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Catalano Gabriella, Goethe und die Kunstrestitutionen: Ueber Kunst und Alterthum in den Rhein und Mayn Gegenden. Ein Reisebericht und seine Folgen (Ästhetik um 1800, Bd. 16) Göttingen: Wallstein, 2022. 224 S., 18 meist farbige Abb., € 29,00, ISBN 978-3-8353-5047-2
Historische Ereignisse im Lichte aktueller Probleme zu lesen bringt immer Erkenntnisgewinn. Und davon profitiert auch Gabriella Catalanos neues Buch über Goethes Rheinreisen und über die aus den Eindrücken und Erfahrungen während dieser Reisen entwickelten Gedanken. Zunächst und hauptsächlich um die Wiedererlangung durch das französische Kaiserreich geraubter Gegenstände aus deutschen Kirchen und Museen kreisend, befreien sich diese Gedanken im Laufe der Jahre allerdings weitgehend von inhaltlicher Einengung. Catalanos Konfrontation älterer Vorgänge mit modernen Diskussionen über Aneignung und Herausgabe fremden Kulturguts wie den Umgang mit Verlust und Restitution sorgt für einen faszinierenden Blickwinkel auf die Dinge, aus dem heraus sich aktuelle und vergangene Ereignisse in ungewöhnlicher Beleuchtung präsentieren. Wobei auch deutlich wird, dass der globalisierte Diskurs des 21. Jahrhunderts über bildende Kunst, in dem Fragen nach Identität, nach unrechtmäßiger Inbesitznahme und Rückerstattung konkrete Antworten verlangen, in einem weit größeren Kontext steht, als vielfach bewusst ist. Ob und inwieweit sich aus alledem Folgerungen und Einsichten für die eine oder die andere Seite ergeben, mag die Zukunft zeigen. Zumindest aber kann es die Aufmerksamkeit auch für historische Ereignisse steigern, wenn man sieht, wie nahe sich in diesem Fall Vergangenheit und Gegenwart stehen und was sie unterscheidet.
Goethe und die Kunstrestitutionen ist jedoch mehr als eine aktualisierte Lektüre älterer Vorkommnisse und Ideen, die Anschluss an moderne Befindlichkeiten und Auseinandersetzungen sucht. Zwar beschäftigen sich zahlreiche Beiträge vor allem in den ersten beiden der zwischen 1816 und 1832 erschienenen sechs Bände Ueber Kunst und Alterthum in den Rhein und Mayn Gegenden mit so modern anmutenden Dingen wie Heimat, Besitz, Wiederaneignung, Konservierung oder Inszenierung. Doch alles dies besitzt eben auch für das frühe 19. Jahrhundert Relevanz, speziell was die Betrachtung von Architektur und bildender Kunst angeht, die man als Eigentum neu zu entdecken hatte und als national bedeutende Werte zu würdigen suchte. Derartige Interessen aber prägten von Beginn an die Entstehung von Goethes Texten. Denn dessen Überlegungen erwuchsen aus einem Gutachten »über Erhaltung und Ordnen der Kunstschätze am Rhein«, das der Freiherr vom Stein in Auftrag gegeben hatte.[1] Insofern haben wir es hier nicht zuletzt mit einem politischen Blick auf Kunst und Landschaft zu tun, der enorme Wirkung entfaltet, vorbereitet durch eine aktuellen Bedürfnissen angepasste Sicht auf die Dinge. Was zwischen Französischer und bürgerlicher Revolution, also zwischen 1789 und 1848 auf dem Feld der Erforschung von Architektur, Malerei und Skulptur geleistet wird, resultiert nämlich in hohem Maße aus einer durch bewusst gewordenen Verlust stimulierten Aufmerksamkeit für ältere Epochen und ihre materiellen Relikte. Dabei kommt es zu oftmals grundstürzenden Neubewertungen, die teilweise bis heute gültig sind. Insofern bietet die Gegenüberstellung der Situation des frühen 19. mit der des 21. Jahrhunderts zunächst eine fruchtbare Perspektive, um zu verstehen und einzuordnen. Catalanos Zusammenschau überzeugt umso mehr, weil heutiges Miterleben nicht einfach auf eine andere Zeit übertragen wird, sondern die Anregungen daraus genutzt sind, den Blick zu weiten und mit der aus tagesaktuellem Interesse gewonnenen Sensibilität auf eine neu ins Bewusstsein getretene »kollektive Vergangenheit« zu schauen (18). Bereits die Einleitung, in der die »Wendejahre 1815/1816« als entscheidender Auftakt für einen derartigen Umgang mit älterer Kunst beschrieben werden (13–29), markiert diesbezüglich einen wichtigen Standpunkt: Die heutige Diskussion vor Augen, lassen sich nicht allein der im 19. Jahrhundert vermehrt auszumachende Rückgriff auf Reproduktionen, sondern auch die Schaffung von Öffentlichkeit und die damit einhergehende allgemeine – neudeutsch gesprochen – »Teilhabe« am Kunstdiskurs als richtungsweisende Elemente lesen, die bis in unsere Tage nichts von ihrer Relevanz verloren haben.
Doch was löst Restitution oder die Aussicht darauf bei den ursprünglichen Besitzern konkret aus? Und wie ändert sich dadurch der Blick auf die eigene Kultur? Drei große Abschnitte strukturieren Catalanos Überlegungen dazu. Deren Überschriften verraten nicht allzu viel, deuten aber bereits an, wie umfassend die Analysen ausfallen: »Kunsttopographie«, »Vera Icon« und »Reinszenierung und Restaurierung« machen jedenfalls klar, dass es hier um mehr geht als nur um eine Interpretation von Literatur. Zur Sprache gebracht wird in jedem der genannten Kapitel die auf unterschiedlichen Interessensebenen stattfindende und die vermittels unterschiedlicher Instrumente betriebene Auseinandersetzung mit Kunstwerken und das in diesem Zusammenhang jeweils geforderte individuelle wie intensive Sehen und Interpretieren: Durch Wissen bekannte oder durch historische Forschung bekannt gemachte ursprüngliche Zugehörigkeit, Aneignung durch Beschreibung und durch bildliche Wiedergabe auf der Grundlage neuester technischer Möglichkeiten sowie Deutung im Lichte politischer Befindlichkeit und dadurch Transponierung in einen veränderten Kontext lassen diese Kunstwerke auf eine bis dahin ungewohnte Weise erfahrbar und lebendig, aber auch zum Ausgangspunkt von Aktivitäten werden, die von historischer Bewertung bis hin zu Gedanken über eine angemessene Aufbewahrung führen. Indem Catalano dies analysiert und ihrer Schilderung der Vorgänge zugrunde legt, bezieht sie jüngste Forschungen zur Museums-und Sammlungsgeschichte, zum Kunstraub, zu Goethes ästhetischen und historischen Vorstellungen wie zur Mittelalterrezeption ein. Eine kritische Auseinandersetzung mit Argumenten dieser Forschung oder Widersprüche gegen deren Thesen finden allerdings nicht statt, da es weniger um die Bewertung wissenschaftlicher Theorien zugunsten der Profilierung eigener Standpunkte geht, als vielmehr um eine ausführlich erzählte, gleichwohl pointierte Darstellung historischer Ereignisse. Auf diese Weise entsteht ein ebenso sensibel entworfenes wie breit ausgemaltes Bild dieser Ereignisse und ihrer Hintergründe, das Meinungen, Methoden und Forschungsergebnisse bis in jüngste Zeit aufnimmt und aus diesen eine große Synthese macht.
Wenn sich vieles von Goethes Auseinandersetzung mit den Fragen um die 1815 erneut ins Blickfeld getretenen Kunstwerke wesentlich auf das Mittelalter konzentriert, dann zeigt sich darin – auch wenn der Verfasser dem zurückhaltend begegnet – ein für die damalige Zeit aktuelles, seit längerem schon entwickeltes Denken und Fühlen. Denn die durch naturwissenschaftliche Forschungen im späten 18. Jahrhundert geschaffene enorme Ausdehnung historischer Zeit, welche eine Lösung der Erdgeschichte aus biblischer Chronologie und ihre Erweiterung auf mehrere Zehntausend, ja Millionen Jahre zur Folge hatte, rückte automatisch das Mittelalter näher an die Gegenwart heran, sodass es als eng benachbart und der damaligen Moderne zugehörig empfunden werden musste. Dabei verlangten die oft in nur wenigen Exemplaren erhaltenen Relikte dieser Zeit eine Einbettung in die Geschichte, mit deren Hilfe es möglich wurde, über Lücken der Überlieferung hinweg, ein Ganzes zu erkennen und – so Goethe – es mit Genuss zu betrachten. Kulturgeschichtliche Fixierung verlieh den Artefakten also Sinn und machte sie erst verstehbar. Diese schon früh ausgesprochene Einsicht trat immer dort in Erscheinung, wo aus einzelnen Teilen Zusammenhänge gewonnen wurden und sich auf diese Weise historische Strukturen konstituierten: in Goethes eigenen »Münzschubladen«, die Jahre zuvor Johannes von Müller begutachtet hatte, nicht anders als in den »nützlich und genießbar« gemachten Kunstsammlungen des Bonner Kanonikus Franz Pick und der Brüder Boisserée in Köln (75), deren »Sinn und Absicht« er befriedigt würdigte.[2] Im Gegensatz dazu stand das Chaos der von Ferdinand Franz Wallraf zusammengetragenen Kunstobjekte, deren Besichtigung mangels erkennbarer übergreifender Ordnung höchstens verwirrte und keinerlei Vergnügen bereitete (73).
Sinnsuche durch Kontextualisierung des Fragmentarischen schien für Goethe gerade am Ende napoleonischer Herrschaft vonnöten, »in dieser confusen Zeit«, wie er es Carl Ludwig von Knebel gegenüber ausdrückte, um dann von der Ordnung seiner Kupferstiche zu sprechen, mit der jedes einzelne Blatt eine neue Aussagequalität erhalte.[3] So aber weitet sich der Blick und es treten historische wie inhaltliche Bezüge heraus, die dem einzelnen Stück einen – im wahrsten Sinne des Wortes – Stellenwert und zusätzliche Bedeutung verleihen. Im Zusammenhang mit diesem von Catalano detailliert nachgezeichneten Wahrnehmungsprozess wäre es lohnend gewesen, die Reiseerfahrungen des Weimarer Dichters und dessen Blick auf Eigenes wie Fremdes vor dem Hintergrund von Friedrich Schlegels ebenfalls auf einer Fahrt rheinabwärts angestellten Überlegungen zur Geschichte und Kunst des Mittelalters aus dem Jahr 1803 zu lesen. 1806, also zehn Jahre vor dem ersten Heft von Ueber Kunst und Alterthum im Druck erschienen, standen auch Schlegels Augen und Verstehen öffnende Erlebnisse vor der Folie eines extremen Umbruchs, nämlich der Säkularisation, und ähnlich wie später war bereits zur Frühzeit napoleonischer Besatzung des Rheinlands nationale Befindlichkeit ein bestimmendes Moment der Kunstbetrachtung gewesen. Geprägt durch die aktuellen politischen Widrigkeiten, entwickelte Schlegel eine neue Art des Zugangs zu den Werken, die durch assoziative Vergleiche historisiert und nationalisiert werden. Auf diese Weise geraten die Erfahrung von Fremdherrschaft und das Miterleben von Zerstörung oder Raub zu Katalysatoren für einen selbstbewussten Umgang mit der eigenen Kultur, der eine zum Teil offensiv gegen andere gerichtete Qualität zugesprochen wird.
Als literarische Form war der Reisebericht mit ästhetischen Betrachtungen ein Relikt des 18. Jahrhunderts, das allerdings lange noch nachwirkte und individuell ausgestaltet wurde.[5] Wenn Goethe dieses Format nach seinen Aufenthalten am Rhein im Sommer und Herbst 1814 bzw. im Sommer 1815 für die Analyse von bildender Kunst zunächst ebenfalls aufgreift, dann bezweckt dies auch, einen Konnex zwischen Kunst und Lokalität herzustellen und so die moderne Aneignung alter Werke als natürliche Reaktion auf die ursprüngliche Verbindung zwischen einem Artefakt und seinem Standort erscheinen zu lassen. Doch dies kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass es hier um mehr geht als nur um Rekonstruktion. Denn mit dem direkten Blick auf die Situation vor Ort und mit der neuen Verfügbarkeit ehemals eigener Kunst gestaltet sich das Verhältnis zu dieser Kunst weitaus intensiver als jemals zuvor. Wie tiefgreifend allein die Wiedererlangung geraubter Werke den zeitgenössischen Kulturbetrieb tatsächlich durchsetzte, mag ein Ereignis aus Berlin andeuten. Den Turnus der dort seit 1798 alle zwei Jahre stattfindenden Ausstellungen der Akademie der Künste unterbrach 1815 eine Sonderschau. Gewidmet war sie Gemälden, »welche durch die Tapferkeit der vaterländischen Truppen wieder-erobert worden.«[4] Es handelte sich um deutsche, niederländische, französische und italienische Werke seit dem 16. Jahrhundert, die im zugehörigen Katalog kurz vorgestellt und von Alois Hirt historisch wie kunsthistorisch neu bewertet werden. Doch bleibt es nicht beim Blick zurück: Für die zukünftige Präsentation fordert Hirt ein Museum, in dem die Werke »ein Ganzes« und ein Panorama europäischer Kultur vermitteln sollten. Keineswegs nur mit dieser Forderung teilt er Goethes Bestreben hinsichtlich einer öffentlichen Präsentation der vorher teilweise im Verborgenen, oftmals unsystematisch verstreut aufbewahrten Dinge. Auch Hirts nähere Betrachtung der Gegenstände liegt auf der Linie des Dichters aus Weimar. Denn wenn der Berliner Berichterstatter intensive Vergleiche anstellt und dabei etwa das bisher mit Jan van Eyck in Verbindung gebrachte Danziger Jüngste Gericht nun Hugo van der Goes zuschreibt, wird ein Stück historischer Ordnung geschaffen, die das Feld der älteren Malerei neu vermisst und bestellt.
Goethe beschwört ein über die Fläche des Landes hinweg organisiertes System der Kollektion von Kunstwerken, das sich auch sonst immer wieder in seinen Ideen über Museen und Sammlungen findet.[7] Aus der Idee von Kulturräumen entwickelt er eine identitätsstiftende Topographie, deren Spezialität der Reisende dort wahrnehmen könne, wo »an jedem Ort immer dasselbe unter einer anderen Gestalt hervortritt«.[6] Angesichts dessen erscheint die Zentralisierung der Aufbewahrung wie eine Verarmung; vielmehr solle eine zweckmäßige Zerstreuung stattfinden, mit deren Hilfe sich Vielfalt abbilden lasse. Das mag man als Kommentar zur Vereinigung der geraubten Kunstwerke in Paris lesen, denen durch die Versammlung an einem fremden Ort der wesensbestimmende topographische Wurzelgrund entzogen wurde. Gleichzeitig aber ist es ein Ausblick auf die gewünschte Verteilung der Kunst nach der Restitution auf einzelne, für eine Region wichtige Hauptorte. Völlig zu Recht verweist Catalano auf Goethes Vorstellungen über Körper und Kosmos, mit denen sich die von ihm präferierte Gliederung künftiger Sammlungen als natürlich begründen ließ (58–63). Dabei stehen dessen diesbezügliche Überlegungen keineswegs isoliert. Nicht nur der zitierte Christian Friedrich Schlosser ist hier zu nennen (60–61). Etwa zur selben Zeit hatte sich auch Quatremère de Quincy in Paris gegen die Ausplünderung ganzer Kunstlandschaften gewehrt und die »manie des collections« kritisch kommentiert. Er begründete sein Votum ebenfalls mit der Individualität von Artefakten, »qui ont reçu une destination«, und verwies in diesem Zusammenhang auf die »considérations locales, morales ou accessoires, d’où dépend l’impresssion qu’ils font sur notre âme«.[8] Kontextverlust ist Identitätsverlust und bedeutet die Entwertung, ja die Zerstörung des Kunstwerks.
Doch die Einbettung dieses Kunstwerks in vergangene oder zukünftige Kulturtopographie ist nur eine Facette des Umgangs mit den durch die Wiedererlangung neu in den Blick getretenen Kulturgütern. Als ebenso wichtig stellt sich die Verortung in einen engeren historischen Kontext heraus, der gerade auch für die erste Auseinandersetzung mit dem einzelnen Stück Konsequenzen zeitigt. Denn bereits dessen Erscheinungsform ist als raum-zeitliche Größe präsent und ablesbar. Exemplarisch deutlich wird das an dem um 1400 entstandenen Veronikabild aus der Sammlung Boisserée. Schon dessen Bezeichnung als »byzantinisch-niederrheinisch« in der Unterschrift des Reproduktionsstichs im ersten Heft von Ueber Kunst und Alterthum macht das Problem verlässlicher Einordnung deutlich. Zwar spiegelt der Begriff die Komplexität des Werks auf perfekte Weise; vor dem Hintergrund zeitgenössischer Bemühungen um terminologische Schärfung in der Frühphase historisch-kritischer Kunstbetrachtung mutet er allerdings widersprüchlich an. Dabei sind beide Teile historisch wie geographisch konnotiert, was die Einsortierung des Werks in mittelalterliche Kunst zu einem Unterfangen macht, das Geschichte und Raum als komplementäre Größen der Interpretation nutzt. Catalano aber wählt dieses Bild vor allem, weil es »einen zukunftsweisenden Horizont im Sinne der Kulturgeschichte eröffnet« (91), das heißt, eine exemplarische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Gang setzt, bei der ein starkes, von nationalem Empfinden unterstütztes Gefühl für diese Vergangenheit und eine diesem Gefühl entsprechende wissenschaftliche Methodik den Zugriff auf das Objekt bestimmen. Tatsächlich wird eine patriotisch fundierte Kunstgeschichte wenigstens bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein zum Wesenskern der Auseinandersetzung mit Artefakten gerade älterer Zeit. Inwiefern dabei Erfahrungen aus der Zeit nach 1800 weiter-wirken sei dahingestellt. Doch gehören gerade in der Terminologie Rückgriffe auf das 19. Jahrhundert zu den unhinterfragten Bestandteilen auch noch der modernen Wissenschaft.
Die Bemühungen um historische Klärung eines fremd anmutenden Bildes mit Hilfe eines noch kaum ausgeprägten und wenig leistungsfähigen Begriffsapparats unterstreichen die wissenschaftsgeschichtliche Zwischensituation, in der sich Goethe mit seinen Gedanken bewegt. Diese Situation lässt sich ebenfalls in den Überlegungen zur Reproduktion und den daraus sich ergebenden Folgerungen erkennen. Reproduktion ist dabei – anders als es später häufig gesehen wird – wissenschaftliche Position, gehört also wesentlich zur Beschäftigung mit dem Kunstwerk und wird ein Indikator für den Zugang zu diesem Werk. In ihr wandelt sich das Original zu einem Gegenstand, der das Geistige und Konstruktiv-Abstrakte des Artefakts betont. Auf die Grundlinien der Komposition ohne Farbe und Binnenmodellierung reduziert, wird so im ersten Heft von Ueber Kunst und Alterthum das Tafelbild der hl. Veronika aus der Sammlung Boisserée zum Pendant der Beschreibung, die ebenfalls kein adäquates Abbild der Realität des Bildes sein kann, ja Gefahr läuft, das Original durch falsch gewählte Worte zu korrumpieren. Und wenn der Autor dann für Freunde und Bekannte außerdem eine kolorierte Wiedergabe erbittet, belegt das nicht allein die Unterscheidung von Bildung und Genuss, sondern es wird eine zusätzliche Qualität verlangt, die das Abbild näher an das Original rückt als alle Worte. Eine damit angesprochene individuelle Bildsemantik mag bereits auf die späteren Diskussionen über den Einsatz von Reproduktionen in der historisch-kritischen Wissenschaft verweisen, wo unbestechliche Apologeten strenger Methodik gerade für Architektur höchstens Zeichnungen zulassen, während sie jegliche Ausmalung als Visualisierung für Laien abqualifizieren.
Catalano stellt die Bemühungen um das Veronika-Gemälde unter die Überschrift »Bildtransformationen«, um damit das Potenzial unterschiedlicher Erscheinungsformen historischer Kunst in der Wissenschaft zu betonen. Im speziellen Fall Goethes lasse sich aus solchen Verwandlungen dessen »Versuch ablesen, das morphologische Prinzip der Gestalt und die Methode des Vergleichs miteinander zu verbinden« (104). Diese Beobachtung macht deutlich, wie sehr das Bild und seine Wiedergaben zu einem Experimentierfeld geworden sind, die persönliche (An-)Sicht und moderne ästhetische Norm zumindest gleichberechtigt neben die überlieferte Form und rekonstruierte geschichtliche Fakten stellen. Für das historische Artefakt steht damit die Notwendigkeit seiner Verwandlung zum Zwecke der Sichtbarmachung einer Vielzahl von Faktoren außer Frage. Das betraf nicht zuletzt die Bestimmung eines Kunstwerks. Denn dessen Funktion musste keineswegs festgelegt sein, ja mochte sich permanent ändern und setzte von daher immer wieder eine Reinszenierung des Objekts in Gang. Dies hatte 1809 bereits Zacharias Werner bei einem Besuch in Köln an Boisserées sog. Kleinem Dom, einem Schnitzaltärchen der Zeit um 1350, festgestellt. Denn dessen innerhalb kurzer Zeit zu erlebender Wechsel zwischen ›Museumsstück‹ und ›liturgischem Requisit‹ war mit der Aufnahme in die Sammlung keineswegs abgeschlossen, sondern ließ sich stetig wiederholen.[9] Die an diesem Werk sichtbare Volatilität des Artefakts erhält in Goethes Überlegungen zu den mit spezifischen Aufgaben ausgestatteten Bildern von Kunstwerken ihre Bestätigung.
Alles unterstreicht nur die Bedeutung des direkten Kontakts mit den Werken und die daraus entstehende Lebendigkeit des Urteils. Auch dies ist – wenn oft auch nur indirekt – Thema der Betrachtungen. Viele Jahre zuvor war dafür schon Johann Dominik Fiorillo, der zwar Belesenheit zeige, dem aber die Anschauung fehle, als Negativfolie etabliert und zum Protagonisten einer vor- oder unwissenschaftlichen Generation gemacht worden (115–116).[10] Das mochte auf ein Problem zwischen Weimar und Göttingen verweisen,[11] besaß in gewisser Weise aber auch topischen Charakter, hatte sich doch bereits Winckelmann auf vergleichbare Weise zum Werk eines Kollegen positioniert: In Giuseppe Maria Pancrazis mit Tafeln ausgestattetem Opus über die Tempel auf Sizilien sei über die Denkmäler, anders als zu erwarten, »wenig oder gar nichts« gesagt, womit eine wissenschaftlich akzeptable Darstellung fehle.[12]
Ganz anders als die Reinszenierung der Veronikatafel durch Beschreibung und Wiedergabe im Holzschnitt gestaltete sich für Goethe die Rezeption des Kölner Doms (145–152). Zur ohnehin bereits schwierigen Transponierung raumplastischer Architektur in Worte und Bilder kam der fragmentarische Zustand des Originals, der die Rekonstruktion des Baus als Ganzen zu einer besonderen Herausforderung machte. Die auf Wiederbelebung setzende, seit 1821 herausgebrachte Dommonographie Boisserées steht deshalb im Mittelpunkt der Überlegungen, bot sie doch eine hervorragende Grundlage, um sich in das Gebäude und seine Ästhetik hineinzufinden. Pläne, Risse und Ansichten geben dabei Auskunft über Gestalt und Historie, lassen den Weimarer Betrachter zum Besucher und Bewunderer des noch unfertigen Originals werden und zeigen ihm einen leicht gangbaren Weg zur wenigstens imaginären Vollendung des Baus wie zu seiner Geschichte. Gleichwohl sieht Goethe auch hier das Problem einer unreflektierten Mittelalterbegeisterung. Deshalb solle »der Kunstwerth jener alten würdigen Gebäude auf historischem Wege bekannt und deutlich« werden und nicht dadurch, dass man die »Geister der vorigen Jahrhunderte in die Wirklichkeit« rufe. Dieser Wunsch an Georg Moller, der den Originalriss der Fassade des Doms entdeckt hatte und im Begriff war, denselben in einem monumentalen Holzschnitt zu faksimilieren, verrät einmal mehr die Schwierigkeit, die sich für Goethe mit einer Rezeption des Mittelalters verbindet und die er letztlich nicht überwinden kann.[13] Catalano fügt diese Haltung einem größeren Kontext ein, indem sie erneut auf unterschiedliche Präsentationsweisen des Kunstwerks in Text und Bild hinweist. Spiegelten sich darin jeweils individuell Teile und Ganzes wider, so seien damit zugleich Möglichkeiten einer aktualisierenden Interpretation angesprochen, die ebenso wie die Restaurierung eines Originals alte Denkmäler verändere und aus ihnen für die moderne Zeit aussagekräftige Monumente mache. In dieser Neubelebung der Objekte werde – so die Autorin – nicht allein »deren Unsichtbarkeit aufgehoben«, sondern auch »Gedächtnisbewahrung« in die Wege geleitet, die den ersten Schritt hin zu einer »Wertsetzung« bedeute (162).
Dass Goethes Anliegen mit einer solchen, eher rationalen Beschreibung seiner Ideen und seiner Vorgehensweise nur partiell gewürdigt ist, weiß Catalano nur zu gut. Sie beleuchtet deshalb stets auch die andere, das heißt die vom Gefühl bestimmte und überlagerte Seite des Reagierens auf alte Kunst. Denn trotz einer gewissen Reserviertheit mittelalterlichen Artefakten gegenüber, mag auch der klassizistisch empfindende Dichter nicht ganz auf eine suggestive Erscheinung des unvollendeten Doms verzichten. Wie schon beim Veronikabild begrüßt er die Anfertigung kolorierter Exemplare des Fassadenstichs von Moller, mit deren Hilfe gerade die Einbildungskraft von Laien gestärkt und eine Wirkmacht der Architektur heraufbeschworen wird, die kritischen Fragen zumindest vordergründig enthoben ist. Die von Coudray in Weimar und Schinkel in Berlin illuminierten Stiche präsentieren eine Fragmentierung überwindende Ganzheit des Baus und dienen so dem ungetrübten Genuss der Architektur. Insofern sind Denkmalpflege und Rekonstruktion des Originals nicht nur wichtige Mittel, um Sinn zu erkennen, sondern auch um einzutauchen in eine fremde Welt. Dabei bleibt es allerdings die vordringliche Aufgabe, ein unaufgeregtes Verhältnis mittelalterlicher Kunst gegenüber zu finden. Dieses Ziel bewegt in diesen Jahren nicht allein den Weimarer Dichter. Denn die Gefahr allzu rascher Popularisierung und daraus sich ergebender ›(Ab-)Nutzung‹ bestand auch für andere Kulturgüter, etwa für Werke alter Literatur. Unverdächtiger Zeuge dafür ist Jacob Grimm, der angesichts einer stetig und unkontrolliert wachsenden Mittelalterbegeisterung der Zeit zur Vorsicht rät. Die Widmung seiner Grammatik an Friedrich Carl von Savigny in Berlin nutzt er jedenfalls für eine Warnung vor dem unreflektierten ›Ge-‹ und ›Verbrauch‹ historischer Literatur, eine Warnung, die sich leicht auch auf Werke bildender Kunst übertragen ließ: »Die geretteten und wiedereroberten Denkmäler werden überall in sorgsamer Bewahrung gehalten; es frommt uns nicht, sie eilfertig in den Druck zu geben, damit ihr Inhalt der bloßen Neugier geöffnet werde, sondern wir sollen uns der Herstellung und Sicherung ihrer ursprünglichen Gestalt befleißigen. Was die Vorzeit hervorgebracht hat, darf nicht dem Bedürfniß oder der Ansicht unserer heutigen Zeit zu willkürlichem Dienste stehen.«[15] Heutigen Ohren mögen Grimms Bedenken elitär klingen, laufen sie doch auf die exklusive Beschäftigung nur weniger Experten mit den Originalen hinaus. Dahinter aber steht eine tiefe Skepsis vor falscher patriotischer Inanspruchnahme. Goethe, der das ähnlich sieht, macht sich allerdings keinerlei Illusionen. Bereits gegenüber Carl Friedrich Zelter hatte er die Befürchtung geäußert, dass man seine Bemerkungen zur mittelalterlichen Kunst am Rhein »sehr geschwinde ausdreschen und mit den Strohbündeln als reichen Garben am patriotischen Erntefest einherstolziren« werde.[14] Das hinderte ihn gleichwohl nicht daran, den Aufbruch in die Mittelalterbegeisterung seiner Zeit durch eigene, durchaus auch ermunternde Stellungnahmen zu begleiten. Diese komplizierte Sachlage hat Gabriella Catalano umsichtig präsentiert, mit beeindruckender Souveränität ausführlich kommentiert und in den Zusammenhang mit den Restitutionen während der nachnapoleonischen Zeit gestellt. Damit überführt sie die notwendige »approche dépassionnée des transferts patrimoniaux«[16] in eine kluge, ebenso konzentrierte wie breit angelegte Analyse, aus der ein Panorama des Umgangs mit ideellem und materiellem Besitz im frühen 19. Jahrhundert wie dessen Konsequenzen entsteht. In diesem Zugang liegt vielleicht auch eine Empfehlung für die heutige Zeit, wenn es darum geht, über Eigenes und Fremdes, deren komplizierte Verflechtungen wie die daraus sich ergebenden Handlungsoptionen nachzudenken.
About the author
KLAUS NIEHR war nach Stationen in Berlin, Marburg und Basel ab 2004 Professor für Kunstgeschichte an der Universität Osnabrück, seit 2021 im Ruhestand. Er ist Mitglied der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen und Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.
© 2023 Klaus Niehr, published by De Gruyter
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