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BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published by De Gruyter Oldenbourg June 9, 2023

Rezension

  • Jochen Tholen
From the journal Arbeit

Reviewed Publication:

Gerstenberger Heide, Welke Ulrich: Auf den Wogen von Meeren und Mächten. Münster: Westfälisches Dampfboot 2022, 309 Seiten. ISBN: 978-3-89691-071-4, € 30


Gegenstand des Buches ist die Schifffahrt und deren Geschichte, von den Segelschiffen bis hin zu den modernen Containerschiffen. Das Buch geht insbesondere der Frage nach, in welch hohem Maße die Entwicklung der Schifffahrt durch politische Macht und politische (De-)Regulierung bestimmt wurde. Besonderes Gewicht wird dabei den Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute beigemessen.

Das Buch kommt zunächst etwas unkonventionell daher: Es ist weder eine Monografie noch ein Herausgeberband. Es ist vielmehr ein Sammelband, der – in sieben Kapiteln geordnet – 20 schon zuvor erschienene Beiträge der beiden Autoren beinhaltet. Von diesen sind zwei englischsprachig und dienen wohl dazu, nicht-deutschsprachigen Lesern die Hauptargumente der Autoren näher zu bringen.

Die ersten drei Kapitel mit insgesamt sieben Aufsätzen umfassen die politischen Bedingungen der Warentransporte über See, die Geschichte der Technik, die Finanz- und Kapitalbedingungen von Schifffahrt sowie eine „Soziologie des Schiffes“.

Hier werden die primär politischen, aber auch ökonomischen Rahmenbedingungen der Entwicklung der Schifffahrt vom „Mare Claustrum“ bis hin zum „Mare Librum“ beschrieben. Das Konzept des „Mare Librum“ wurde formal erst 1982 von der UNO beschlossen, de facto aber schon mit der Industrialisierung, der Durchsetzung des Kapitalismus und des Imperialismus etabliert.

Das Konzept des „Mare Claustrum“ beinhaltete bis weit in das 17. Jahrhundert hinein zum ersten die Beutefahrten europäischer Fernhandelskaufleute gegen ihre Konkurrenten und zum zweiten die Bestrebungen europäischer Feudalherrscher, die Untertanen der jeweils anderen Mächte vom Handel mit ihren überseeischen Besitzungen auszuschließen. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts – nach der Unabhängigkeit der englischen Kolonien in Nordamerika und den napoleonischen Kriegen – wandelte sich die Praxis der europäischen Schifffahrt. Es entwickelte sich internationale Konkurrenz, die sich über Preise und Geschwindigkeiten durchsetzte. Und damit kam de facto auch das Konzept des „Mare Librum“ zur Geltung. Somit konnte die Seeschifffahrt zu einem wichtigen Element der kapitalistischen Wirtschaft werden.

In Deutschland dominierte lange Zeit die Hanse den Seehandel. Auch weit nach deren Ende (der letzte Hansetag fand im Juli 1669 in Lübeck statt) überdauerte deren Politik der Ausgrenzung nichtstädtischer Küstenregionen bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts die deutsche Schifffahrtsgeschichte. Aber seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Zusammenhang zwischen Nationalstaat und Seetransport immer deutlicher, zunächst einmal in der Verankerung einer einheitlichen Handelsflotte in der Verfassung des Norddeutschen Bundes 1867, kurz danach in der Verfassung des neu gegründeten Deutschen Reichs 1871. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war dieser Prozess auch in Deutschland abgeschlossen. Nach damaliger Auffassung benötigten Schiffe auf hoher See ein festes Band zur nationalen Rechtsordnung.

Diese prozesshafte Entwicklung hatte auch dominanten Einfluss auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute, die die Autoren mit der „Verstaatlichung seemännischer Arbeitsverhältnisse“ beschreiben. Im Zentrum stand dabei die Durchsetzung der Disziplinargewalt des Kapitäns als Instrument der Proletarisierung der Seeleute.

Heutzutage wird das Konzept der Schifffahrtsnation ausgehebelt durch das Konzept des Flaggenstaats, d.h. die Ausflaggung der ehemals nationalen Handelsflotten zu „Billigstaaten“ (flag of convenience) mit oft keinerlei praktischem Bezug zum Seehandel. Und damit haben sich auch die Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute gründlich geändert.

Dieser historische Wandel ist Schwerpunkt der Kapitel 4 bis 7 mit ihren insgesamt dreizehn Beiträgen. Damit bilden sie auch den Schwerpunkt dieses Buches. Hier beschreiben die Autoren, wann und wie die Seeleute zu „kapitalistischer Lohnarbeit“ erzogen wurden. Der Zugang der Schiffseigner aus den deutschen Kleinstaaten zum Atlantikverkehr wurde primär ermöglicht durch die Unabhängigkeit der englischen Kolonien in Nordamerika am Ende des 18. Jahrhunderts. Damit scheiterte auch der Versuch der britischen Kolonialmacht, nichtenglische Schiffe vom Handel mit diesen Kolonien fernzuhalten. Das wiederum bewirkte gravierende Veränderungen der deutschen Handelsschifffahrt, die „gegen den bisherigen Brauch und damit auch gegen traditionelle Rechte von Seeleuten durchgesetzt wurden“ (118). Denn bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts dominierte die traditionelle Form der Schiffsgemeinschaft, die drei reale Grundlagen hatte: erstens die Kunst der Seemannschaft, die von den Seeleuten über Jahrhunderte entwickelt und an die Nachfolger weitergegeben wurde. Zweitens das Privileg der Führung, d.h. dass Seeleute das Recht hatten, auf dem jeweiligen Schiff kostenlos auf eigene Rechnung Waren zu transportieren. Und drittens bestand die reale Möglichkeit der eigenen Karriere auf dem Schiff.

Einschneidend für die Abschaffung dieser traditionellen Schiffsgemeinschaft war die durch die Veränderung des Schiffsbetriebs bedingte Abkehr von bisherigen Arbeitsverträgen: Abschluss zeitlich begrenzter Heuer, das Recht von Seeleuten auf eigenen Handel, saisonale Arbeit (im Frühjahr, Sommer, Herbst) auf Schiffen. Gerade Letzteres bedeutete, dass die Seeleute längere Perioden (im Winter) zu Hause sein konnten und während dieser Zeit ihren Frauen beim landwirtschaftlichen Nebenerwerb helfen konnten. Da die Mannschaften vielfach aus demselben Dorf oder der näheren Umgebung stammten, konnte auch während der dienstfreien Zeit die Schiffsgemeinschaft weiterleben.

Durch die Jahrzehnte dauernde Veränderung der Stellung der Seeleute an Bord hin zu Lohnarbeitern konnte sich die Schifffahrt modernisieren, „und ohne die Revolutionierung der sozialen Strukturen an Bord wäre – trotz einschneidender technischer Neuerungen – die Industrialisierung des Schiffsbetriebs nicht möglich gewesen“ (143).

Das war auch die Grundlage für das Ausflaggen von Schiffen, bei der keine echte Verbindung mehr besteht zwischen Flagge (oft nur sichtbar durch einen Briefkasten in einem küstenfernen Land) und Schiff. Ein Ziel dieser Ausflaggungen ist neben dem Sparen von Steuern und niedrigeren Betriebskosten durch laxe Wartungsvorschriften auch die Senkung der Personalkosten. Denn durch die Ausflaggung kann die Besatzung ohne jede Beschränkung auf dem internationalen Markt (heute mit dem Schwerpunkt Philippinen) angeheuert werden, es gibt keine national vorgeschriebenen Heuersätze (Löhne) und die Bemannungsvorschriften (d.h. die Sollmannschaftsstärke) sind weniger strikt.

Begleitet wird dieser Prozess durch die Trennung von Betrieb und Eigentum in der Schifffahrt: Es gibt erstens heute Eigner oder Anteilseigner, die nicht an der Organisation des Schiffes beteiligt sind. Gutes oder schlechtes Beispiel sind die sogenannten (geschlossenen) Schiffsfonds, die von Banken/Investmenthäusern (vor)finanziert werden und denen bestimmte Schiffe gehören. Diese Banken/Investmenthäuser organisieren ihrerseits den Verkauf von Anteilen der jeweiligen Schiffe an ein breites Publikum mit geradezu unglaublichen Renditeversprechen. Der Rezensent selbst war in 2005 und 2006 zweimal eingeladener Beobachter in einem Schlosshotel in Bad Homburg – es ging dabei zu wie auf einem arabischen Souk. Diese Praxis erlitt dann aber mit der globalen Finanzmarkt- und der darauffolgenden globalen Wirtschaftskrise (2008–2010) sprichwörtlich „Schiffbruch“.

Zugleich gibt es zweitens Unternehmen, die keine Anteile an den Schiffen haben, aber dennoch die Befrachtung sowie die logistische Planung der Reisen organisieren (Charterer).

Und drittens sind die meisten Aufgaben des Betriebs der Schiffe heutzutage ausgelagert, und zwar sowohl an Land als auch an andere Unternehmens außerhalb der Reedereien.

Alle drei Prozesse trugen wesentlich zur Herausbildung der heutzutage dominierenden Rolle der Seeleute als zunehmend ungeschützte Lohnarbeiter im Prozess der Globalisierung des Arbeitsmarktes bei. Letztere wird im abschließenden Kapitel des Buches (Decent Work in der Seeschiffahrt) schwerpunktmäßig untersucht. Hier wird empirisch die These untermauert, dass die Globalisierung des maritimen Arbeitsmarktes die positiven Wirkungen internationaler Regulierungen etwa durch die ILO (International Labour Organization) mit der 2006 beschlossenen Consolidated Maritime Convention und die IMO (International Maritime Organization) mit der Erweiterung der Konvention über Safety of Life at Sea von 2001 stark begrenzt: Denn aus der Globalisierung des Arbeitsmarktes folgt zum Ersten ein globales Überangebot von Arbeitsuchenden auf Schiffen und zum Zweiten das Interesse einzelner Länder als Entsender der Arbeitskräfte (wie etwa der Philippinen) an den Geldtransfers ihrer im Ausland arbeitenden Seeleute, die insgesamt die Wirkung internationaler Abkommen weiter abschwächen. Damit werden die Grundvoraussetzungen von Decent Work, „das Recht auf Vereinigungsfreiheit und das damit verbundene Recht zu Kollektivverhandlungen faktisch außer Kraft gesetzt“ (299).

Eines vorweg: Dieses ist ein großartiges Buch, trotz einiger Einwände.

Als erster Einwand seien die nicht unbedeutenden Wiederholungen genannt, die sich aus der Organisation des Buches ergeben. Die Beiträge, zu unterschiedlichen Zeiten vor dem Erscheinen des Buches veröffentlicht, erklären deshalb wichtige Tatbestände, die in den Beiträgen vorher oder nachher schon genannt/erläutert wurden. Das führt zu erheblichen Überschneidungen, die bei einer Monografie so nicht nötig wären.

Der zweite Einwand bezieht sich ebenfalls auf die Buchkonstruktion. Da die meisten Beiträge (14 von 20) schon vor der Jahrhundertwende erschienen sind (der jüngste Beitrag wurde 2017/18 veröffentlicht), konnte eine wesentliche die Arbeitsbedingungen der Seeleute betreffende Entwicklung nicht berücksichtigt werden: die Digitalisierung des Schiffbetriebs und des maritimen Sektors insgesamt. Mittlerweile gibt es von Klassifizierungsgesellschaften, von großen Reedereien und bedeutenden Forschungsinstituten (wie etwa Clarkson Research) eine Reihe von Studien zum Autonomen Schiff, das – weitgehend unbemannt – über die Meere fährt und technisch von Sensoren gesteuert wird. Damit verlieren Schiffsbesatzungen ihren Sinn, andere Arbeitsplätze an Land (Informatiker, Juristen, Logistiker, Instandhalter) werden entstehen. Das wäre dann die „zweite Revolution“ des Schiffsbetriebes.

Aber dennoch: Dieses Buch ist großartig, und dies primär auf Grund von zwei Faktoren:

Erstens gehen 90 Prozent des weltweiten Handels über See – die Schifffahrt nimmt daher einen zentralen Platz der Wirtschaft ein. Und – das ist schon verwunderlich – es gibt angesichts dieser Bedeutung vergleichsweise wenig Literatur zur Schifffahrt mit dem Schwerpunkt der Arbeits- und Lebensbedingungen auf den Schiffen. Dieses Buch füllt also eine Lücke.

Und zum zweiten ist es weitgehend in einer Sprache geschrieben, die auch dem (interessierten) Laien das Lesen zum Vergnügen macht ‒ und das, ohne dabei die Wissenschaftlichkeit aus den Augen zu verlieren. Insofern ist dieser Band ein positives Beispiel eines geglückten Wissenstransfers.

Published Online: 2023-06-09
Published in Print: 2023-03-28

© 2023 Tholen, publiziert von De Gruyter

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 30.11.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/arbeit-2023-0006/html
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