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BY-NC-ND 3.0 license Open Access Published by De Gruyter Saur April 3, 2015

Von der Informationskompetenz zur Kulturzugangskompetenz

  • Nando Stöcklin
From the journal Bibliotheksdienst

19. Jahrhundert. Die alte monarchisch und agrarisch geprägte Welt wird durch die Industrialisierung und den modernen Buchdruck umgekrempelt. Monarchien verschwinden, Demokratien entstehen. Informationen werden massenhaft verbreitet, als Flugblätter, Zeitungen, Bücher. Immer mehr öffentliche Bibliotheken versorgen Interessierte mit immer mehr Informationen. Schulen ermächtigen einen Großteil der Bevölkerung, die immer heterogeneren Informationen zu lesen, zu bewerten und zu verstehen und so an der modernen Kultur teilzuhaben. Wer lesen und die Informationen einigermaßen einordnen konnte, erfuhr, wenn irgendwo ein Krieg ausgebrochen war, konnte sich über die politischen Strömungen ein Bild machen, Vertreter in die Regierung wählen und sich abends vielleicht sogar in ein belletristisches Buch vertiefen.

21. Jahrhundert. Die alte demokratisch und industriell geprägte Welt wird durch die von Computern und Internet ausgelöste Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung umgekrempelt. Die Publikation von Informationen ist viel einfacher geworden, das Datenvolumen explodiert förmlich. Die Digitalisierung der allermeisten Daten führt zu einer Konvergenz der Datenspeichermedien wie Papier, Filmrollen oder Negativstreifen. Algorithmen und Programmcodes automatisieren immer mehr Arbeitsprozesse. Das Internet vernetzt beliebige Menschen und Geräte miteinander und ermöglicht Austausch und Zusammenarbeit. Wer ein Kulturzugangsgerät[1] wie Computer oder Smartphone und die entsprechende Kompetenz hat, kann an der modernen Kultur teilhaben, kann Informationen nicht nur rezipieren, sondern auch in einem Blog, auf Twitter oder über WhatsApp publizieren resp. kommunizieren, kann online Testberichte lesen und dann eine schadstofffreie Wickelunterlage von irgendwoher bestellen, kann gemeinsam mit Menschen aus der ganzen Welt an Dokumenten arbeiten oder sich mit Tausenden von Spielbegeisterten Schlachten liefern und kann Geräte miteinander verbinden und mit einigen Zeilen Code Prozesse vereinfachen. All dies kann aber nur, wer kompetent genug ist, den Mehrwert von Computern und des Internets auch auszuschöpfen. Im umfassenden Sinne dürften dies verschwindend wenige sein – die Anforderungen an einen kompetenten Kulturzugang sind in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen.

Benötigt wird Kompetenz – wie auch immer wir die benennen. In der Schule des 19. und 20. Jahrhunderts stand besonders die Rezeption von Informationen im Vordergrund, um die Menschen zur Teilnahme an der Kultur zu befähigen. Lesen für den kompetenten Umgang mit symbolischem Text, Rechnen für den kompetenten Umgang mit Zahlen, Grundlagen in Fachgebieten wie Biologie, Geschichte oder Geografie, um die Zusammenhänge des Geschriebenen zu verstehen. Die Schule selbst war nach demselben Prinzip gestaltet: Der Unterricht war größtenteils lehrerzentriert, die Schülerinnen und Schüler mehrheitlich Konsumenten. Und – könnte man unterstellen – damit bestens vorbereitet auf ihre Rolle als Konsumenten in der industrialisierten Gesellschaft.

Zum Ende des 20. Jahrhunderts tauchen unter dem Einfluss des Computers neue Kompetenzbegriffe auf: Informationskompetenz, Medienkompetenz, ICT-Kompetenz. Alle bezeichnen sie ähnliche Fähigkeiten, jeweils mit einem etwas anderen Fokus. Informationskompetenz beschreibt den kompetenten Umgang mit Informationen, fokussiert also auf die Inhalte, Medienkompetenz fokussiert auf die Medien und ICT-Kompetenz beschreibt den kompetenten Umgang mit den Werkzeugen. Im 21. Jahrhundert verschmelzen Massenmedien wie TV, Radio oder Zeitungen mit dem WWW und es zentriert sich somit alles auf den Computer als Werkzeug, Datenträger und Medium. Medienkompetenz, Informationskompetenz und ICT-Kompetenz überschneiden sich immer stärker und konvergieren zu Begriffen wie Digital Literacy.

Die Kompetenzen konvergieren nicht bloß, sondern ändern sich auch radikal. Die Rezeption von Informationen bleibt zwar bestehen, daneben werden aber die Produktion und Kommunikation von Informationen sowie die breiten Möglichkeiten der Zusammenarbeit über Zeit und Raum hinweg wichtig. Wir müssen auf alle Fälle einen Computer bedienen können, Informationen rezipieren, in geeignete Medienformate aufbereiten und über geeignete Kanäle an ein passendes Zielpublikum kommunizieren. Wir sollten also etwa das Server/Client-Prinzip kennen, Grundprinzipien des Information Retrievals verstehen, in der Lage sein, ein Video zu erstellen, und Bescheid wissen über Bild- und Persönlichkeitsrechte, aber auch deren Grenzen.

Mit Fokus auf das Ziel der Kompetenzförderung wird das Feld noch weiter. Es geht darum, an der Kultur partizipieren zu können. Das umfasst nicht nur eher arbeitsorientierte Elemente wie die Recherche, Zusammenarbeit oder etwa die Bewerbung eines Angebotes, sondern auch Elemente der Unterhaltung. Die Kultur verlagert sich vermehrt ins Internet und verlangt nach entsprechenden Kompetenzen, die sich als Kulturzugangskompetenzen bezeichnen lassen. Dies sind etwa Fähigkeiten der Zusammenarbeit mit wildfremden Menschen aus unterschiedlichsten Kulturkreisen. Oder die Fähigkeit, sich als Knotenpunkt in einem Netzwerk zu positionieren. Oder – in der hohen Dynamik des 21. Jahrhunderts vielleicht am wichtigsten – das Vermögen, sich selbst permanent weiterzubilden.

Wie können all diese Fähigkeiten gefördert werden? Und durch wen?

  1. Zum einen können die Fachexpertinnen und -experten ihren Teil dazu beitragen. Informatikerinnen können informatische Grundprinzipien anschaulich erklären. Die Stärke der Informations- und Bibliothekswissenschaftler liegt bei der Selektion und der Bereitstellung relevanter Informationen. Medienbildnerinnen machen etwa auf soziale und gesellschaftliche Auswirkungen des Medienkonsums aufmerksam oder unterstützen bei praktischer Medienarbeit. Ein Mehrwert ergibt sich besonders bei der gegenseitigen Befruchtung und Ergänzung.

  2. Das kindliche Lernen ist stark durch Spiele geprägt. Um die Kompetenzen der Nutzung von Computer und Internet zu fördern, können entsprechend Videospiele gespielt werden. Bei Massively Multiplayer Online Games (MMOGs) beispielsweise, also beim Zusammenspiel mit Tausenden anderen Spielerinnen und Spielern, können nebst Anwendungsfertigkeiten ausgeprägt auch soziale Kompetenzen gefördert werden, zum Beispiel eigene Interessen zum Wohle der Gilde zurückstellen, andere unterstützen, aber auch sich auf andere verlassen können. Egoistische Eigenbrötler haben in vielen solchen Spielen mittel- und längerfristig keine Chance. Freiraum und Anreize für verschiedenartigste Freizeitaktivitäten – auch mit aktueller Technologie – sind zentral.

  3. Durch Simulieren von ähnlichen Tätigkeiten wie sie in der Arbeitswelt üblich sind. Aber aufgepasst, die Tätigkeiten der Arbeitswelt ändern sich derzeit im Zuge der Automatisierung stark. Besonders Routinetätigkeiten können dem Computer überlassen werden und verschwinden zusehends. Beispielsweise die in den Startlöchern stehenden selbstfahrenden Fahrzeuge dürften schon bald Berufe wie Taxifahrer oder Fahrschullehrer bedrohen. Ökonomische Trendforscher rechnen stattdessen mit einer Zunahme an Jobs, die kreative Problemlösekompetenzen oder soziale Interaktionen verlangen, also Tätigkeiten, die der Computer so schnell nicht übernehmen kann.[2] Entsprechend verändern sich Schulen vermehrt weg vom recht lehrerzentrierten Unterricht, bei dem die Schülerinnen und Schüler primär zuhören, also konsumieren, hin zu einem schülerzentrierten Unterricht, bei dem die Schülerinnen und Schüler deutlich mehr Verantwortung und Selbstbestimmung übertragen bekommen und eigene Projekte umsetzen, anstatt einen vorgegebenen Lerninhalt zu bearbeiten. Dieser Umbruch dürfte in den nächsten Jahrzehnten noch deutlich konsequenter vollzogen werden.

Auch Bibliotheken sind von der zunehmenden Automatisierung betroffen. Die Ausleihe dürfte angesichts der Daten-Verlagerung ins WWW ganz verschwinden.[3] Die Mitarbeiterin an der Theke dürfte entsprechend freie Kapazitäten für andere Aufgaben haben. Bibliotheken haben aber insgesamt vielfältige Möglichkeiten, ihre Expertise und ihre Ressourcen in den neuen Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts einzubringen und zur Förderung der Kulturzugangskompetenz beizutragen. Ihre Expertise betrifft besonders die Rezeption und gerade die Unterstützung bei der Recherche dürfte auch in Zukunft gefragt sein. Zusätzlich könnten Bibliotheken vermehrt Angebote bereitstellen zur Unterstützung bei der Produktion von Informationsprodukten, für Kommunikationsprozesse oder zur Zusammenarbeit. Das Bereitstellen von flexiblen Projektarbeitsplätzen samt Projekt-Coaching nach Bedarf ist dabei nur eine von vielen Ideen.

Danksagung des Autors

Werner Hartmann und Oliver Ott bereicherten diesen Beitrag mit ihren kritischen Anmerkungen. Vielen Dank!

Zum Autor

siehe http://www.nandostoecklin.ch/

Published Online: 2015-04-03
Published in Print: 2015-04-30

© 2015 by De Gruyter

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.

Downloaded on 5.12.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/bd-2015-0061/html
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