Blau des Papiers in seinen Pastellen und griff deshalb zu einer zarten Grundierung aus Gelbocker und Eigelb, um dieses Durchleuchten zu mindern und mehr Leichtigkeit für die Farbapplikation zu erzielen – »cela empêche le lourd qu’il est difficile d‘éviter par la quantité de couleurs nécessaires pour couvrir le bleu du papier«.[53] Andererseits gehört er neben Rosalba Carriera zu den hochrangigen Pastellmaler:innen, für die ihre Bevorzugung von blauen Papieren aus Holland bezeugt ist.[54] Dass dies nicht nur auf deren Stärke und Formatgrößen beruhte,[55] sondern La Tour deren Farbigkeit durchaus in seine Darstellungen integrierte, zeigen verschiedene Beispiele: Bei La Tours Studie für sein 1742 im Salon ausgestelltes Selbstbildnis mit Malerhaube (Abb. 6) ist offensichtlich, wie sowohl die Fasern und Struktur des Papiers als auch seine graublaue Farbigkeit den Malvorgang prägen.[56] Scheint das Papier auf der rechten Seite durch die dünnen und geringen Farbapplikationen unverwandt hindurch – wobei sowohl intendierter als auch erhaltungsbedingter Abrieb eine Rolle gespielt haben dürfte –, lässt sich durch die mehrfachen Farbschichten im weiter ausgeführten Gesicht nur noch die unruhige Faserstruktur erahnen, während die glänzenden Augen zwar den Farbton des Papiers aufnehmen, doch aus dichten, teilweise nass aufgetragenen Farbschichten bestehen. Gegen einen zu fahlen Teint, den das Papier unterlegte, ging La Tour schon hier mit rötlichen Inkarnatfarben vor, so dass sein Antlitz geradezu aus der Bildebene herauszutreten scheint. Trotz seiner ambivalenten Einstellung ist also festzuhalten, dass La Tour das blaue Papier durchaus als Kontrastfolie einbezog, wenn es etwa um die lebendig erscheinende Darstellung von Haut ging. Dies zeigt sich ebenso am Handrücken im Porträt des Claude Dupouch von etwa 1739 in Washington (Abb. 7–8), wo das Papier durchscheint und die Wirkung der blauen Adern wie des Streiflichts unterstützt.[57] Anhand von La Tours Porträt Jean Charles Garnier d’Isle (um 1750) hat Marjorie Shelley aber auch dessen Verwendung des Papiers als bloßen Träger beobachtet, dessen Farbigkeit er minimierte und dessen Textur er aufraute und so zugleich weicher machte, damit opake Pigmentschichten besser haften konnten.[58] Die derartig behandelte Oberfläche des Papiers begünstigte zweifelsohne das tonale Modellieren mit weichen Übergängen und den so bewunderten geschmeidigen Charakter des Farbschmelzes von La Tours Pastellen. Im Englischen etablierte sich zur Beschreibung eines solchen Farbgefüges der Terminus des sweetening.[59] Demgegenüber steht jedoch La Tours ebenso gerühmte Malweise mit sichtbaren Strichen, in der das blaue Papier jedoch anders als bei Jean-Baptiste Perronneau eine zurückgenommene Rolle spielt, für welchen die offene Malweise zum Maßstab werden sollte.[60]

6 Maurice-Quentin de La Tour, Selbstbildnis mit Malerhaube, 1742, Pastell auf blauem Papier, auf Karton aufgezogen, 39 × 31 cm. Saint-Quentin, Musée Antoine Lécuyer, Inv.-Nr. LT 3
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Maurice-Quentin de La Tour, Selbstbildnis mit Malerhaube, 1742, Pastell auf blauem Papier, auf Karton aufgezogen, 39 × 31 cm. Saint-Quentin, Musée Antoine Lécuyer, Inv.-Nr. LT 3

7 Maurice-Quentin de La Tour, Claude Dupouch, um 1739, Pastell auf blauem Papier, auf Leinwand aufgezogen, 59,4 × 49,4 cm. Washington D.C., National Gallery of Art, Inv.-Nr. 1961.9.76
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Maurice-Quentin de La Tour, Claude Dupouch, um 1739, Pastell auf blauem Papier, auf Leinwand aufgezogen, 59,4 × 49,4 cm. Washington D.C., National Gallery of Art, Inv.-Nr. 1961.9.76

8 Detail aus Abb. 7, Handrücken
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Detail aus Abb. 7, Handrücken

Einen unvergleichlichen Stil führte zuvor Rosalba Carriera ein, als sie Schönheit unlöslich mit einem pudrig-weichen Erscheinungsbild verband, damit auf die artifizielle Kosmetik anspielte und dies zum Inbegriff des ebenso ephemeren Mediums der Pastellmalerei werden ließ.[61] Dabei ging es gerade um die Betonung der hellen Haut, die umso weißer durch den Kontrast zum kühlen Blau des Papiers wirkt.[62] Sei es, dass das grundlegende Blau partiell durchschimmert wie etwa auf der Wange der in Los Angeles aufbewahrten Muse aus den 1720er Jahren (Abb. 9–10),[63] sei es, dass der Effekt die Ausführung von Hintergründen in einem blaustichigen Ton bewirkt hat – die Farbe der unendlichen Weite spielt in der Wiedergabe bläulich erscheinender Adern ebenso eine Rolle wie für die bläulichen und weniger markanten als belebenden Schatten.[64] Carriera kam es indes weniger auf eine solch momenthafte Verlebendigung wie später Elisabeth Vigée-Lebrun an. Vielmehr intendierte Carriera das Entrückte, artifiziell Schöne und setzte beispielsweise 1730 die Erzherzogin Maria Theresia von Habsburg (Abb. 11) in makelloser Schönheit mit fast diffuser Silhouette vor scheinbar zutiefst schwarzblauen Hintergrund.[65] Dennoch schimmert das blau-graue Papier teilweise durch die feinst vertriebene Farbschicht des Hintergrundes hindurch (Abb. 12).[66] Gerade ein solch subkutaner Einbezug des Untergrundes – der in diesem fragilen Medium nie ganz zweifelsfrei schon bei Fertigstellung dasselbe Ausmaß gehabt hat, jedoch vom künstlerischen Erfahrungswissen mitgedacht werden konnte und hier daher als intentional erachtet wird – erzielt in seiner Ansprache des Unterbewussten umso größere Wirkung, da die daraus resultierende Erscheinung in ihrer Komplexität zunächst allein (visuell) erspürtes Erstaunen hervorruft, das seine Begründung in Tieferliegendem hat. Vor dem kontrastierenden Hintergrund erhält das Inkarnat der Erzherzogin einen eklatanten Effekt, denn es erstrahlt geradezu, erscheint so ebenmäßig wie die glatte Oberfläche von Porzellan und steht der Brillanz der sanft reflektierenden Ohrringe in nichts nach.

9 Rosalba Carriera, Muse, Mitte der 1720er Jahre, Pastell auf blauem Papier, 31 × 26 cm. Los Angeles, J. Paul Getty Museum, Inv.-Nr. 2003.17
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Rosalba Carriera, Muse, Mitte der 1720er Jahre, Pastell auf blauem Papier, 31 × 26 cm. Los Angeles, J. Paul Getty Museum, Inv.-Nr. 2003.17

10 Detail aus Abb. 9, Wange in fünfzigfacher Vergrößerung
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Detail aus Abb. 9, Wange in fünfzigfacher Vergrößerung

11 Rosalba Carriera, Erzherzogin Maria Theresia von Habsburg, 1730, Pastell auf blauem Papier, auf Leinwand aufgezogen, 45 × 34,5 cm. Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. P 153
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Rosalba Carriera, Erzherzogin Maria Theresia von Habsburg, 1730, Pastell auf blauem Papier, auf Leinwand aufgezogen, 45 × 34,5 cm. Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. P 153

Mit den wohl in den 1720er Jahren ausgeführten Kontinent-Allegorien verfolgte Carriera durch eine fast porträthafte Darstellung einem vollends neuen Ansatz, wobei sie besonderen Wert auf die subtile Wiedergabe von Haut und Hauttönen legte. So ist die Personifikation von Afrika (Abb. 13) ein kostbares Artefakt sowohl durch die maltechnische Ausführung dunkelsamtiger Haut als durch das dynamische Hereintreten der Büstenfigur, durch die sie sich von den anderen drei Allegorien absetzt.[67] Dass sie zudem zu lachen scheint und dies durch die strahlenden Augen betont wird – in deren schwarze Pupillen das vormals blaue, heute eher braun-hellgraue Papier durchscheint (Abb. 14) und den Glanzeffekt steigert[68] – stellt nicht nur in Carrieras OEuvre eine große Ausnahme dar und muss vor dem soziokulturellen Hintergrund dieses Affekts und seiner Aufnahme in die bildenden Künste, zumal in eine Allegorie, samt den zeitgemäßen Implikationen von esprit und vivacité im Zuge eines Empfindsamkeits- und Natürlichkeitsdiskurses jenseits der höfischen Etikette gespiegelt werden.[69] In der Afrika-Personifikation stützt die auf Kontrasten von warmen und kühlen Tönen aufbauende Farbwelt gerade die Darstellung von Emotion, die im angedeuteten Lachen einen Ausdruck erfährt, und macht das hinterlegte Blau noch mal mehr als atmosphärische Weite erfahrbar, da es die Figur von lufthaltigem Raum umgeben erscheinen und prägnanter in den Vordergrund treten lässt. Demgegenüber mutet der Turban besonders weiß an, weil auch dort der blaue Papierton teilweise durchschimmert.[70]

In selteneren Fällen benutzte Carriera für ihre Pastelle Leinwand. Auf dem Dresdener Porträt eines venezianischen Prokurators scheint die notwendige, in diesem Fall hellgraue Grundierung laut Christoph Schölzel im Inkarnat und Schatten der Hand sowie an der Schattenfläche der Bücher durch, was erneut die Belebung von Haut und Schatten durch die tieferliegende, wenngleich nicht blaue Schicht veranschaulicht.[71] Elisabeth Vigée-Lebruns Porträtpaar Louis-Philippe, duc d’Orléans und Charlotte-Jeanne Béraud de la Haye de Riou, marquise de Montesson (beide 1779; Abb. 15–16) indes zeigt,[72] was Russell und Chaperon bemerkten: Eine leicht getönte, in diesem Fall rosafarbige Präparierung überdeckt das blaue Papier.[73] Auch deshalb dürfte das Inkarnat im Vergleich zu Carriera von wärmeren Farben geprägt sein. Denn selbst wenn die rosafarbige Präparierung im abgeschlossenen Bild nur leicht durchschimmert, wird die zugrundeliegende Farbigkeit die entsprechende Tonigkeit des Bildes im Malprozess angeregt und befördert, letztlich bestimmt haben. Aus diesem Grund dürfte La Tour auch den durchdringenden Blauton bei seinem Selbstbildnis mit Zeigegestus (Abb. 17) weitgehend vermieden haben, das er wohl erst 1770 – dem Jahr seiner Kritik am blauen Papier – ausführte und 1776 an seinen Freund Jacques Neilson weitergab.[74] Handelt es sich hierbei um eine Variation seines bereits 1737 im Salon ausgestellten Selbstporträts, für das er – zuvor noch unbekannt – erst eine Dekade später enthusiastische Kritiken erhielt, zeichnet sich die Version aus Neilsons Besitz mit den aufgesprungenen Lippen durch eine sehr persönliche Gestaltung aus. Gegenüber seinen ebenmäßig modellierten Pastellen, die er laut Ulrike Boskamp vor allem für höhergestellte Modelle einsetzte, weist es ein prägnanteres Strichgefüge auf.[75]

12 Detail aus Abb. 11, Hintergrund
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Detail aus Abb. 11, Hintergrund

13 Rosalba Carriera, Personifikation von Afrika, 1720er Jahre, Pastell auf blauem Papier, 34 × 28 cm. Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. P 32
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Rosalba Carriera, Personifikation von Afrika, 1720er Jahre, Pastell auf blauem Papier, 34 × 28 cm. Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. P 32

Ein Jahr nach der Ausstellung seines Selbstbildnisses führte La Tour 1738 das Porträt von Marie-Louise Gabrielle de La Fontaine Solare de La Boissière (Abb. 18) aus.[76] Es steht für seinen geschmeidigen Stil, der ein lebhaftes Taktieren der Dargestellten mit glänzenden Augen und unverwandter Mimik suggeriert sowie Stofflichkeit auf unnachahmliche Weise differenziert wiedergibt. So loben ihn die Zeitgenossen auch wegen der Ansprache des Tast- und Geruchsinns: »Rien n’est plus léger et plus gracieux que sa Touche. On voit, on sent, on croit aller toucher tout ce qu’il peint. C’est du velours, c’est une pelisse, c’est de la gaze; il n’est pas possible que ce ne soit qu’une imposture de couleurs.«[77] Dieses herausragende Werk zeigt ebenso die Abkehr von atmosphärisch eingesetztem Blau. Denn außer dem bemerkenswerten Farbton des Samtmantels, der mit all seinen schillernden Eigenschaften durch ein geschicktes Helldunkel aufwartet, sind bläuliche Effekte der Schatten oder des Hintergrundes weitgehend vermieden, so dass die Mantelfarbe umso deutlicher hervorsticht. Schon in seinem Frühwerk zeigt sich also, dass La Tour die Farbe Blau ausgesprochen gezielt einsetzte und einen zugrundeliegenden Blauton, wie er durch das Papier hervorgerufen werden könnte, tendenziell vermied.

14 Detail aus Abb. 13, rechtes Auge
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Detail aus Abb. 13, rechtes Auge

15 Elisabeth Vigée-Lebrun, Louis-Philippe, duc d’Orléans, 1779, Pastell auf blauem Papier, rosafarbig grundiert, auf Leinwand aufgezogen, 81,4 × 65 cm. Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. RF 55296
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Elisabeth Vigée-Lebrun, Louis-Philippe, duc d’Orléans, 1779, Pastell auf blauem Papier, rosafarbig grundiert, auf Leinwand aufgezogen, 81,4 × 65 cm. Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. RF 55296

So lässt sich auch in La Tours Porträt von Jean-Siméon Chardin von 1760 (Abb. 19) die Abschwächung des zugrundeliegenden Blautons durch gelblich-braune Pigmente erahnen.[78] Es ist außerdem für die vergleichsweise grobe Strichführung der umso mehr verlebendigen Modellierung bezeichnend, die La Tour jedoch meist über eine geschlossene Farbschicht legte.[79] Äquivalent hierzu lässt sich Chardins Malweise in Öl erachten, so dass der eingeforderte Wettbewerb mit La Tours harscher Malweise in Pastell Chardin nur bedingt dazu bewogen haben wird, auf seine Weise eine manière heurtée auch in diesem Medium auszuführen.[80] Erst in den frühen 1770er Jahren wendete sich Chardin auch aufgrund einer Krankheit und abnehmender Sehstärke der Pastellmalerei zu. Sein Selbstbildnis mit Brille von 1771 in dieser Technik weist in atemberaubender Weise ein effektvolles Spiel vielfarbiger Diagonalschraffuren auf, die die Bedingtheiten der Pastellmalerei in ihrer Schwierigkeit des Mischens zum anregenden surplus führen.[81] In Chardins letztem Selbstbildnis mit Staffelei von 1779 (Abb. 20)[82] erhält parallel zur Demonstration seines Glaubens an die althergebrachten und im Gegensatz zu Newton stehenden drei Primärfarben außerdem die Dissonanz von Rot und Blau gewichtige Prononcierung.[83] Ist das Pastell von einem accord in Gelb, Rot, Blau bestimmt, so werden Rot- und Blautöne nur in einem harmonisierenden Abstand gesetzt. Es dürfte auch kein Zufall sein, dass Chardin ausgerechnet einen roten Pastellstift emporhebt, während seine Haube ein blaues Band zusammenhält. Diese im 18. Jahrhundert virulente Gegenüberstellung von Rot und Blau wird im Inkarnat auf kritischen Prüfstand gestellt, wo bläuliche Abschattierungen zur Belebung der Fleischfarbe eingesetzt sind, die trotz der harschen Strichlagen im modellierten Gesamtgefüge aufgehen.[84]

16 Elisabeth Vigée-Lebrun, Charlotte-Jeanne Béraud de la Haye de Riou, marquise de Montesson, 1779, Pastell auf blauem Papier, rosafarbig grundiert, auf Leinwand aufgezogen, 81,4 × 65 cm. Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. RF 55297
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Elisabeth Vigée-Lebrun, Charlotte-Jeanne Béraud de la Haye de Riou, marquise de Montesson, 1779, Pastell auf blauem Papier, rosafarbig grundiert, auf Leinwand aufgezogen, 81,4 × 65 cm. Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. RF 55297

17 Maurice-Quentin de La Tour, Selbstbildnis am Fenster mit zeigender Geste, um 1770 (?), Pastell auf blauem Papier, auf Leinwand aufgezogen, 60 × 49,7 cm. Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. RF 54298
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Maurice-Quentin de La Tour, Selbstbildnis am Fenster mit zeigender Geste, um 1770 (?), Pastell auf blauem Papier, auf Leinwand aufgezogen, 60 × 49,7 cm. Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. RF 54298

Wenn die Leinwand grundiert ist, auf das das Papier für ein Pastell aufgezogen wurde, kann dies entweder zum Schutz vor Feuchtigkeit oder zur Erleichterung des Montagevorgangs gedacht gewesen sein. So wurde Jean-Baptiste Perronneaus Porträt von Laurent Cars (Abb. 21),[85] bei dem der Maler möglicherweise als Kupferstecher ausgebildet wurde, zu dem Perronneau jedenfalls in enger Verbindung stand, auf eine Leinwand mit einer roten, ölhaltigen Grundierung aufgebracht. Es zeigt Cars mit weißer Pastellkreide in einem porte-crayon, mit der er wohl im Begriff ist, die auf Leinwand aufgezogene, mit schwarzen und roten Linien ausgeführte Vorzeichnung auf blauem Papier unter seinem Arm mit Höhungen zu versehen. Dabei zeigt die Stiftspitze nicht zufällig direkt auf den Kupferstecher, vielmehr zielt die Geste darauf ab, ihn als Entwerfer ausgefeilter Kompositionen zu positionieren. Das blaue Papier hebt sich nur leicht von den dominierenden Grautönen ab und stellt doch – obgleich stark beschnitten, überdeckt und in die Ecke gerückt – das zentrale Attribut dar, auf das die angedeutete Gestik ausgerichtet ist und welches die Finesse sowie Produktivität des Dargestellten demonstriert. 1759 im Salon ausgestellt, erfuhr das Pastell allgemeine Wertschätzung für die Ausführung und Farben, Belebung und Anmut, doch bemerkte der anonyme Lettre Critique à un ami aus dem gleichen Jahr auch, dass die Grautöne die Attraktivität des ansonsten so begnadet ausgeführten Pastells verringerten.[86] Festzustellen ist allerdings, dass Perronneau weder hier noch in seinem restlichen OEuvre an der Negierung des farbigen Bildträgers gelegen ist und somit Farbtöne durch dessen Durchschimmern mitunter blaustichig erscheinen.

18 Maurice-Quentin de La Tour, Marie-Louise Gabrielle de La Fontaine Solare de La Boissière, 1737, Pastell auf blauem Papier, auf Karton aufgezogen, 63 × 51 cm. Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. RF 55306
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Maurice-Quentin de La Tour, Marie-Louise Gabrielle de La Fontaine Solare de La Boissière, 1737, Pastell auf blauem Papier, auf Karton aufgezogen, 63 × 51 cm. Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. RF 55306

Anhand von Perronneaus Porträt Olivier Journu (1756) hat Marjorie Shelley gezeigt, wie wesentlich die stellenweise bewusst unbehandelte Oberfläche des Papiers sowohl den Werkprozess und das daraus entstehende Gesamtbild prägt als auch integraler Bestandteil des spontanen Duktus’ Perroneaus ist, der es eben nicht auf eine geschlossene Malfläche anlegte.[87] Auf die Weise bewirkt die Textur die Intensivierung der fingierten Stofflichkeit, indem das Aufblitzen des graublauen Trägermaterials in gewisser Weise gegensätzlich zum illusionistischen Anspruch die wahre Materialität offenbart und eine andere Tiefendimension eröffnet. In Nahsicht möglicherweise irritierend, entsteht daraus vielmehr eine subtile Bewegtheit der Lichteffekte und des Changeants der Farbtöne, die als brillante Effekte die Betrachtenden unnachahmlich affizieren. Aus der offeneren Struktur, da sich bei schnellerem und leichterem Abrieb die Pigmente nicht in die tieferliegenden Poren einfügen, entstand denn auch die Kritik von Perronneaus Stil, der dem allgemeinen Wunsch nach glatten, geschmeidigen Oberflächen mit weichen Übergängen nicht entsprach.

19 Maurice-Quentin de La Tour, Jean-Siméon Chardin, 1760, Pastell auf blauem Papier, auf Leinwand aufgezogen, 47,1 × 39 cm. Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. 27612
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Maurice-Quentin de La Tour, Jean-Siméon Chardin, 1760, Pastell auf blauem Papier, auf Leinwand aufgezogen, 47,1 × 39 cm. Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. 27612

Fragilität

Zweifelsfrei besteht in der Herstellung von Stiften eines umfangreichen Farbspektrums und ihrer Bereithaltung an der Staffelei die Voraussetzung für die Pastellmalerei. Diese Vorbereitungen beschleunigten den Malvorgang selbst, zumal keine erheblichen Trocknungszeiten erforderlich waren. Obgleich eine materialtechnische Einschränkung – nämlich das nur bedingt mögliche Mischen der Töne auf dem Trägermaterial – zu dieser Bandbreite an Stiften geführt hat, La Tour über die nie ausreichenden Farbwerte lamentierte,[88] letztlich aber auch in der Ölmalerei die Tendenz zu vorgemischten Farben angestoßen war,[89] halten etliche Manuale, Traktate und Salonkritiken Einfachheit und Schnelligkeit bei der Ausführung von Pastellen als einen sich daraus ergebenden Vorteil fest. Vor dem Hintergrund, dass die für die Pastellmalerei notwendigen Materialien ohne Trocknungsprozesse auskommen und die olfaktorische Beeinträchtigung (wie die etwa durch Lösungsmittel bei der Ölmalerei) entfällt, kommt die Pastellmalerei für Reisende besonders gut in Betracht, zumal die dafür nötigen Materialien sowohl vergleichsweise leicht an Gewicht, als auch überschaubar in ihrem Verpackungsaufwand sind.[90] Die Pastellmalerei wird den Anforderungen auf Reisen demzufolge geradezu gerecht und diente Künstler:innen und Amateur:innen vor allem, wenn es galt, Klientele an verschiedenen Orten zu erreichen.[91] Andersherum kamen der fragilen Technik die daraus folgenden verkürzten Transportwege für die Pastellwerke zu den Auftraggeber:innen zupass. Denn die stets gefährdete Haftung der Farbpartikel macht zugleich ihre ansprechende Ästhetik und verbreitete Wertschätzung aus. Aufgrund dieser Fragilität waren Versendungen von Pastellen mit erheblichem Risiko verbunden und nur unter Zugeständnissen möglich: So wird Carriera für ihre durchdachten und aufwendigen Rahmenkonstruktionen geschätzt, welche die Farbschichten beim Transport weitgehend schützen sollten, doch belegen etwaige Briefe den beschädigten Zustand der Werke bei ihrer Ankunft. Ebenso waren die händeringend entwickelten Fixierungsmethoden der Zeit alles andere als optimal und zuverlässig, zumal sie die Farbwirkung veränderten, so dass auch hiermit keine Abhilfe gefunden war und es ratsam blieb, längere Transportwege zu vermeiden.[92]

Auch wenn Elisabeth Vigée-Lebrun während ihrer Aufenthalte im Exil weiterhin in Öl malte, griff sie zunehmend für ihre Porträts zur Pastellmalerei, nicht zuletzt um erste Vorzeichnungen nach ihren Modellen für die Ölgemälde anzufertigen. Zeit spielte bei der wachsenden Auftragslage sowie für ihre Reise- als für die Aufenthaltspläne eine bedeutende Rolle. So wandte sie sich ab den 1820er Jahren in dieser Technik ebenso der Landschaftsmalerei zu und bereicherte sowohl ihr OEuvre wesentlich als auch das Themenspektrum der Pastellmalerei.[93] Pastellmalerei und Mobilität werden zu sich verschränkenden, mitunter sich geradezu bedingenden Komponenten.

20 Jean-Siméon Chardin, Selbstbildnis mit Staffelei, 1779, Pastell auf blauem Papier, auf Leinwand aufgezogen, 40,7 × 32,6 cm. Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. RF 31748
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Jean-Siméon Chardin, Selbstbildnis mit Staffelei, 1779, Pastell auf blauem Papier, auf Leinwand aufgezogen, 40,7 × 32,6 cm. Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. RF 31748

21 Jean-Baptiste Perronneau, Laurent Cars, um 1759, Pastell auf blauem Papier, auf Leinwand aufgezogen, 60,5 × 50,5 cm. Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. 32350
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Jean-Baptiste Perronneau, Laurent Cars, um 1759, Pastell auf blauem Papier, auf Leinwand aufgezogen, 60,5 × 50,5 cm. Paris, Musée du Louvre, Inv.-Nr. 32350

Unter den angesehenen Pastellmalern ist Jean-Baptiste Perronneau derjenige, dem seine Reisetätigkeit auch zum Verhängnis werden sollte. Denn Kritiker lasen ab den 1760er Jahren darin Unbeständigkeit und schmälerten aufgrund der daraufhin verkürzten Geschmacksbildung in Paris zunehmend seine Werke. Francesca Whitlum-Cooper stellte Perronneaus Reisetätigkeit in größeren Zusammenhang der historischen Instabilität des 18. Jahrhunderts, hielt jedoch hilfreiche Informationsquellen für sicherere Reisen wie Karten mit Routen und Zeitplänen dagegen und verhandelte die Vorteile des Reisens auch aus Perronneaus Sicht.[94] In einem Brief an seinen Vertrauten und Korrespondenten Aignan-Thomas Desfriches schrieb er am 2. Januar 1770: »Je ne sait pas si je ne doit pas continuer à voiagé encore quelque année. […] cela me seroit plus surement fructueux que de m’instalé avec un logement cher à Paris [sic]«.[95] Stellten sich die Reisen als inspirative Unternehmungen und lukrative Einnahmequellen heraus, was auch vor dem Hintergrund der starken Konkurrenz zum etablierten La Tour zu sehen ist,[96] verlor Perronneau darüber jedoch seine Position in Paris. Auf berührende Weise wird die Pastellmalerei schließlich doch zum Synonym für den entwurzelten Maler.

Als ephemeres Farbereignis geschätzt wie kritisiert,[97] kommt in Denis Diderots Bezeichnung als »ailes du papillon« und »poussière précieuse«[98] ebenso wie in Chaperons Beschreibung als »existence précaire«[99] das unlösliche Paradox zum Ausdruck, das der Pastellmalerei eingeschrieben ist. Denn sie wurde im 18. Jahrhundert vor allem unter den Parametern der beauté und der fragilité verhandelt.[100] Claude-Henri Watelet (1718–1786) dichtete, wie ihn später Diderot und d’Alembert zitieren:[101]

Sans pinceau, le doigt seul place & fond chaque teinte;

Le duvet du papier en conserve l’empreinte;

Un crystal la défend. Ainsi, de la beauté

Le Pastel a l’éclat & la fragilité.[102]

In dieser Hinsicht hat die Pastellmalerei viel mit der damaligen Mode des Puderns zu tun – eine gegenseitig geläufige Assoziation, wenn beispielsweise Louis-Antoine Caraccioli im Dictionnaire critique, pittoresque et sentencieux von 1768 unter ›Pastel‹ vermerkt: »Le visage de toutes les femmes fardées, de sorte qu’en aimant leur beauté, on n’aime qu’une peinture au crayon.«[103] Zuvor schon, 1760, verband Caraccioli im Le livre de quatre couleurs das Schminken gar mit wahrem Genie.[104] Demzufolge liegt es nicht fern, wenn Thea Burns die Ausführung, Erscheinung und Wertschätzung von Rosalba Carrieras Pastellmalerei auf die Kosmetik-Verfahren der Zeit bezog und so ihren ansprechenden Stil erklärte. Burns erläuterte zudem die subtile Wirkung des zaghaft durchscheinenden blauen Papiers und die daraus hervorgehende Evokation feinster Abstufungen des vornehmen, weißen Inkarnats.[105] Auch wenn die Farbe Blau ansonsten beim Schminken keine große Rolle spielte, wurde sie – ganz ähnlich zur Malerei – doch dafür eingesetzt, bläuliche Äderchen darzustellen, um letztlich die Transparenz der natürlichen Haut auf der Puderschicht zu simulieren.[106] In Perspektivierung auf die Rhetorik widmete Jacqueline Lichtenstein ein Kapitel der Wahrheit in der Malerei sowie diversen Funktionen von Kosmetik und verhandelte diese Bezüge unter den Schlagwörtern Imitieren, Täuschen, Schminken.[107] Ist Farbe zunächst als substantiell, d. h. physikalisch existent zu betrachten – da sie aus Pigmentmasse bestehend sinnlich und taktil erfahrbar sowie sichtbar ist –, kommt ihre täuschende und damit irrationale Qualität in den metaphorischen Wechselwirkungen zwischen den Disziplinen zum Ausdruck: »Si farder le discours consiste à abuser des couleurs rhétoriques, farder la peinture revient à s’abandonner sans retenue à la rhétorique des couleurs.«[108] Schminken wird demnach nicht als bloße Verschönerung verstanden, sondern von jeher mit Täuschung und Maskerade konnotiert, die das Eigentliche umhüllt und verdeckt. Die zunehmende Kritik am Artifiziellen, Höfischen, Lieblichen im 18. Jahrhundert führt nicht zuletzt vor dem Hintergrund sozio-politischer Bewegungen zu einer Subjektivierung der Sujets und deren Wiedergabe.

22 Detail aus Abb. 21, blaues Papier mit Skizze in der linken unteren Ecke
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Detail aus Abb. 21, blaues Papier mit Skizze in der linken unteren Ecke

Dass wiederum die offene kühne Malweise in ihrer gesteigerten Künstlichkeit als geniehaftes Schminken mit viel Farbe kritisiert werden konnte, zeigen Liotards Schriften wie seine Malerei.[109] Wie der schon zu Lebzeiten als »peintre de la vérité« titulierte Künstler selbst mit der Wiedergabe geschminkter Gesichter umging, stellte für andere wie Antoine Coypel eine geradezu schicksalhafte Herausforderung dar.[110] Um eine Offenlegung der zugrundeliegenden Materialien geht es dabei nicht, denn diese wahren Elemente der Darstellung heben die Dimension einer bloßen Interpretation von Wahrheit allzu sehr hervor. Die materielle Wahrheit ist indes genau das, worum es beim sezierenden Blick einer offenen Malweise geht, den diese einfordert, indem eine zweifache Reflexion über die Künstlichkeit angeregt und über dieses Bewusstsein hinaus eine subjektivierte Sicht ermöglicht wird.

Vom sweetening zur Subjektivierung

Um die geschmeidig-glatte gegenüber der offen-energischen Malweise vor den zeitgenössischen Ansprüchen an die Kunst des 18. Jahrhunderts zu beleuchten, lassen sich die damals intensiv diskutierten Begriffe illusion und vraisemblance hinzuziehen. Marian Hobson erläuterte mit Rückgriff auf Ludwig Wittgensteins Feststellung anlässlich der Kippfigur einer Ente bzw. eines Hasens, dass man nicht beide Tiere zugleich sehen könne, genauso wenig wie ein Blick zeitgleich für die Oberfläche wie den Inhalt einer Darstellung möglich ist.[111] Diese Unmöglichkeit prägt auch die Wahrnehmung Diderots, wenn er seine Erfahrungen vor den Bildern eines La Tour oder Chardin schildert, gerade weil er davon ausgeht, dass das Kunstwerk im Licht der Illusion transparent für die Wahrheit werde, ohne dass es Wahrheit sei.[112] Das Bild wird also – letztlich in alter Tradition – als transparente Folie oder besser als Filter der Wahrheit angesehen; denn die Künstler:innen knüpfen an die Wirklichkeit an und nehmen Zitate daraus auf, um aus ihrer Beobachtung von Wirklichkeit und deren Filterung zu mehr als einem bloßen Abbild zu gelangen: nämlich um ein wahrscheinliches Bild zu entwerfen. Laut Diderot gelingt dies durch die Illusion und einen künstlerisch ausgefeilten Illusionismus, wofür er beispielsweise Chardin überaus lobt und somit eine neue Sichtweise auf die Kunst unterstützt.[113] Neu und anders ist sie insofern, als nicht nur das »geistreiche Spiel von Natürlichkeit und Künstlichkeit in dialektischen Wechselbeziehungen« steht, wie es die Rokokomalerei strukturell ausmacht, sondern auch die Künstlichkeit potenziert ist.[114] Denn die kühne Manier (manière heurtée) eines Chardin besteht zunächst aus einem Gewebe von Unwahrheiten, wenn man die aufeinanderstoßenden, sich grob überlagernden Farbformationen und damit die Malweise in den Blick nimmt, die erst in gewisser Distanz zum Bild und beim zugewiesenen Standpunkt eine illusionistische Wirkung entfalten. Dahingehend ergibt sich auch ein stabiler Blick – im Gegensatz zur Rokokomalerei, wo Glanzeffekte die Darstellung verschleiern konnten und der Blick abgelenkt umherschweift, was Hobson als papillotage in Rückgriff auf zeitgenössische Kritiken bezeichnete.[115] Abweichend davon schätzt Diderot die »selbständige Sprache der künstlerischen Übersetzung« eines Chardin gerade aufgrund der maltechnischen Dissonanzen (chocs),[116] die jedoch eine Harmonisierung durch den Blick der Betrachtenden ermöglichen und einfordern. In seiner Kritik des Salons von 1765 schilderte er:

Le faire de Chardin est particulier. Il a de commun avec la manière heurtée, que de près on ne sait ce que c’est, et qu’à mesure qu’on s’éloigne l’objet se crée, et finit par être celui de la nature. Quelquefois aussi il vous plaît presqu’également de près et de loin.[117]

Dieser Vorgang entspricht letztlich dem Anspruch und der psychologischen Theorie der Aufklärung, kausale Zusammenhänge analytisch zu zerlegen, um mit dieser gewonnenen Einsicht die auseinandergelegten Teile wieder zu synthetisieren.[118] Auch hieran werden die zweifachen Blickeinstellungen – die harmonisierende und die sezierende – deutlich. In der Umkehrung zur papillotage des Rokoko entsteht also ein »instabiler Blick« erst bei näherer Untersuchung der Malweise, wenn die Augen die Farbformationen absuchen und sich von ihnen leiten lassen. Laut Diderot und vielen anderen erscheint der erste Eindruck aus der Distanz jedoch umso illusionistischer und lebendiger. Doch der analytische Blick fordert die nahsichtige Untersuchung geradezu ein, um etwas Neues zu erfahren: Farben, die nicht einem vorgefertigten Erwartungswissen entsprechen, sondern die eine freie, von Erwartungen losgelöste Beobachtung einer Erscheinungswirklichkeit wiedergeben.[119] Bei dieser subjektivierten Sichtweise galten die Farben nicht etwa als per se irrational wie noch um 1700, sondern ihre zunehmende Anerkennung steht vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die infolge von Isaac Newtons Entdeckung der durch Licht verursachten Prismafarben sowie dessen Neuordnung der Primärfarben zur Auffassung von rationalen und zu ordnenden Farben führte.[120] Über Chardin bemerkte etwa Antoine Renou als Sekretär der Académie royale in seinem Nachruf, »il sembloit qu‘il avoit les yeux disposés comme le prisme pour décomposer les différens tons de touts les objets, les passages indescriptibles de la lumière à l’ombre.«[121]

Neue Fragen zur Wahrnehmung (aisthesis) und ihrer Dimension als aktivierende Kraft (dynamis) gehen daraus hervor. Im Zuge des Sensualismus – der erkenntnistheoretischen Hauptströmung im 18. Jahrhundert – erhält die Sinneserfahrung intensive Aufmerksamkeit und gerät in einen Aushandlungsprozess mit dem Intellekt. In dieser Hinsicht dürfte an einer Malweise mit substantiellen Farbformationen geschätzt worden sein, über die visuellen Beobachtungen hinaus auch haptische, gar olfaktorische und akustische Werte anzusprechen und eine vielschichtige Sinneserfahrung zu fördern.[122] Es lässt sich festhalten, dass eine offene Malweise, die zweifellos ihre illusionistische Kraft erst bei gewisser Distanz zwischen Bild und Betrachtenden vollständig entfaltet sowie umgekehrt bei näherer Betrachtung die künstlerische Technik, Ausarbeitung und Methode offenbart, gerade aus dieser Polarität heraus Wertschätzung erhielt. Ja, dass eine offene Malweise letztlich das zuspitzt, was an Pastellen überaus geschätzt wurde, nämlich ihre Schönheit gegenüber bzw. im Zuge ihrer Fragilität. Wurde diese Fragilität auch kritisiert und händeringend nach Fixativen gesucht,[123] macht sie gleichwohl die Preziosität des Mediums aus. Denn die Zeitlichkeit der Erhaltung scheint schon in der Zeitlichkeit der Ausführung auf und bestimmt sie zugleich, was die Wahrnehmung des Ephemeren und die Wertschätzung des Moments der Wahrnehmung in chiastischer Verschränkung um ein Vielfaches steigert.

Resümee

Anhand zahlreicher Fallbeispiele, Quellenschriften und kunsttechnologischer Untersuchungen konnte hier herausgearbeitet werden, dass das blaue Papier als häufig Pastellen zugrundeliegendes Material eine wesentliche Rolle für die Anfertigung und das abschließende Erscheinungsbild von Pastellen spielt. So wird das blaue Papier als bevorzugter Bildträger auch in zahlreichen Selbstbildnissen inszeniert, die Pastellmaler:innen bei der Arbeit wiedergeben. Vielfältig gingen die Künstler:innen mit der charakteristischen Farbigkeit und der spezifisch rauen Textur des Papiers um: Sein Durchschimmern durch die poröse Pigmentschicht wurde sinnstiftend in Darstellungen einbezogen oder aber explizit unterbunden; seine Oberflächenbeschaffenheit wurde für die fiktive Stofflichkeit dienstbar gemacht oder aber im Sinne des sweetening angepasst. Blaues Papier war wie die Farbe Blau an sich geschätzt wie kritisiert, was sich sowohl am verschiedenen Umgang mit dieser Malgrundlage und an gezielt auf Blau ausgerichteten Farbkompositionen als auch an einschlägigen Dokumenten zeigt. Auf eine ambivalente Wertschätzung stoßen wir ebenso in der zeitgenössischen Beurteilung von Pastellen, worin sich bedeutende Dynamiken des 18. Jahrhunderts widerspiegeln: Sei es der gesellschaftspolitische Wandel von der höfischen zur bürgerlichen Kultur, seien es die soziokulturell bedeutsam gewordenen Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften mit ihrer Rationalisierung der Farben, seien es eigenwillige Malweisen und die Subjektivierung des Blicks, seien es fortwirkende Traditionen und neue Erfahrungen. Nehmen wir solche komplexen Relationen in den Blick, die sich mitunter allein schon aus der Materialität heraus ergeben, können wir eine Technik umfassend in ihrer gesamten Reichweite verstehen. Daraus geht ebenso hervor, das Ausgeführte für all seine Semantik beanspruchen zu können. Hierfür ist das vermeintlich Unsichtbare – das Trägermaterial samt seiner spezifischen Vorbereitung für die Malerei – unabdingbar einzubeziehen. Mit diesem Beitrag seien die Schritte in diese Richtung gemehrt und weitere Begleitung auf diesem Weg zu einer ganzheitlichen, die Bedingungen der poiesis einbeziehenden Analyse angeregt.[124]


* Der Beitrag ist in regem Austausch mit den Restaurator:innen Kimberly Schenck (National Gallery of Art, Washington D.C.), Christoph Schölzel (Staatliche Kunstsammlungen Dresden) und Michelle Sullivan (J. Paul Getty Museum, Los Angeles) entstanden, denen hiermit herzlich für die Teilhabe an ihrer Expertise und die Zusendung wertvoller Abbildungen gedankt sei.


About the author

Iris Brahms

IRIS BRAHMS schloss ihre Promotion an der Freien Universität Berlin ab, wo sie 2013–2018 Wissenschaftliche Mitarbeiterin war. Anschließend war sie Postdoctoral Fellow am Zentralinstitut für Kunstgeschichte München und ist seither Kooperationspartnerin in internationalen Projekten (u. a. Getty, Oxford-Berlin Research Partnership). Aktuell hat sie eine Vertretungsprofessur für Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Hamburg inne.

  1. Abbildungsnachweis: 1 © Kimberly Schenck, Washington D.C. — 2–3, 9–10 © J. Paul Getty Museum, Los Angeles. — 4 © Musée d’art et d’histoire, Genf. — 5 aus: Martine Lacas, Des femmes peintres du XVe à l’aube du XIXe siècle, Paris 2015, 119. — 6 aus: Salmon 2004 (wie Anm. 39), 53. — 7–8 © National Gallery of Art, Washington D.C. — 11–14 © Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister (Foto: Wolfgang Kreische). — 15–20 aus: Salmon 2018 (wie Anm. 75), 107, 141–142, 157, 159, 201. — 21–22 © RMN-Grand Palais (Musée du Louvre)/Jean-Gilles Berizzi.

Published Online: 2023-03-09
Published in Print: 2023-03-28

© 2023 Iris Brahms, published by De Gruyter

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Downloaded on 28.11.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/ZKG-2023-1006/html
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