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Publicly Available Published by De Gruyter July 7, 2016

Rezensionen

From the journal ABI Technik

Reviewed Publications:

Deggeller Kurt Bestandserhaltung audiovisueller Dokumente Berlin De Gruyter 2014 – X, 68 S. – 3-11-028960-2 € 89,95

Alker Stefan Hölter Achim Literaturwissenschaft und Bibliotheken Göttingen V & R Unipress, Vienna Unv. Pr. 2015 – 198 S. ( Bibliothek im Kontext, Bd. 2) – 3-8471-0454-4 € 30,00

Hollmann Michael Schüller-Zwierlein André Diachrone Zugänglichkeit als Prozess. Kulturelle Überlieferung in systematischer Sicht Berlin De Gruyter 2014 (Age of Access? Grundfragen der Informationsgesellschaft, 4). – 488 S. – 978-3-11-031164-8 € 99,95

Banik Gerhard Brückle Irene Papier und Wasser. Ein Lehrbuch für Restauratoren, Konservierungswissenschaftler und Papiermacher. Übersetzung aus dem Englischen von Hubert Mania München Siegl 2015 – 681 S. – 978-3-935643-56-6 € 96,00


Seit vielen Jahren erfreuen sich Leitfäden und Überblicksdarstellungen bei den Gedächtnisorganisationen allgemeiner Beliebtheit. So veröffentlichte beispielsweise das deutsche Kompetenzzentrum zur digitalen Langzeitarchivierung nestor seit 2003 eine Vielzahl unterschiedlicher Publikationen (nestor-Handbuch, nestor-Materialien, nestor-Checklisten, Informationsblätter etc.), die das Wissen zu diesem Thema gebündelt und strukturiert allgemein zur Verfügung stellen. Diese Leitfäden dienen dabei nicht nur der kompakten Wissensvermittlung, sondern bieten auch die Möglichkeit, den eigenen Stand der Arbeit in der Institution zu reflektieren und abzugleichen. Gemessen an den Aktivitäten der digitalen Langzeitarchivierung sieht es auf dem Gebiet der Bestandserhaltung audiovisueller Dokumente sehr düster aus. Im deutschsprachigen Raum fehlen einführende Darstellungen zu diesem speziellen Bestandserhaltungsthema. Solche Leitfäden gibt es ebenso wenig für die Fachausbildung der Bibliothekare und Archivare wie für Restauratoren. Für den letzten Zweck wird immer wieder auf das „Forum Bestandserhaltung“ verwiesen, das zwar sehr verdienstvoll ist, jedoch in ihrem Webangebot ebenfalls kaum nennenswerte Empfehlungen zur Bestandserhaltung audiovisueller Dokumente aus dem deutschsprachigen Raum aufweist. Die wenigen verfügbaren Hilfestellungen kommen hier vorrangig aus dem angelsächsischen Raum.

Nun hat Kurt Degeller für die Reihe Praxiswissen des de Gruyter Verlags als ausgewiesener Fachexperte einen 67-seitigen Ratgeber verfasst, der sich mit dem Titel „Bestandserhaltung audiovisueller Dokumente“ eigens diesem speziellen Thema widmet. Degeller ist ehemaliger Direktor der Schweizer Nationalphonothek und arbeitete zu Beginn der 1990er Jahren an einem Gesamtkonzept für die Erhaltung des audiovisuellen Kulturguts der Schweiz. Die Arbeiten mündeten schließlich 1995 in die Gründung des Vereins Memoriav, dem Netzwerk zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturguts in der Schweiz. Hervorzuheben ist, dass der Autor sich mit seinem Ratgeber nicht von vornherein auf eine bestimmte Zielgruppe spezialisierte, sondern allgemeingültige Hinweise „bei der Planung der Verwaltung audiovisueller Bestände, bei der täglichen Arbeit mit diesen Dokumenten und bei der Aus- und Weiterbildung“ (S. V) lieferte. Der Autor widmete sich also bewusst den nicht spezialisierten Mitarbeitern in Archiven, Bibliotheken und Museen, weil insbesondere – ganz im Sinne des mittlerweile allgemeingültigen Glauert’schen Grundsatzes ‚Bestandserhaltung beginnt im Kopf‘ – aufgrund von Unkenntnis jährlich eine große Zahl Tonaufnahmen, Filme und Videos in öffentlichen Sammlungen unbeabsichtigt beschädigt oder zerstört werden und viele audiovisuelle Bestände nicht sachgerecht gelagert und mangels geeigneter Abspieltechnik und technischer Kenntnisse nicht zugänglich seien. Dabei weiß Degeller selbst, wie schwierig das Vermitteln von Fachkenntnissen gerade im Bereich der Bestandserhaltung von audiovisuellen Dokumenten ist. Auf Seite 4 konstatiert der Autor: „Restaurieren wird im Zusammenhang mit audiovisuellen Dokumenten leider noch allzu oft nicht unter denselben berufsethischen Grundsätzen gesehen, wie dies bei anderen Objekten aus Archiven, Bibliotheken und Museen der Fall ist.“ Gerade der Hinweis auf erkannte fehlende Kompetenzen und Infrastrukturen in den verschiedensten Gedächtniskulturen ist es also, weshalb die vorliegende Publikation einen sehr ansprechenden und fachlich soliden Eindruck macht – ein Eindruck, der sich zunehmend beim Lesen bestätigt.

Einer knappen Einführung in das Themenfeld Audiovisuelle Dokumente und einer klaren Übersicht folgt mit dem dritten Kapitel (S. 17–46) der Hauptteil der Darstellung über die adäquate Behandlung und wichtigsten technischen Charakteristiken von Tonaufnahmen, Filme und Videos. Im vierten Teil wird der sich zurzeit vollziehende Paradigmenwechsel von der Bestandserhaltung audiovisueller Dokumente zur Bestandserhaltung digitaler Dateien auf zwei Seiten kurz beschrieben. Für den Leser des Ratgebers am wertvollsten sind dann die sehr praxisorientierten Hinweise in Form einer zweiseitigen Checkliste für einen Digitalisierungsauftrag (Kapitel 5) sowie für die Erstellung eines Nachweissystems für einen Bestand mit unterschiedlichen audiovisuellen Materialien (Kapitel 7, S.  51–56). Die aus der langjährigen Berufserfahrung abgeleitete praktische Bestandserhaltung wird hier ernstgenommen. Sie sind klar und gut zu lesen, ohne dabei unnötig zu sehr ins Detail zu gehen.

Hinsichtlich auf die Zielgruppe gerichtet steht der Praxisbezug im Mittelpunkt dieses Ratgebers – und die praktischen Hinweise suggerieren nichts Falsches. Ab und an hätte man sich vielleicht noch eine Ausweitung des Spektrums für bestimmte fachliche Fragestellungen gewünscht, wie beispielsweise eine hier völlig ausgeklammerte Weiterführung von digitaler Bestandserhaltung hin zu einem genaueren Vorgehensmodell zur digitalen Langzeitarchivierung digitaler audiovisueller Objekte. Letztlich sind im deutschsprachigen Raum nämlich auch Fachbeiträge zur theoretischen und praktischen Umsetzung der Funktionseinheit „Preservation Planning“ des etablierten OAIS-Referenzmodells immer noch Mangelware. Die Bestandserhaltung audiovisueller Dokumente von Kurt Degeller macht dennoch Lust auf mehr. Gerade weil sie auf die Kompetenzen im Umgang mit den Medien abzielt, macht sie deutlich eine Lücke bewusst, die es weiter zu schließen gilt. Einen echten Leitfaden oder gar ein Handbuch zur Bestandserhaltung audiovisueller kann (und will) dieser Ratgeber nicht ersetzen. Das bleibt weiterhin ein Desiderat. Aber auf seine Weise hat der Autor gezeigt, wie es gehen könnte.

Matthias Jehn

Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg

Frankfurt / Main

Literaturwissenschaft wird betrieben mit dem, was Bibliotheken bewahren – vielleicht unterscheidet sich daher das Verhältnis der Literaturwissenschaft zur Bibliothek von dem anderer Disziplinen? Stefan Alker und Achim Hölter haben sich vorgenommen, dieser Frage einmal nachzuspüren, und dafür Beiträger aus beiden Sphären gewonnen. Dass ihr Sammelband sich keinem konkreten Anlass verdankt, hat zwei Folgen: einerseits wirkt der Themenzuschnitt der einzelnen Beiträge wie auch der Titel des Bandes Literaturwissenschaft und Bibliotheken handbuchartig und verspricht jeweils eine systematische und überblicksartige Darstellung. Andererseits versäumen es die Beiträger in ihren Texten, sich aufeinander zu beziehen, und haben auch keine gemeinsame Grundlage für das, was sie jeweils als „Bibliothek“ bezeichnen. Der Band leistet daher zugleich mehr und weniger, als er könnte.

Die neun Beiträger sind alle studierte, sechs von ihnen auch lehrende Literaturwissenschaftler, wie die biographischen Bemerkungen am Schluss des Bandes verraten. Vier Beiträger haben zugleich eine bibliothekarische Ausbildung, drei davon sind derzeit auch im Bibliotheksbereich tätig. Das Vorwort von Stefan Alker und Achim Hölter stellt alle Beiträge kurz vor (S. 7–11), dämpft dabei aber (meine) Leselust, weil man nur an im literaturwissenschaftlichen Jargon sattelfeste Leser gedacht hat. So heißt es etwa zum Thema Klassifikation, dass „die klassifizierten Artefakte […] auf dem Sektor der Poetologie und Generologie zugleich metasprachliches Ordnungsinstrument und gegenständliches Produkt der literarischen Evolution sind“ (S. 9). Gemeint ist, dass die literarischen Genrebegriffe sowohl vorschreibend wirken (z. B. für Schriftsteller) als auch beschreibend verwendet werden (z. B. von Literaturwissenschaftlern); dieser Umstand erschwert ihre Klassifizierung. Mit den Worten der Herausgeber: „Jede Form der Selbstreflexion“ von Literaturwissenschaft macht „das zugrundeliegende Produktionsdispositiv“ sichtbar, zumal wenn an der „wissenspoetologischen und vor allem praxeologischen Aufarbeitung des Konzepts Bibliothek“ gearbeitet wird (Zitate ebd.); offenbar glaubt man vor allem Literaturwissenschaftler daran interessiert. – Meine folgende Zusammenfassung präsentiert die Beiträge in einer Reihenfolge zunehmender Bezogenheit auf die bibliothekarische Praxis.

Daniel Syrovy, Literaturwissenschaftler, schreibt über das „Berufsfeld Bibliothek: Literaturwissenschaftler und Schriftsteller als Bibliothekare“ (S. 153–166), so der Titel seines Beitrags. Er widmet in seinem Überblick den bibliothekarisch tätigen Grillparzer, Musil, Huch oder Borges und anderen Autoren ausführlichere Bemerkungen zum Einfluss des Berufes auf ihr Schreiben, um schließlich die Perspektive zu wechseln: nämlich wie in der öffentlichen Wahrnehmung von Bibliothekar-Schriftstellerviten (Beispiel Borges) ein „Mythos Bibliothekar“ (S. 164) seine Ausprägung findet.

Achim Hölter, Literaturwissenschaftler, stellt in seinem „Forschungsbericht“ „Das Bibliotheksmotiv im literaturwissenschaftlichen Diskurs“ (S. 167–193) dar, wie die Bibliotheksmotivik in der literaturwissenschaftlichen Forschung seit den 1980er Jahren behandelt wird. Er zählt kenntnisreich eine Fülle von Arbeiten auf und teilt eine Reihe von zusammenfassenden Beobachtungen mit, etwa zum „Basistopos Selbstreferenz“ (S. 174), oder zu den wenigen kanonisch gewordenen literarischen Bibliothekstexten (S. 172). Auch wenn Literaturwissenschaftler „bis heute so gerne über Bibliotheken schreiben“ (S. 187), kommt Hölter nicht umhin, eine gewisse Ermüdung in der Behandlung des Themas festzustellen. Seine ausführliche Bibliographie regt zum Weiterlesen an.

Wolfgang Adam, Literaturwissenschaftler, orientiert buch- und bibliothekshistorisch in seinem dem Andenken Paul Raabes gewidmeten Beitrag „Bibliotheksforschung als literaturwissenschaftliche Disziplin“ (S. 67–92) über Typen privater und öffentlicher Büchersammlungen, um dann im längeren zweiten Teil am Beispiel der Privatbibliothek Montaignes zu zeigen, welche Erkenntnisse über das Schreiben eines konkreten Autors sich aus dessen Büchersammlung gewinnen lassen.

Bernhard Dotzler, Medienwissenschaftler, gibt vor, sich an einer „Literaturwissenschaftlichen Mediologie der Bibliothek“ zu versuchen (S. 49–65). Dabei schmückt Dotzler seinen Text mit einer ganzen Reihe von funktionslosen Verweisen und Abschweifungen, etwa indem er seinen 5. Abschnitt „Inherent vice“ überschreibt – der Titel des letzten Romans von Thomas Pynchon –, oder indem er mit der Christa-Wolf-Anspielung „Keine Bibliothek, nirgends“ schließt. Der 3. Abschnitt „Die totale Bibliothek“ gilt der bekannten Borges’schen Fiktion der Bibliothek von Babel und stellt dessen ebenfalls bekannte Paradoxien dar. – Dotzlers Leitfaden ist die „Erzählung“ Friedrich A. Kittlers über Alain Resnais Film über die französische Nationalbibliothek; Dotzler erzählt also die Analyse einer Filmerzählung nach. Die „zeitgemäße[n] Termini“ seiner „Mediologie“ der Bibliothek sind Kittlers Computerbegriffe der 1970er Jahre, und es bleibt Dotzlers Geheimnis, inwiefern diese überholte Technik als Bildspender etwas konzeptuell Erhellendes über das moderne Bibliothekswesen zu sagen vermag – von Irrtümern, beispielsweise darüber, was ein OPAC ist (S. 53), einmal abgesehen. Die im Vorübergehen ausgesprochene Bewertung, „immer mehr ganze Bibliotheken [gingen] dem Netz in die Falle“ (S. 64), wäre nur dann interessant, wenn sie denn begründet würde; da dies fehlt, bleibt die theoretische Fallhöhe der Schlussfolgerung „Keine Bibliothek, nirgends“ für die Zukunft nach dem Medienwandel mediologisch auf der Höhe des Meeresspiegels.

Dirk Werle, Literaturwissenschaftler, widmet seinen Text der „Literaturtheorie als Bibliothekstheorie“ (S. 13–26). Der Aufsatz krankt an seiner fragwürdigen Voraussetzung, „die Literaturtheorie“ habe den Bibliotheksbegriff bisher vermisst, zumal Werle zu erläutern versäumt, welchen literaturtheoretischen Kontext er der „Bibliothek“ zudenkt. Immerhin begründet Werle sein theoretisches Vorhaben, wenn auch mit der allzu ambitionierten These, „erst verstanden als auf die Bibliothek bezogener Gegenstand lässt sich Literatur […] angemessen verstehen“ (S. 14). Das schmeichelt den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren; wahr ist es aber nicht. Werles definitionsähnliche Setzungen, die literaturtheoretisch fruchtbar gemacht werden sollen, scheinen unhinterfragt vom Paradigma der frühneuzeitlichen Gelehrtenbibliothek regiert – mit denen Werle sich auskennt – und damit von beschränkter Aussagekraft. „Die Bibliothek ist unabgeschlossen und in ständigem Wachstum begriffen“ (S. 14), gilt sicher für die Büchersammlung von Personen, solange diese leben, nicht aber nach deren Tod, wie Adams schon erwähnte Abhandlung über Montaignes Bibliothek im gleichen Band belegt. In Werles Setzung: „In der Bibliothek stehen Bücher verschiedenster Provenienz nebeneinander“, ist ein bestimmter Typ der Erwerbungsgeschichte einer Büchersammlung imaginiert, die eben nur auf manche Bibliothekstypen zutrifft. Selbst dort, wo die Bibliotheksaussagen allgemeiner sind, wirkt die literaturtheoretische Anwendung übergestülpt: „Die Bibliothek besteht aus vielen Büchern […] Literatur ist nicht als Einzeltext […] zu haben; der Begriff der Literatur basiert auf dem Prinzip der Fülle“ (S. 14), schreibt Werle beispielsweise, erklärt aber nicht, warum allein im Bibliotheksbegriff das Prinzip der Fülle literaturtheoretisch angemessen ausgedrückt wäre. – Im Verlauf seiner Darstellung streift Werle naheliegenderweise Intertextualitäts- und Memoria-Diskussion und endet schließlich mit einer für eine bestimmte Schule der Literaturwissenschaft typische enge und beschränkte Definition von Literatur als „auf Wissen bezogene Ausdrucksform“, die es ermögliche, in der Literaturtheorie „das Konzept, die Institution, den Begriff der Bibliothek als zentral“ zu setzen (S. 24). Der ganze Gedankengang lässt mich ratlos zurück, das von Werle ausgemachte theoretische Defizit sehe ich nicht. Literaturwissenschaftlich erscheint mir außerdem seine Verengung auf die am Wissensbegriff orientierte Perspektive der Bibliothek problematisch, aber damit macht man ohnehin ein größeres Fass auf.

Die von Bibliothekaren verfassten Beiträge treten – insbesondere im Vergleich zu den Beiträgen von Dotzler und Werle – mit weniger theoretischer Ambition auf.

Stefan Alker, Bibliothekar, betrachtet „Die Bibliothek in literaturwissenschaftlichen Einführungen“ vor allem der letzten 15 Jahre (S. 27–48). Sein Überblick genügt sich darin, zu beobachten und zu sortieren; die Zusammenfassung gerinnt zu der wenig überraschenden Feststellung, die Bibliothek (= ganz konkret Institutsbibliothek oder Unibibliothek) sei in den Einführungen „ambivalent“ gezeichnet. Der Aufsatz stellt durchaus aufschlussreich die Blickrichtung der Literaturwissenschaft auf ihre Bibliotheken dar; wenn Alker am Ende für „gegenseitige[s] Verständnis“ (S. 48) wirbt, hat er jedenfalls für die eine Seite einen Beitrag geleistet.

Michael Pilz, bibliothekarisch ausgebildeter Literaturwissenschaftler, behandelt „Wissenschaftliche Bibliotheken und Literaturvermittlung aus literaturwissenschaftlicher Sicht“ (S. 93–113). Da Pilz mit dem, was vermittelt werden soll, tatsächlich „Belletristik als ‚Literatur im engeren Sinne‘“ (S. 98) meint, wundert die Erkenntnis wenig, dass Universitäts- und Institutsbibliotheken sich kaum berufen fühlen, dazu systematisch beizutragen, so dass auch das Fehlen einer bibliotheksfachlichen Reflexion über Literaturvermittlung in diesem Sinne nicht wirklich erstaunt. Damit der Beitrag sich aber nicht in der Fehlanzeige erschöpft, erkennt Pilz auch in der Bereitstellung bibliographischer Information – wie etwa der BDSL, die von der UB Frankfurt erarbeitet wird – und der Digitalisierung von Primärliteratur Arbeitsfelder der Literaturvermittlung, deren sich Bibliotheken dankenswerterweise angenommen haben.

Peter Blume, Bibliothekar, untersucht „Bibliothekarische Systematiken und Fachsystematik(en) der Philologien – eine vielschichtige Beziehung“ (S. 139–152). Leider hält der Aufsatz nicht, was der Titel verspricht, da Blume keine konkrete „Fachsystematik der Philologien“ als Vergleich mit den herangezogenen RVK, DDC oder GHBS anführt. Ich hätte lieber mehr direkt Vergleichendes gelesen als „Thesen“, die sich nicht entscheiden können, ob sie normativ gemeint sind oder als Beobachtungen mit Nachweisen unterfüttert werden sollten. Bemerkungen zur Zeitgebundenheit von Wissensordnungen und zur Diskrepanz zwischen den Geschwindigkeiten, mit der sich Fachsprache und Terminologie einerseits, Fachsystematik andererseits entwickeln, gehören ohnehin zum Standardrepertoire der bibliothekarischen Fachdiskussion. Wenn Blume schließlich seinen letzten Abschnitt „Lösungsansätzen und Perspektiven“ widmet, dann hofft man auf mehr als, z. B. die altbekannte Feststellung, „die starre[ ] lineare[ ] thematische[ ] Ordnung von physischen Buchbeständen in einer Bibliothek“ (S. 151) sei ein Problem; und in der Standortungebundenheit von E-Books kann ich auch keine zukunftsgewandte „Perspektive“ erkennen, ja nicht einmal einen echten Gedanken, da dies für die Titeldaten aller Medien immer schon galt.

Andreas Brandtner, Bibliothekar, schreibt über „Bibliotheken als Laboratorien der Literaturwissenschaft? Innenansichten analoger, digitaler und hybrider Wissensräume.“ (S. 115–138). Er bietet eine kleine Bibliotheksgeschichte der „Labor“-Metapher, die aus der Literaturwissenschaft stammt, und richtet seinen kritischen Blick auf den jüngst in der bibliothekarischen Diskussion wieder Konjunktur gewinnenden Begriff der „Forschungsbibliothek“ (S. 127–129). Der behagt ihm als Direktor der UB Mainz vermutlich darum nicht, weil die Regionalbibliotheken, die sich damit identifizieren, keinen institutionellen Bezug zur Forschung haben, durch den ihr Handeln korrigiert werden könnte, im Unterschied etwa zu seiner UB. Zwar leuchtet es ein, wie Brandtner vorschlägt, den Begriff als Beschreibung einer Funktion zu verstehen, die dann auch anderen Bibliotheken zugeschrieben werden könnte, allerdings nimmt sich diese Korrektur vom Vertreter einer multifunktionalen Universitätsbibliothek wie der Neid der Reichen auf die Armen aus. Als – offene – Zielfragen stellt Brandtner heraus, ob Bibliotheken „geisteswissenschaftliche Forschungsprozesse konstruktiv“ unterstützen und ihrem Wesen nach anarchische Forschung das streng strukturierte Bibliotheksangebot fruchtbar machen könne(n) (S. 138), andernfalls liefen beide Welten auseinander; Fazit: „es bleibt spannend“ (ebd.).

Naheliegend wäre es, spätestens an diesen Beitrag die Frage anzuschließen, inwiefern es gerade jenen Bibliothekaren ge- oder misslingt, eine Kluft zwischen Forschung und Dienst zu überbrücken, die ihrem Selbstverständnis nach Literaturwissenschaftler (geblieben) sind. So bleibt die Perspektive des ganzen Bandes entschieden institutionsbezogen. Bibliothek und Literaturwissenschaft: ja, Bibliothekare und Literatur: nein. Was angesichts des Tätigkeitsprofils der Beiträger schade ist. – Der Band unterlässt es auch an anderen Stellen, Verknüpfungen herzustellen, etwa im Kapitel über die Autorenbibliotheken zum Forschungsprojekt Autorenbibliotheken im (bibliothekarisch-archivisch geprägten) Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel.

Trotz aller Einwände bietet der Band in den meisten Beiträgen einen gründlichen Überblick und in manchen für mich als Bibliothekar neue Beobachtungen. Er ist allemal einen Blick wert, auch wenn nicht alle Beiträge der durch den allgemein gehaltenen Titel geweckten Erwartung zu entsprechen vermögen. Als zweiter Band der Reihe „Bibliothek im Kontext“ ist er als Open Access-Publikation (unter der Lizenz CC-BY-NC-ND 4.0) als PDF auf den Seiten des Verlags V&R zu finden. Mit seinem festen Einband, dem klaren Satz und der sorgfältigen Bindung ist das gedruckte Werk durchaus zur Anschaffung zu empfehlen.

Joachim Eberhardt

Lippische Landesbibliothek

Detmold

In einer Zeit, in der intensiv über die Zugänglichmachung von historischen Quellen, besonders in digitalem Umfeld, diskutiert wird, kommt dieser Artikelband als ein Korrektiv daher und stellt die Frage nach der grundsätzlichen Zugänglichkeit der Quellen unter Einwirkung zeitlicher Veränderungen epistemologischer, aber auch technologischer Art: Eine höchst aktuelle und willkommene Untersuchung, die hoffentlich von vielen wahrgenommen wird.

Der Band widmet sich zentralen Fragen einer wie auch immer definierten „Informationsgesellschaft“ mit Blick auf ihren Umgang mit dem „kulturellen Erbe“ und der breiter gefassten „Überlieferung“. Sind alle Informationen zugänglich oder verschleiert deren postulierte und oft genug eingeforderte Zugänglichkeit nur die Tatsache, dass es Grenzen der Zugänglichkeit gibt – physische Grenzen der tatsächlichen Überlieferung wie auch methodische Grenzen der Handhabung der Findmittel, zunehmend des Findmittels Internet, welches nach einem „Google-Prinzip“ eingesetzt und beherrschbar gemacht wird. Zugänglich ist nur, was sichtbar ist, die Frage geht also viel tiefer: Wie wird geordnet, erschlossen, sichtbar gemacht und sichtbar erhalten? Wie wird diese Ordnung standardisiert, so dass sie zuverlässige und instinktiv handhabbare Nutzung bzw. überhaupt Verständnis ermöglicht?

Daran schließt jedoch eine noch profundere Frage an, nämlich die nach den tatsächlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten, vorhandene und sichtbare Informationen zu interpretieren, also die zentrale methodische Frage nach erlernten Hilfswissenschaften, die keineswegs trivial ist. In einer Zeit, in der Historische Hilfswissenschaften aus dem Handwerk der Historiker und der Universitätslandschaft zunehmend verschwinden, ist auch die wachsende Sichtbarkeit keineswegs mehr ein Garant der erweiterten Zugänglichkeit, die Quellenkritik, die historische Grundmethode, wird durch die pure Zugänglichmachung keineswegs verbürgt, quellen- und medienkritischer Umgang mit analogen und digitalen Quellen wird oft genug nicht mehr gewährleistet. Es geht um die Zugänglichkeit an sich, um das Zugänglich-Halten von Informationen über technologische Brüche und methodische Veränderungen hinweg.

Die im Hinblick auf Schnelligkeit und Masse exponentiell wachsende Informationsfülle macht es nahezu unmöglich, Informationen vollständig zu erhalten. Vollständigkeit war ohnehin nie ein Anliegen der überlieferungsbildenden Institutionen, allen voran der Archive oder Bibliotheken. Gerade im kulturellen Diskurs, der Aspekte des Selbstverständnisses und der Selbsttradierung im Spiegel des Kulturerbes berührt, sind Fragen nach Art und Umfang, nach Interpretation und Präsentation längst angekommen. Der Band versucht nun, einige Antworten oder Antwortmöglichkeiten zu bieten – im Hinblick auf die „leitmediale Funktion“ des Internets ebenso wie auf die traditionelle Überlieferungsbildung durch Bewertung, die nicht erst durch die „digitale Wende“ aktuell, aber doch deutlich sichtbarer und akuter werden.

Überlieferung ist nicht statisch, sondern Ausdruck aktiver Arbeit und Entscheidung. Archivarische Bewertung und bibliothekarische Auswahl kann nicht verobjektiviert werden, die Formationsprozesse dessen, was übrig bleibt, unterliegen zeitimmanenten und auch subjektiven Kriterien, die nach Möglichkeit transparent bleiben sollten. Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie zwischen statischen Momenten und dynamischen Prozessen changieren. Es ist das Anliegen der Archive und Bibliotheken, Nachhaltigkeit zu garantieren, stabile Referenzen zur Verfügung zu stellen, die im elektronischen Umfeld von permanenten Links und Identifikatoren ausgehen. Aber das wird in einem digitalen Umfeld, das schnellen Wandlungen unterliegt, zunehmend schwierig, ohne einen Teil der Information – über genau diese sich schnell wandelnde Umgebung – zu verlieren. Es gilt also, den Blick für die Information zu schärfen, die unbedingt erhalten bleiben muss, damit die Verständlichkeit der Überlieferung nicht durch zahlreiche Okklusionsprozesse verloren geht.

Diese Okklusionsprozesse führt André Schüller-Zwierlein in seinem einführenden Kapitel in systematischer Weise ein. Seine Typologie des Unzugänglich-Werdens der Information geht von der Grundannahme aus, dass Information grundsätzlich nicht zugänglich bleibt – eine Erfahrung aller Institutionen und Personen, die mit dem Aufbewahren von Informationen betraut sind. Information muss zugänglich gehalten werden, nicht selten unter Abkoppelung von Information und Informationsträger. Schüller-Zwierlein versucht aber nicht nur, die bekannten Prozesse in einen logischen Zusammenhang zu bringen, sondern plädiert für die strategische Definition von Objekt und Objektinformation, um ganz aktuelle, mehr praktisch, aber durchaus auch ideell geführte Diskussionen zu ergänzen, z. B.: Reicht ein Digitalisat, kann das „Original“ vernichtet werden, wenn seine Erhaltung einen zu großen Aufwand bedeutet? Können und sollen Objekte statisch erhalten werden, oder ist der Prozess ihrer Umwidmung bzw. Veränderung nicht Teil der notwendigen Information? „Das Erhalten [erfordert] die Definition eines zu erhaltenden Zustands“ (S. 24), folgert er richtig, um eine effektive Überlieferungsplanung möglich zu machen und logisch-semantischen, strukturellen, technischen, gesellschaftlichen, referentiellen und anderen Okklusionsprozessen entgegenzuwirken.

Diese Forderung erhält ihre Fortsetzung im Beitrag von Jan-Hinrik Schmidt, der sich mit der Persistenz und Flüchtigkeit des Leitmediums Internet befasst. Er macht das „Netzwerk“ als technische, textuelle und soziale Form unserer Zeit aus, und zwar besonders wegen des fluiden Charakters von Information, die in der Form, wie sie soziale Netzwerke dominiert, noch nie vorhanden war: Es gab noch nie so viel und es war noch nie so flüchtig, und das ist das Paradoxon, das bei einer Überlieferungsstrategie mit bedacht werden muss. Auch Daniela Pscheida kommt bei der Frage nach Langzeitzugänglichkeit von Informationen zu dem Schluss, dass die Überlieferungssicherung in einer „Wissenskultur“ mit der Vieldeutigkeit und permanenten Veränderlichkeit von Inhalten gezwungenermaßen umzugehen lernt. Optimistisch schlussfolgert sie, dass die Entwicklung hin zum flexiblen, „situativen Wissen“ auch die traditionellen stabilen Bezugsrahmen der Überlieferung aufgeben könnte, so dass eine demokratisch grundierte, permanente Aushandlung dessen, was bleibt (also auch der Erinnerung) durch die Aktivität der beteiligten Akteure produziert und reproduziert wird. Implizit lässt Pscheida dadurch erkennen, dass einige, v. a. digitale, Inhalte in einem traditionell definierten Rahmen (Archiv, Bibliothek) keinen Platz haben können, da es ihrem Wesen an sich widersprechen würde. Kann man also an dieser Stelle mit Schüller-Zwierlein fragen, in welchem Zustand und in welchem Abstand dieses per definitionem Fluide permanent zu erhalten wäre, ohne das Wesen und den Informationsgehalt des definitorisch kaum permanent zu erhaltenden Inhalts zu verändern?

Aber das Überliefern, also das diachrone Übermitteln von Information und Kontext, betrifft natürlich nicht nur die elektronischen Medien, selbst wenn diese das Problem besonders deutlich hervortreten lassen. Intentionale und andere Katastrophen fragmentieren die Überlieferung (Sebastian Batreleit) ebenso wie Zerstreuung von ursprünglichen Entitäten wie Nachlässen. Zudem wird die Zugänglichkeit auch von rechtlichen Faktoren wie Sperr- und Schutzfristen mitbestimmt (Sylvia Asmus). Strategien für die Erhaltung von Informationen, auf denen diachrone Zugänglichkeit basiert, bauen also auf der Wahrnehmung der „künftigen Vergangenheit“ aus der Sicht der „gegenwärtigen Zukunft“ auf (Cornelius Holtorf, Anders Högberg, S. 197), einer Zeitimmanenz, die sehr unterschiedliche Ausprägungen zeigen kann und die das Herzstück der Erinnerungs- und Erhaltungsarbeit bildet: der Erschließung.

Die Fragen, die dieser Band aufwirft und die oft nur fragmentarischen Antworten oder vielmehr Antwortversuche verdeutlichen, wie notwendig die Ausarbeitung einer Strategie der Erhaltung von Informationen größeren Umfangs geworden ist, und auch, wie dringend. Viele gesellschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Gesichtspunkte kommen zusammen hinsichtlich sowohl der traditionellen Aufbewahrung und Zugänglichkeit, als auch zunehmend der Überlieferungsbildung unter digitalen Voraussetzungen. Um das Absurde zu verhindern, hochkomplizierte und hochfinanzierte Projekte zur Rekonstruktion verschütteter altertümlicher Überlieferung gar nicht erst notwendig zu machen, während gleichzeitig Bücher makuliert und Akten kassiert werden, fordern die Herausgeber des Bandes eine zukunftsorientierte „Überlieferungsplanung“, man könnte ergänzen: eine realistische Zugänglichkeitsgarantie. Das macht einen breiten Dialog zwischen Informationsproduzenten, -bewahrern und -rezipienten über den „Wertkontext“ und den „Kulturcharakter“ von Information, oder den Umgang mit einem nationalen und globalen „Erbe“ erforderlich. Denn eine Frage stellen die 20 Beiträge dieses Bandes nicht, nämlich die nach der Sinnhaftigkeit der Zugänglichkeit und der Erhaltung: auf diese Ausgangsposition dürften sich alle Gedächtnisinstitutionen ziemlich schnell einigen können. Die Frage selbst müsste aber in einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs eingebettet und öffentlich erörtert werden, um einerseits die diachrone Zugänglichkeit – auch finanziell – zu gewährleisten und andererseits Referenzen für den zukünftigen Blick auf die Gegenwart zu schaffen.

Aleksandra Pawliczek

Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin

Mit „Papier und Wasser. Ein Lehrbuch für Restauratoren, Konservierungswissenschaftler und Papiermacher“ haben Gerhard Banik und Irene Brückle ein Fachbuch für diejenigen geschaffen, die mit der Erhaltung von schriftlichem Kulturgut in Bibliotheken, Archiven und Museen betraut sind oder sich für den Informationsträger seit Jahrhunderten schlechthin interessieren. Der veritable Wälzer umfasst 15 Kapitel auf 681 Seiten. Knapp die Hälfte liegt bei den Hauptautoren Gerhard Banik und Irene Brückle, die neun überwiegend angloamerikanische Experten aus Universitäten, Museen und der Papierindustrie für Beiträge gewonnen haben: Vincent Daniels (The British Museum), Ute Henniges / Antje Potthast (Universität für Bodenkultur, Wien), D. Steven Keller (Miami University), Joanna M. Kosek (The British Museum), Reinhard Lacher (Fa. RL Paper Consulting, Much), Günther Wegele (†, ehemals Fa. Klug Conservation, Immenstadt), Anthony W. Smith (ehemals Camberwell College of Arts, London) und von Paul M. Whitmore (Art Conservation Research Center, Yale University).

Das im Herbst 2015 im Verlag Anton Siegl in München erschienene Werk stellt eine Übersetzung der überarbeiteten zweiten englischen Auflage dar, die in Kürze bei Taylor & Francis in Oxford erscheint. Die englische Originalausgabe von 2011 „Paper and Water. A Guide for Conservators“, bei Butterworth-Heinemann in Oxford publiziert, wurde von der Fachwelt positiv aufgenommen und 2013 vom American Institute for Conservation ausgezeichnet. Mit der zweiten Auflage des Werks in englischer Sprache und mit der deutschen Ausgabe kam nach 15 Jahren das gemeinsame Unternehmen von Gerhard Banik, damaliger Leiter des Studiengangs für Restaurierung von Kunstwerken auf Papier, Archiv- und Bibliotheksgut an der Kunstakademie Stuttgart, und Irene Brückle, damals in den USA tätig, zum Abschluss, ein Lehrbuch der wissenschaftlichen Grundlagen eines wichtigen Teilgebiets der Papierrestaurierung zu schreiben. Unterstützt wurde das Projekt durch das Education und Culture Programm „Leonardo da Vinci“ der Europäischen Union (2002–2005), von der Samuel H. Kress Foundation sowie durch die Fachorganisationen International Centre for the Study of the Preservation and Restoration of Cultural Property (ICCROM), Institute of Conservation (ICON) und Internationale Arbeitsgemeinschaft der Archiv-, Bibliotheks- und Grafikrestauratoren (IADA).

Gerhard Banik und Irene Brückle verfolgen mit „Papier und Wasser“ das Ziel, die Erkenntnisse und das Wissen aus der Chemie, Papiertechnik und Konservierungswissenschaft mit der Restaurierungspraxis zusammenzuführen, und damit von bisher weitgehend getrennt voneinander arbeitenden Gebieten, die sich gleichwohl alle mit der Erhaltung des schriftlichen Kulturerbes befassen. Die Synergien, die einerseits aus dem chemischen bzw. papiertechnologischen Wissen über die molekulare und stoffliche Zusammensetzung des Papiers, und andererseits aus der erfahrungsbasierten Gesamtbetrachtung der Objekte durch den Restaurator resultieren, sollen für die dauerhafte Erhaltung von Grafik, Büchern und Archivalien nutzbar gemacht werden. Mit der Einbeziehung der wissenschaftlichen Disziplinen außerhalb der praktischen Restaurierung soll der Blick auf die zugrunde liegenden chemischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten gerichtet werden, aus denen die Wechselwirkungen zwischen Papier und Wasser resultieren und sich bestimmte Phänomene erklären lassen. Auf diese Weise soll eine Grundlage geschaffen werden, die jenseits der Betrachtung eines einzelnen Objekts allgemein gültig ist und eine systematische Darstellung der Wirkung von Wasser auf Papier ermöglicht.

Das Anliegen der Autoren ist aus deren langjähriger Erfahrung in der Ausbildungstätigkeit erwachsen. Gerhard Banik baute den Studiengang „Konservierung und Restaurierung von Kunstwerken auf Papier, Archiv- und Bibliotheksgut“ in Stuttgart seit 1990 auf und leitete ihn bis 2008. Irene Brückle erhielt die Stuttgarter Professur 2008 nach mehreren Jahren Lehrtätigkeit in der Konservierung und Restaurierung von Kunstwerken auf Papier als Professorin am State University College at Buffalo (USA).

Das Werk widmet sich den überaus komplexen Wechselwirkungen zwischen Wasser und Cellulose als dem Grundbaustein, aus dem die einzelnen Papierfasern zusammen mit Hemicellulosen und Lignin aufgebaut sind. So einfach die chemische Zusammensetzung von Wasser als Molekül aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom (H2O) ist, so komplex sind die Wechselwirkungen der Wassermoleküle untereinander und mit der Cellulose und den weiteren Zusatzstoffen in einem daraus entstandenen Papiervlies. Papier wird aus einer wässrigen Faserdispersion hergestellt, und jedes im Alltag gebrauchsbereite Blatt Papier beinhaltet gewichtsanteilig durchschnittlich etwa sechs bis acht Prozent Wasser, obwohl es sich eigentlich „trocken“ anfühlt. Dieser Wassergehalt bestimmt die am Papier besonders geschätzte Eigenschaft seiner Biegsamkeit. Ohne das Wasser im Papier könnte man zum Beispiel das vorliegende Buch nicht aufschlagen und seine Seiten umblättern. Wasser ist allerdings durch die in der Papiermatrix vorhandenen sauren Bestandteile mitverantwortlich für die Alterung von Papier. Und paradoxerweise übernimmt Wasser wesentliche Aufgaben bei der Behandlung geschädigten Papiers in der Restaurierung, wobei es in all seinen Aggregatszuständen zum Einsatz kommt: als Flüssigkeit, Dampf und – in Sonderfällen – auch als Eis.

Die ersten drei Kapitel geben eine knappe Einführung in themenbezogene chemische Grundlagen und Modelle, die Chemie des Wassers und die grundlegenden Prinzipien seiner physikalischen Wechselwirkung mit anderen Materialien. Die Kapitel 4 bis 7 gelten der Cellulose und der industriellen Papierproduktion, wobei der Fokus auf den von technologischen Parametern bestimmten Variablen in der Wechselbeziehung von Papier und Wasser liegt. In den beiden darauf folgenden Kapiteln 8 und 9 werden der Einfluss des Wassers auf das Alterungsverhalten von Papier und die analytischen Methoden zur Charakterisierung von Papier vorgestellt. Das Kapitel 10 beschreibt die Gesetzmäßigkeiten für die Wasseraufnahme und -abgabe von Papier unter dem Einfluss verschiedener Faktoren, wie zum Beispiel dem Raumklima, und leitet über zu den letzten fünf Kapiteln 11 bis 15 mit der Darstellung der wesentlichen in der Papierrestaurierung angewandten Techniken der Nassbehandlung und Trocknung von Papier.

Allen Autoren ist es gelungen, ihre fachliche Perspektive in adäquate, anwendungsorientierte Strategien zur dauerhaften Erhaltung von Papier einzubringen. In Kapitel 8 zum Einfluss des Wassers auf die Papieralterung etwa erklärt Paul M. Whitmore die Gründe für den mit der Zeit ansteigenden Säuregehalt von Holzschliffpapier und weist zugleich darauf hin, dass gerade saures Papier besonders anfällig für hydrolytische Abbaureaktionen ist. Folglich sollte es in einem stabilen Raumklima aufbewahrt und möglichst nicht dem Licht ausgesetzt werden. In diesem Kapitel werden auch der Mechanismus der Verfärbung von Papier und die allgemein bekannten Phänomene erklärt, warum alte Bücher häufig einen unangenehmen „Duft“ ausströmen oder mit kleinen braunen Stockflecken übersät sind. Möglichkeiten der wässrigen Entfernung von alterungsbedingten Verfärbungen von Papier werden in Kapitel 11 aufgezeigt. Der sogenannte „Eckfalztest“, der lange Zeit im Kontext von Zustandserhebungen des sauren Papiers populär war, schneidet in Kapitel 9 über die Möglichkeiten und Grenzen der analytischen Methoden zur Charakterisierung von Papier von Ute Henniges und Antje Potthast schlecht ab: „Weder die Objektivität noch die Reproduzierbarkeit sind bei dieser vereinfachten und wenig definierten Methode gegeben“ (S. 287). Das Kapitel 13 zur wässrigen Entsäuerung von Papier ist mit Blick auf die verschiedenen kommerziell angebotenen Verfahren der Papierentsäuerung, auch die nicht-wässrigen, äußerst lehrreich. Irene Brückle legt im letzten Kapitel des Buches den Nutzen sowie die Risiken und Folgen wässriger Behandlungen für schriftliches Kulturgut dar.

Der Visualierung der oft komplexen chemischen und physikalischen Sachverhalte haben die Autoren ein großes Gewicht beigemessen, um den Text von unnötigen mathematischen und chemischen Formeln zu entlasten und das Lernen so effizient und angenehm wie möglich zu machen. Daher wurden zahlreiche Grafiken sowie Computer-Animationen und Videoclips am Institut für Kunst und Technologie der Universität für angewandte Kunst Wien produziert. Dem didaktischen Konzept des Lehrbuchs nach bilden die Bilder zusammen mit dem Text eine Einheit. Sie sind dem Buch auf einer DVD beigefügt.

Für die zweite Auflage wurden der Anhang, das Glossar und die Bibliographie aktualisiert und erweitert, im Anhang speziell auch ergänzende deutschsprachige Literatur hinzugefügt (Anhang 10, S. 582–585). Darüber hinaus wurde das Werk um ein weiteres Kapitel bereichert, in dem Ute Henniges und Antje Potthast die Möglichkeiten und Grenzen der analytischen Charakterisierung von Cellulose und Papier sowie die Aussagefähigkeit der Methoden beschreiben (Kap. 9). Das umfangreiche deutsch-englische Glossar (S. 591–662) dient der Vereinheitlichung der Terminologie und fördert den fachlichen Austausch auf internationaler Ebene. Der elfteilige Anhang (S. 533–590) bietet Darstellungen in komprimierter Form unter anderem der chemisch-physikalischen Grundlagen und Gesetzmäßigkeiten (z. B. Periodensystem der Elemente, Internationales Einheitensystem, Konzentrationen von Lösungen, hydrometrisches und hygrometrisches Diagramm, Wasseraktivität und Bedeutung für den chemischen und mikrobiellen Papierabbau, relative Luftfeuchte, Wasseraufnahmevermögen und Benetzung von Papier). Im Weiteren bietet der Anhang eine Übersicht über einfache Untersuchungstechniken zur Prüfung von Papier- und Kartonmaterialien, die in der Restaurierung bzw. Bestandserhaltung eingesetzt werden, u. a. die Bestimmung des pH-Werts, Schnelltests zum Nachweis von Eisen- oder Kupferionen in Papier, den Lignintest sowie Gruppentests zur Identifizierung ausgewählter Additive und Leimsubstanzen. Den Abschluss bildet ein Überblick über die nationalen und internationalen Normungsorganisationen mit einer Auswahl relevanter Normen.

Mit „Papier und Wasser“ ist es den Autoren nicht nur gelungen, das Detailwissen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte aus den verschiedenen Disziplinen zusammenzutragen, sondern ein Kompendium des Wissens zu schaffen, das erstmals die komplexen chemischen und physikalischen Zusammenhänge von Papier und Wasser im Zusammenspiel erklärt und ein Verständnis schafft für die beobachtbaren Veränderungen und Effekte, mit denen Restauratoren, Konservierungswissenschaftler, Archivare, Bibliothekare und Museumskuratoren konfrontiert sind. Das Werk wird sicherlich für viele Jahre das Standardwerk zum Thema sein. Überflüssig zu erwähnen, dass das Buch aus alterungsbeständigem, säurefreiem Papier gemäß DIN EN ISO 9706:2010 hergestellt wurde.

Thorsten Allscher und Irmhild Schäfer

Institut für Bestandserhaltung und Restaurierung

der Bayerischen Staatsbibliothek, München

Published Online: 2016-7-7
Published in Print: 2016-7-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 31.5.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/abitech-2016-0025/html
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