Rezensierte Publikation:
Marc Redfield: Shibboleth. Judges, Derrida, Celan. New York, NJ: Fordham UP, 2020. 176 S.
Schibboleth – das sei, so Derrida, „Babel in einer einzigen Sprache“[1]. Wenn der amerikanische Literaturwissenschaftler Marc Redfield das berühmte Wort aus der hebräischen Bibel in den Blick nimmt und sein Nachleben in französischer Theorie, deutschsprachiger Lyrik und kolumbianischer Gegenwartskunst verfolgt, begegnet er dieser Vielsprachigkeit mit komparatistischer Methode. Doch führt Redfields Lektüre glücklicherweise nicht in babylonische Verwirrung. Im Gegenteil: In seinen konzentrierten Annäherungen an das Phänomen Schibboleth bringt der Autor die so unterschiedlichen Sprachen der Heiligen Schrift, der Dekonstruktion Jacques Derridas, der Dichtung Paul Celans und der Plastik Doris Salcedos auf erhellende Weise miteinander ins Gespräch.
Wie gewinnbringend, ja unabdingbar eine Betrachtung des Wortes Schibboleth aus einzelsprachübergreifender Perspektive ist, zeigt sich schon auf den ersten Seiten. In diesem etymologischen Teil mit dem Titel Shibboleth: Inheritance wendet sich Redfield nach Erläuterung der alttestamentarischen Bedeutungen des Wortes („flowing stream or flood“, „ears of grain“ 1) seinen Verwendungsweisen in verschiedenen modernen europäischen Sprachen zu. Über das Englische kommt dabei eine besonders spannende Bedeutungsebene ins Spiel, die in anderen sprachlichen Kontexten so nicht vorhanden ist: Anders als etwa im französischen und deutschen Sprachgebrauch bezeichnet „Shibboleth“ (engl.) nicht nur ein Losungswort oder Erkennungszeichen, sondern auch zum Klischee erstarrte, formelhafte Rede.
Ausgehend von dieser Auffächerung von Wortverwendungen, lässt sich gleich zu Beginn herausstellen, was Redfields Überlegungen auszeichnet. Denn Etymologie bleibt hier nicht einfach Hintergrundinformation. Stattdessen extrahiert der Autor aus den genannten Verwendungsweisen des Begriffs zwei Dynamiken, die den anschließend diskutierten Texten und Kunstwerken – Derridas Reflexion Schibboleth. Pour Paul Celan (1986), Celans Gedichte „In eins“ (1963) und „Schibboleth“ (1955) sowie Salcedos Installation Schibboleth (2007) – als strukturbildende Tendenzen eingeschrieben sind: Das Ziehen und Überschreiten einer Grenze (Losungswort, Erkennungszeichen) und das Erstarren, Dinghaft-Werden (Formel, Klischee). Eben diese Verbindung von philologischer Präzision und einer an der Dekonstruktion geschulten Sensibilität für textuelle Gesten macht Schibboleth. Judges, Derrida, Celan zu einer aufregenden, lehrreichen und nicht zuletzt schönen Lektüre.
Dass Redfields Abhandlung zugleich einen zentralen Beitrag für die Diskussion von Grenzpolitik, Unübersetzbarkeit und Mehrsprachigkeit in den Geisteswissenschaften leistet, steht außer Frage; denn auch wenn das Phänomen Schibboleth durchaus kein unbekanntes ist, wird das Wort in diesen Zusammenhängen häufig „einfach unbedacht übernommen“ und damit in der Definition Gero von Wilperts selbst zum „Klischee“,[2] zum well-worn shibboleth. Diesem Erstarrungsprozess von Schibboleth zur Formel setzt Redfield hochgradig differenzierte Lektüren entgegen, in denen er die Leser:innen an verschiedene Stationen in der Geschichte des Begriffs führt – jedoch ohne im strengen Sinne eine Begriffsgeschichte zu schreiben. Das deutet sich bereits im Titel an: Die Anordnung der Schauplätze Judges, Derrida, Celan macht klar, dass man hier keine lineare Herkunftserzählung zu erwarten hat. Auch wenn die Studie im Alten Testament einsetzt und mit der Installation Salcedos in der Turbinenhalle der Tate Modern im Jahr 2007 endet, weicht Redfield – und das, wie sich nachfolgend zeigen wird, aus wohlüberlegten Gründen – von einem chronologischen Aufbau ab. Doch noch in einer zweiten grundlegenden Hinsicht bricht Schibboleth. Judges, Derrida, Celan mit dem Format ‚Begriffsgeschichte‘. Direkt im ersten Satz löst sich der Autor vom Herzstück jener Gattung – dem Begriff: „Although this study is not quite about a word, it circles around something like a word: shibboleth.“ (1) Die Notwendigkeit dazu sieht Redfield im Begriff selbst angelegt, denn Schibboleth sei zugleich weniger, mehr und etwas anderes als ein Wort („less, more, and other than a word“ 1). Damit ist der zentrale Wegweiser für den Gang seiner Untersuchung gesetzt. Zwar ist es das Wort Schibboleth, das die hier in den Blick genommenen Gegenstände miteinander verbindet, doch interessiert sich Redfield eben nicht in erster Linie für diesen Begriff. Im Fokus steht das Prinzip Schibboleth.
Was das genau bedeutet, wird in den zwei Folgekapiteln – „שיבולת: Judges“ und „S(h)ibboleth: Sovereign Violence“ – augenfällig. Hier sucht der Autor nun die vielzitierte Bibelstelle auf, die dem althebräischen Wort שיבולת für Fluss, Strom oder Ähre die späteren Bedeutungen von Passwort, Erkennungszeichen und Klischee anheftete:
Und die Gileaditer besetzten die Furten des Jordans vor Ephraim. Wenn nun einer von den Flüchtlingen Ephraims sprach: Lass mich hinübergehen!, so sprachen die Männer von Gilead zu ihm: Bist du ein Ephraimiter? Wenn er dann antwortete: Nein!, ließen sie ihn sprechen: Schibbolet [שיבולת]. Sprach er aber: Sibbolet [סיבולת], weil er’s nicht richtig aussprechen konnte, dann ergriffen sie ihn und erschlugen ihn an den Furten des Jordans, sodass zu der Zeit von Ephraim fielen zweiundvierzigtausend. (Ri 12, 5–6)
In knappen Zügen arbeitet Redfield heraus, wie das Wort שיבולת im Zuge dieses Aussprachetests zum tödlichen Differenzkriterium wird. Damit ist zunächst einmal noch nichts Neues gesagt. Doch während die angeführte Stelle aus dem Buch der Richter in Diskussionen des Schibboleth-Phänomens meist isoliert betrachtet wird, bettet Redfield sie in größere Zusammenhänge des Alten Testaments ein. In einem Exkurs zur Vorgeschichte des Gileaditer Heerführers Jephtah, der die sprachliche Grenzkontrolle als Waffe gegen die flüchtenden Ephraimiter einsetzt, zeichnet der Autor schrittweise nach, wie das Ziehen mörderisch klarer Grenzen im Buch der Richter als Instrument despotischer Herrschaft etabliert wird. All dies, so Redfield, geschehe vor dem Hintergrund der babylonischen Sprachverwirrung, in der, wie seine Lektüre der Erzählung zeigt, Sprachgrenzen nicht erstmals hervorgebracht, wohl aber auf irritierende Weise neu gezogen werden. Diese Erfahrung – „that the differences among languages and peoples can always turn uncertain and contestable“ (20) – bedinge die Erfindung des Shibboleth-Tests: „[T]he shibboleth test is necessary because the difference between self and other, friend and enemy, family member and stranger, has threatened to become illegible.“ (20) Das Prinzip Schibboleth, das Redfield in seiner Relektüre der Szene am Jordan in Konstellation mit den ihr vorgelagerten alttestamentarischen Erzählungen rekonstruiert, operiere folglich nach der Freund-Feind-Logik Carl Schmitts: „[T]he greater the uncertainty between these categories, the greater the need for a formalized test in order to produce the border that produces other and self as enemy and friend.“ (22)
Damit ist jener Konvergenzpunkt erreicht, an dem die auf den ersten Blick disparat anmutenden modernen Bedeutungen von Losungswort und Klischee und die damit verbundenen Prozesse von Grenzziehung und Erstarrung zusammenkommen: Denn um in einer Situation der Uneindeutigkeit klare Grenzen ziehen zu können, braucht es ein möglichst stabiles, unveränderliches Kriterium. Nicht die Frage nach Kenntnis oder Unkenntnis einer Parole wird daher als Filtermechanismus an der Grenze genutzt; diese Information ließe sich allzu leicht aneignen. Stattdessen ist der Schibboleth-Test explizit darauf angelegt, kognitiv erwerbbares Wissen zu umschiffen: Die Ephraimiter, so führt Redfield in Anschluss an Derrida aus, können Schibboleth nicht aussprechen, auch wenn sie um die ‚richtige‘ Aussprache wissen. Sag Schibboleth! addressiert den Körper und wird damit zu einem Instrument der Biopolitik: „The shibboleth opens the friend/enemy difference as a biopolitical inscription.“ (23) In Seitenblicken auf die Sprechakttheorie arbeitet Redfield heraus, welche Konsequenzen das für den Begriff selbst hat. Denn als bedeutungstragende Einheit ‚Wort‘ ist „Schibboleth“ für die Grenzkontrolle am Fluss nicht länger relevant: „The performative force of the shibboleth test entails the evacuation of the semantic dimension of the test-word [...].“ (23) Allein der Akt richtiger Aussprache des allerersten Konsonanten eröffnet oder verschließt den Weg auf die andere Seite. Gerade diese performative Dimension mache den Schibboleth-Test jedoch nicht nur perfide, sondern zugleich unzuverlässig: Auch ein Gileaditer, so Redfield, kann sich am „Schibboleth“ verschlucken, zögern, stottern – das Wort ‚falsch‘ aussprechen. Wie jeder Akt der Performativität sei die Artikulation des berühmten Passworts iterabel und damit grundlegend von Differenz und Abwandlung geprägt.
Über dieses Stichwort der Iterabilität schlägt Redfield die Brücke zu Jacques Derrida – genauer gesagt, zu Derridas Celan-Lektüre Schibboleth. Pour Paul Celan (1986). Die Konstellation Derrida/Celan bildet den Kern der Monografie: In den drei dichtesten Kapiteln des schmalen Bändchens – „Schibboleth: Derrida,“ „Schibboleth: Celan“ und „‚S(ch)ibboleth‘: Apostrophe“ – nimmt sich der Autor die vieldiskutierte Reflexion des Philosophen und ihren literarischen Gegenstand vor. Dies ist nicht allein wegen der Komplexität der hier auf knappem Raum verhandelten Texte doch ein gewagtes Unterfangen. Nicht selten münden eng an Derrida angelehnte Analysen Celans in eine Art Wiederaufführung von Derridas Lektüre oder den Versuch, die dekonstruktiven Denkfiguren in den Gedichten aufzuspüren, was angesichts der Tatsache, dass Derrida diese Figuren selbst ausgehend von Celans Texten entwickelt, teils zu unbefriedigenden Zirkelschlüssen führt, die seiner Lesart keine neuen Perspektiven hinzufügen. Einzelne kleine Formulierungen, mit denen Redfield die Gemeinsamkeiten zwischen dem Philosophen und dem Dichter unterstreicht (z. B. „Derrida’s reflections on shibboleth [...] are concretized in a poem“ 62), könnten bei oberflächlicher Lektüre auch seine Abhandlung in diesen Verdacht stellen. Doch ist sich Redfield der Gefahr durchaus bewusst. Der ketzerischen Frage ‚Braucht man nach Derrida noch dieses Buch?‘ hält seine Studie Stand – und zwar aus mehreren Gründen:
Zum einen legt der Autor durch die Umkehr der Chronologie – erst liest er Derridas Text von 1986, anschließend Celans Gedichte aus den Jahren 1963 und 1955 – von vornherein performativ offen, dass er eine Interpretation Celans ‚nach Derrida‘ entwirft. Statt Derridas Überlegungen gewissermaßen durch das Hintertürchen als Lösungsansatz in die eigene Deutung Celans einzuschleusen, macht er Schibboleth. Pour Paul Celan so zunächst selbst zum Gegenstand der Analyse: Luzide fächert Redfield das Repertoire an Phänomenen auf, anhand derer Derrida das Prinzip Shibboleth verhandelt und zeichnet nach, wie dieser ausgehend von Datum, Markierung und Beschneidung zu einer Situierung des Schibboleths im Spannungsfeld zwischen Einmaligkeit und Wiederholbarkeit gelangt. Die prinzipielle Durchlässigkeit, die Derrida aufgrund der Iterabilität in jedem noch so ausgrenzenden Schibboleth erkennt, erlaube es ihm, den Begriff trotz seiner blutigen Geschichte auf den Bereich der Dichtung zu übertragen: „Gathering together as quasi-concepts poem, shibboleth, and date, Derrida writes of the poem as the partage of a secret without-secret [...].“ (41) Diese positive Umwertung des Schibboleths entwickele er von Celan her.
Erfreulicherweise lässt sich Redfield, ausgehend von dieser Feststellung, nicht dazu verleiten, die Beobachtungen aus Schibboleth. Pour Paul Celan nun schlichtweg wieder auf Celans Gedichte rückzuprojizieren. Trotz unverkennbarer Bewunderung für die Denkbewegungen Derridas nimmt der Autor zu Beginn des Celan-Teils stattdessen eine dezente methodische Abgrenzung vor. Anspruch seiner Lektüre sei es, „to take a close look“ (49) – das heißt: den Reflexionen Derridas die darin ausbleibenden close readings von Celans Gedichten „In eins“ (1963) und „Schibboleth“ (1955) zur Seite zur stellen.
Dieses Versprechen lösen die beiden Analysen im besten Sinne ein. In einer äußerst präzisen Betrachtung von In eins beschreibt der Autor die dort vollzogene Suche nach einem antifaschistischen, nichtausgrenzenden Schibboleth – dem Losungswort einer „politically committed yet radically open commmunity: commited in its opposition to those who would destroy istopennness, open to the risks posed by that very openness“ (55). Um dorthin zu gelangen, suche sich Celans Gedicht eben jenen zwei Mechanismen zu entschreiben, die das tödliche Potenzial des Schibboleth-Prinzips auszeichnen: Klare Grenzziehung und Verdinglichung des Worts. Dicht am Text zeigt Redfield auf, wie Celan einer stabilen Festlegung und eindeutigen Zuordenbarkeit des Schibboleths in „In eins“ gezielt entgegenarbeitet. Ein besonderer Gewinn für die germanistische Celan-Forschung ist gewiss, dass seine komparatistische Lektüre dabei über die englische Bedeutung von Shibboleth als starrem Klischee eine bislang nicht wahrgenommene Verbindungslinie zwischen dem beweglich bleibenden Losungswort im Gedicht und Celans poetologischer Kritik an der kommodifizierten, zur Phrase erstarrten Sprache des Kulturkonsums („of hackneyed or commodified speech“ 52–53) in der Flinker-Umfrage freilegt. Doch die nachfolgende Lektüre des Gedichts „Schibboleth“ gestaltet sich nicht weniger erkenntnisreich.
Im Kapitel S(ch)ibboleth: Apostrophe zeigt sich auf eindrückliche Weise, wie eine Deutung des Prinzips Schibboleth bei Celan und Derrida gelingen kann, die sich nicht darin erschöpft, die beiden in einer Art interpretatorischem Ping-Pong-Spiel immer wieder wechselseitig aufeinander zu beziehen. Dazu bringt Redfield eine dritte Perspektive ein: Die rhetorische Figur der Apostrophe, die Jonathan Culler in seiner gleichnamigen wegweisenden Studie als Grundfigur lyrischen Sprechens beschrieben hat. Die Doppelbedeutung von ‚Apostroph(e)‘ als Anrede und Auslassungszeichen ermöglicht es Redfield, die poetischen Spezifika des Prinzips Schibboleth bei Celan greifbar zu machen. So eröffnet seine Analyse, die bis auf die Mikroebene der Satzzeichen und Konsonantengrenzen vordringt, nicht nur ein fundierteres Verständnis der schon bei Derrida prominent gemachten Verknüpfung von Schibboleth und Beschneidung; durch den Fokus auf die Figur der Apostrophe als Anrede kristallisiert sich auch heraus, wie Celan die gruppenbildende Dynamik des Schibboleths zu modifizieren sucht. Redfield zeigt auf, dass in der unbestimmten Du-Anrede im Gedicht „Schibboleth“ nicht nur eine radikal offene Gemeinschaft („radically open community“ 55) mit bewusst durchlässiger Grenze („encircled by a border that is also a non-border“ 55) etabliert wird, sondern zugleich eine radikal heterogene Gemeinschaft („radically heterogeneous collectivity“ 67), die auch nicht-menschliche Akteure anspricht und in das Miteinander einbezieht. In solch eine heterogene Gemeinschaft stellt sich der Sprecher in den Eröffnungszeilen des Gedichts nicht zuletzt selbst: „Mitsamt meinen Steinen, / den großgeweinten, hinter den Gittern, / schleiften sie mich / in die Mitte des Marktes“. (71) Nicht in menschlicher Begleitung, allein mit „[s]einen Steinen“ (71) gelangt das Ich bei Celan an jenen Ort der Hinrichtung, an dem das Schibboleth ausgerufen werden soll.
Nach dieser Vertiefung in Celans Gedichte bewegt sich die Studie im nächsten Teil noch einmal hinauf in die Höhen des Turmbaus zu Babel, bevor Redfield einen abschließenden Blick in den düsteren Abgrund von Salcedos Kunstinstallation Schibboleth wirft. Celans Steine jedoch bleiben fortan auch die Begleiter dieser zwei Lektüren. Die Rückkehr ins Alte Testament im Kapitel „S(c)hibboleth: Babel“ eröffnet nämlich noch einmal eine andere Perspektive auf das schillernde Wort. Galten Erstarrung und Fixierung in der bisherigen Analyse des Prinzips Schibboleth doch als gefährliche, totalisierende Mechanismen, denen sich etwa die Gedichte Celans durch die Verweigerung von Festlegungen zu entziehen suchen, gewinnt die steinerne Qualität des Schibboleth im Zuge von Redfields Babel-Reflexion einen im besten Sinne widerständigen Charakter: „Babel generates the fantasy of a pure translation“ (93) – die Vorstellung eines klar getrennten Nebeneinanders von Einzelsprachen, zwischen denen folglich hin und her übersetzt werden muss. In dieser Transaktionslogik, argumentiert Redfield mit Derrida, gehe das Schibboleth nicht auf, stehe es einerseits für das Unübersetzbare und berge andererseits das Prinzip Übersetzung schon in sich selbst: „shibboleth names at once the untranslatable [...] and the trans-latio“ (93). Derart widerständig verhalte sich Schibboleth auch als Fremdwort in den modernen Nationalsprachen: „In German as in other languages (yet of course above all in German), the no-longer-simply Hebrew word Schibboleth is uncertainly assimilated.“ (89), erklärt Redfield und ergänzt mit einem Zitat aus Adornos Reflexion über den Gebrauch von Fremdwörtern, Schibboleth „stehe[] fremd zur Sprache“ (89). Wenn Derrida erklärt, die „Wertigkeit des Schibboleth“ könne sich jederzeit „in ihr Gegenteil verkehren“[3], so veranschaulicht Redfields Studie besonders in diesem Kapitel, dass auch die Leitdynamiken des Prinzips Schibboleth – Grenzziehung und Erstarrung – als solche weder positiv noch negativ zu bewerten sind. Denn als widerständiges Fremdwort entfalte das Schibboleth gerade in seiner Unbeweglichkeit utopische Kraft.
Wie der Schlussteil „Schibboleth: Salcedo“ zeigt, impliziert dieses utopische Moment jedoch keinesfalls, dass die Dunkelheit des Todes aus dem Schibboleth weichen würde. Vielmehr liest Redfield Salcedos Installation Schibboleth (2007) – bei der die kolumbianische Künstlerin einen 167 Meter langen Riss in den Betonboden der Tate Modern in London einzog – in Fortsetzung einer Denklinie Adornos, der in weiteren Fremdwörter-Überlegungen bemerkte: „Hoffnungslos wie Totenköpfe warten die Fremdwörter darauf, in einer besseren Ordnung erweckt zu werden.“[4] Auch der düstere Spalt in der Turbinen-Halle, so stellt Redfield heraus, verschließt sich der Hoffnung auf eine Wiedererweckung der Opfer von tödlichen Grenzen. Worin jedoch besteht dann das utopische Versprechen des Schibboleths? Eine mögliche Antwort sieht Redfield bei Celan angelegt und springt hierfür noch einmal in eine Vorstufe des Gedichts Schibboleth, in der es heißt „Rufe das Schibboleth, / darin sich die Toten begegnen“ (99). Dazu schreibt Redfield: „[O]ne way to name the promise of shibboleth as poetic language is to say that in its secret the dead encounter each other.“ (99) Mit Blick auf den gähnend leeren Abgrund von Salcedo verleiht er diesem Versprechen einer Totenbegegnung ohne Totenerweckung noch einmal Konkretion: „Salcedo’s work commemorates but does not report. It accepts the risk of abstraction and aestheticization, of a further loss and effacement of the injury it mourns. It forwards an impossible responsibility, which the work seeks to make not so much visible or palpable as legible.“ (104) In seiner steinernen Sprache („language of stone“ 87) und ihrer stummen Spaltung des Betons vollziehen Celan und Salcedo Redfield zufolge so eine Hinwendung zum Anderen des Todes.
Vom Buch der Richter zu Derrida, Celan und Salcedo entfaltet Redfield auf diese Weise eine Lesart des Schibboleth vom tödlichen Aussprachebefehl hin zum stummen Totengedenken: „In this awaited shibboleth the dead would not speak but meet, not with the living but with each other. [...] Irreparable losses would gather, in eins, in this secret beyond pronunciation, and the poetic I would be mindful of its dates in exposing itself to an act of mourning that concerns only the dead.“ (106) Doch was, so bliebe zu fragen, ist dabei aus dem mörderischen Potenzial geworden, das jedem Schibboleth – folgt man Jacques Derrida – stets inhärent bleibt? Wenn Redfield in seiner Einführung zu Salcedos Plastik anmerkt, dass sich mehrere Ausstellungsbesucher an der Installation kleinere Verletzungen zugezogen hätten, wäre es gewiss fehlgeleitet diesem Schibboleth tatsächliche Gefährlichkeit zu attestieren. Bei Celan jedoch scheint die Lage komplexer: Trotz aller utopischen Kraft, die er in seine uneindeutigen und offenen Losungsworte legt, wählt er als Begriff doch ganz eindeutig Schibboleth, nicht etwa die ‚falsche‘ Aussprache der verfolgten Ephraimiter (Sibboleth) oder eine Art Zwischenbegriff wie etwa Redfield ihn in seiner Kapitelüberschrift „S(ch)ibboleth“ entwirft. Dass Celan dem Wort stets auf ‚s‘ endende Wörtchen – „das Schibboleth“ (84) – „erwachtes Schibboleth“ (84) – voranstellt, signalisiert für Redfield eine undeutliche, erschwerte Aussprache („a choking on shibboleth“ 84). Gerade durch die optisch klare Trennung der Wortgrenze ließe sich jedoch auch umgekehrt argumentieren, tritt hier die Differenz und damit die Entscheidung für die ‚sch‘-Aussprache noch markanter hervor. Kennzeichnet Celan, indem er sich für die Aussprache der Mörder, das Schibboleth der Gileaditer entscheidet, hier also auch die Sprache des eigenen Gedichts als eine, die trotz aller Strategien der Offenheit letztendlich doch gewaltsam bleibt? Dass man am Ende der Lektüre von Schibboleth. Judges, Derrida, Celan mit solchen Fragen noch einmal an die diskutierten Texte herantreten möchte, spricht jedoch keinesfalls gegen die Studie. Vielmehr wird daran einmal mehr erkennbar, was Redfields Text leistet: Entgegen der Entwicklung von Schibboleth zu einem well-worn shibboleth nimmt der Autor in Schibboleth. Judges, Derrida, Celan eine gezielte Destabilisierung vor, die den Boden unter einem vermeintlich feststehenden Begriff immer wieder neu in Bewegung setzt. Wer dachte, er weiß, wofür Schibboleth steht, dem wird eine solch eindeutige Übersetzung nach der Lektüre dieses Buchs vermutlich schwerer fallen. Doch hat er eben damit etwas Wertvolles gewonnen: Einen geschärften Blick für die Vielsprachigkeit, jenes Babel, das in dem einen Wort Schibboleth steckt.
© 2022 Jana Maria Weiß, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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