Abstract
This article gives an overview of the research project »Jewish Sports Officials in Interwar Vienna«. The project uses the example of Jewish sports officials to reconstruct the social field of sport as a site of identity politics in Vienna during the interwar period. It tries to show the significance of sports officials for questions of Jewish difference and provides an insight in the research methods and relevant sources. It examines how a sample of about 600 Jewish sports officials in Vienna was defined and can serve as a base for further research and interpretation, especially discourse analysis.
Der Kunsthändler Willy Kurtz, ein ehemaliger Schwergewichtsboxer, war in den 1920er und 1930er Jahren Boxsportfunktionär. Er konvertierte Mitte der 1920er Jahre zum Protestantismus (evangelisch A. B.) und wurde Mitglied der Heimwehr, einer den Christlichsozialen nahestehenden paramilitärischen Organisation. Der Schneidermeister Siegfried Samuel Deutsch betrieb das Kleidungsgeschäft »Wiener Salon« am Floridsdorfer Spitz. Er war Präsident des Floridsdorfer AC, des Wiener Fußballverbands und der sozialdemokratischen Vereinigung der Amateur-Fußball-Vereine Österreichs (VAFÖ). Auch als Sozialdemokrat praktizierte er zumindest die grundlegenden jüdischen Rituale. Der Journalist Emanuel Fiscus hatte bereits als Student während des Ersten Weltkriegs bei einem zionistischen Hilfsverein gearbeitet. Fiscus war in der ersten Hälfte der 1920er Jahre Obmann der Hasmonea, Funktionär von Ahawat Zion und Verbandskapitän des Jüdischen Sportverbands Österreich.
Schon ein kurzer Blick auf diese drei Personen zeigt, wie breit das Spektrum jüdischer Sportfunktionäre[1] im Wien der Zwischenkriegszeit war: beruflich, politisch und im Verhältnis zum Judentum. Das Projekt »Jüdische Sportfunktionäre im Wien der Zwischenkriegszeit« versucht am Beispiel solcher Funktionäre (und einzelner Funktionärinnen) das soziale Feld des Sports als Ort von Identitätspolitik im Wien dieser Jahre zu rekonstruieren.[2] Im Mittelpunkt steht dabei der Fußball, aber auch der Schwimmsport, der Eiskunstlauf und der Boxsport, der Schisport und der Arbeitersport bilden wichtige Bestandteile. Die Zugehörigkeit zu popularkulturellen Praxen bildete das entscheidende Kriterium für die Auswahl einer bestimmten Sportart für diese Untersuchung. Wo die Öffentlichkeitsfunktion eines Sports oder die Medienberichterstattung eine populäre (Massen-)Kultur indizieren, kann paradigmatisch eine gesellschaftliche Selbst- und Fremdverortung analysiert werden, gerade dort konnten öffentliche Diskussionsprozesse über Jewish difference stattfinden. Diesen Begriff verstehen wir in Anlehnung an Lisa Silverman[3] als diskursive Kategorie, als ein Frameset mit dessen Hilfe vor dem Hintergrund von Identifikation und Fremdzuschreibungen ein Verhältnis von sozial konstruierten Kategorien des ›Jüdischen‹ bzw. ›Nicht-Jüdischen‹ artikuliert wird.
Die Beschäftigung mit Sportfunktionären erscheint aus mehreren Gründen als besonders gewinnbringend, um Erkenntnisse zu Fragen von Populärkultur und Jewish difference im Wien der Zwischenkriegszeit zu erhalten: Sport – insbesondere Fußball – entwickelt sich in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Massenphänomen, das die Stadt auf zwei eng miteinander verwobene Arten erobert: Die Publikumszahlen bei Sportveranstaltungen steigen in den frühen 1920er Jahren stark an. Es werden größere Sportanlagen errichtetet, das bekannteste Beispiel ist die Naturarena auf der Hohen Warte mit einem Fassungsraum von 60.000 Personen. Parallel dazu wird Sport auch zu einem breiten Thema der medialen Berichterstattung, die Sportrubriken in den Tageszeitungen werden erweitertet, zudem erscheinen eigene Sportzeitungen.[4]
Anders aber als bei den Sportlern, die etwa im Profifußball (mit gewissen Abstrichen auch in anderen Sportarten) Objekte auf dem Transfermarkt waren und die Vereine oft mehrmals wechselten, war die Zugehörigkeit der Funktionäre zu ihren jeweiligen Vereinen sehr stabil: Sie wählten einen Verein, dem sie sich nahe fühlten – geographisch, sozial oder auch politisch. Sportfunktionäre (zumindest jene bei den größeren Fußballvereinen, mit Einschränkungen auch in anderen Sportarten) waren öffentliche Figuren, die in der Sportpresse, zum Teil auch in den Tageszeitungen Objekt der Berichterstattung waren. Das reichte von recht neutralen Beschreibungen ihrer Tätigkeit, bis hin zu bissigen Polemiken, sie waren etwa im Illustrierten Sportblatt häufig Gegenstand von Karikaturen. Außerdem agierten fast alle Funktionäre ehrenamtlich, sie hatten also auch einen Beruf. So lassen sich mögliche Unterschiede und Parallelen in den Zuschreibungen an eine Person feststellen – je nachdem ob diese als Sportfunktionär beziehungswiese als Schneidermeister, Anwalt oder Arzt apostrophiert wurde.
Der erste Schritt: Funktionärslisten der Vereinsbehörde
Die Datensammlung war der erste Schritt in diesem Projekt. Darauf aufbauend folgte die Erschließung und Interpretation von (primär populären, etwa massenmedialen) Diskursen und Egodokumenten, um die Frage von Jewish difference zu diskutieren. An den Diskursen zu den Sportfunktionären lassen sich z. B. auch die Konfliktlinien zwischen dem sozialdemokratischen Arbeitersport des Roten Wien und dem ›bürgerlichen‹ oder ›unpolitischen‹ Sport – mit dem professionellen Fußball als populärste Form – rekonstruieren.[5] Im folgenden Aufsatz steht aber der erste Schritt, die Erhebung der biografischen Datenbasis, im Mittelpunkt. Ergebnisse der diskursanalytischen Beschäftigung werden in diesem Band in den Beträgen von Sema Colpan und Matthias Marschik sowie Alexander Juraske vorgestellt.
Zu Beginn des Projekts stellte sich die Frage: Wie findet man Informationen zu Sportfunktionären im Wien der Zwischenkriegszeit – und wie lässt sich erschließen, welche dieser Funktionäre (und in Ausnahmefällen Funktionärinnen) Juden (bzw. Jüdinnen) waren? Hilfreich als Ausgangspunkt war bereits veröffentlichte biografische Literatur. Diese gibt es aber nur zu wenigen Personen, vor allem zu prominenten Fußballfunktionären wie Hugo Meisl, Leo Schidrowitz, Leo Klagsbrunn, Josef Gerö und Ignaz Abeles oder Emanuel Schwarz.[6] Dazu kommt das vom Hakoah-Präsidenten Ignaz Hermann Körner im Exil erstellte Lexikon jüdischer Sportler in Wien,[7] das gute Hinweise für weitere Recherchen bot. Auch zu einzelnen Vereinen wie der Hakoah oder dem Österreichischen Alpenverein existiert bereits umfangreiche Literatur, die auch auf die Funktionäre der Zwischenkriegszeit eingeht.[8] Um zu den Namen der FunktionärInnen – im ersten Schritt noch ohne die Unterscheidung jüdisch oder nicht-jüdisch – zu kommen, erwies sich ein Paragraf des österreichischen Vereinsgesetzes als hilfreich: Wird ein neuer Vorstand gewählt, muss ein Verein eine Liste mit Namen und Adressen der Vorstandsmitglieder an die Vereinspolizei schicken. Diese Listen werden von der zuständigen Behörde, in Wien der Bundespolizei, sonst von den Bezirkshauptmannschaften, aufbewahrt, solange der Verein existiert. Unterlagen zu aufgelösten Vereinen gibt es – zumindest theoretisch – im Wiener Stadt- und Landesarchiv, andere im Österreichischen Staatsarchiv.[9] Praktisch sind sie dort aber nur sehr rudimentär vorhanden.
Von den Fußballvereinen der Ersten Liga der Zwischenkriegszeit waren bis auf drei Ausnahmen Unterlagen bei der Vereinspolizei auffindbar. Keine Unterlagen der Vereinsbehörde gibt es für den FC Wien (vormals FC Nicholson), Admira und Wacker. Damit war die Quellenlage für diese Basisrecherche im Fußball besser als in den meisten anderen Sportarten, vor allem weil die Klubs sich hier als vereinsrechtlich sehr stabil erwiesen haben. Nicht immer finden sich in den Unterlagen der Vereinspolizei aber vollständige Vorstandslisten. Manchmal gaben die Vereine nur die wichtigsten ihrer Funktionäre an, in anderen Fällen sind die Übergänge zwischen gewählten Funktionären und Mitarbeitern, die ebenso unbezahlter und ehrenamtlicher Tätigkeit mit mehr oder weniger genau definierten Arbeitsbereichen nachgingen, fließend. Hier kamen wahrscheinlich auch verstärkt Frauen ins Spiel, die weniger als offizielle Funktionärinnen den Verein (auch) nach außen repräsentierten, sondern im Hintergrund wichtige Arbeiten erledigten. Aus den Vereinsquellen konnten schließlich mehr als 3.000 Namen von SportfunktionärInnen, die bei etwa 40 Vereinen und elf Verbänden tätig gewesen waren, eruiert werden – in den meisten Fällen ergänzt durch eine oder mehrere Adressen, manchmal sogar mit ergänzenden Angaben wie Geburtsdatum oder Beruf.
Selbstdefinitionen und Fremdzuschreibungen: Was heißt hier jüdisch?
Doch wer von diesen 3.000 Personen waren Juden oder Jüdinnen? Aus unserer Sicht einerseits alle, die sich selbst als Juden bezeichneten, also etwa Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) waren. Dies gilt auch für die Mitgliedschaft in einem jüdischen Verein, etwa Hakoah, Makkabi, Hapoel oder Hasmonea.
Die Sachlage ist aber komplizierter: Denn einerseits gibt es neben der religiösen Definition von Judentum auch nationale Definitionen, wie sie etwa vom Zionismus geprägt wurden. Die Nationalsozialisten schufen mit den Nürnberger Gesetzen 1935 eine zwangsweise Fremddefinition, wer als Jude zu gelten habe – und damit der Verfolgung ausgesetzt war. Es ist somit wichtig festzuhalten, dass Selbstdefinitionen und Fremdzuschreibungen nicht unbedingt übereinstimmten. Ein Austritt aus der IKG, die Konversion zum Christentum bewahrte schon vor 1938 nicht unbedingt vor Antisemitismus, Personen, die sich selbst nicht als Juden und Jüdinnen definierten, konnten von ihrer Umwelt trotzdem als solche betrachtet werden. Vor der Verfolgung durch den Nationalsozialismus schützte das Ablegen der jüdischen Religionszugehörigkeit ohnehin nicht – oder nur in manchen Fällen sehr begrenzt.
Deshalb sind für dieses Projekt auch Personen interessant, von denen nicht klar ist, ob sie sich selbst als Juden und Jüdinnen betrachtet haben, wenn es Belege dafür gibt, dass sie von anderen als Juden gesehen wurden. Die Frage ›wer war Jude‹ ist also diffiziler, ergibt aber umso spannendere Fragestellungen, die ein wesentlicher Teil unserer Arbeit waren. Es ging dabei nicht darum, jemanden als ›Juden zu definieren‹, sondern um die Rekonstruktionen historischer Diskurse, der Auseinandersetzung mit Jewish difference, inklusive der dazu gehörigen Fremdzuschreibungen.
In der konkreten Praxis der Datensammlung stand an erster Stelle der Versuch, die formale Frage der Zugehörigkeit zur Israelitischen Kultusgemeinde zu klären. Im Archiv der IKG Wien sind Daten jener zu finden, die mit der Kultusgemeinde in religiösen Belangen in Kontakt gekommen sind, sei es bei Geburt, Heirat, Austritt aus der Kultusgemeinde oder Tod.[10] Manche Personen sind im Abgleich mit den Unterlagen der Vereinsbehörde bereits mit Sicherheit zu identifizieren: wenn Namen und Adresse übereinstimmen oder die Vorstandslisten weiterführende mit den IKG-Daten übereinstimmende Informationen liefern, wie etwa das Geburtsdatum. Wenn eine Namenssuche in den Unterlagen der Israelitischen Kultusgemeinde ergebnislos verlief, heißt dies noch nicht zwangsweise, dass diese Person kein Jude oder keine Jüdin war. Viele der fraglichen Personen wurden nicht in Wien geboren, ihre Geburt wurde also nicht bei der Wiener Kultusgemeinde gemeldet, das kann auch für eine Heirat zutreffen. Ein sehr häufiger Fall war aber, dass eine eindeutige Namenszuordnung nicht möglich war, etwa aufgrund von Namenshäufigkeiten und weil keine zwischen Vereinsbehörde und IKG übereinstimmende Adresse existierte. In diesen Fällen waren weitere Recherchen notwendig, vor allem im Hinblick auf Geburtsdaten.
Meldezettel als wichtige Quelle
Im Wiener Stadt- und Landesarchiv werden die historischen Wiener Meldeunterlagen archiviert, die sich für unser Projekt als unverzichtbare Quelle erwiesen haben. Auf einem Meldezettel sind nicht nur Namen und Adresse angeführt, sondern auch Geburtsdatum, Ehepartner, Kinder, allfällige Beteiligungen an Firmen, akademische Titel – und das Religionsbekenntnis. Ein Beispiel ist der Meldezettel des eingangs erwähnten Kunsthändlers Willy Kurtz, auf dem z. B. die Firma Kurtz & Levai und die Firma Wilhelm Kurtz aufscheinen.[11]
Durch die Abgleichung der Namen und Adressen unklarer Fälle aus den Listen der Vereinspolizei mit den Daten auf den Meldezetteln ließen sich viele weitere Fragen beantworten. Diese gesammelten Daten bildeten die Basis für unsere Datenbank, die grundlegende Information zu etwa 600 jüdischen SportfunktionärInnen enthält. Von ihnen waren etwa 150 beim SC Hakoah und über 200 bei anderen jüdischen Vereinen tätig, etwa 230 bei bürgerlichen oder sozialdemokratischen Vereinen ohne explizite Verbindung zum Judentum. Funktionärinnen waren nur sehr wenige darunter, ihre Zahl liegt im niedrigen zweistelligen Bereich.
Meldezettel sind grundsätzlich eine zuverlässige Quelle, allerdings können sie in Einzelfällen in die Irre führen. Ein Beispiel ist Josef Gerö, Staatsanwalt im Austrofaschismus, Präsident des Wiener Fußballbundes, KZ-Häftling und zu Beginn der Zweiten Republik Präsident des Österreichischen Fußballbundes und Justizminister.[12] Auf seiner Karteikarte aus der NS-Zeit sind neben den üblichen Personendaten auch Anmerkungen zur Abstammung im Sinn der Nürnberger Gesetze zu finden. Bei Gerö steht »a« für arisch, als Religionsbekenntnis »evangelisch A. B.«[13] In den Matriken der Wiener IKG ist er nicht zu finden. Normalerweise würde dies zu der Schlussfolgerung führen: Josef Gerö war kein Jude. Gleichzeitig existieren über den prominenten Funktionär und Politiker sehr viele Erzählungen, die von ihm als Juden sprechen. Deshalb erschien in diesem Fall eine weitere Überprüfung sinnvoll. Tatsächlich findet sich auf einem Meldezettel vom 9. Jänner 1915 als Religionsbekenntnis »mosaisch«, ab 1919 ist dann evangelisch angegeben.[14] Mosaischer Glaube und jüdische Familiengeschichte lassen sich über Meldezettel also nicht unbedingt falsifizieren, wohl aber verifizieren.
Verfolgung im Nationalsozialismus
Die vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW) erstellte »Datenbank zur namentlichen Erfassung der österreichischen Holocaustopfer« führt in einen Bereich, der fast alle Personen unseres Samples betroffen hat: die Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden durch den Nationalsozialismus.[15] Neben den grundlegenden Daten zu den verfolgten Personen, sind dort auch Verweise auf Dokumente in anderen Archiven zu finden, etwa die »Vermögensanmeldungen«, im Österreichischen Staatsarchiv:[16] Nach dem Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland mussten alle Jüdinnen und Juden, aber auch deren nichtjüdische EhepartnerInnen, ihr Vermögen deklarieren. Daraus wurde unter anderem die sogenannte Reichsfluchtsteuer, eine der vielen zynischen Maßnahmen der Nationalsozialisten für auswanderungsbereite Jüdinnen und Juden bemessen. Diese Dokumente geben Einblick in den Raubzug des Nationalsozialismus am jüdischen Vermögen. Sie erzählen damit aber auch über die finanziellen Verhältnisse der verfolgten Juden (manchmal auch Jüdinnen) und lassen in manchen Fällen weitere Rückschlüsse auf den Habitus einzelner Personen, etwa über die Art der Wohnungseinrichtung, zu. Eine damit eng zusammenhängende Quelle sind die sogenannten Auswanderungsfragebögen. Ab Mai 1938 konnten sich in Österreich lebende Juden und Jüdinnen bei der Fürsorge-Zentrale der IKG Wien registrieren lassen, in der (in vielen Fällen trügerischen) Hoffnung, das Land verlassen zu dürfen. Die Formulare enthalten Angaben zu Geburtsdatum und Geburtsort, Familienstand, Staatsangehörigkeit, Aufenthaltsdauer in Österreich, Beruf und letzter Stellung, Verdienst und wirtschaftliche Situation, Sprachkenntnisse, Auswanderungsziel, finanzielle Mittel, Informationen zu vorliegenden Personaldokumenten und ähnliches.[17]
Einen ersten Hinweis auf eine Fluchtgeschichte gaben aber – sofern nicht schon aus der Literatur oder der DÖW-Datenbank bekannt – wieder die Meldezettel. Bei Erwin Guido Fadenhecht, dem Delegationsleiter der österreichischen Fußballmannschaft bei den Olympischen Spielen von Berlin 1936, findet sich dort z. B. der Eintrag »abgemeldet am 18. 10. 1938 nach ›unbekannt‹«.[18] Bei anderen Personen scheint »abgemeldet nach Amerika«, »England« oder »Australien« auf. Diesen Personen war großteils die Emigration gelungen – mittels weiterer Quellen ließ sich dies bei vielen Personen belegen. So gibt es von Fadenhecht ein Dokument, das seine Einreise in die USA belegt: Die Passagierlisten der Schiffe, die von Europa nach New York gefahren sind. Fadenhecht war gemeinsam mit seinem damals 14-jähigen Sohn an Bord der S. S. Manhattan am 27. Oktober 1938 in New York angekommen,[19] beide blieben in den USA. Ähnliche Einträge in Passagierlisten gibt es auch von anderen ehemaligen Sportfunktionären.
Die USA und England waren für relativ viele Sportfunktionäre die rettenden Exilländer. Ein weiteres Emigrationsziel war Brasilien. Für mindestens drei Wiener Sportfunktionäre konnte ihre Emigrationsgeschichte nach Brasilien rekonstruiert werden: Der Rapid-Präsident (1925–1928) und ÖFB-Funktionär Hans Fischer war einer, Leo Schidrowitz ein weiterer. Schidrowitz war vor 1938 Rapid-Funktionär, Verleger und nach seiner Remigration in der Nachkriegszeit »Propagandareferent« des österreichischen Fußballbundes. Ein dritter Brasilien-Emigrant war der Floridsdorfer Funktionär Leopold Klagsbrunn. Die Flucht führte aber nur selten direkt in das Zielland. Es lagen oft viele Stationen dazwischen, etwa Italien, Frankreich, Spanien, Portugal.
Doch viele FunktionärInnen entkamen der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie nicht. War auf dem Meldezettel eine Abmeldung nach Osten, etwa Litzmannstadt, Riga oder Izbica vermerkt, bedeutete dies in letzter Konsequenz meist die Ermordung. Auch hier gibt es – glücklicherweise – Ausnahmen: Der erwähnte Emanuel Fiscus war laut Auskunft des Meldeamtes an das Ausländeramt »am 12. 3. 1941 nach Polen abgemeldet.« Aber: »nach Mitteilung der Zentralstelle für Auswanderer ist derselbe mit einen [sic] Transport nach Polen nicht abgegangen. Es wird vermutet, daß er sich unangemeldet und versteckt in Wien aufhält.« Tatsächlich überlebte Fiscus den Nationalsozialismus in Budapest.[20]
Ein breites Spektrum an Personen
Nicht zu allen der etwa 600 Personen in unserer Datenbank wurden detaillierte Informationen erhoben. Wir haben etwa 60 ausgewählt, zu denen wir intensivere biografische Recherchen betreiben, um über Egodokumente, Archivbestände und veröffentlichte Quellen Material für die qualitative Analyse zu Fragestellungen von Jewish difference zu erschließen. Die Auswahl folgte im Grunde zwei unterschiedlichen Kriterien: Einerseits geht es um Personen, die wegen ihrer Tätigkeit als Funktionäre oder aus anderen Gründen zum Gegenstand öffentlicher Diskurse wurden. Anderseits haben wir Personen ausgewählt, deren Lebensläufe uns typisch erscheinen für bestimmte Personengruppen. Es geht nicht in erster Linie darum, klassische Porträts zu schreiben, sondern um Fragen zu beantworten nach Jewish difference, nach Antisemitismus, nach Möglichkeiten und Perspektiven jüdischen Lebens im Wien der Zwischenkriegszeit.
Es sind dies im Hinblick auf ihre Rollen als SportfunktionärInnen, ihren sozioökonomischen Status und letztlich in Hinsicht auf ihre Auseinandersetzung mit Jewish difference sehr unterschiedliche Figuren: Etwa der Textilfabrikant Bernhard Altmann, Mitgründer des Eishockeyvereins SC Bernhard Altmann. Mitglied im SC Bernhard Altmann, ist in den Statuten zu lesen, konnten Beamte – also Büroangestellte – der Firma Bernhard Altmann – werden.[21] Dazu gehörte der Firmenchef selbst, der im Verein zwar nicht besonders aktiv in Erscheinung trat, aber später zum Ehrenpräsident ernannt wurde. Seine jüngeren Brüder dagegen spielten selbst Eishockey und waren als Funktionäre im Verein tätig. Hier war der Sport eindeutig nur ein Hobby, das nebenbei betrieben wurde, im Mittelpunkt stand die Firma.
Anders war dies bei Theodor Schmidt: Er stammte aus einer Industriellenfamilie, die eine Schokoladefabrik betrieb. Schmidt stieg aus dem Tagesgeschäft aus und widmete sich ganz seiner Tätigkeit im Österreichischen Olympischen Comitee (ÖOC), die er mit viel Aufmerksamkeit auf die Öffentlichkeitswirksamkeit betrieb. Dazu gehörten nicht nur seine Präsenz bei unzähligen Sportveranstaltungen, sondern auch große Empfänge für erfolgreiche Sportlerinnen und Sportler in seiner Villa. Auf Schmidts jüdische Herkunft finden sich in der Literatur über die Olympische Bewegung in Österreich nur sehr wenige Hinweise.[22]
Eine der wenigen Sportfunktionärinnen war Ella Zirner-Zwieback, Besitzerin des Kaufhauses Zwieback und Präsidentin der Damenfußball-Union.[23] Viel häufiger als Industrielle oder BesitzerInnen großer Handelsunternehmen waren die Sportfunktionäre jedoch Rechtsanwälte, Ärzte, Angestellte, Beamte oder Inhaber kleiner bis mittelgroßer Gewerbebetriebe. Dies galt auch für den Sozialdemokraten Siegfried Samuel Deutsch, der wie erwähnt in Floridsdorf einen Schneidersalon betrieb und Präsident des FAC und des Wiener Fußballverbands war.[24] Andere Beispiele sind der ebenfalls erwähnte Leo Klagsbrunn oder der Uhrmacher und Juwelier Simon Poleiner, Kassier des 1. Simmeringer SC.[25]
Wieder anders war die Situation bei Julius Deutsch, einem der führenden sozialdemokratischen Politiker der Ersten Republik. Er war neben seiner Rolle als Obmann des Republikanischen Schutzbundes auch Präsident des sozialdemokratischen Sportverbands ASKÖ und der Arbeitersportinternationale SASI. Nach dem österreichischen Bürgerkrieg floh er zuerst in die Tschechoslowakei, später ging er in die USA. Im spanischen Bürgerkrieg war er auf der Seite der Republik als General tätig und für die Küstenverteidigung verantwortlich.[26] Deutsch stammte aus dem burgenländischen Lackenbach, war jedoch bereits als Kind mit seiner Familie nach Wien übersiedelt. Er trat als junger Erwachsener aus der IKG aus und gab in der Folge auf den Meldezetteln »konfessionslos« an.[27] Interessant ist bei Deutsch der große Unterschied zwischen seiner Selbstdefinition und den Fremdzuschreibungen: Mit dem Judentum wollte er nichts zu tun haben. Das bewahrte ihn aber nicht davor, als »jüdischer« Führer der Sozialdemokratie antisemitischen Angriffen ausgesetzt zu sein.[28] Das passt zu der Beschreibung seiner Herkunft, die Deutsch in einem Gerichtsprozess gab: Seine Familie sei vor vielen Generationen als Protestanten gezwungen gewesen zu konvertierten – und sie hätte das Judentum gewählt, sei aber eigentlich arisch – und leben seit Generationen als Bauern.[29] Diese These, als Nachkomme burgenländischer Gastwirte und Bauern sei er kein Jude, vertrat Deutsch offensichtlich auch im engsten Kreis. Während seiner Emigration in den USA, wohin er nach dem Spanischen Bürgerkrieg flüchtete, lernte er die deutsche Schriftstellerin Adrienne Thomas kennen. Die beiden heirateten und kehrten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Wien zurück.[30] Am 27. Februar 1957 schrieb Adrienne Thomas – die Jüdin war – in einem Brief: »Nach Europa zurückzugehen, wäre mir nicht im Traume eingefallen, wenn ich es nicht um Julla’s Willen hätte tun müssen. Er ist Nichtjude – stammt von burgenländischen Bauern ab – ihm und seinesgleichen kann man den Begriff ›Heimat‹ nie so ganz austreiben wie unsereinem.«[31]
Ganz anders verhielt es sich bei dem erwähnten Journalisten Emanuel Fiscus. Er kam während des Ersten Weltkriegs nach Wien und arbeitete bereits als Student bei einem zionistischen Hilfsverein. In seinen Tagebüchern[32] aus den Jahren 1916 bis 1921 zeigt er sich zwischen linken und rechten Ausprägungen des Zionismus hin- und hergerissen. Fiscus war Obmann von Hasmonea, eines zionistischen Sportvereins, und schrieb für die zionistische Wiener Morgenzeitung. Aber auch bei ihm war die publizistische Tätigkeit nicht auf jüdisch-nationale Themen beschränkt. So gab er eine Festschrift für das Deutsche Sängerbundesfest 1928 heraus, der größten deutschnationalen Manifestation und Anschlusskundgebung der Ersten Republik.[33] Einer der Autoren in dieser Festschrift war übrigens Ignaz Körner, langjähriger Präsident der Hakoah. Nachdem er den Nationalsozialismus in Budapest überlebt hatte, kehrte Fiscus wieder nach Wien zurück und war hier weiter publizistisch tätig.
Ein Zwischenfazit des Projekts
Diese Beispiele zeigen, wie groß die Bandbreite des Umgangs mit Jewish difference sein konnte, wie sehr Selbstdefinitionen und Fremdzuschreibungen differieren können. Es zeigt sich aber auch, dass die Zuschreibungen und Narrative nicht völlig willkürlich waren: So belegt etwa das Beispiel des FAC, dass Bedeutungen, die durch den Raum (in diesem Fall die ›nicht-jüdische‹ Vorstadt) bestimmt wurden, sich als sehr stark erwiesen, fast unabhängig von den handelnden Personen.[34]
Bei allen angesprochenen Unterschieden gab es zwischen den untersuchten Personen aber auch große Gemeinsamkeiten: Die meisten waren zwischen 1880 und 1900 geboren, gehörten einer ›Mittelschicht‹ (mit allen Problemen der Abgrenzung) an – und waren Männer. Sie alle waren Teil und Gestalter vereinsübergreifender, zum Teil auch internationaler Netzwerke des Sports, die manchmal schon vor dem Ersten Weltkrieg entstanden waren und in der Phase bis 1938 mit unterschiedlichen Konjunkturen erweitert wurden. Diese Netzwerke des Sports waren in einigen Fällen auch hilfreich bei der Flucht vor der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.
Auf Basis der hier skizzierten Vorgangsweise und aufbauend auf den Ergebnissen sind – neben den bereits erschienenen und jenen in diesem Band[35] – im Rahmen des Forschungsprojekts »Jüdische Sportfunktionäre« vor allem zwei Veröffentlichungsschienen geplant: In einer Webdatenbank werden Basisdaten zu den etwa 600 FunktionärInnen abrufbar sein und in einer Buchpublikation werden die wesentlichen Projektergebnisse in Hinblick auf einen Beitrag zum Fragenkomplex um das Framework Jewish difference im Wien der Zwischenkriegszeit veröffentlicht.
Biographische Angaben
Bernhard Hachleitner, geb. 1968, Dr. phil., studierte Geschichte und Germanistik, Dissertation über das Wiener Praterstadion. Lebt in Wien, arbeitet als Historiker und Kurator. Veröffentlichungen und Ausstellungen zu Popularkulturen und ihren urbanen Räumen. Mitarbeiter u. a. an den Forschungsprojekten »Jüdische Sportfunktionäre im Wien der Zwischenkriegszeit« (Univ. für angewandte Kunst Wien) und »Metropolis in Transition« (Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft). www.hachleitner.at
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