Zusammenfassung
In diesem Praxisbeitrag fokussieren wir auf die arbeits- und organisationspsychologischen Aspekte von Fairness in der Gig Economy. An unserem aktuellen Innovationsprojekt FAMOS („Faires Arbeitsmodell ‚Office Services‘“) werden Möglichkeiten aufgezeigt und diskutiert, wie ein faires Gig-Arbeitsmodell aussehen könnte. Im Projekt gehen wir davon aus, dass Fairness in der Plattformarbeit hergestellt werden kann, indem Maßnahmen für fachliche und persönliche Entwicklung sowie Community Building angeboten werden. Dadurch wird eine gewinnbringende Beziehung im Sinne eines ausgewogenen psychologischen Vertrags zwischen Plattformbetreibenden und Leistungserbringenden gefördert. Community Building scheint zudem ein wichtiges Instrument zur Steigerung von subjektivem Gerechtigkeitsempfinden und Zugehörigkeit zu sein. Unsere ersten Erkenntnisse zeigen, dass Personalentwicklung sinnvollerweise in die Community-Strukturen integriert wird und Partizipation bei der Regelgestaltung innerhalb von Plattform und Community eine zentrale Rolle für wahrgenommene Fairness in der Gig Economy spielt.
Abstract
In this paper, we focus on aspects of fairness in the gig economy from the perspective of work and organizational psychology. Using our current innovation project FAMOS (“fair work model ‘office services’”), we show and discuss possibilities of what a fair work model in the gig economy could look like. Our project is built on the premise that fairness in the gig economy can be established by offering measures for professional and personal development as well as community building. These measures promote a profitable relationship in terms of a balanced psychological contract between platform providers and gig workers. Community building also seems to be an important tool for increasing the subjective sense of justice and feeling of belonging. Our first findings show that the integration of personnel development into community structures is recommended and that a participatory manner of designing rules within the platform and community plays a crucial role in perceived fairness within the gig economy.
1 Einleitung
Die Digitalisierung und das Bedürfnis nach Flexibilität bzw. die wirtschaftliche Notwendigkeit, bestimmte Dienstleistungen flexibel abzurufen, lassen neue Arbeits- und Beschäftigungsformen in der Gig Economy entstehen. Beschäftigte können auf hochflexible Weise Aufträge übernehmen und abarbeiten. Auftraggebende haben den Vorteil, für selten anfallende Arbeiten nicht extra jemanden fest anstellen zu müssen, und die Plattformbetreibenden versuchen, durch geschickte Vermittlungsleistungen ein Business zu betreiben.
Viele Fragen stellen sich jedoch zur fairen Verteilung von Risiken zwischen allen Stakeholdern sowie generell zu einem umfassenden und für alle Seiten produktiven Verständnis von Fairness in der Plattformarbeit (Flecker 2007; Stampfl 2016). Wir sehen eine Chance darin, beim Thema fairer Bedingungen in der Plattformarbeit arbeits- und organisationspsychologische Aspekte zu untersuchen. In herkömmlichen Arbeitsverhältnissen spielen (Personal-)Entwicklungsmöglichkeiten sowie das Gemeinschaftsgefühl eine wichtige Rolle für Zufriedenheit und Fairness. In unserem Beitrag nehmen wir dies zum Ausgangspunkt für die Frage, wie diese beiden Punkte in der Gig Economy für wahrgenommene Fairness relevant sein könnten.
In der Forschungsgruppe „Gestaltung flexibler Arbeit“ der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW beforschen wir im Innovationsprojekt FAMOS („Faires Arbeitsmodell ‚Office Services‘“) diese Themen im Rahmen eines neuartigen Organisationskonzepts für Plattformarbeit: Beschäftigte bieten Dienstleistungen im administrativen Bereich für KMU an. Als Vermittlerin und Plattformbetreiberin fungiert eine Digitalisierungsagentur. Ziel des Projekts ist der phasenweise Aufbau einer fairen Plattform-Zusammenarbeit im bislang kaum besetzten Raum zwischen klassischen hierarchischen Organisationen und „hyperflexiblen“ Plattformmodellen.
In diesem Praxisbeitrag wird zunächst theoretisch beleuchtet, welche Aspekte von Fairness in der Plattformarbeit relevant sein könnten. Anschließend werden am Projekt FAMOS Möglichkeiten aufgezeigt und diskutiert, wie Fairness konkret erzeugt werden könnte. Besondere Schwerpunkte legen wir dabei auf Personalentwicklung und Community Building.
2 Inwiefern ist Plattformarbeit derzeit oft unfair?
Derzeit steht Gig Work immer wieder in der öffentlichen Kritik, wobei insbesondere unfaire oder gar ausbeuterische Arbeitsbedingungen moniert werden: Arbeitende sind beispielsweise de jure als Selbstständige tätig, haben aber praktisch keine Einflussmöglichkeiten auf die Inhalte der Arbeit oder auf die Preisgestaltung, sind also de facto in einem Angestelltenverhältnis (z.B. Asher-Schapiro 2014; Lobo 2014). Plattformarbeitende werden jedoch rechtlich häufig als Selbstständige bezeichnet und haben keinen Anspruch auf Rechte und Leistungen, die in einem herkömmlichen Arbeitgebenden-Arbeitnehmenden-Verhältnis gelten. Bislang fehlt es an Rahmenbedingungen und staatlicher Unterstützung für die Schaffung eines förderlichen und fairen Umfelds für die Gig Economy, wie es in traditionellen Arbeitsplätzen sichergestellt wird (Donovan u.a. 2016).
Die Höhe des Einkommens ist ein weiterer offensichtlicher Aspekt von Fairness. Die Gig-Löhne sind oft sehr gering und Arbeitende haben häufig keinen Einfluss darauf (Gerber 2022). Dazu kommt, dass der Großteil des unternehmerischen Risikos (Aufträge, Umsatz, Lohn) sowie die Overheadkosten zulasten der Gig Worker gehen (ebd.). In Bezug auf die ökonomische Fairness geht es allerdings nicht nur um die Frage, wie ein fairer Lohn in der Beziehung Arbeitende-Vermittelnde aussehen müsste. Je nach Gestaltung der Plattform und der zugehörigen Community sind auch Fragen der Fairness der Gig Worker untereinander relevant, beispielsweise wenn deutliche Qualitäts- oder Leistungsunterschiede zwischen ihnen bestehen und diese nicht in der Bezahlung abgebildet sind.
Neben diesen rechtlichen und ökonomischen Herausforderungen spielen weitere Aspekte eine wichtige Rolle in Bezug auf Fairness in der Gig Economy. Unser Interesse gilt den arbeits- und organisationspsychologischen Aspekten von Fairness, auf welche wir in den nachfolgenden Kapiteln fokussieren.
2.1 Keine Entwicklungsmöglichkeiten für Gig Worker
Da Ausbildung und Entwicklung gemäß allgemeiner Auffassung in Eigenverantwortung der Plattformarbeitenden gesehen werden, überrascht es kaum, dass es beinahe keine wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema Personalentwicklung in der Gig Economy gibt. Schon früh wurde festgehalten, dass bei Freelancern, im Vergleich zu traditionell Angestellten, nicht im gleichen Maß in Personalentwicklung investiert wird (Rousseau/Wade-Benzoni 1994). Dazu kommt, dass sie in der Regel für die Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse selbst aufkommen müssen (Peel/Inkson 2004).
Der Bedarf an Entwicklung unter Plattformarbeitenden ist erwiesenermaßen hoch. Der CIPD Survey Report (2017) zeigt, dass 57 Prozent der Arbeitenden in der Gig Economy (im Vergleich zu 64 Prozent der Arbeitenden in einem herkömmlichen Anstellungsverhältnis) der Meinung sind, dass sie im Verlauf ihrer beruflichen Karriere weitere Fähigkeiten entwickeln oder Ausbildungen und Weiterbildungen besuchen müssen. Insbesondere junge Personen sind von der Relevanz der Entwicklung ihrer Fähigkeiten überzeugt. Außerdem geben Gig Worker im Vergleich zu anderen Beschäftigten insgesamt mehr Hindernisse betreffs ihrer eigenen Entwicklung an (CIPD 2017).
Zu bedenken ist außerdem, dass Personalentwicklung in klassischen Organisationen ganz direkt in der alltäglichen personalen Führungsbeziehung bzw. auch unter den Peers (‚learning on the job‘) stattfinden kann. Für eine Plattformorganisation, wo es keine auf alltäglichem Austausch basierende Führungsbeziehung gibt, müssen also entsprechend neue Instrumente geschaffen werden. In Kapitel 3 zeigen wir am Projektbeispiel auf, wie faire Bedingungen zu Personalentwicklung in der Gig Economy ermöglicht und gestaltet werden können.
2.2 Erleben subjektiver Gerechtigkeit als Identifikationsmerkmal funktionierender Systeme
Ein soziales System kann im Wettbewerb nur erfolgreich bestehen, wenn sich die Mitglieder mit dem System identifizieren und auch auf Dauer als gerecht behandelt wahrnehmen (Kühn u.a. 2006). Für die Arbeitszufriedenheit, das Betriebsklima und die Leistungsbereitschaft ist das Erleben subjektiver Gerechtigkeit fundamental. Ungerechte Regelungen werden nicht akzeptiert, ungerechte Vorgesetzte werden abgelehnt und auch (finanzielle) Anreize verfehlen ihre Wirkung, wenn ihre Verteilung subjektiv als ungerecht wahrgenommen wird (ebd.). Da auch eine plattformbasierte Zusammenarbeit ein soziales System darstellt, ist zu erwarten, dass Gig Worker eine höhere Leistungsbereitschaft in diese Zusammenarbeit einbringen, wenn sie sich mit der Plattform identifizieren und sich gerecht behandelt fühlen.
Allgemein werden drei verschiedene Auffassungen von Gerechtigkeit in Unternehmen diskutiert (ebd.): 1. Das allgemeine Gerechtigkeitsprinzip beschreibt eine sehr subjektive Auffassung, dass jede Person das erhalten soll, was sie „verdient“. 2. Bei der Verfahrensgerechtigkeit müssen Prozesse anhand eindeutiger und allgemein verbindlicher Regeln gestaltet sein. 3. Unter Verteilungsgerechtigkeit wird verstanden, dass Regelungen für die Ressourcenverteilung festgelegt werden, die für alle Mitglieder einer sozialen Organisation akzeptabel sind. Bei der Verteilungsgerechtigkeit können wiederum mindestens vier Prinzipien unterschieden werden: Gleichheitsgerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit und Anstrengungsgerechtigkeit.
Uns interessiert, wie das subjektive Gerechtigkeitsempfinden in der Gig Economy erzeugt und aufrechterhalten werden kann. An welchen Prinzipien können sich die Systeme bei Verteilungsprozessen orientieren?
2.3 Psychologische Verträge in der Gig Economy
In den letzten Jahren wurde immer wieder über Spannungen in der Gig Economy berichtet. Den Streiks, Petitionen und Forderungen liegt das Bedürfnis der Plattformarbeitenden zugrunde, menschlicher und letztlich mehr wie Angestellte behandelt zu werden. Das Konzept des psychologischen Vertrags liefert eine mögliche Erklärung für den Sachverhalt (Shanahan/Smith 2019).
Der psychologische Vertrag beschreibt ein ungeschriebenes Abkommen über implizite und explizite Erwartungen und Leistungen, welches zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden besteht und über die Vereinbarungen des rechtlichen Arbeitsvertrags hinausgeht (Millward/Brewerton 2000). Es reflektiert, wie die beiden Parteien die Arbeitsbeziehung einschätzen, was als eigene Verpflichtung wahrgenommen wird und was im Gegenzug dafür erwartet werden kann. Einerseits beinhaltet der psychologische Vertrag greifbare Leistungen wie Entwicklungsmöglichkeiten oder wahrgenommene Fairness bezüglich Benefits, andererseits umfasst er auch ideelle Erwartungen wie gegenseitige Loyalität (CIPD 2022). Dem Konzept kann ein großer Einfluss zugeschrieben werden, da es das tägliche Verhalten beider Instanzen prägt (ebd.). Im Idealfall gehen Arbeitende und Arbeitgebende bzw. Arbeitsvermittelnde gegenseitige Verpflichtungen ein, wodurch eine vertrauensvolle Beziehung ermöglicht wird, welche für beide Seiten attraktiv ist (Shanahan/Smith 2019). Die Spannungen in der Gig Economy können darauf zurückgeführt werden, dass die psychologischen Verträge nicht funktionieren, da sie nicht ausreichend ausgewogen sind. Die Gig Worker beurteilen die Konditionen des Vertrags als unfair oder erachten den psychologischen Vertrag als gebrochen.
Im Kapitel 3 gehen wir der Frage nach, wie eine faire Balance von gegenseitigen Verpflichtungen in der Gig Economy aussehen könnte. Gibt es im Hinblick auf eine faire Wahrnehmung des psychologischen Vertrags Aspekte, die diesbezüglich im Rahmen des Auswahlverfahrens von Gig Workern beachtet werden müssen?
3 Wie sieht ein faires Gig-Arbeitsmodell aus? Ein Konzept für die Plattformarbeit
3.1 Faires Arbeitsmodell ‚Office Services‘: vom Business Case zum Projektstart
Mit unserem Praxispartner im Projekt FAMOS, einer mittelständischen Digitalisierungsagentur, kamen wir aufgrund ihres Business Case zu einem innovativen Arbeitsmodell ins Gespräch. Mit dem Modell sollen einerseits KMU in der eigenen Digitalisierung unterstützt werden, indem sie im Arbeitsalltag in verschiedenen Bereichen der Administration entlastet werden (z.B. bei der Buchhaltung oder bei Auftritten im Web und in sozialen Medien). Die Entlastung soll durch Profis der jeweiligen fachlichen Herausforderung erfolgen (sogenannte Office-Service-Fachkräfte), welche über die Plattform unseres Praxispartners vermittelt werden. Da es sich für die KMU nicht lohnt, hierfür eine Person fest anzustellen, sollen diese Dienstleistungen von den KMU flexibel bezogen werden können. Die KMU können auf diese Weise von einer hohen Ausführungsqualität bei gleichzeitig tiefen Personalkosten profitieren. Auf der anderen Seite sollen die Office-Service-Fachkräfte bei der vermittelnden Plattform unseres Praxispartners unter fairen und flexiblen Bedingungen angestellt sein. Angedacht ist dabei die Vertragsform „Arbeit auf Abruf“ (Bericht des Bundesrates 2021), was konkret heißt, dass die Office-Service-Fachkräfte auf diese Weise, neben den Vorteilen von Gig Work im Hinblick auf Flexibilität und Selbstständigkeit, zusätzlich von sozialer Absicherung profitieren könnten.
Als Forschungspartner der Arbeits- und Organisationspsychologie galt unser Interesse an dem innovativen Business Case insbesondere zwei Themen: den Personalentwicklungsmaßnahmen und dem Community Building. Wir gingen davon aus, dass für Menschen, die zuvor in festen, hierarchischen und ortsgebundenen Arbeitsverhältnissen beruflich sozialisiert waren, dieses Arbeitsmodell eine Entwicklungsherausforderung darstellt. Daher würden neuartige, passende Instrumente für die Personal- und Organisationsentwicklung geschaffen werden müssen, damit diese neuartige Vermittlungsplattform praxistauglich sein könnte.
Das Projekt wird in zwei Pilotphasen von jeweils sechs Monaten durchgeführt, wobei Maßnahmen iterativ entwickelt und getestet werden. Im Hinblick auf die „alte“ Arbeitswelt nehmen wir an, dass Personalentwicklung auch ein wichtiger Bestandteil in Arbeitsmodellen der „neuen“ Welt und somit auch in der Gig Economy sein müsste. Wir erachten folglich die Personalentwicklung als ersten wichtigen integralen Bestandteil der Plattform. Zunächst war davon auszugehen, dass die internen Anforderungen an digitalisierte Arbeit (sowohl inhaltlich als auch organisatorisch) so hoch sind, dass Arbeitende mit typischen Qualifikationen im Administrationsbereich, welche in der „alten“ analog geprägten Arbeitswelt sozialisiert sind, besondere Unterstützung benötigen würden (Lehdonvirta 2018; Meissner u.a. 2016). Um diese Kompetenzen zu entwickeln, erarbeiteten wir ein Development Center, das speziell auf entsprechende Herausforderungen ausgelegt ist, etwa virtuelle Zusammenarbeit, Selbstführung und Wissensaustausch. Als zweites Thema interessiert uns der Aufbau von Gemeinschaftsgefühl. Um der in den bisherigen Strukturen von Gig Work angelegten Vereinzelung entgegenzuwirken, zielen wir darauf ab, die Entwicklung von Community-Strukturen zu unterstützen, die eine nachhaltige Zusammenarbeit ermöglichen. Mit den Community-Strukturen sollen Wissensaustausch, gegenseitige Unterstützung und Vertretungen sichergestellt sowie eine Grundlage für die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls geboten werden.
Infolge der Covid-Pandemie wurde der Projektstart um zwei Jahre verschoben. Aufgrund der deutlichen Veränderung der Ausgangslage in dieser Zeit mussten gewisse Aspekte des Arbeitsmodells angepasst werden. Einerseits kann aufgrund der Homeoffice-Situation während der Pandemie aktuell davon ausgegangen werden, dass die digitalen Arbeitsanforderungen für die meisten Personen im administrativen Arbeitsumfeld keine so große Herausforderung mehr darstellen und deshalb von geringerer Relevanz für die Personalentwicklung sind. Andererseits musste das Organisationsmodell insofern verändert werden, als die Fachkräfte ihre Aufträge über das eigene Netzwerk akquirieren und die Vergütung für ihre Dienstleistungen eigenständig aushandeln. Die Fachkräfte agieren somit mit einem hohen Maß an Selbstständigkeit und Flexibilität und die Herausforderung der eigenständigen Kundenakquise sowie die damit verbundenen Kompetenzen traten als Bedarf für die Personalentwicklung viel stärker in den Vordergrund.
Einhergehend mit den veränderten Anforderungen der Personalentwicklung überprüften wir auch die Methoden für Personalentwicklung und Community Building. Vor der Pandemie betrachteten wir diese zwei Maßnahmen als separate Instrumente. Im Zuge der Neubewertung, wie Personalentwicklung und Community Building stattfinden könnten, wies eine von uns betreute Studierendenarbeit (Ferraro u.a. 2022) darauf hin, dass die Personalentwicklung sinnvollerweise in die Community-Strukturen zu integrieren ist. Innerhalb der Community gibt es gemäß Literatur sowie Expert*innen verschiedene Methoden, die für die Personalentwicklung eingesetzt werden könnten: Durch ein Mentoring innerhalb der Community kann der Wissenstransfer unter Mitgliedern mit unterschiedlichem Erfahrungsschatz gefördert und Wissen weiterentwickelt werden (Helmold 2022). Es lassen sich Wissensdatenbanken integrieren, welche rasche Hilfestellungen und individuelle Weiterentwicklung ermöglichen (Arbeitswelt-Bericht 2021). Als weitere geeignete virtuelle Methode können auch E-Learnings eingesetzt werden, wodurch persönlich relevante Kompetenzen in Eigenverantwortung erarbeitet werden können (Hasenbein 2020). Außerdem betonen Expert*innen, dass beim Lernen in der Praxis neben den virtuellen Methoden häufig auch Face-to-face-Formate zum Einsatz kommen.
3.2 Fairness durch Personalentwicklung und Community Building
Mit dem Arbeitsmodell von FAMOS streben wir aktiv eine faire Balance von Risiken und Chancen unter den Stakeholdern an. Auf der Ebene der ökonomischen und rechtlichen Fairness bietet dieses Modell den Arbeitenden im Rahmen der Anstellung eine soziale Absicherung, was eine neue Form der Selbstständigkeit mit einer gewissen Abfederung ermöglicht. Darüber hinaus und im Sinne eines ausgewogenen psychologischen Vertrags soll es zwischen den Office-Service-Fachkräften und der Plattformbetreiberin zu einer beidseitig gewinnbringenden Austauschbeziehung kommen. Dazu tragen aus unserer Sicht das Angebot von Community Building und Personalentwicklung maßgeblich bei. Die Maßnahmen sind gewinnbringend für beide Instanzen und ermöglichen im Idealfall eine Beziehung, die durch Vertrauen und Commitment geprägt ist. Als Voraussetzung dafür, dass der psychologische Vertrag beidseitig langfristig als fair beurteilt werden kann, scheint es uns wichtig, dass die gegenseitigen Erwartungen im Auswahlverfahren diskutiert und explizit gemacht werden.
Frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass Entwicklungsmaßnahmen nicht zum Erfolg führen, wenn sie nicht bezahlt werden und außerhalb der Arbeitszeit absolviert werden sollen (ArbeitGestalten 2020; CIPD 2017). Es stellt sich die Frage, wo die Kostenübernahme für Personalentwicklung anzusiedeln ist. Es ist davon auszugehen, dass die Verteilung der Pflichten in der Gig Economy sich von derjenigen eines herkömmlichen Anstellungsverhältnisses unterscheidet. Ein Beispiel dafür sind die Erkenntnisse von Meijerink und Keegan (2019). Sie beschreiben, dass die Umsetzung von Human-Resource-Management-Aktivitäten in der Gig Economy von der aktiven Beteiligung aller Schlüsselfiguren (Gig Worker, vermittelnde Plattform und Kund*innen) abhängig ist. Dies sei darauf zurückzuführen, dass das gesamte Ökosystem der Plattform auf den multilateralen Austausch zwischen diesen drei Schlüsselfiguren ausgelegt ist. Arbeitende in der Gig Economy haben somit nicht ausschließlich die Rolle von Empfänger*innen, sondern werden ebenso als aktive Beteiligte der HRM-Aktivitäten eingesetzt (Meijerink/Keegan 2019). In unserem Projekt ist die Frage der Finanzierung zwar für die Pilotphase geklärt, aber noch nicht darüber hinaus – und ist somit auch eine offene Forschungsfrage.
3.3 Community Building und subjektives Gerechtigkeitsempfinden
Eine der ersten Projekterkenntnisse ist, dass das Community Building in der Gig Economy aktiv genutzt werden kann, um subjektives Gerechtigkeitsempfinden und Zugehörigkeit zu fördern. Hinsichtlich des Gerechtigkeitsempfindens stellt sich die Frage, welche Gerechtigkeitsprinzipien in der Gig Economy eine Rolle spielen, um daraus abzuleiten, wie die Community gestaltet werden soll. Für das Organisationsmodell von FAMOS erachten wir die Verteilungsgerechtigkeit (nach Kühn u.a. 2006) als relevant, damit die Office-Service-Fachkräfte eine gerechte Behandlung erleben. Am Beispiel zeigt sich, dass die Verteilungsgerechtigkeit auf verschiedenen Ebenen relevant ist, damit wahrgenommene Fairness hergestellt und aufrechterhalten werden kann.
Auf der Ebene der Community müssen die Umgangsformen und Regelungen für den Austausch und die Beteiligung in den verschiedenen Austauschformaten von allen Mitgliedern akzeptiert sein. So ist mit einem Bedürfnis nach einer Definition zu rechnen, wie stark sich die Mitglieder aktiv in der Community zu engagieren haben. Was geschieht beispielsweise mit Mitgliedern, die ihre Erfahrungen nicht mit anderen teilen und nur als Trittbrettfahrende profitieren? Zudem ist es auf der Ebene des Organisationsmodells möglich, dass auch Vorgaben der Plattformbetreiberin (wie z.B. Arbeitsbedingungen, Anteil der finanziellen Abgabe für Dienstleistungen der Plattform, die Verfügbarkeit des Expertenteams bei Fragen usw.) von den Gig Workern als ungerechte Regelungen wahrgenommen werden.
Innerhalb der Verteilungsgerechtigkeit scheinen wiederum die Leistungsgerechtigkeit bzw. die Anstrengungsgerechtigkeit maßgebende Prinzipien für plattformbasierte Communities. Bei FAMOS fällt das wichtige Thema der Regelung des Lohns zwischen Plattform und Office-Service-Fachkräften weg, da letztere den Preis für ihre Dienstleistungen selbstständig mit den KMU vereinbaren. Umso wichtiger ist dafür die Regelung der selbstständigen Preisvereinbarung. Die Möglichkeit besteht, dass sich zwischen den Fachkräften eine Konkurrenzsituation einstellt. Es ist zu erwarten, dass die unterschiedlichen Preisgestaltungen unter den Fachkräften als fair erachtet werden, wenn sich diese anhand der Leistungsgerechtigkeit bzw. der Anstrengungsgerechtigkeit nachvollziehen lassen. Ein Beispiel dafür wäre, dass der höhere Stundenansatz einer erfahrenen Office-Service-Fachkraft von den übrigen, weniger Erfahrenen als fair erachtet wird, da diese Person bereit ist, ihre Erfahrung in der Community zu teilen, und sich bei Community-Aktivitäten aktiv einbringt.
4 Auf dem Weg zu Fairness in der Plattformarbeit – Zwischenfazit und Ausblick
Die Ergebnisse der Literaturrecherche und der von uns begleiteten Forschungswerkstatt weisen darauf hin, dass Fairness in der Plattformarbeit hergestellt werden kann, indem Maßnahmen für fachliche und persönliche Entwicklung sowie Community Building angeboten werden, um eine beidseitig gewinnbringende Beziehung zu gestalten. Um die gegenseitigen Erwartungen beider Instanzen zu klären, werden bei FAMOS wichtige Themen in einem Gespräch vor Beginn der Zusammenarbeit angesprochen und auf ihre Passung geprüft. Für einen ausgewogenen psychologischen Vertrag könnten folgende Themen relevant sein: Wird die Möglichkeit zur Personalentwicklung von den Office-Service-Mitarbeitenden tatsächlich als erwünschtes Angebot bewertet? Und sind die Fachkräfte wiederum bereit, sich aktiv in der Community zu engagieren? Welche weiteren impliziten und expliziten Erwartungen (z.B. gegenseitige Loyalität, Karrieremöglichkeiten für die Office-Service-Fachkräfte) für einen funktionierenden psychologischen Vertrag zusätzlich relevant sind, wird sich im Projektverlauf zeigen.
Ein wichtiges Thema ist eine faire Balance der Kostenübernahme von Personalentwicklungs- und Communitymaßnahmen. Im Rahmen der Pilotphasen haben wir die vorteilhafte Situation, dass Personalentwicklungsmaßnahmen durch unsere Forschungsgruppe erarbeitet und getestet werden können. Damit die langfristige Aufrechterhaltung des Arbeitsmodells nach Abschluss des Pilotprojekts gewährleistet ist, zeichnet sich jedoch bereits heute die Notwendigkeit ab, die Personalentwicklung in die Community-Strukturen einzubinden. Auf diese Weise werden die Office-Service-Fachkräfte zu aktiv Beteiligten und das gemeinsame Lernen und Entwickeln kann auch ohne externe Ressourcen zu einem festen Bestandteil der Plattform werden. Mittelfristig muss eine faire Verteilung der Kosten zwischen den Office-Service-Fachkräften und den Plattformbetreibern gefunden werden.
Wir arbeiten mit der Hypothese, dass Community Building genutzt werden kann, um das subjektive Gerechtigkeitsempfinden und Zugehörigkeitsgefühl in der Gig Economy zu steigern. Das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit spielt aus unserer Sicht eine wichtige Rolle für die wahrgenommene Fairness. Bei FAMOS möchten wir dem Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit nachkommen, indem wir in allen relevanten Bereichen Partizipation in der Regelgestaltung ermöglichen. Für erlebte Fairness bei unterschiedlichem Engagement in der Community sowie Differenzen in der Preisvereinbarung streben wir an, dass die Mitglieder die Regeln und Strukturen ihrer Community von Beginn an selbst entwickeln und kontinuierlich anpassen, sodass sie für alle Mitglieder akzeptabel sind. Auch im Hinblick auf das Thema Fairness bei Vorgaben durch die Plattformbetreibenden möchten wir im Arbeitsmodell erreichen, dass Regelungen, die als ungerecht erachtet werden, von den Arbeitnehmenden mindestens angesprochen und bei Bedarf ausgehandelt werden können. Im Idealfall könnten die Regelungen der Plattform von den Arbeitnehmenden auch hier fortlaufend partizipativ mitgestaltet werden. Als wichtige Voraussetzung für ein offenes Gespräch zwischen Plattformnutzenden und Plattformbetreibenden in der Gig Economy erachten wir das Mindset der Plattformbetreibenden, die Arbeitsbedingungen für die Gig Worker fair gestalten zu wollen und kompromissbereit zu sein.
Literatur
ArbeitGestalten (2020): Gigwork in Betreuung und Pflege: Digital vermittelte soziale Dienstleistungen in Berlin. Expertise im Rahmen des Projekts Joboption Berlin. https://www.arbeitgestaltengmbh.de/assets/projekte/Joboption-Berlin/Expertise-Care-Gigwork-Web.pdfSearch in Google Scholar
Arbeitswelt-Bericht (2021): Vielfältige Ressourcen stärken – Zukunft gestalten. Impulse für eine nachhaltige Arbeitswelt zwischen Pandemie und Wandel. Hg. vom Rat der Arbeitswelt, Berlin. https://www.arbeitswelt-portal.de/fileadmin/user_upload/awb_2021/210518_Arbeitsweltbericht.pdfSearch in Google Scholar
Asher-Schapiro, A. (2014): Against Sharing; in: Jacobin Magazine, 19. September 2014. https://www.jacobinmag.com/2014/09/against-sharingSearch in Google Scholar
Bericht des Bundesrates (2021): Arbeit auf Abruf regeln. November 2021. https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/69050.pdfSearch in Google Scholar
CIPD (Chartered Institute of Personnel and Development) (2017): To gig or not to gig. Stories from the modern economy. Survey Report, März 2017. https://www.cipd.co.uk/Images/to-gig-or-not-to-gig_2017-stories-from-the-modern-economy_tcm18-18955.pdfSearch in Google Scholar
CIPD (2022): The psychological contract: Examines the history, state and strategic implications of the psychological contract.Factsheet, . Februar 2022. https://www.cipd.co.uk/knowledge/fundamentals/relations/employees/psychological-factsheetSearch in Google Scholar
Donovan, S. A., D. H. Bradley, J. O. Shimabukuru (2016): What Does the Gig Economy Mean for Workers? Congessional Reserach Service, 5. Februar 2016. https://ecommons.cornell.edu/handle/1813/79155Search in Google Scholar
Ferraro A., S. Garcia, S. Gedik, L. Heinzmann, S. Ryter (2022): Community und Entwicklung im Kontext der Plattformarbeit – Gestaltungsaspekte und -hinweise für Communities und Entwicklungsmassnahmen. Unveröffentlichte StudierendenarbeitSearch in Google Scholar
Flecker, J. (2007): Schwarzer Peter neu gezogen? Flexibilisierung und Weitergabe von Risiken; in: Technologiefolgenabschätzung – Theorie und Praxis, 16, 2, 28–3410.14512/tatup.16.2.28Search in Google Scholar
Gerber, C. (2022): Gender and precarity in platform work: Old inequalities in the new world of work; in: New Technology, Work and Employment, 37, 2, 206–23010.1111/ntwe.12233Search in Google Scholar
Hasenbein, M. (2020): Der Mensch im Fokus der digitalen Arbeitswelt: Wirtschaftspsychologische Perspektiven und Anwendungsfelder. Berlin/Heidelberg10.1007/978-3-662-61661-1Search in Google Scholar
Helmold, M. (2022): Personalentwicklung, Coaching und Mentoring; in: M. Helmold (Hg.): Leadership: Agile, virtuelle und globale Führungskonzepte in Zeiten von neuen Megatrends. Wiesbaden, 119–13010.1007/978-3-658-36364-2_10Search in Google Scholar
Kühn, S., I. Platte, H. Wottawa (2006): Psychologische Theorien für Unternehmen. Göttingen10.13109/9783666462405Search in Google Scholar
Lehdonvirta, V. (2018): Flexibility in the gig economy: Managing time on three online piecework platforms; in: New Technology, Work and Employment, 33, 1, 13–2910.1111/ntwe.12102Search in Google Scholar
Lobo, S. (2014): Auf dem Weg in die Dumpinghölle. Spiegel Online, 3. September 2014. https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/sascha-lobo-sharing-economy-wie-beiuber-ist-plattform-kapitalismus-a-989584.htmlSearch in Google Scholar
Meijerink, J., A. Keegan (2019): Conceptualizing human resource management in the gig economy: Toward a platform ecosystem perspective; in: Journal of Managerial Psychology, 34, 4, 214–23210.1108/JMP-07-2018-0277Search in Google Scholar
Meissner, J. O., J. Weichbrodt, B. Hübscher, S. Baumann, U. Klotz, U. Pekruhl, L. Gisin, A. Gisler (2016): Flexible neue Arbeitswelt: Eine Bestandsaufnahme auf gesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher Ebene. Zürich10.3218/3771-5Search in Google Scholar
Millward, L. J., P. M. Brewerton (2000): Psychological contracts: Employee relations for the twenty-first century?; in: International Review of Industrial and Organizational Psychology, 15, 1–62Search in Google Scholar
Peel, S., K. Inkson (2004): Contracting and careers: Choosing between self and organizational employment; in: Career Development International, 9, 6, 542–55810.1108/13620430410559142Search in Google Scholar
Rousseau, D. M., K. A. Wade-Benzoni (1994): Linking strategy and human resource practices: How employee and customer contracts are created; in: Human Resource Management, 33, 3, 463–48910.1002/hrm.3930330312Search in Google Scholar
Shanahan, G., M. Smith (2019): Work in the ‘gig economy’: One-night stand or a meaningful relationship?; in: The Conversation, 5. Februar 2019. https://theconversation.com/work-inthe-gig-economy-one-night-stand-or-a-meaningful-relationship-111047Search in Google Scholar
Stampfl, N. S. (2016): Arbeiten in der Sharing Economy: Die „Uberisierung“ der Arbeitswelt?; in: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung, 85, 3, 37–4910.3790/vjh.85.3.37Search in Google Scholar
© 2023 Sara Berli, Johann Weichbrodt, Katrina Welge, publiziert von De Gruyter
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.