Abstract
In the social sciences, it is often argued that in right-wing populism anti-Semitism does not play an important role and that cultural racism has taken over its function. In contrast, this article aims to show that right-wing populism reproduces anti-Semitic patterns in a codified form. First, it will be shown that problematic definitions and explanatory approaches are widespread in social science discourse, which contribute to the fact that the anti-Semitic content of right-wing populism is barely perceived. Subsequently, by analyzing two case studies – an essay by AfD politician Alexander Gauland and a speech by Donald Trump – it is shown that right-wing populist discourses asserting a struggle between the people and the »globalist elite« reproduce anti-Semitic patterns even though »Jews« are not explicitly mentioned. Finally, it is argued that this phenomenon can be grasped with the concept of structural anti-Semitism. With this term, it can be made clear that right-wing populism indeed has an anti-Semitic potential and that the contents and functions of anti-Semitism and racism must be distinguished.
Antisemitismus scheint für den zeitgenössischen Rechtspopulismus in den westlichen Demokratien keine zentrale Rolle zu spielen. Zwar lassen sich – insbesondere in Deutschland und Österreich – zahlreiche Fälle von sekundärem Antisemitismus feststellen, der die Shoa bagatellisiert und Erinnerungsdiskurse abwehrt, um eine positive nationale Identität postulieren zu können. Davon abgesehen scheint Antisemitismus in den rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen jedoch randständig zu sein. Betrachtet man etwa die Wahlprogramme von Parteien wie der AfD, FPÖ, Rassemblement National oder Lega, findet sich dort keine einzige gegen Jüdinnen und Juden gerichtete Aussage. Im Gegenteil: vielfach wird das jüdisch-christliche Erbe des Abendlandes beschworen, das es gegen »den Islam« zu verteidigen gelte. Zudem finden sich immer wieder Bekenntnisse zu Israel und zur Verantwortung für den Schutz jüdischen Lebens, wobei auch hier der »importierte« muslimische Antisemitismus als zentrale Bedrohung identifiziert wird.[1]
Die weitgehende Abwesenheit von manifestem Antisemitismus im Rechtspopulismus wurde in den Sozialwissenschaften unterschiedlich interpretiert. Eine Einschätzung lautet, dass der Rechtspopulismus nur so erfolgreich werden konnte, weil er sich deradikalisiert habe und keine offen rassistischen und antisemitischen Positionen mehr vertrete.[2] Eine andere Einschätzung besagt, dass in der gegenwärtigen extremen Rechten ein kulturalistisch verkleideter Rassismus oder Islamophobie die Funktion übernehme, die ehemals der Antisemitismus erfüllt habe.[3]
Ich möchte im Folgenden zeigen, dass es sich in beiden Fällen um fundamentale Fehlurteile handelt und dass die Virulenz antisemitischer Deutungsmuster im Rechtspopulismus von den Sozialwissenschaften systematisch unterschätzt wird. Die These lautet, dass der Rechtspopulismus den Antisemitismus nicht verabschiedet hat, sondern ihn in veränderter Gestalt aktualisiert. Ich werde zeigen, dass die Gegenüberstellung von Volk und Elite, die einer weitverbreiteten Definition zufolge den ›populistischen Kern‹ des Rechtspopulismus ausmacht, die semantische Struktur des Antisemitismus reproduziert und daher als strukturell antisemitisch bezeichnet werden muss.
Ich argumentiere in drei Schritten. Zunächst gehe ich der Frage nach, warum die sozialwissenschaftliche Forschung den antisemitischen Gehalt des Rechtspopulismus systematisch unterschätzt. Gezeigt werden soll, dass dies zum einen auf ein unzureichendes Verständnis von Antisemitismus zurückzuführen ist, welches diesen über isolierte judenfeindliche Stereotype oder Aussagen, nicht aber als eine Weltanschauung mit einer spezifischen semantischen Struktur bestimmt. Das führt dazu, dass aus der Abwesenheit bestimmter Stereotype auf die Abwesenheit von Antisemitismus geschlossen wird. Zum anderen möchte ich zeigen, dass weite Teile der Sozialwissenschaften zwar die Gegenüberstellung von Volk und Elite als zentrales Charakteristikum des (Rechts)populismus anerkennen, diese allerdings – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht mit Antisemitismus in Verbindung bringen. Stattdessen interpretieren viele Erklärungsansätze den Rechtspopulismus als Protest gegen Neoliberalismus und Postdemokratie. Das hat zur Folge, dass die rechtspopulistische Anrufung des Volkes als demokratischer Impuls und die Figur der »globalistischen Elite« als politisch oder ökonomisch motivierte »Elitenkritik« wahrgenommen wird.
In einem zweiten Schritt führe ich zunächst einen hermeneutischen Antisemitismusbegriff ein und untersuche davon ausgehend zwei rechtspopulistische Texte: den Aufsatz »Populismus und Demokratie« des AfD Politikers Alexander Gauland, der 2019 in der neurechten Zeitschrift Sezession veröffentlicht wurde, und eine Wahlkampfrede von Donald Trump aus dem Oktober 2016. Die Analyse dieser zwei Fallbeispiele wird zeigen, dass in rechtspopulistischen Deutungsmustern die »Juden« durch die »globalistische Elite« ersetzt werden, sich ansonsten jedoch alle konstitutiven Elemente des Antisemitismus nachweisen lassen.
In einem dritten Schritt ziehe ich Schlussfolgerungen für das theoretische Verständnis und die politische Beurteilung des Rechtspopulismus. Dem Befund, dass rechtspopulistische Weltbilder in ihrer Grundstruktur antisemitische Semantiken reproduzieren, kann mit dem Begriff des strukturellen Antisemitismus Rechnung getragen werden. Damit wird die These von der Deradikalisierung fragwürdig. Zwar macht es einen erheblichen Unterschied, ob »globalistische Eliten« oder »die Juden« als Feindbild adressiert werden. Wenn aber alle semantischen Elemente des Antisemitismus vorhanden sind, ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zum manifesten Antisemitismus, der sich explizit gegen Jüdinnen und Juden richtet. Der Befund zeigt zudem, dass kultureller Rassismus oder Islamophobie nicht die Funktion des Antisemitismus übernommen haben. Vielmehr weisen rechtspopulistische Weltbilder sowohl rassistische als auch (strukturell) antisemitische Elemente auf, die unterschiedliche Funktionen erfüllen.
Die sozialwissenschaftliche Rechtspopulismusdebatte und die Frage des Antisemitismus
Dass die antisemitischen Deutungsmuster im Rechtspopulismus in Wissenschaft und Öffentlichkeit entweder gar nicht wahrgenommen oder massiv unterschätzt werden, hat wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Gründe.[4] Ich beschränke mich im Folgenden auf zwei wissenschaftsimmanente Probleme. Das erste Problem besteht darin, dass große Teile der sozialwissenschaftlichen Forschung über keinen adäquaten Begriff von Antisemitismus verfügen. Vorherrschend ist eine Sichtweise, die den Antisemitismus als Vorurteil begreift und auf eine Reihe judenfeindlicher Stereotype reduziert. So definieren etwa Andreas Zick, Beate Küpper und Andreas Hövermann, Vertreter des vielrezipierten Konzepts der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, Antisemitismus »als soziales Vorurteil gegenüber Juden/Jüdinnen, weil sie Juden/Jüdinnen sind.«[5] Zur Illustration der Tatsache, dass Antisemitismus in verschiedenen Ausprägungen auftreten kann, werden einzelne, aus der Geschichte des Antisemitismus bekannte Stereotype aufgezählt (»jüdische Weltverschwörung«, »Juden als Gottesmörder«). Auch Wolfgang Benz, langjähriger Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, versteht Antisemitismus als Vorurteil und definiert ihn extensiv als »Gesamtheit judenfeindlicher Äußerungen, Tendenzen, Ressentiments, Haltungen und Handlungen unabhängig von ihren religiösen, rassistischen, sozialen oder sonstigen Motiven.«[6] Ergänzend nennt auch Benz einige der bekanntesten antisemitischen Zuschreibungen. Sowohl bei Benz als auch bei Zick, Küpper und Hövermann erfüllen Vorurteile soziale und sozialpsychologische Funktionen.
Die Definition des Antisemitismus als Vorurteil erfasst nur Aussagen, die sich explizit gegen Jüdinnen und Juden richten oder die Bedeutungselemente enthalten, die aus der Geschichte des Antisemitismus bekannt sind. So dürfte etwa kein Dissens darüber bestehen, dass die Formulierung »Banker von der Ostküste« eine antisemitische Konnotation enthalten kann, auch wenn »Juden« nicht explizit genannt werden. Der Antisemitismus ist jedoch dynamisch und produziert laufend neue Bedeutungselemente. Wenn neue Varianten auftauchen, die weder von »Juden« sprechen noch bekannte Stereotype aufgreifen, werden sie vom Vorurteils-Ansatz oftmals nicht als antisemitisch (an)erkannt.
Zudem bleibt bei diesen Ansätzen die inhaltliche Spezifik von Stereotypen unbestimmt. Der Antisemitismus scheint sich etwa vom antimuslimischen Rassismus lediglich dadurch zu unterscheiden, dass ersterer sich gegen Juden, letzterer gegen Muslime richtet. Völlig unklar bleibt hingegen, warum es unterschiedliche Feindbilder gibt und warum sie mit unterschiedlichen Zuschreibungen arbeiten. Für den Vorurteils-Ansatz erfüllen alle Gruppenstereotype ähnliche Funktionen (Orientierungsfunktion, Benennung von ›Sündenböcken‹, politische Instrumentalisierung usw.) und erscheinen daher als weitgehend austauschbar. Das ist mit der These kompatibel, dass die Islamophobie den Antisemitismus abgelöst habe.
Ein zweites Problem, das die Unterschätzung des Antisemitismus zur Folge hat, liegt in den Erklärungsansätzen, die die aktuelle Debatte um den »Rechtsruck« dominieren. In der sozialwissenschaftlichen Forschung hat sich zur Bezeichnung des neuen Typs rechter Parteien und Bewegungen der Begriff des Rechtspopulismus durchgesetzt. Rechtspopulismus wird als Variante des allgemeineren Phänomens Populismus[7] verstanden. Es ist umstritten, wie Populismus zu definieren ist, es lassen sich aber grob zwei Richtungen unterscheiden. Die erste versteht Populismus als politische Strategie oder rhetorischen Stil. Es handele sich um eine politische Kommunikationsform, die, statt durch sachliche Argumentation zu überzeugen, mit Vereinfachungen, Emotionalisierung und Personalisierung arbeitet.[8] Stärker etabliert ist jedoch eine zweite Auffassung, die den Populismus durch eine – wenn auch sehr abstrakte – inhaltliche Struktur bestimmt sieht. Dieser ideellen Definition zufolge ist Populismus »eine ganz bestimmte Politikvorstellung, laut der einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen – wobei diese Art von Eliten eigentlich gar nicht wirklich zum Volk gehören.«[9] Der Rechtspopulismus erweitere dieses Schema, indem er »die Unterscheidung zwischen dem guten Eigenen (Volk, Nation, Gemeinschaft) und dem bedrohlichen Fremden (Ausländer, Migranten, Muslime)« hinzufügt.[10]
Doch auch bei denjenigen, die diese ideelle Definition des Populismus teilen, gehen die theoretischen Einordnungen und politischen Bewertungen weit auseinander. Für Jan-Werner Müller kommt in der populistischen Anrufung des homogenen Volkes ein Alleinvertretungsanspruch zum Ausdruck, der antipluralistisch und damit gegen ein liberales Demokratieverständnis gerichtet sei.[11] Michael Wild verweist darauf, dass das Verständnis von Volk, wie es in den Diskursen der AfD vorzufinden ist, in der Tradition des völkischen Nationalismus steht und Bezüge zu rassistischen Ideen erkennen lässt.[12] Anders sehen es Erklärungsansätze, die den Populismus als Protest gegen die Krise der Demokratie und die neoliberale Globalisierung interpretieren. Dirk Jörke und Veit Selk argumentieren, die liberalen westlichen Demokratien hätten ihr Versprechen der gleichen Mitbestimmung und Repräsentation aller Bürgerinnen und Bürger in den letzten Dekaden immer weniger eingelöst.[13] Zu beobachten sei eine zunehmende Dominanz der vermittelnden Mechanismen des Interessenausgleichs, der Repräsentation, der Gewaltenteilung und des Minderheitenschutzes. Dadurch seien die Strukturen der Demokratie starr und für die Anliegen großer Teile der Bevölkerung unempfänglich geworden. Wichtige Entscheidungen würden von einer abgekoppelten Elite getroffen. Gegen diese postdemokratischen Tendenzen mache der Populismus das Grundprinzip der Demokratie wieder geltend, dass in der Politik der allgemeine Wille des Volkes zum Ausdruck kommen solle.[14]
Der populistische Bezug auf ein homogenes Volk erscheint in dieser Perspektive als ein demokratischer Impuls, die Anwürfe gegen Politik und Medien als legitime »Elitenkritik«. Die (rechts)populistischen Aussagen über die Elite werden hier realistisch interpretiert: sie sollen sich auf tatsächliches Fehlverhalten der Elite und auf dadurch verursachte Missstände beziehen. So ist etwa für René Cuperus »[d]ie Loslösung der Eliten […] einer der Hauptgründe für den Vormarsch des Populismus […].« Dieser müsse »als ein Aufstand, eine Protestbewegung gegen das Gesellschafts- und Zukunftsbild der Eliten einer grenzenlosen, globalisierenden und flexibilisierenden Welt betrachtet werden.«[15] Die Historikerin Karin Priester schließt sich dieser Deutung an und verallgemeinert sie: »Die Elitenfeindlichkeit von Populisten richtete sich gegen das, was Soziologen soziale Schließung nennen.«[16] Der Populismus sei »das Ergebnis einer gestörten Kommunikationsbeziehung zwischen Eliten und Volk« und entstehe bei »zu abrupter Modernisierung, auf die die politischen Eliten nicht adäquat reagieren«, was auf »Ineffizienz und Inkompetenz« zurückzuführen sei.[17] Was für den Populismus im allgemeinen gelte, gelte auch für den Rechtspopulismus. Dessen Aufstieg, so etwa der Soziologe Michael Hartmann, ist »eine Antwort auf das Elitenverhalten.«[18]
Die Erklärungsansätze, die den (Rechts-)Populismus als Protest gegen Neoliberalismus und Postdemokratie interpretieren, bringen ihm in der Regel ein großes Maß an Verständnis und in einigen Fällen Sympathie entgegen. Zwar grenzt man sich von der »Fremdenfeindlichkeit« des Rechtspopulismus ab, der Bezug auf ein homogenes Volk und die Elitenkritik werden jedoch nicht nur nicht problematisiert, sondern als legitime politische Ausdrucksformen verstanden. Bei dem Soziologen Wolfgang Streeck geht diese apologetische Tendenz so weit, dass seine Ausdrucksweise kaum noch von rechtspopulistischer Rhetorik zu unterscheiden ist. Das »Führungspersonal[] des neoliberalen Zeitalters« habe die nationalistische Reaktion selbst provoziert. »[A]ntinationale Umerziehungsmaßnahmen von oben produzieren einen antielitären Nationalismus von unten. […] Wer eine Gesellschaft wirtschaftlich oder moralisch unter Auflösungsdruck setzt, erntet traditionalistischen Widerstand […].«[19]
Die apologetische Deutung des (Rechts-)Populismus als »Protest« blendet wesentliche Charakteristika rechtspopulistischer Deutungsmuster aus. Zwar wird bisweilen zugestanden, dass die manichäische Gegenüberstellung von (gutem) Volk und (böser) Elite die komplexe soziale Realität vereinfacht, nicht gesehen wird jedoch, dass es sich um eine Dichotomie mit einer spezifischen Struktur handelt: Das Volk wird im Rechtspopulismus durchgängig als partikulare und homogene Einheit verstanden und mit Arbeit, Tradition, Familie, evidenter Wahrheit (»gesunder Menschenverstand«) konnotiert, während die Elite für die globalen und abstrakten Macht- und Vermittlungsinstanzen (Politik, Medien, Kapital) steht, die für die Zerstörung partikularer Identitäten verantwortlich sein sollen. Ausgehend von diesem Schema werden der Elite Motive, Eigenschaften und Handlungen zugeschrieben, die kaum als realitätsadäquate Beschreibungen empirischer Eliten verstanden werden können: absolute Interessenkonvergenz, ein Übermaß an Handlungsmacht und Kooperationsfähigkeit und eine geradezu diabolische Bösartigkeit, die in der Intention zum Ausdruck kommen soll, das eigene Volk zu vernichten. In Teilen der Forschung wird dieser Zug des rechtspopulistischen Elitendiskurses unter dem Begriff der Verschwörungstheorie verhandelt.[20] Indes gibt es bisher nur eine Handvoll Autorinnen und Autoren, die die populistische Dichotomie von Volk und Elite dezidiert mit Antisemitismus in Verbindung bringt.[21]
Rechtspopulistischer Elitendiskurs und antisemitische Semantik: zwei Fallbeispiele
Ich werde im Folgenden anhand zweier Fallbeispiele zeigen, dass rechtspopulistische Weltbilder, in deren Zentrum der Antagonismus zwischen homogenem Volk und einer feindlichen Elite steht, in ihren Strukturen alle wesentlichen Elemente des modernen Antisemitismus reproduzieren. Die Differenz zum manifesten Antisemitismus besteht lediglich darin, dass die »globalistische Elite« – zumindest in offiziellen Dokumenten und Äußerungen – nicht mit »den Juden« identifiziert wird. Weil aber alle Elemente der antisemitischen Weltanschauung vorhanden sind, lässt sich die Schwelle von der ›codierten‹ zur manifesten Form leicht überschreiten. Wie sich diese Differenz theoretisch einordnen lässt, soll im letzten Teil diskutiert werden.
Meine Analyse orientiert sich an dem von Klaus Holz entwickelten hermeneutischen Verständnis von Antisemitismus.[22] Holz zeigt in seiner systematischen Rekonstruktion des modernen Antisemitismus zum einen, dass dieser sich nicht auf ein judenfeindliches Fremdbild reduzieren lässt, sondern immer mit einem kollektiven Selbstbild verknüpft ist. Mit den antisemitischen Aussagen über »die Juden« soll zugleich etwas über die Eigengruppe ausgesagt werden. Das eigene Kollektiv wird im modernen Antisemitismus in der Regel als Nation bestimmt. Nach Holz ist der moderne Antisemitismus daher nationaler Antisemitismus. Zum zweiten macht Holz deutlich, dass sich die antisemitischen Selbst- und Fremdbildkonstruktionen nicht hinreichend über einzelne Stereotype, Zuschreibungen und Bilder bestimmen lassen, sondern über semantische Strukturen und die ihnen zugrundeliegenden Konstruktionsregeln. Diese Konstruktionsregeln lassen einen weiten Spielraum für neue Bedeutungselemente und Kombinationen, so dass sich der Antisemitismus an unterschiedliche gesellschaftliche und historische Kontexte anpassen und zahlreiche Varianten bilden kann. Die Bestimmung des Antisemitismus über seine Regelstruktur ermöglicht es, sowohl die Einheit des Antisemitismus begrifflich zu fassen, als auch verschiedene Typen zu unterscheiden.
Holz arbeitet anhand der Analyse einflussreicher antisemitischer Texte drei Konstruktionsregeln für die antisemitische Selbstbild-Fremdbild-Relation heraus. Erstens werden »die Juden« im Antisemitismus mit Macht assoziiert und als Täter beschrieben, während das eigene Kollektiv als Opfer der jüdischen Machenschaften dargestellt wird.[23] Die den Juden zugeschriebene Macht wird »durch mysteriöse Unfaßbarkeit, Abstraktheit und Universalität charakterisiert. Es wird angenommen, daß diese Form der Macht sich nicht direkt manifestieren kann, sondern eine gesonderte Ausdrucksweise benötigt.«[24] Im weltanschaulich ausbuchstabierten Antisemitismus wird die jüdische Täterschaft daher häufig mit der Idee einer jüdischen Verschwörung verbunden. Auf diese Weise lassen sich anonyme gesellschaftliche Prozesse als intentionale Handlungen interpretieren. Die antisemitische Agitation erscheint als Selbstverteidigung der Eigengruppe gegen die jüdische Aggression.
Zweitens beruht der Antisemitismus immer auf der Dichotomie zweier antagonistischer Sozialmodelle: Gesellschaft und Gemeinschaft.[25] Gemeinschaft bezeichnet ein Kollektiv, dessen Mitglieder durch geteilte Traditionen, Werte und Charaktereigenschaften verbunden sind und das durch Selbstgenügsamkeit, Homogenität und Unmittelbarkeit charakterisiert ist. Gesellschaft hingegen bezeichnet eine Form des Sozialen, die durch innere Heterogenität und vermittelnde Instanzen wie Geld, Macht und Medien bestimmt ist. Das Gegensatzpaar Gesellschaft/Gemeinschaft ist eine moderne Konstruktion und bildet die Grundlage vieler konservativer Gesellschaftsdiagnosen, die davon ausgehen, dass Gemeinschaft durch Gesellschaft zerstört wird.[26] Der Antisemitismus ordnet die Wir-Gruppe dem Sozialmodell Gemeinschaft zu, während »die Juden« als Personifizierung der zersetzenden Prinzipien von Gesellschaft gelten. Indem er soziale Phänomene und Institutionen, die in der sozialen Realität in einem Zusammenhang stehen, zwei klar unterschiedenen, antagonistischen Kollektiven zuweist, bietet der Antisemitismus ein Erklärungsmodell für die anonymen Prozesse und Krisenerscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft. Er ist das »Zerrbild einer Gesellschaftstheorie«[27], eine fetischistische Form des Antikapitalismus.[28]
In engem Zusammenhang damit steht eine dritte Konstruktionsregel: der Antisemitismus schreibt der Eigengruppe Identität zu, während er »die Juden« durch Nicht-Identität, genauer: eine paradoxe nicht-identische Identität bestimmt sieht.[29] Einerseits werden Jüdinnen und Juden, analog zur Eigengruppe, als ontologisches und ethnisches Kollektiv verstanden;[30] andererseits wird ihnen abgesprochen, eine stabile und eigenständige Identität ausbilden zu können. Sie sind nicht »verwurzelt«, sondern zerstreut. Sie können Kultur nicht erschaffen, sondern nur oberflächlich imitieren. Sie leben nicht von eigener produktiver Arbeit, sondern von der (finanziellen) Ausbeutung anderer. Die jüdische Identität ist Nicht-Identität: sie reproduziert sich durch die Negation fremder Identitäten. Diese Vorstellung äußert sich insbesondere in der Idee der ambivalenten Zugehörigkeit, der zufolge »die Juden« weder dem eigenen noch einem fremden Kollektiv eindeutig zuzuordnen seien. In der national-antisemitischen Sichtweise unterteilt sich die Welt in klar abgrenzbare Gruppen (Völker, Nationen, Rassen). »Die Juden« hingegen repräsentieren die »Figur des Dritten«[31], die die Möglichkeit von Eindeutigkeit bestreitet und Unterschiede zu verwischen droht. Während der Nationalismus Identität fordert, erklärt das antisemitische Judenbild, warum diese Forderung scheitern muss. »Die Juden« sind im Antisemitismus keine Nation neben anderen, sondern Anti-Nation, keine fremde Rasse, sondern »Gegenrasse, das negative Prinzip als solches«[32]. Sie erscheinen daher nicht nur als Bedrohung für das eigene Volk, sondern für alle Völker auf der Welt. Wie die Analyse der folgenden zwei Fallbeispiele zeigen wird, ersetzten rechtspopulistische Weltbilder »die Juden« durch die Figur der »globalistischen Elite«, reproduzieren aber ansonsten alle Strukturmerkmale des modernen Antisemitismus.
Fallbeispiel I: Alexander Gauland »Populismus und Demokratie«
Alexander Gaulands Text »Populismus und Demokratie« wurde im Februar 2019 in der Sezession, einem zentralen Publikationsorgan der »Neuen Rechten«, veröffentlicht.[33] Es handelt sich dabei um die verschriftlichte Fassung eines Vortrages, den er kurz zuvor bei der Winterakademie des Instituts für Staatspolitik gehalten hatte. Das Thema des Textes sind die Ursachen für den gegenwärtigen Aufschwung des Populismus. Bemerkenswert ist zunächst, dass Gauland nicht nur die Entwicklung in Deutschland behandelt, sondern einen globalen Erklärungsanspruch erhebt, indem er auch Beispiele aus den USA und England anführt. Zudem versucht er seine Gegenwartsdiagnose auf ein breites Fundament zu stellen, indem er eine ganze Reihe an Gewährsmännern heranzitiert, darunter nicht nur konservative Autoren wie Arnold Gehlen und Botho Strauß, sondern beispielsweise auch liberale Soziologen wie Ralf Dahrendorf und Zygmunt Baumann.
Gleich zu Beginn weist Gauland die in der Öffentlichkeit vorherrschende pejorative Verwendung des Populismusbegriffs zurück und reklamiert »Populismus« als positive Bezeichnung für eine neue politische Bewegung, zu der auch seine eigene Partei, die Alternative für Deutschland, zählt. Ausgehend von einem Artikel im englischen Journal New Statesman, in dem der »Brexit« als die »größte Niederlage für die hyperliberalen, ins Ausland blickenden ›kognitiven Eliten‹«[34] charakterisiert wird, entwirft er das Bild einer Weltlage, die von der Konfrontation zweier Gruppen bestimmt sei: der Rebellion des Demos gegen eine »abgekoppelte Elite«.[35] Die westlichen Gesellschaften seien heute »gespalten«. Zwar habe es schon immer eine Differenzierung zwischen Eliten und einfachem Volk gegeben. Allerdings mussten die Eliten in den früheren »seßhaften Gesellschaften« immer »darauf achten, daß möglichst große Schnittmengen ihrer Interessen mit denen der Basis existierten. […] Auch die Eliten waren seßhaft. Heute sind sie es nicht mehr. Das ist der große Unterschied.«[36]
Um die gegenwärtige Konstellation näher zu charakterisieren greift Gauland auf eine zeitdiagnostische Schrift des britischen Publizisten David Goodhart zurück. Laut Goodhart stehen sich heute zwei Gruppen, »Anywheres« und »Somewheres«, in einem Kulturkampf gegenüber. Für Gauland handelt es sich dabei primär um einen »Gegensatz zwischen Seßhaften und Nomaden.«[37]
Die Gruppe der »Anywheres« besteht […] aus denjenigen, die beruflich mobil sind, die Welt von überall aus sehen und die heute unsere Kultur und Gesellschaft dominieren. Solche Menschen haben »tragbare Identitäten«, die auf ihrem Bildungs- und Karriereerfolg beruhen. Sie verkörpern das liberale, EU-freundliche und globalistische Establishment. Auf der anderen Seite stehen Menschen, die eher in ihrer geographischen Identität verwurzelt sind – der schottische Landwirt, der Arbeiter aus dem mittelenglischen Industriegebiet, die Hausfrau aus Cornwall –, die von den schnellen Veränderungen der modernen Welt verunsichert und bedroht sind. Sie sind oft älter und weniger gebildet als die »Anywheres«.[38]
Bereits in dieser ersten Charakterisierung finden sich Elemente des Gegensatzes von Täter und Opfer und von nicht-identischer Identität und Identität, die Holz als Konstruktionsregeln antisemitischer Diskurse identifiziert. Die Anywheres sind mobil und sehen die Welt »von überall aus«. Ihre Identitäten, die auf individueller Leistung beruhen, sind fluide und als »tragbare« an keinen Ort gebunden. Dabei wird Ihnen große Handlungsmacht zugeschrieben: sie »dominieren« Kultur und Gesellschaft und »verkörpern das […] globalistische Establishement.« Die Somewheres hingegen sind »in ihrer geographischen Identität verwurzelt«. Ihre Identitäten sind festgefügt und von ihrem geographischen Standort und ihrer konkreten sozialen Position bestimmt (Landwirt, Arbeiter, Hausfrau). Zudem werden sie als diejenigen charakterisiert, die »von den schnellen Veränderungen der modernen Welt verunsichert und bedroht sind.«
Die nicht-identische Identität der Eliten wird in weiteren Passagen näher bestimmt. Die Mitglieder der Elite »leben fast ausschließlich in Großstädten, sprechen flüssig Englisch und wohnen unter ihresgleichen. […] Überall finden sie ein ähnliches Umfeld: Die Appartements, Häuser, Restaurants, Klubs, Geschäfte und Privatschulen, alles gleicht einander.«[39] Obwohl »[d]ieses Milieu […] sozial nahezu abgeschottet« ist, ist es zugleich »kulturell sehr offen. Es schickt seine Kinder in Internationale Schulen, wo Amerikaner, Deutsche, Inder, Koreaner und Araber gemeinsam unterrichtet werden. In ihrem Milieu bringt das kaum Probleme.«[40]
Gauland beschreibt das Milieu der Elite einerseits als geschlossen und homogen, andererseits als offen und heterogen. Im Gegensatz zum Modell der Gemeinschaft, deren Einheit auf Gleichartigkeit – auf geteilten Werten und Sichtweisen – beruht, erzeugt die Elite Einheit nicht nur trotz innerer Differenz – was in der normalen Welt zu Problemen führt, erzeugt bei ihnen »kaum Probleme« –, sondern durch innere Differenz. Denn es ist ja gerade die Fähigkeit, über Grenzen hinweg mobil zu sein, sich auf Englisch global zu verständigen und die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven (»von überall aus«) zu sehen, die ihre Macht charakterisiert und ihre Gemeinsamkeit ausmacht. Einen Absatz weiter schreibt Gauland: »Die Bindung dieser neuen Elite an ihr jeweiliges Heimatland […] ist schwach. In einer abgehobenen Parallelgesellschaft fühlen sich ihre Angehörigen als Weltbürger. Der Regen, der in ihren Heimatländern fällt, macht sie nicht naß.«[41] Hier werden die Eliten zwischen Innen und Außen positioniert und entsprechen damit der von Holz identifizierten paradoxen Figur des Dritten. Einerseits werden sie einem nationalen Kollektiv zugerechnet, denn sie haben »ihr jeweiliges Heimatland«, andererseits ist ihre »Bindung« daran »schwach«. Obwohl sie Bürger eines Nationalstaates sind, »fühlen [sie] sich […] als Weltbürger«. Die Rede von der »abgehobenen Parallelgesellschaft« evoziert als Gegenbild die bereits erwähnten »verwurzelten Identitäten« und die Bodenständigkeit des »Mittelstands« und der »einfachen Leute«, von denen gleich noch die Rede sein wird.
Die Macht der Elite wird als überproportional beschrieben. Ihre »relative Kleinheit« stehe, so Gauland, »in einem erheblichen Widerspruch zu ihrer Bedeutung.«[42] An anderer Stelle heißt es, die neue urbane Elite könne zwar »soziologisch nicht genau definiert« werden, besitze jedoch »einen enormen Einfluß.«[43] Die Machenschaften der Elite, deren Opfer das Volk geworden ist, illustriert Gauland an verschiedenen Beispielen. In der Finanzkrise habe sich ihre Macht darin gezeigt, dass die regierenden Parteien die Krise »zu Lasten der Steuerzahler bekämpft« hätten, während ihre »Verursacher« – die »internationale, illoyale, über dem Gesetz stehende Wirtschaftselite«[44] – fast ausnahmslos verschont worden seien.
In der »Flüchtlingskrise« wiederum habe sich die »Allianz aus internationalistischer Linker und internationalen Unternehmen […] vor allem in der Förderung der Migration und der Aufweichung nationaler Strukturen« gezeigt.[45] Von der »neuen Völkerwanderung« hätten Unternehmen, NGOs und »der medizinisch-industrielle Komplex« profitiert, für die die aus Steuermitteln finanzierten Flüchtlinge einen »neuen Kundenkreis« bilden.[46] Die Opfer dieser »geförderten« Migration sind die »einfache[n] Menschen«, die »als erste ihre Heimat verlieren, weil es ihr Milieu ist, in das die Einwanderer strömen. Sie können nicht einfach wegziehen und woanders Golf spielen.«[47] In Gaulands Schilderung erscheint die Fluchtmigration als ein Prozess, der von den Eliten intentional herbeigeführt wurde und ihren Profitinteressen dient. Die Methoden und Effekte ihres Handelns sind identitätszersetzend (»Aufweichung nationaler Strukturen«, Verlust von »Heimat«). Zudem aktualisiert die Rede von der Allianz von Linken und Großunternehmen das antisemitische Bild einer Konvergenz von »roter« und »goldener« Internationale.
Der Antisemitismus hat die Vorstellung einer jüdischen Täterschaft zur Idee einer »jüdischen Weltverschwörung« radikalisiert. Die jüdische Übermacht ist abstrakt und entfaltet sich im Geheimen. Gauland beschreibt das Handeln der Eliten nicht explizit als Verschwörung, allerdings sind konspirationistische Untertöne zu vernehmen, etwa wenn davon die Rede ist, dass »Teile der Elite heimlich antidemokratisch werden«[48] oder angedeutet wird, dass der Öffentlichkeit die Vorgänge während der »Flüchtlingskrise« verborgen geblieben seien, weil die deutschen Intellektuellen die »Geldströme« nicht erkannt hätten, die »Offenlegung der Geldströme« daher ein wichtiges Thema der Zukunft sei.[49]
Auch die dritte von Holz identifizierte Dichotomie, der Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft, ist in den bisher zitierten Textstellen bereits erkennbar. In anderen Passagen wird sie noch expliziter ausformuliert. Die Eliten werden als Personifikationen des Sozialmodells Gesellschaft vorgestellt, demzufolge das Soziale auf Heterogenität und der Vermittlung von Differenz durch abstrakte Vermittler wie Macht, Geld, Medien und Wissen beruht.
Sie sitzen in den international agierenden Unternehmen, in Organisationen wie der UNO, in den Medien, Start-ups, Universitäten, NGOs, Stiftungen, in den Parteien und ihren Apparaten, und weil diese Leute die Informationen kontrollieren, geben sie kulturell und politisch den Ton an.[50]
Dass am Beginn dieser Aufzählung die internationalen Unternehmen und die UNO als internationale Organisation stehen, betont den Gegensatz zur nationalen Gemeinschaft.
An anderer Stelle heißt es, Politiker wie Barack Obama, Angela Merkel oder Emanuel Macron seien »Agenten der Globalisierung«.[51] Sie seien es, die den »[f]reie[n] Fluß von Waren, Informationen und Menschen« wollen und durchsetzen.[52] Hier wird das Abstraktum Globalisierung konkretisiert, indem es personifiziert und damit auf die Motive und Handlungen einiger weniger reduziert wird. »Agenten« lässt sich in diesem Zusammenhang zunächst als »Handelnde« lesen. Daneben schwingt aber auch die primäre Bedeutung des Wortes mit: ein Agent ist jemand, der im Auftrag einer (Geheim-)Organisation handelt. Auch hier gibt es also wieder eine konspirationistische Bedeutungsebene: die Globalisierung wird von geheimen Mächten gesteuert, die Politikerinnen und Politiker als Agenten nutzen. Diese führen ein Doppelleben: für die Öffentlichkeit spielen sie ihre offizielle Rolle, insgeheim arbeiten sie jedoch an der geheimen Agenda.
Die Gruppe, die der »globalistischen Elite« gegenübersteht und den neuen Populismus unterstützt, charakterisiert Gauland als »eine Allianz der nationalen Arbeiterschaft und des nationalen Bürgertums.«[53] Sie verkörpert das Sozialmodell Gemeinschaft.
Das sind diejenigen, denen Heimat etwas bedeutet, weil sie dort ihr Haus oder ihr Unternehmen haben und dieses nicht einfach verlagern können, weil ihre Familie und ihre Freunde dort leben, weil dort die Kirche steht, in der sie getauft wurden oder geheiratet haben, […] weil dort ihre Sprache gesprochen wird und ihre Traditionen gepflegt werden, weil sie dort einfach gut und gerne leben wollen.[54]
Gemeinschaft zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Mitglieder durch Merkmale bestimmt sind, die sie verbinden und eine kollektive Identität stiften: Familie, Religion, Sprache, Tradition. Ökonomisch betrachtet zähle zum Bürgertum der »wirtschaftliche Mittelstand […], das ökonomische Rückgrat unseres Landes, der nicht einfach sein Unternehmen nach Indien verlagern kann«.[55] Daneben gäbe es »sogenannte einfache Menschen, deren Jobs entweder miserabel bezahlt werden oder nicht mehr existieren, die ein Leben lang den Buckel krumm gemacht haben und heute von einer schäbigen Rente leben müssen.«[56] Während den »kognitiven Eliten« zugeschrieben wird, Krisen zu verursachen, die destruktive Globalisierung voranzutreiben und über Steuern das Geld des Volkes an Migranten umzuverteilen, werden die »nationalen Gruppen« mit Produktivität und harter körperlicher Arbeit assoziiert.
Der Gegensatz zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft wird vor allem über die Schilderungen der Interessen und Werte der Elite hergestellt. Die »industrialisierten Eliten – die Wirtschaft überhaupt – [sind] heute geradezu links […], indem sie Nation, Heimat, Herkunft ablehnen.«[57] Im Gegensatz zu früher brauche die Elite heute partikulare und feste Identitäten nicht mehr und betrachte sie als Hindernisse für die Etablierung eines globalen Marktes. Von ihren bürgerlichen Traditionen habe sie sich verabschiedet und sich ein linkes Weltbild zugelegt. »Ihre Religion ist der Humanitarismus. Alle Ethnien und Kulturen sind für sie gleich. Ihr natürlicher Verbündeter ist das global agierende Kapital.«[58] Die Elite verkörpert Gesellschaft, die sich gegen Gemeinschaft richtet. Ihr Ziel ist es, das Volk auszubeuten und es letztendlich zu zerstören. »Eine kleine Gruppe weiser Auserwählter soll über das unmündige, kindische und störrische Volk herrschen«[59]. Geträumt werde von einer »›Weltregierung‹« und einer »globalen Erziehungsdiktatur«[60].
Am Ende des Textes zeichnet Gauland ein apokalyptisches Bild. Es sei inzwischen deutlich, dass
der Populismus die letzte Verteidigungslinie unserer Art zu leben ist. Wenn die Globalisten sich durchsetzen, werden viele Dinge verschwinden und niemals wiederkommen, die unser Land und unseren Erdteil lebenswert machen: der innere Frieden, der Rechtsstaat, die soziale Sicherheit, das Bargeld, die Gleichberechtigung der Frau, die Meinungs- und Religionsfreiheit, das Recht darauf, von Staat und Gesellschaft in Ruhe gelassen zu werden.[61]
Der Kampf zwischen Populisten und globalistischer Elite sei die entscheidende Auseinandersetzung der Zeit. Themen wie der Klimawandel und die »Schuld der weißen Männer« seien jedoch bloß »Begleitlärm«. Der eigentliche Konflikt drehe sich um die Frage der Migration: »Hier entscheidet sich das Schicksal der europäischen Zivilisation.«[62]
Fallbeispiel II: Donald Trumps Wahlkampfrede
Das zweite Fallbeispiel, an dem die antisemitische Struktur des rechtspopulistischen Selbst- und Elitenbildes nachgewiesen werden soll, ist eine Rede, die Donald Trump am 13. Oktober 2016 auf dem Höhepunkt seines Präsidentschaftswahlkampfes gegen Hillary Clinton in Palm Beach, Florida, gehalten hat.[63] Trump beginnt seine Rede mit der Gegenüberstellung der Elite und seiner Bewegung, die er mit den Interessen des amerikanischen Volkes identifiziert: »Our movement is about replacing a failed and corrupt – now, when I say ›corrupt‹, Iʼm talking about totally corrupt – political establishment, with a new government controlled by you, the American people.« Gleich im nächsten Satz macht Trump deutlich, warum die Elite »totally corrupt« und eine Bewegung der »people« notwendig ist, die ihn zum Präsidenten wählt:
There is nothing the political establishment will not do – no lie that they wonʼt tell, to hold their prestige and power at your expense. […] The Washington establishment and the financial and media corporations that fund it exist for only one reason: to protect and enrich itself.
Hier wird einerseits die Täter-Opfer-Beziehung, andererseits die Elite als Personifikation von Gesellschaft etabliert: Das Handeln der politischen Elite, die mit den Finanz- und Medienunternehmen assoziiert wird, ist getrieben von egoistischen Motiven – Prestige, Selbstbereicherung und Machterhalt – und richtet sich dabei gegen das Volk (»at your expense«), wobei alle Mittel recht sind (»nothing [they] will not do«). Trump fährt damit fort, die Elite und ihre Machenschaften näher zu beschreiben:
The political establishment that is trying to stop us is the same group responsible for our disastrous trade deals, massive illegal immigration and economic and foreign policies that have bled our country dry. The political establishment has brought about the destruction of our factories, and our jobs, as they flee to Mexico, China and other countries all around the world.
Als Opfer dieser Politik, die illegale Einwanderung fördert, Fabriken zerstört und Arbeitsplätze ins Ausland verlagert, werden die »working people« oder die »working class« benannt. Der Verweis auf Arbeit charakterisiert die Eigengruppe als produktive Gemeinschaft, im Gegensatz zur Elite, die von Ausbeutung lebt und das Land ökonomisch »austrocknet«.
Das politische Establishment wird von Trump mehrfach und in unterschiedlicher Weise mit ominösen globalen Akteuren und Strukturen in Verbindung gebracht und damit in die Position des Dritten gerückt. Zunächst sagt Trump, dass diejenigen, die in Washington die Macht haben, mit »global special interests« verbündet sind. Etwas später werden die Mächte, die für den Niedergang des Landes verantwortlich sind, direkt auf einer globalen Ebene verortet: »Itʼs a global power structure that is responsible for the economic decisions that have robbed our working class, stripped our country of its wealth and put that money into the pockets of a handful of large corporations and political entities.«
Über die genaue Identität und die konkreten Motive der globalen Machtstruktur erfährt man wenig. Die nationale politischen Elite, die mit ihr in Verbindung stehen soll, konkretisiert Trump, indem er seine politische Konkurrentin um das Präsidentenamt ins Spiel bring: »The Clinton machine is at the center of this power structure.« Damit ist die Figur der nicht-identischen Identität etabliert. Hillary Clinton und die amtierende amerikanische Regierung Obama sind dem Eigenen zugeordnet, stehen aber zugleich im Zentrum einer internationalen Machstruktur. Sie sind national und international, damit aber anti-national. Statt die Interessen des amerikanischen Volkes zu vertreten, beuten sie es aus. Neben der korrupten Elite selbst, profitieren nur Akteure, die im Außen verortet sind: die »global special interests«, China, Mexiko, die Migranten.
Stärker als von Gauland wird von Trump die Machfülle der Elite betont, bis hin zur Idee einer Verschwörung. Hillary Clinton treffe sich »in secret with international banks to plot the destruction of U.S. sovereignty in order to enrich these global financial powers, her special interest friends and her donors.« Zudem sei die »Clinton machine […] closely and irrevocably tied to the media organizations«. Die Reporter »collaborate and conspire directly with the Clinton campaign on helping her win the election all over.« Die Medienunternehmen erscheinen hier als reine Machtmittel, »the most powerful weapon deployed by the Clintons«. Die Machfülle der Elite entspricht ihrer Bösartigkeit: »Their financial resources are virtually unlimited, their political resources are unlimited, their media resources are unmatched, and most importantly, the depths of their immorality is absolutely unlimited.« Trump lässt keinen Zweifel daran, dass die Verschwörung der globalistischen Elite die Zerstörung des Volkes zum Ziel hat. Die Clintons sind »criminals« und begehen »crimes against our nation«. Die Regierung ist ein »cartel«. Trump dämonisiert die Elite, indem er sie als absolut böse porträtiert: »The corrupt political establishment is a machine, it has no soul.«
Vor dem Hintergrund der beschriebenen Verschwörung der Elite, personifiziert in der Person Hillary Clintons, zeichnet auch Trump das Szenario eines apokalyptischen Endkampfes, in dem sich die Kräfte des Guten und des Bösen, der Rettung und der Zerstörung gegenüberstehen. Die existentielle Bedrohung verlangt eine existentielle Entscheidung: »This is not simply another four-year election. This is a crossroads in the history of our civilization that will determine whether or not we the people reclaim control over our government.« Die Rettung der Nation hänge von seiner Wahl zum Präsidenten ab:
This is a struggle for the survival of our nation, believe me. And this will be our last chance to save it on Nov. 8, remember that. This election will determine whether we are a free nation or whether we have only the illusion of democracy, but are in fact controlled by a small handful of global special interests rigging the system, and our system is rigged.
Der strukturelle Antisemitismus des rechtspopulistischen Elitendiskurses
Die Analyse der beiden Fallbeispiel macht deutlich, dass in rechtspopulistischen Narrativen eines Kampfes zwischen Volk und »globalistischer Elite« die »grundlegende Konstruktion eines universalen Feindes reproduziert [wird], der alle Kennzeichen ›des Juden‹ hat.«[64] In der rechtspopulistischen »Revitalisierung des klassischen weltanschaulichen Antisemitismus [fehlt] nur (mehr oder weniger) der letzte Schritt: die explizite Benennung des ›unsichtbaren Bösen‹ als jüdisch. Die grundlegenden Deutungsmuster der antisemitischen Konstruktion dieses Bösen liegen allerdings umfassend vor.«[65] Wie lässt sich dieser Befund begrifflich fassen und theoretisch einordnen? Ist es angemessen, rechtspopulistische Weltbilder als antisemitisch zu charakterisieren? Wenn alle Formen des Antisemitismus die von Holz herausgearbeiteten Strukturmerkmale aufweisen, bedeutet das im Umkehrschluss, dass alle Diskurse, die jene Strukturmerkmale aufweisen, als antisemitisch bezeichnet werden sollten?
Bei allen Übereinstimmungen bleibt der Unterschied, dass im Rechtspopulismus die Position des bösartigen, identitäts- und gemeinschaftszerstörenden Subjekts mit »der Elite« und nicht mit »den Juden« besetzt wird. Dabei ist zu beachten, dass es sich nicht nur um eine andere Gruppe, sondern um eine andere Art von Gruppe handelt. Jüdische Identität ist eine Kategorie, die von Jüdinnen und Juden als Selbstzuschreibung genutzt wird und darin zunächst einmal unabhängig von Fremdzuschreibungen ist. Die Festlegung der Zugehörigkeit zur Gruppe der Jüdinnen und Juden folgt relativ klaren Regeln. Elite hingegen ist eine Gruppenkategorie, die kaum zur Selbstbeschreibung genutzt wird und deren Bedeutung vage ist. In jedem Fall verweist sie auf gesellschaftliche Machtpositionen, die in der Regel erworben werden. Elite lässt sich also schlecht ethnisieren. Während Jüdinnen und Juden eine relativ klar identifizierbare Gruppe darstellen, ist vergleichsweise offen und unbestimmt, wer zur Elite gehört und wer nicht. Diese Differenz in der Feindbestimmung macht in der Praxis einen großen Unterschied: wer gegen »die Elite« vorgeht, handelt anders als jemand, der gegen »die Juden« agitiert.
Um diesen Unterschied zu markieren und zugleich auf die weitgehenden Übereinstimmungen mit dem Antisemitismus hinzuweisen, scheint es mir angemessen, von einem strukturellen Antisemitismus des rechtspopulistischen Elitenbildes zu sprechen. Der Begriff des strukturellen Antisemitismus wurde in der akademischen Antisemitismusforschung bisher kaum theoretisch ausgearbeitet und ist nicht unumstritten. Ein Kritikpunkt lautet, dass durch ihn der Antisemitismusbegriff in unangemessener Weise ausgeweitet würde.[66] In der Tat sollte der Begriff nicht in einer Weise verwendet werden, die suggeriert, dass es sich bei strukturellem Antisemitismus um eine eigene Form von Antisemitismus handelt, die auf einer Ebene mit den manifesten Ausprägungen angesiedelt ist. Eine solche Begriffsverwendung würde die Differenz zum manifesten Antisemitismus einebnen. Vielmehr sollte der Begriff als Hinweis auf die oben aufgezeigten strukturellen Übereinstimmungen und damit auf das Potential für offenen Antisemitismus in bestimmten Weltdeutungen verstanden werden. In diesem Sinne ließe sich alternativ auch von Proto-Antisemitismus sprechen. Die Schwelle zur Aktualisierung dieses Potentials ist niedrig und wird immer wieder überschritten, etwa wenn in rechten Diskursen George Soros als Hauptvertreter der globalistischen Elite angeführt und diese damit explizit als jüdisch markiert wird. Oder wenn im Verschwörungsmythos vom »großen Austausch« je nach Kontext entweder »Eliten« oder »Juden« für die »Massenmigration« verantwortlich gemacht werden.[67]
Der strukturelle Antisemitismus rechtspopulistischer Weltbilder lässt sich in einem ersten Zugriff im Anschluss an Bergmann/Erb als Umwegkommunikation deuten, die auf die Tatsache reagiert, dass manifeste Formen von Antisemitismus in weiten Teilen der Öffentlichkeit nach wie vor delegitimiert sind.[68] Umwegkommunikation sollte jedoch keineswegs nur im Sinne einer bewussten Ausweichstrategie verstanden werden. Es ist nicht anzunehmen, dass ausschließlich Personen, die privat dezidiert antisemitische Einstellungen haben, auf strukturell antisemitische Kommunikation zurückgreifen, um sich über diesen Umweg öffentlich mitteilen zu können. Viel wahrscheinlicher scheint mir, dass die krisenhaften Strukturen der modernen Gesellschaft und der von ihr hervorgebrachten Subjektivität immer wieder einen bestimmten Deutungs- und Verarbeitungsbedarf erzeugen, der dann entweder durch offene oder eben strukturell antisemitische Deutungsmuster bedient werden kann. Es ist durchaus plausibel anzunehmen, dass jemand wie Trump subjektiv kein Antisemit ist, obwohl er objektiv antisemitische Bedeutungsmuster kommuniziert.
Unabhängig davon, ob man den Begriff des strukturellen Antisemitismus für angemessen hält, sollte einsichtig sein, dass Antisemitismusbegriffe, die primär auf explizit antijüdische Aussagen oder auf bereits bekannte antisemitische Stereotype rekurrieren, Schwierigkeiten haben werden, die Übereinstimmungen zwischen rechtspopulistischen Weltbildern und manifestem Antisemitismus in den Blick zu bekommen und daher Gefahr laufen, das antisemitische Potential des Rechtspopulismus zu unterschätzen. In weiten Teilen der akademischen Rechtspopulismusdebatte ist in dieser Hinsicht jedenfalls eine ausgeprägte Ignoranz festzustellen. Die rechtspopulistische Anrufung eines homogenen Volkes wird in vielen Beiträgen als demokratischer Impuls bewertet, während in der Figur der »globalistischen Elite« lediglich Elitenkritik erkannt wird. In der politisch-normativen Beurteilung führt das dazu, dass am Rechtspopulismus lediglich der Rassismus als ›rechtes Element‹ identifiziert und kritisiert wird, während der populistische Kern entproblematisiert wird. Dabei bringt die Beschwörung homogener Gemeinschaft und Identität, die jede innere Heterogenität und Widersprüchlichkeit negiert, mit einer gewissen Zwangsläufigkeit die Vorstellung eines nicht-identischen und identitätszerstörenden Prinzips hervor, das in den »globalistischen Eliten« oder – manifest antisemitisch – in »den Juden« personifiziert wird.
Stellt man den strukturellen Antisemitismus in Rechnung, verliert die anfangs erwähnte Deradikalisierungs-These an Überzeugungskraft. Zwar bleibt es richtig, dass manifester Antisemitismus im Rechtspopulismus – etwa im Vergleich zu neonazistischen oder islamistischen Bewegungen – randständig ist. Die Konstruktion der volksfeindlichen globalisitischen Ellite enthält jedoch ein massives antisemitisches Potential, das sich leicht aktualisieren lässt und damit eine fundamentale Bedrohung für Jüdinnen und Juden darstellt. Die ideologische Verbindung zwischen antisemitischen Attentaten der jüngeren Vergangenheit und rechtspopulistischen und neurechten Narrativen macht das deutlich.[69]
Die Einsicht in den strukturellen Antisemitismus widerspricht zudem der verbreiteten Einschätzung, dass in der gegenwärtigen populistischen Rechten Rassismus oder Islamophobie die Funktion des Antisemitismus übernommen hätten. Vielmehr ist es so, dass die strukturell antisemitische Figur der »globalistischen Elite« diese Funktion übernimmt und neben den rassistischen Zuschreibungen an Muslime, Geflüchtete und Minderheiten steht. Das verweist darauf, dass Rassismus und Antisemitismus nicht einfach nur austauschbare Vorurteile, sondern grundlegend unterschiedliche Deutungsmuster darstellen, die unterschiedliche und in vielerlei Hinsicht komplementäre soziale und sozialpsychologische Funktionen erfüllen.[70]
Im (strukturellen) Antisemitismus stellen »die Juden« bzw. die »globalistischen Eliten« eine identitätszersetzende Übermacht dar, während die »Fremden« eine konkrete und volle Identität repräsentieren, die das – durch die Machenschaften der Elite – geschwächte eigene Kollektiv zu verdrängen droht. Im Rassismus kehrt sich das Verhältnis von Gesellschaft und Gemeinschaft um: hier ist es das Eigene, das mit Modernität, Individualität und Säkularismus identifiziert wird, während die »Fremden« als traditionell und »zurückgeblieben« charakterisiert werden. Ihnen wird in rassistischen Zuschreibungen daher auch keine identitätszersetzende Verschwörung unterstellt. Die Bedrohung, die von ihnen ausgehen soll, beruht auf körperlichen Potenzen (hohe Geburtenraten, physische Gewalt), Gemeinschaftsqualitäten (starke Religiosität, Familienwerte) und der schieren Anzahl.
Diese Differenz zeigt sich auch in den analysierten Texten: Für Gauland ist die Migration zwar die »Gretchenfrage«, an der sich »das Schicksal der europäischen Zivilisation«[71] entscheidet. Doch es sind die »Eliten« – die »Allianz aus internationalistischer Linker und internationalen Unternehmen« –, die das eigentliche Subjekt hinter der Migration darstellen. Sie sind es, die die »Förderung der Migration« und die »Aufweichung nationaler Strukturen« betreiben. Bei Trump ist diese Hierarchie in der Feindbestimmung noch deutlicher: die illegale Einwanderung ist nur eine von mehreren Machenschaften des Establishement. In der gesamten Rede taucht sie nur zweimal auf, in Aufzählungen neben »trade deals« und »globaler« Politik, die Amerika schaden. Diese und viele weitere Beispiele, die sich anführen ließen, verweisen darauf, dass nicht die »Fremden«, sondern die »globalistische Elite« für den gegenwärtigen Rechtspopulismus den absoluten Feind darstellen.[72]
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