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Publicly Available Published by De Gruyter Saur August 7, 2015

Lesestrategien für digitale Medien

  • Berbeli Wanning

    Prof. Dr. Berbeli Wanning

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From the journal Bibliotheksdienst

Zusammenfassung:

Der Beitrag beschreibt die Struktur von Hypertexten und erklärt die zusätzlichen Kompetenzen, die das nicht-lineare bzw. performative Lesen im Vergleich zum herkömmlichen Lesen erfordert. Daraus ergeben sich Einblicke in die spezifischen Lesevorgänge der literarischen Form des Hypertextes (Hyperfiction). Hier kommt es auf den dynamischen Zusammenhang von gelesenem Text, Lesestrategien und lesender Person an. Ein Ausblick sowie eine kritische Einschätzung schließen den Beitrag ab.

Abstract:

The article describes the structure of hypertexts and explains the additional competences required for non-linear or performative reading as compared to conventional reading. Thus insights into the specific reading processes of the hypertext as a literary form (hyperfiction) are gained. They depend on the dynamic connection between the text read, reading strategies and the person reading. A prospect and a critical assessment conclude the article.

1 Einleitung

Die Existenz von Computern bedeutet für die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Texten einen Einschnitt, wie er zuvor nur durch die Erfindung des Buchdrucks geschah. Längst hat der elektronische Text Einzug in den Alltag gehalten, wie ohnehin durch das Internet Kommunikation im Vergleich zum „Telefonzeitalter“ stärker schriftbasiert ist. Die auffälligste Änderung gegenüber früheren Zeiten ist jedoch, dass Texte nun zusätzlich in der Form eines elektronischen Hypertextes präsentiert werden, welcher notwendig ein anderes Leseverhalten verlangt, als es die Leser vom gedruckten Text her gewohnt sind.

Um Hypertexte und deren literarische Formen angemessen verstehen zu können, sind digitale Lesestrategien notwendig, in denen sich die veränderten Bedingungen widerspiegeln. Der Beitrag behandelt das Thema „Digitales Lesen“ aus drei Perspektiven. Zunächst geht es um die Struktur der Hypertexte (was wird gelesen?), sodann um die Lesestrategien (wie wird gelesen?) und abschließend um die neuen Anforderungen an die Lesekompetenz (wer liest?).

2 Digitales Lesen – was?

Digitale Medien haben durch ihre technischen Möglichkeiten den Textbegriff erweitert. Diese Übersicht veranschaulicht die Unterschiede stichwortartig:

Tab. 1: Unterschiede zwischen Printtext und digitalem Text.

PrinttextDigitaler Text
WorttextWorttext
Bilder/Abbildungen/GraphikenBilder/Ton/Video/bewegte Graphiken
(evt.) FußnotenLinks

Der Printtext kann einen gewohnten, aus Worten bestehenden Text mit Bildern etc. ergänzen. Als einziges nicht-lineares Element kann er über Fußnoten verfügen, die allerdings in einer hierarchischen Beziehung zum eigentlichen Text stehen: Stets kann der Leser erkennen, ob er sich im Bereich der Fußnoten befindet, die meist unterhalb oder am Ende des Haupttextes stehen und nicht die wesentlichen, sondern zusätzliche Informationen zum Haupttext enthalten, also z. B. Quellenangaben oder nebensächliche Aspekte. Von den Fußnoten gibt es einen direkten Weg zurück, und es ist auch möglich, die Fußnoten zu ignorieren, ohne dass das Textverständnis leidet. Bilder, Abbildungen usw. nutzt der Printtext als Ergänzung oder Illustration. Sollen Töne einen Printtext begleiten, müsste ein weiteres Medium hinzugezogen werden, das nicht printtextspezifisch ist.

Anders beim digitalen Text: Hier können nicht an den Worttext gebundene Teile unmittelbar mit diesem verknüpft werden, sie sind nicht nur als Ergänzung, sondern auch als Ersatz möglich. Der Hypertext ist prinzipiell nicht-linear, besser ausgedrückt: multilinear, organisiert. Hypertexte sind also textuelle Gebilde mit ganz spezifischen Eigenschaften, die über die gebräuchliche Vorstellung, was ein „Text“ ist, hinausgehen. Begriffliche Differenzierungen sind nötig, um diese Unterschiede deutlich zu markieren, jedoch ist kein neuer Textbegriff als solcher erforderlich.[1] Die medialen Bedingungen sind verändert sowie die Art der Verknüpfung zwischen den nun potentiell medial verschiedenen Textteilen bzw. Textelementen: So kann beispielsweise ein geschriebener Text enden und in einen gesprochenen übergehen. Schriftliche Texte können in Bildern erscheinen, Töne begleiten die zu lesenden Sequenzen usw. Dies ist nicht digitalspezifisch, sondern bereits vom Film her bekannt. Anstelle der herkömmlichen Fußnoten verfügt der digitale Text über Links, welche die technische Möglichkeit seiner vielfältigen Verknüpfungen darstellen. Über einen Link gelangt man zu einem anderen Text, welcher wiederum aus Worten, Bildern, Tönen, Videos bestehen kann. Anders als bei einer Fußnote ist das Verhältnis zwischen durch Links verbundenen Texten jedoch nicht zwingend hierarchisch. Der Leser ist also mit einer ganz anderen Struktur konfrontiert. Der digitale Text offeriert multimediale Zugänge, die verschiedenen Möglichkeiten, Texte zu verbinden stehen nebeneinander. Dadurch kann der Leser prinzipiell die Lesewege gehen, die er sich selbst aussucht. Er nutzt dabei das vom Autor des digitalen Textes verfasste Werk nur als ein Angebot zur Kombination. Sind sie aufeinander bezogen, z. B. wenn ein digitaler Text von der Schrift- in die Sprachform wechselt, ist das Angebot hypermedial. Dann sollten alle im Text medial vorhandenen Formen rezipiert werden, um das Textverständnis zu gewährleisten, aber auch das ist aufgrund der fehlenden Hierarchie der Zuordnungen, wie sie das Verhältnis von Haupttext und Fußnote bestimmen, nicht zwingend notwendig. Also kann der Leser prinzipiell die Lesewege gehen, die er sich selbst aussucht. Er nutzt dabei das vom Autor des digitalen Textes verfasste Werk nur als ein Angebot zur Kombination, die ihm durch die angezeigten Links ermöglicht wird. Das Verhältnis von Autor und Leser ändert sich erheblich. Während der Autor weniger Kontrolle über seinen Text hat, weil der Leser eigene Lesepfade beschreitet, hat dieser allerdings auch weniger Orientierung.

Die Differenz zwischen dem traditionellen Text und dem Hypertext lässt sich in folgender Übersicht darstellen:

Tab. 2: Unterschiede zwischen traditionellem Text und Hypertext.

Traditioneller TextHypertext
Autor bestimmt, was der Leser lesen kannAutor bestimmt Navigationsprozess nur begrenzt
Fußnoten weisen über Text hinaus, dann auf diesen zurückLinks zum Verweistext ohne zwingende Rückkehr
Leser bleibt beim Text oder bricht abLeser kann ohne Abbruch „verschwinden“
Text ordnet sich über Fußnoten andere Texte zu Hypertext ordnet sich in andere Hypertexte ein

Links sind Merkmal und integraler Bestandteil des Hypertextes, sie haben eine Dreifachfunktion: Sie sind nicht nur Teil des Textes, sondern auch Index eines anderen Textes und zugleich ist von jedem Link der „Absprung“ in den anderen Text unmittelbar möglich. Links haben damit eine besondere Bedeutung für den Hypertext als „Schnittfeld von Absprungs- und Ankunftsort.“[2] Durch ihre Struktur und die tatsächlich im Leseprozess erfolgende Linkaktivierung wird der Text überhaupt erst erzeugt. Dies hat den folgenden Grund: Anders als beim gedruckten Text sind im Hypertext nicht alle vorhandenen Informationen sichtbar, was zu einer Instabilität des vorhandenen Hypertextes führt: Man weiß nicht, was sich in ihm noch realiter verbirgt, aber in der Darstellung unterdrückt wird. Der jeweils sichtbare Text ist im Prinzip so rezipierbar wie der herkömmliche auch, aber das Wissen um die verborgenen Zeichenstränge, deren Existenz durch die Links markiert wird, irritiert. Digitale Texte enthalten Scriptons (Zeichenstränge, wie sie sich dem Leser präsentieren, wenn er sie aufruft) und Textons (Zeichenstränge, wie sie im Text existieren, weil der Autor sie festgelegt hat).[3] Im traditionellen Text fallen Scriptons und Textons zusammen und werden daher gar nicht unterschieden. Im Hypertext jedoch organisiert der Leser einen eigenen Lesepfad anhand der Scriptons, die er durch Aufruf der nur als Link, d. h. als Lesemöglichkeit angezeigten Textons hat entstehen lassen. In der Regel werden bei der Lektüre weder alle Textons aufgerufen noch hat man einen Überblick, welche und wie viele insgesamt existieren. Erst im Leseakt kommt ein Teil davon als Scriptons an die Oberfläche. Der Text konstituiert sich erst durch das Lesen und existiert als solcher davon unabhängig eigentlich gar nicht. Das nicht-lineare Lesen, das auch performativ genannt wird, ist somit die Bedingung der Möglichkeit von Hypertexten.

3 Digitales Lesen – wie?

Wie wir eben gesehen haben, ist der Hypertext als solcher bereits eng mit dem Leseprozess verbunden. Das hängt mit seiner doppellagigen Struktur und den im Vergleich zum traditionellen Text veränderten Ordnungen zusammen.[4] Diesen Bedingungen der Hypertexte unterliegen auch Hyperfictions, wie literarische Hypertexte üblicherweise genannt werden. Diese literarische Form verwandelt die bekannten Merkmale und Kennzeichen von Erzählungen, Gedichten oder Dramen in offene Strukturen, die sich in für den Leser oft unerwartete Wendungen auflösen. Vielfältige Rezeptionswege entstehen durch die Möglichkeit, im Text zu springen. Der Leser wird dabei durch seine Auswahlentscheidungen zum Mitproduzenten des Textes. Hyperfictiontexte sind wie alle literarischen Texte mehrdeutig, aber zugleich sind sie mehrförmig wie Hypertexte, deren Grundstruktur oben kurz dargestellt wurde. Sie haben deshalb einen Doppelcharakter und fordern den Leser heraus, stellen sie doch Ansprüche an ihn, die eine Erweiterung der Lesefähigkeiten einfordern. Die Qualität der Texte, die fiktional und poetisch sind, hängt nun nicht mehr nur von der künstlerischen Sprachverwendung oder dem intelligenten Aufbau der Handlung ab, sondern auch von der Art des Linkeinsatzes. Dadurch wird eine weitere Interpretationsebene in den Text eingezogen, was dem Leser vielfältigere Möglichkeiten bietet, den Inhalt zu verstehen. Zugleich ist die Lektüre schwieriger zu realisieren, weil die Verknüpfungen von Inhalt und Form nun noch durch die technische Umsetzung via Links gesteigert werden und entsprechend unübersichtlich sein können.

Gravierende Änderungen in den Lesegewohnheiten, ja sogar im Verständnis dessen, was bisher mit „lesen“ bezeichnet wurde, sind zugleich Folge und Bedingung der Hyperfiction. Die diskursive Form des Hypertexts verlangt das relationale oder performative Lesen, ständige Unterbrechungen des gewohnten Leseflusses, Abschweifungen und Zerstückelungen. Es ist offen ersichtlich, dass allein hiermit schon hohe Anforderungen an die Lesekompetenz gestellt werden. Die Folgen der veränderten Lesetechnik sind aber so weitreichend, dass sie das Verhältnis von Leser und Text insgesamt betreffen. Ist in der linearen Literatur der Text Garant für eine gewisse inhaltliche Kohärenz und formale Stringenz, die im Prozess des Lesens gewissermaßen aktiviert wird, so verlagert sich diese Funktion nun in das lesende Subjekt selbst, das den Text nicht mehr als einen „fertigen“ vorfindet, sondern ihn allererst selbst lesend gestalten muss. Und dies gilt im Wortsinne: nicht nach-gehend oder nach-denkend oder nach-spürend findet sich der Leser im Text zurecht, sondern er muss seine Lesepfade selbst anlegen. Nicht durch einfaches Seitenumblättern wird der Fortgang der Geschichte erreicht, sondern über einen Link begibt sich der Leser auf einen weitaus ungewisseren, die Episode auf eigene Initiative verändernden Weg. So verändert sich der sichtbare Text auch materialiter, wie oben beschrieben. Eine Erzählung oder ein Gedicht hinterlassen in der Imagination des Lesers eine kohärente Spur. Dieser folgend, kann er Entscheidungen über den Text treffen, die er durch Klicken umsetzt. Das wiederum führt zu einer Veränderung des sichtbaren wie des unsichtbaren Textes, der gleich einer persönlichen Collage immer wieder neu strukturiert werden kann. Klicken ist zwar genauso wenig lesen wie umblättern, aber dennoch eine beim Lesen von Hyperfiction unverzichtbare Bewegung. Nur durch Einbindung von Links sind Hypertexte lesbar. Sie müssen interaktiv genutzt werden. In einer Hyperfiction können hunderte solcher Entscheidungen auf den Leser zukommen, auf die er sich – will er vorankommen – wohl einlassen muss. Niemals bietet sich ihm ein Gesamtüberblick.

Hinzu kommt, dass der Leser selbst schreiben kann und soll und dass sich z. B. in sogenannten Mitschreibeprojekten der Kreis der Leserschreiber bzw. Schreiberleser erheblich erweitert. Durch diese Möglichkeit entsteht eine Art schriftliche Form des gemeinsamen Erzählens, wie sie bereits im Grundschulalter eingeübt wird als mündliche Kompetenz.[5] Forschungen haben schon vor zehn Jahren belegt, dass hier die Erweiterung der Erzählkompetenz mit Blick auf die symmediale, d. h. auch schriftliche Kommunikation zu einer erheblichen Kompetenzsteigerung führen kann.[6] Eine besondere Form der Co-Autorschaft entsteht auf diese Weise, der Leser wird zum wreader (Zusammenziehung aus writer und reader) oder produser (statt producer in Anlehnung an das für den Computernutzer etablierten Begriff user) der Lektüre. Diese Kunstwörter bzw. Wortspiele verdeutlichen den Wandel der Lesegewohnheiten durch digitale Literatur.

Die Assoziationen des Lesers setzen das Bedürfnis frei, in andere Dimensionen des Textes zu gelangen, so dass sich individuelle Lesewege ergeben. Eine „gültige“ Lesart mit vorgegebener Reihenfolge gibt es nicht mehr. Durch die gesondert begehbaren Lesepfade ist der gleichsam „natürliche“ Anfang einer Geschichte ebenso verschwunden wie das Ende. Ausgangspunkte werden jetzt individuell definiert. Man kann diese Ausgangspunkte fixieren, wenn man zu ihnen zurückzukehren wünscht, und auf diese Weise einen kreisförmigen Gang durch den Text absolvieren. Man kann aber auch einzelne Wege verbinden oder diese ins Leere laufen lassen, man kann dem Text entfliehen und in einen anderen springen. Immer neue Kombinationsmöglichkeiten stehen bereit, die den assoziativen Leseverlauf bestimmen, dessen Grundstruktur einschließlich der wählbaren Varianten vom Autor vorgegeben wird. Von einem zwangsläufigen Ende der Autorschaft kann man im Zusammenhang mit Hyperfiction deshalb nicht sprechen, wohl aber davon, dass dem Leser durch seine Aufgabe, kohärente Verbindungen der Textfragmente herzustellen, eine Art Mitautorschaft zufällt, wodurch die bisher getrennten Rollen ineinander übergehen.

Durch die Links nimmt der Autor direkt Einfluss auf das Rezeptionsverhalten des Lesers. Um dessen Freiheit im Umgang mit dem Text nicht grenzenlos werden zu lassen, kann er z. B. konditionale Links einsetzen, die dem Leser nur dann weitere Hyperlinks aufzeigen, wenn er genau festgelegte Textelemente zuvor bereits gelesen hat. Auch durch bestimmte Programmierungen kann ein Text so generiert werden, dass der Leser keine Möglichkeit des technischen Eingriffs hat, die der Autor nicht wünscht. Die linktechnische Verbindung ist entweder intern oder extern geschaltet. Interne Links steuern nur Verweise innerhalb des Textes an. Setzt der Autor jedoch externe Links zu prinzipiell offenen Internetseiten, wird sein Text potentiell unendlich. Der Leser kann dann abdriften, weil er allein über die Links der neu verbundenen Texte nicht mehr zu seinem Ausgangspunkt zurückfindet.

Nun ist er auf das Browser-Protokoll angewiesen. Nur dank der gelegten Spur, die der Browser automatisch protokolliert (history), kann das zuvor Gelesene gegebenenfalls zurückverfolgt werden (retracing), um sich einer zweiten Lektüre (rereading) zu stellen. Durch das Protokoll wird dieser ursprünglich mentale Prozess materialisiert, und dem Text wird die Gestalt gegeben, in der er tatsächlich gelesen wurde. Auf diese Weise können Navigationsverläufe und individuelle Rezeptionswege bis hin zu typischen Rezeptionsmustern sichtbar gemacht werden. Allerdings erkennt das Browser-Protokoll das spezifisch Literarische des Rezeptionsprozesses fiktionaler Hypertexte nicht. Ebensowenig kann es die semantische Polyvalenz gesondert ausweisen, sondern es kann nur den Datenverlauf der geklickten Seiten rekonstruieren. „Aus welchem Grund ein bestimmter Nutzer zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Aktion ausgeführt hat, geht aus den Daten selbst nicht hervor.“[7] Daher lassen sich keine unmittelbaren Rückschlüsse auf das tatsächliche Textverständnis ziehen, hier muss der Leser auf seine persönlichen Erinnerungen vertrauen.

Wer auch immer konkret den Text verfasst, für Hyperfiction gilt das Schlagwort: Topografie vor Chronologie. Während des Leseprozesses muss der fiktive Raum auch tatsächlich konstruiert werden bzw. es müssen verborgene Textons zu aufgerufenen Scriptons werden. Die zeitlichen Ebenen als hauptsächliches Strukturierungsprinzip einer traditionellen Erzählung werden dergestalt durch räumliche Ebenen abgelöst. In der Zeit wird jeweils eine der angebotenen Möglichkeiten realisiert, d. h. gelesen. Die Verknüpfung der räumlichen mit der zeitlichen Dimension erfolgt über das Prinzip des Lesepfades (auch Leseweg genannt). Diese Pfade sind in der digitalen Lektüre nicht nur Mittel zum Zweck, sondern oft schon das Ziel. Durch sie sollte sich ein plausibler Zusammenhang der Textfragmente herstellen, was den wohl deutlichsten Unterschied im Vergleich zu linearen Büchern markiert, bei denen Umblättern genügt. Sind literarische Texte im Netz ohnehin schon digitale Textanschlüsse markiert, werden sie nun auf vielfältige Weise verwertbar, weil sich der Text insgesamt auf mehreren Plateaus bewegt, die eher verflochten als geschichtet sind.

4 Digitales Lesen – wer?

Performatives Lesen verlangt eine Kompetenz, die über die linearen Lesefertigkeiten hinausgeht. Insofern wird durch diese neue Lesetechnik manche Sicherheit erschüttert, die den an lineares Lesen Gewöhnten selbstverständlich ist. Die Unterschiede fallen also vor allen denjenigen auf, für die das nicht-lineare Lesen eine Erweiterung ihrer Fähigkeiten darstellt, und das sind praktisch alle Erwachsenen, Jugendlichen und älteren Kinder.

Der Erwerb der Lesekompetenz und damit der Umgang mit Literatur wird sich jedoch für die Kinder, die jetzt im Leseanfängeralter oder noch jünger sind, wahrscheinlich erheblich verändern, allerdings ohne dass ihnen selbst dieses allzu bewusst wäre. Kinder, die ihre Lesefähigkeiten von Anfang an auch an Hypertexten schulen, werden ein anderes Gespür für die Erfassung textlicher Zusammenhänge entwickeln und sich so auf die Anforderungen der komplexer werdenden Lektüre von Hypertexten und Hyperfiction vorbereiten. Werden durch sinnbildendes performatives Lesen die inhaltlichen Zusammenhänge einer Geschichte entdeckt, so erfordert es logisches Denken, um im Hinblick auf das Ende einer Episode oder auf den Fortgang der Handlung Vermutungen anzustellen. Dies sind die Kompetenzen, die Kinder, deren Lesefähigkeiten von Beginn an auch an Hypertexten erprobt werden, erwerben. Sie werden in dieser Darstellungsform nicht nur nach konventionellen Strukturen von Chronologie und Abfolge suchen, sondern neue, multiple und netzstrukturartige Zusammenhänge erschließen. Die neuen Möglichkeiten der Verknüpfung von Textteilen bieten noch nie dagewesene Lesarten, welche assoziativer und vielfältiger als linear zu lesende Texte sein können. Die Leser von Hypertexten bzw. Hyperfiction müssen mehr Verantwortung bereits im bloßen Umgang mit dem Text übernehmen, schließlich sind sie es, die ihn in der gelesenen Form erst konstruieren. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Leser von Hypertexten bzw. Hyperfiction einer dreifachen Qualifikation bedarf:

  1. Kognitiv: Er muss Inhalte erschließen durch Rezeption.

  2. Kreativ: Er muss durch performatives Lesen individuelle Lesepfade beschreiten.

  3. Produktiv: Er muss schreibend-lesend selbst gestalten.

Wenn Produktion und Rezeption zu integrativen Bestandteilen des Leseprozesses werden, der nur durch deren schrittweise Verschränkung überhaupt erst voranschreitet, dann müssen die Lese- und Schreibkompetenz in ihrem Zusammenspiel stärker gefördert werden. Die Teilnahme an Kommunikationsprozessen im Internet ist nur möglich, wenn man beides, Lesen und Schreiben, beherrscht. Die Lektüre und intensive Auseinandersetzung mit Hyperfiction ist zugleich eine sehr gute Denkschulung auf mehreren Ebenen, was sich schon aus der hypertextuellen Struktur und den vielfältigen kreativen Anforderungen ergibt, allen voran die individuelle Anlage der Lesepfade. Wer diese Aufgaben erfolgreich bewältigt, hat sein Selbstwertgefühl gesteigert. Aber auch derjenige, dem es nicht auf Anhieb gelingt, sich in der neuen Lesewelt zurechtzufinden, profitiert, wenn er nicht allein gelassen wird. Zum einen erhöht sich die Frustrationstoleranz, zum anderen wird der spätere Erfolg deutlicher sichtbar, wenn er aus der Überwindung von Schwierigkeiten erwächst. Wie bei jedem Kompetenzerwerb kommt es auf die Mischung von Versuch, Erläuterung und Anleitung sowie Übung an. Doch am Ende steht die Beherrschung der digitalen Lesestrategien und damit eine wichtige persönliche Voraussetzung, die Zukunft der modernen Kommunikation mitgestalten zu können.

Grundsätzlich bringen alle Medien Vorteile für das soziale Miteinander. Ihre Nutzung verbindet Menschen und fördert Wissen und Kultur.[8] Die zahlreichen Medieninnovationen künden auch von einem permanenten Medienwandel. Während Hypertexte aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken sind, ging die Bedeutung der Hyperfiction im öffentlichen Diskurs und in Schule und Unterricht zuletzt zurück. Aus dem „Goldenen Zeitalter“ der Hyperfiction vor gut zehn Jahren erwuchs bedauerlicherweise keine sehr große Leserschaft für diese Literaturform, die auf Hyperlinks basiert. Dies mag ein Resultat der Schwierigkeiten und erhöhten Anforderungen sein, die die Hyperfiction-Lektüre mit sich bringt. Der unbestimmte Charakter der Texte und deren scheinbare Offenheit übertragen viel Verantwortung auf den Leser. Darunter leidet die „Leichtigkeit“ des Lesens, die Herausforderung der Hyperfiction ist größer als die des Printtextes. Die vor zehn bis 15 Jahren vorhergesagten Erfolge der digitalen Literatur sind bisher nicht eingetreten, von einem Siegeszug kann man schon gar nicht sprechen.[9]

Die Chancen interaktiven Erzählens werden deshalb von der Fachdidaktik und Lesekompetenzforschung teils skeptisch gesehen. Dabei wird allenfalls dem dialogischen Erzählen mit digitalen Medien noch eine höhere didaktische Relevanz eingeräumt.[10] Es gibt aber auch Stimmen, die das fiktionale Potential der Hypertexte höher einschätzen, besonders dessen Merkmal der Interaktivität, und gerade die inhärente dialogische Struktur als großen Vorteil ansehen: Der Leser hat durch die Wahlmöglichkeit der Links die Chance, mit dem Text konkret in eine Art von Konversation zu treten, sofern er die oben näher beschriebenen Fähigkeiten dazu entwickelt hat. Zu den neuen Wegen, literarische Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien zu vermitteln, zählt das Protagonize!-Erzählkonzept, das vor allem eine Engführung der Lese- und Schreibkompetenzen verlangt und beide in einem wechselseitigen Prozess fördern will, der nur unter Einsatz der digitalen Medien funktioniert.[11] Wenn die Komplexität der Hypertexte auf eine duale Struktur didaktisch reduziert wird, gewinnen die Hyperfiction, die diesem dualen oder „tree fiction“-Schema folgen, mehr Leser.[12] Hier werden die neuen Lesekompetenzen auf einem mittleren Niveau herausgefordert. Es gibt also einige Ansätze, die digitale Lesekompetenz auch literarischer Texte aus ihrem „Nischendasein“ herauszuführen. Hier wird die Zukunft zeigen, wie sich Kompetenz, Nutzung und Angebot zusammen entwickeln werden. Bisherige Trends weisen in die Richtung, dass Erzählen, Lesen und Schreiben als Anforderung und digitale Spiele zusammenwachsen. Neue Entwicklungen im Bereich der Hardware, z. B. VR-Brillen, deuten auf weitere Medieninnovationen hin. Vielleicht steht auch ein Medienumbruch bevor, wenn diese neuen technischen Erfindungen im Zusammenwachsen mit dem „alten“ elektronischen Medium Fernsehen zu ganz anderen Mediennutzungsgewohnheiten führen werden. Von den Lesern bzw. Usern wird aber weiterhin eine hohe persönliche Kompetenz im Bereich der Basisqualifikationen erwartet, die sich ständig weiterentwickeln müssen.

About the author

Berbeli Wanning

Prof. Dr. Berbeli Wanning

Prof. Dr. Berbeli Wanning:

Published Online: 2015-08-07
Published in Print: 2015-08-17

© 2015 by Walter de Gruyter Berlin Boston

Downloaded on 5.6.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/bd-2015-0109/html
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