Zusammenfassung:
Der Sachstand bei der Darstellung des Berufsbildes „wissenschaftlicher Bibliothekar“ wird zusammengefasst und die betreffende Berufsgruppe in den konkreten berufspraktischen Kontext eingeordnet. Die Schlüsselbegriffe „Bildung“, „Wissen“ und „Wissensgesellschaft“ werden in ihrer gesellschaftlichen Rolle geprüft und in Beziehung zu aktuellen Positionen und Entwicklungen im Bibliothekswesen gesetzt. Durch eine konstruktive Auseinandersetzung mit ihrem komplexen Umfeld müssen Bibliotheken Klarheit gewinnen, um ihre Zukunft zu gestalten. Entscheidend dabei ist die Definition der Aufgaben, aus denen sich dann Berufsbilder herleiten.
Abstract:
The following article summarizes the situation in describing the profession of a “scientific librarian” and places the occupational group concerned into the concrete occupational context. The keywords “education”, “knowledge” and “knowledge society” are examined for their role in society and are put into relationship with current positions and developments in the library system. Libraries have to seek clarification through a constructive discussion with their complex environment in order to arrange their future. The crucial factor is the definition of the tasks from which then derive outlines of the professions.
Zum Stand der Diskussion
Das Schlagwort „Bologna“ ist in aller Munde seit 1999 an diesem Ort die Bildungsminister von 29 europäischen Staaten beschlossen, bis 2010 einen einheitlichen Hochschulraum in Europa zu schaffen. Über die Wirkungen und Auswirkungen auf Universitäten, Hochschulen und den damit verbundenen Bereichen wird seitdem kontrovers diskutiert. Bologna macht stellvertretend deutlich, dass Wissensgesellschaften gesellschaftlich-politische Kontexte haben. Wenn dieser Gedanke auch kaum so direkt ausgesprochen wird, so ist historisch belegbar, dass Wissensgesellschaften in erster Linie Organisationsgesellschaften sind, die natürlich je nach Kultur unterschiedlich fundiert sein können.[2]
All das wirkt bis in die Praxis und den Alltag wissenschaftlicher Bibliotheken hinein, denn folgerichtig werden auch Bildungsbegriff und Bildungsinhalte entsprechenden politisch-gesellschaftlichen Interessen angepasst. Damit kann wiederum der Wissensbegriff an sich im Bildungsbereich leicht durch Kompetenzbegriffe ersetzt werden, die kaum noch mit Wissenspotenzialen korrespondieren. Dadurch gerät folgerichtig das Humboldt’sche Bildungsideal immer mehr ins Abseits.
Dieser Aufsatz möchte am Beispiel des mit der Universität eng vernetzten Berufsbildes eines „wissenschaftlichen Bibliothekars“ konkrete sachbezogene Überlegungen aus der Praxis einbringen und zugleich Impulse für fach- und zeitgemäße Anforderungen anschließen. Es geht also um Kontexte, in die das Berufsbild eingebettet werden sollte, um gesellschaftlichen Entwicklungen konstruktiv Rechnung zu tragen. Andererseits sind klare Vorstellungen zur Spezifik dieses Berufsbildes notwendig, um sich von anderen Berufsbildern abzugrenzen und letztlich für die Zukunft tragfähig zu sein.
Die Vielzahl der zum Teil konträr geführten Diskussionen und Publikationen in den letzten Jahren macht die aktuelle Brisanz der Thematik sichtbar. Das Berufsbild des „wissenschaftlichen Bibliothekars“, das aus den philologischen Traditionen an Universitäten hervorgegangen ist, präsentiert sich dabei nicht selten im Zwiespalt zwischen Notwendigkeit zur eigenen Verortung und Überdruss. Einen fundierten Überblick zur 200-jährigen Berufsbild-Debatte haben Siebert/Lemanski[3] 2014 vorgelegt. Zudem widmete sich der Verein Deutscher Bibliothekare (VDB) in den vergangenen Jahren im Rahmen von unterschiedlichen Veranstaltungen intensiv diesem Thema.[4]
Ähnliche Diskussionen hat es auch in der Schweiz und in Österreich gegeben, wo dieses Berufsbild ebenfalls historisch gewachsen ist. Von zwei Berufsverbänden wurden 2013 und 2014 Statements zum „wissenschaftlichen Bibliothekar“[5] veröffentlicht, die insbesondere die Qualifikation als wissenschaftliche Bibliothekarin/wissenschaftlicher Bibliothekar thematisierten bzw. dieser Interessengruppe „eine Stimme gaben“.
Ein Berufsbild kann verschiedene Zwecke erfüllen: Es kann über den Beruf informieren, es kann als Grundlage für praktisches Handeln dienen (z. B. zur beamtenrechtlichen Festlegung der Laufbahn) oder zur Stiftung von Identität innerhalb eines Personenkreises.
Überlegungen zum Berufsbild und zur Bestimmung des zugehörigen Personenkreises
Aus der Benennung eines Berufsbildes sollte deutlich hervorgehen, auf welche Berufsgruppe es sich bezieht. Es ist aber zu beobachten, dass der Begriff „wissenschaftlicher Bibliothekar/wissenschaftliche Bibliothekarin“ zunehmend seltener gebraucht wird. In aktuellen Stellenanzeigen taucht der Begriff kaum mehr auf. Als Abschluss einer Ausbildung wird er ersetzt durch akademische Grade bzw. beamtentechnisch als Laufbahn-Profil umschrieben. Bei Eingruppierung und Besoldung wird ebenfalls mit anderen Termini gearbeitet. Einzig in Diskussionen um das Berufsbild wird der Begriff strapaziert. Im Alltag von Bibliotheken finden hingegen verschiedene Begriffe für das Berufsprofil Verwendung: Der Begriff „wissenschaftlicher Dienst“ meint i. d. R. die Fachreferentinnen und Fachreferenten in einer wissenschaftlichen (zumeist Universitäts-) Bibliothek oder auch den höheren (Bibliotheks-) Dienst. Zur Erinnerung: Das Fachreferat bildete jahrzehntelang den Einstieg in den höheren Bibliotheksdienst. Zudem war zum Ergreifen dieser Laufbahn eine Laufbahnprüfung abzulegen. Mit Beginn des neuen Jahrtausends wurden in vielen Bundesländern und auch beim Bund in den Laufbahnverordnungen die Zugangsvoraussetzungen für den höheren Bibliotheksdienst vereinfacht. Gleichzeitig werden immer weniger Personen in Bibliotheken verbeamtet. So gibt es auch im höheren Bibliotheksdienst inzwischen sehr viele Angestellte.
Der Fachreferent/die Fachreferentin ist eine Person, die in Hochschulbibliotheken ein Wissenschaftsfach oder mehrere betreut, d. h. im Idealfall Literatur und Medien für dieses Fach erwirbt und verwaltet, die sachliche Erschließung vornimmt und in geeigneter Form den fachlichen Bestand vermittelt bzw. den Nutzer auf verschiedene Weise unterstützt bei der Recherche von fachlicher Information. In einigen Bibliotheken, die vor allem die Forschung unterstützen, gibt es ebenfalls einen wissenschaftlichen Dienst, der der fachlichen Ausrichtung der Bibliothek entsprechend in Referaten aufgestellt ist, z. B. in Epochenreferaten u. Ä.
Bei Betrachtung der aktuellen Situation stellt man fest, dass Personen im höheren Bibliotheksdienst schon länger keine Fachreferenten mehr sein müssen. Sie können in leitenden Funktionen tätig sein, in Projekten arbeiten oder aber auch in der Bibliotheks-IT beschäftigt sein. Umgekehrt gibt es viele Beschäftigte in großen öffentlichen Bibliotheken, die formal für den höheren Bibliotheksdienst befähigt sind, weil sie ein Wissenschaftsfach studiert und eine einschlägige bibliothekarische Ausbildung absolviert haben. Sie arbeiten nun aber in leitenden Positionen und sind nicht mehr in eine wissenschaftliche Bibliothek oder ein Fachreferat eingebunden.
Das heißt, würde der Begriff „wissenschaftlicher Bibliothekar/wissenschaftliche Bibliothekarin“ in seiner ursprünglichen Bedeutung gebraucht für den Personenkreis, der in wissenschaftlichen Bibliotheken arbeitet und zugleich wissenschaftlich tätig ist (z. B. Forschen, Publizieren oder durch das Abhalten von universitären Lehrveranstaltungen in Curricula eingebunden), dann wäre der Begriff exakt nur noch für einen kleinen Personenkreis zutreffend.
Meint der Begriff hingegen Personen, die in wissenschaftlichen Bibliotheken arbeiten, dann wäre die Rede von einem sehr großen Personenkreis, nämlich Bibliothekarinnen und Bibliothekaren in Universitäts- und Hochschulbibliotheken, in Fachhochschulbibliotheken, in Forschungsbibliotheken, in Bibliotheken von wissenschaftlichen Einrichtungen (Spezialbibliotheken) und auch in Universalbibliotheken wie der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz und der Bayerischen Staatsbibliothek in München sowie der Deutschen Nationalbibliothek.
Einen Überblick zu Personalstellen in wissenschaftlichen Bibliotheken gibt die Deutsche Bibliotheksstatistik (Kategorien 215–218). Mit Stand vom 21.08.2015 stellt sich die Situation bei den 341 der Kategorie zugeordneten und ausgewerteten Bibliotheken wie folgt dar:
Tab. 1: Personalstellen an den wissenschaftlichen Bibliotheken.
1999 | 2002 | 2005 | 2008 | 2011 | 2014 | Differenz zwischen 1999 und 2014 in % | |
höherer Dienst | 1578,05 | 1487,59 | 1439,43 | 1505,18 | 1462,81 | 1467,08 | – 7,03 |
gehobener Dienst | 4645,84 | 4539,79 | 4591,29 | 4606,44 | 5089,12 | 4573,23 | – 1,56 |
mittlerer Dienst | 5557,65 | 5400,79 | 5505,46 | 5600,11 | 5521,86 | 5301,41 | – 4,61 |
Einblicke in den realen Arbeitsalltag des wissenschaftlichen Bibliothekars vermittelt hingegen eine Umfrage der Kommission für Fachreferatsarbeit des Vereins Deutscher Bibliothekare.[6]
Laut einer Studie[7] , die 375 Stellenanzeigen für den „Wissenschaftlichen Bibliotheksdienst“ der Jahre 2003–2013 auswertet, wurden in diesen zehn Jahren ca. 235 Fachreferenten-Stellen oder Stellen mit Fachreferatsaufgaben besetzt. Davon bezogen sich 143 Stellen primär auf Fachreferate. Die Studie analysiert auch die Tätigkeitsbeschreibungen in den Stellenanzeigen und die an den Bewerberkreis gestellten Anforderungen.
Anforderungen an das Berufsbild kontra Wirtschaftlichkeit von Bildung
Bibliotheken waren und sind Teil von Bildung und Wissenschaft einer Gesellschaft. Unsere Gesellschaft definiert sich selbst als Wissensgesellschaft. Bildung und Wissen sind zwei Schlüsselbegriffe, die – meist als Phrasen und ohne eindeutige Begriffsbestimmung – im gesellschaftlichen und auch im bibliothekarischen Diskurs strapaziert werden. Dem großen politischen Gewicht, das den Faktoren „Bildung“ und „Wissen“ beigemessen wird, steht eine zunehmend kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Begriffen und ihrer gegenwärtigen Interpretation gegenüber, die unter soziologischen, geschichtsphilosophischen, pädagogischen, medienhistorischen und politischen Aspekten geführt wird. Verwiesen sei nachdrücklich auf Martin Heidenreich, der in seiner Publikation „Die Debatte um die Wissensgesellschaft“ ausführt: „Spätestens mit dem Lissaboner Gipfel der Europäischen Union im Jahr 2000, auf dem die Entwicklung der EU zum ‚wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt‘ beschlossen wurde, hat der Begriff der Wissensgesellschaft seinen Platz in Festreden, in Forschungsprogrammen und in bildungspolitischen Leitlinien erobert.“[8]
Wie weit die ökonomische Betrachtung von Bildung gediehen ist, zeigt die Berechnung von sogenannten „Bildungsrenditen“, die mittlerweile zum Standardrepertoire bildungsökonomischer Indikatoren gehören. Aus dem „Nationalen Bildungsbericht“ geht z. B. hervor, dass der durchschnittliche Renditezuwachs eines Hochschulabsolventen gegenüber einem Vollzeitbeschäftigten mit abgeschlossener dualer Berufsausbildung rund 46 Prozentpunkte beträgt. Damit wird Bildung selbst zum Gegenstand wirtschaftlichen Handelns bzw. zur Ware.
Der am Institut für Soziologie der Universität Hamburg lehrende bekannte Wissenschaftler Gerhard Stapelfeldt, der über „Das Problem des Anfangs in der Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx Bildung“ promovierte, greift diesen Problemkomplex fundiert und sachlich auf: „Die Utopie der Bildung versprach einst, daß der Mensch durch seinen Aufstieg zur Gottesebenbildlichkeit sich selbst und seine Welt durch Vernunft zu bilden vermöchte: einem Bildhauer gleich. Bildung ist: höchste theoretische Einsicht in die Welt als Ganze, praktische Verwirklichung des Menschen als Menschen, der Gesellschaft als eines vernünftigen ‚Vereins freier Menschen’ – so daß der Mensch sich seiner selbst und seiner Verhältnisse bewußt ist. Als Prozeß ist Bildung: Kritik des herrschenden Bewußtseins, praktische Kritik der herrschenden Verhältnisse – Aufklärung durch das ‚Ändern der Umstände’ und ‚Selbstveränderung’ ineins“[9] .
Seit 1997 die Hochschulrektorenkonferenz die Einführung von Credit-Point-Systemen (ECTS) sowie die Modularisierung der Studiengänge beschloss und die Kultusministerkonferenz (2000) mit „Rahmenvorgaben für die Einführung von Leistungspunktsystemen und die Modularisierung von Studiengängen“[10] folgte, hat sich der Bildungssektor stark gewandelt.
Mit der Neufassung des Hochschulrahmengesetzes (HRG) im Jahre 2002 wurde die betriebswirtschaftliche Ausrichtung der Hochschulen forciert. Evaluationen wurden zum Maßstab staatlicher Finanzierung, obwohl Evaluierungskriterien und Methoden bzw. der Kreis der dazu Berechtigten ambivalente Spielräume eröffnen. Ziel des Studiums ist die Berufsqualifikation (vgl. Hochschulrahmengesetz[11] , §§ 2, 10, 11, 18, 19).
Ein Beleg für die einseitige Wettbewerbsorientierung der Hochschulen ist auch die leistungsorientierte Besoldung von Professoren, die wiederum Auswirkungen auf die Besoldung und Entlohnung anderer Berufsgruppen hat.
2005 wurde der Bundesangestellten-Tarif (BAT) ersetzt durch den Tarifvertrag der Länder und den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes. Die neuen Entgelt- und Besoldungssysteme bieten die Möglichkeit zu niedrigerer Eingruppierung auf der eben geschilderten Grundlage. Das prägnante Beispiel für Bibliotheken ist wohl die Tatsache, dass die Entgeltgruppe 9 die Endstufe für den „gehobenen Bibliotheksdienst“ ist. Zudem ist der Anteil der befristeten Arbeitsverhältnisse bzw. der Teilzeitverträge beim wissenschaftlichen Personal an den Universitäten stark gewachsen. Personen mit festen Verträgen bzw. im Beamtenverhältnis sind überwiegend in der universitären Verwaltung anzutreffen, wozu auch die Bibliotheken als Dienstleister zu zählen sind.
Anhand der oben ausgewerteten Angaben in der Deutschen Bibliotheksstatistik lässt sich erkennen, dass auch in den Universal- und Hochschulbibliotheken Stellen abgebaut werden bzw. Stellen eine niedrigere Wertigkeit bekommen. Die kostenintensiven Stellen des höheren Bibliotheksdienstes trifft es besonders. Durch die Umwandlung von Beamtenstellen in Stellen von Angestellten werden nochmals Kosten gesenkt.
Konsequenzen der Entwicklung für die Bildungslandschaft – ein Problemaufriss
Der bereits zitierte, renommierte Wissenschaftler Gerhard Stapelfeldt schreibt zum Thema: „Die Ideologie einer neoliberalen Bildungspolitik ist nirgends klarer formuliert als in der bekannten Ruck-Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, die er am 26. April 1997 im Hotel Adlon in Berlin hält: Durch Deutschland muß ein Ruck gehen. Aufbruch ins 21. Jahrhundert. Im Zentrum der Überlegungen steht die Bildung: Bildung muß das Mega-Thema unserer Gesellschaft werden.“[12]
Stapelfeldt analysiert die Rede Herzogs und stellt fest: „Vor allem aber steht das Bildungssystem im Mittelpunkt. Es soll einerseits die Idee individueller Freiheit als Idee unpolitischer, atomistischer Freiheit verankern und andererseits das Wissen für neue Technologien produzieren …“[13]
Hintergrund dieser Prozesse ist die wirtschaftliche Ausrichtung der Bildung, insbesondere durch die berufsbildende Zielsetzung, die zur Transformation der Erwachsenenbildung geführt hat. Man spricht von der Akademisierung der Gesellschaft und meint damit, dass einerseits immer mehr Personen nach einer akademischen Ausbildung und einem entsprechenden Abschluss streben, andererseits aber auch immer mehr und immer differenziertere akademische Ausbildungen kreiert werden.
Die Studienanfängerquote liegt derzeit bei ca. 51 Prozent, die Zahl der Studienanfänger lag 2013 bei ca. 511.000. Die Zahl der Jugendlichen, die eine Berufsausbildung im dualen System begannen, betrug 497.000.[14]
Wenn Julian Nida-Rümelin von „Akademisierungswahn“ spricht, so meint er die beträchtliche Zunahme formal-akademischer Abschlüsse mit unsicherem Arbeitsmarktwert, durch die zugleich nicht-akademische, für das gesellschaftliche Funktionieren aber wohl relevante Wissensformen entwertet werden. Dabei verweist der Bildungsexperte auf die „kaum beachtete, aber fatale Bologna-Trennung von berufs- und wissenschaftsorientierten Studiengängen“, die die an Humboldt orientierte Universität mit der Dualität von Forschung und Lehre in ihrem Wesen ändert.[15]
Auch die damit verbundene Verschulung und Bürokratisierung der Hochschuleinrichtungen hat fatale Folgen. Deshalb betont Nida-Rümelin, dass „die unterschiedlichen Bildungstraditionen Ausdruck kultureller Identität, Folge unterschiedlicher bildungshistorischer Traditionen [sind] und … zu unterschiedlichen Qualifikationsvorstellungen und Lerninhalten auf allen Stufen des Bildungsweges [führen]. Wir sollten dies als Reichtum begreifen, der auch in Gestalt globaler Arbeitsteilung ökonomisch Früchte tragen kann. … Vielfalt statt Einfalt, Bildungskooperation statt Bildungskonkurrenz nach nivellierten Standards sollte die Devise sein.“[16]
Ein Ergebnis der angesprochenen Verschulung und Bürokratisierung ist ein Nivellierungs- und Standardisierungsmodell. Zu Recht schreibt der Philosoph Konrad Paul Liessmann auf seine konstruktiv-polemische Art: „Der Wert eines Studiums bemisst sich nach der dafür aufgewendeten durchschnittlichen Arbeitszeit.“[17] „Denn studentische Leistungen können damit tendenziell von Lehrveranstaltungen entkoppelt werden. … Die Universität wird zu einem Zertifizierungsorgan.“[18]
„Aber die Einsicht wächst, dass eine Fortsetzung des eingeschlagenen Pfades in der Tat schon bald in eine ‚Bildungskatastrophe‘ münden könnte. Diese Bildungskatastrophe bestünde dann nicht mehr darin, dass ein Großteil der Bevölkerung, insbesondere aus bildungsfernen Schichten, nur unzureichend gebildet wäre, … sondern in einer umfassenden Dequalifizierung in beiden Bereichen, sowohl dem der beruflichen als auch dem der akademischen Bildung. Das duale System aus staatlicher Berufsschule und Ausbildung im Unternehmen oder im Handwerksbetrieb würde kollabieren, die Verlagerung von nichtakademischen Ausbildungen an die Universitäten würde diese ihrer Praxisorientierung berauben.“[19]
Die skizzierte Transformation der Wissenschaftslandschaft durch den Staat kritisiert Liessmann auch in ihrer ökonomischen und juristischen Dimension. Der Volkswirt Mathias Binswanger stellt in besonderem Maße die betriebswirtschaftliche Ausrichtung in Frage, die nicht selten zu künstlich inszenierten Wettbewerben um Finanzmittel führt.[20]
Binswanger beschreibt zudem den Wissenschaftsbetrieb ausführlich und kritisch. Er setzt sich mit dem System wissenschaftlichen Publizierens, insbesondere mit den Auswüchsen des Peer-Review-Verfahrens und des Rankings auf der Grundlage von Publikationen und Zitaten auseinander und verdeutlicht darüber hinaus, dass eine zunehmende Publikationsflut nicht als Gradmesser für Innovation und Qualität gesehen werden kann.[21]
Paradoxerweise ist seit einigen Jahren auch die sprunghafte Zunahme der Veröffentlichung von Hausarbeiten und Abschlussarbeiten bei verschiedenen Verlagen (z. B. Diplomica, Grin u. a.) zu beobachten. Durch den Nachweis z. B. im Katalog der DNB (Grin-Verlag: 132.398 Treffer am 27.08.2015 und Diplomica 3.922 Treffer am 27.08.2015) werden solche Titel noch aufgewertet. Oftmals werden sie vom Verlag gegen teures Entgelt veräußert. Dieses Publikationsgebaren kann als Gewinnstreben verstanden werden, aber auch als Versuch, sich beruflich einzuführen. Schlussendlich sind wissenschaftliche Publikationen auch ein Mittel zum Nachweis beruflicher Qualität und zur Erarbeitung eines beruflichen Fundaments. Der Grat zwischen Beliebigkeit und geistiger Leistung ist damit sehr schmal, da es keinerlei Kriterien für deren Wertigkeit und Substanz gibt.
Berufsbild und „Wissensgesellschaft“ – ein kritischer Diskurs
Die skizzierten Problemfelder sind auf spezifische Weise auch für das Berufsbild des „wissenschaftlichen Bibliothekars“ von einschneidender Relevanz. Hierbei ist anzumerken, dass schon im ausgehenden 20. Jahrhundert der von der Soziologie der 1960er-Jahre eingeführte Begriff „Wissensgesellschaft“ zunehmend politisch besetzt wurde. Seitdem ist ein geradezu inflationärer Gebrauch der Begriffe „Wissen“ und „Wissensgesellschaft“ zu beobachten. Das hat wiederum Auswirkungen auf das Bibliothekswesen und das damit verbundene Berufsbild des „wissenschaftlichen Bibliothekars“. Es ist bezeichnend, dass die letzten Bibliothekartage unter den folgenden Mottos standen:
102. Bibliothekartag 2013 in Leipzig: „Wissenswelten neu gestalten“
101. Bibliothekartag 2012 in Hamburg: „Bibliotheken – Tore zur Welt des Wissens“
99. Bibliothekartag 2010 in Leipzig: „Menschen wollen wissen“
97. Bibliothekartag 2008 in Mannheim: „Wissen bewegen“
Aus aktueller sozialwissenschaftlicher Sicht hat Heidenreich die Begriffe „Wissen“ und „Wissensgesellschaft“ eingeordnet und definiert.[22] Der Medienhistoriker Peter Burke, der sich mit der historischen Dimension des Wissens intensiv und systematisch auseinandersetzte, stellte fest, dass schon in der frühen Neuzeit von einer Wissensgesellschaft gesprochen werden kann.[23] Burke beschreibt sehr umfassend und unter verschiedenen Aspekten das Wesen von Wissen und zeigt auch auf, dass Wissen instrumentalisiert, zur Ware werden oder verloren gehen kann.[24]
Berechtigt verweist der Erziehungswissenschaftler Karl-Heinz Dammer auf die gravierenden Ungereimtheiten im gesellschaftlichen Diskurs: „Auffällig häufig ist hier von der ‚Halbwertzeit des Wissens‘ bzw. davon die Rede, dass sich das Wissen vom Zeitpunkt x zum Zeitpunkt y verdoppelt habe und dies künftig immer schneller tun werde, weswegen die individuelle Aneignung von Wissensbeständen nebensächlich sei, sondern es vielmehr auf das ‚Lernen des Lernens‘ ankomme.“ Was hier … „irritiert, ist der Eindruck, dass eine Gesellschaft, die sich über Wissen definiert, eben dieses Wissen so gering zu schätzen scheint, dass seine Aneignung als sekundär betrachtet wird.“[25]
Ähnlich äußert sich Liessmann, indem er die (bewusste) Entleerung und Trivialisierung von Begriffen kritisiert: „Wissen, so eine gängige Definition, ist eine mit Bedeutung versehene Information. Relativ sorglos wird deshalb auch in der politischen Rhetorik der Begriff der Wissensgesellschaft dem der Informationsgesellschaft gleichgesetzt. In der Regel wird letzterer noch stärker betont, weil Informationen noch unmittelbarer mit jenen digitalen Medien verschwistert scheinen, welche die neue Wissensgesellschaft auf Trab halten.“[26]
Das Berufsbild des „wissenschaftlichen Bibliothekars“ kann in diesem durch Beliebigkeit geprägten Umfeld kaum an Konturen gewinnen. Zumal der Erwerb, das Sammeln und Bewahren von „Wissen“ kaum noch eine Rolle zu spielen scheinen.
Auf das Thema „Digitaler Wandel“ bzw. auf eine Erörterung von Chancen und Sinnhaftigkeit technischer Entwicklungen soll hier nicht eingegangen werden. Verwiesen sei auf die „Digitale Agenda“[27] , mit der die Bundesregierung 2014 einen wichtigen Baustein für die Wirtschafts- und Innovationspolitik beschlossen hat. Herausgegriffen sei lediglich ein Aspekt, weil er für die Bibliotheken und den wissenschaftlichen Bibliothekar von besonderer Bedeutung ist.
Ablösung der Buchkultur durch die Digitalkultur – ein Exkurs
In engem Zusammenhang mit den technischen Entwicklungen erweist sich der Umgang mit geistigem Eigentum als Prüfstein für die Gesellschaft. Das geistige Eigentum, mit dem Bibliotheken seit ihrem Ursprung befasst sind, sind Publikationen. Beflügelt durch technische Entwicklungen gibt es gesellschaftliche Kräfte, die eine Ablösung der Buchkultur durch die Digitalkultur forcieren. In diesen Prozess sind verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Interessen involviert. Es geht um eine Publikationsform – das Buch –, zu dem die Geisteswissenschaften eine sehr enge ideelle Bindung haben, und um alle Handlungen, die mit dem Buch verbunden sind: der geistige Schöpfungsprozess, die Materialisierung durch einen Verlag und die Verwertung. Diese hier nur skizzierte Kette wird gerade infrage gestellt und die Kettenglieder versuchen so, sich neu zu ordnen und neue Handlungsmodelle zu entwickeln. Bibliotheken und Autoren werden zu Verlegern elektronischer Publikationen, Verlage vertreiben lediglich ausgewählte Nutzungsrechte an elektronischen Publikationen, der Leser und Rezipient entwickelt neue Gewohnheiten oder schätzt die Vorteile von Bewährtem nun noch höher. In dieser Gemengelage werden die Rollen der Akteure neu definiert und Finanzierungsalternativen erprobt: Die Verlage bitten die (ausgewiesenen) Wissenschaftler für eine Publikation zur Kasse und „unterstützen“ im Gegenzug den grünen Weg beim Open Access. Etablierte Strukturen rund um das Publizieren sind in Bewegung geraten und neue Strukturen in der Erprobung. Ein entscheidender Faktor bei der Herausbildung und Verfestigung neuer Strukturen ist die Finanzierung einzelner Komponenten und Arbeitsschritte im Kreislauf einer Publikation – von der Entstehung bis zur Verwertung und Archivierung.
Das Produkt „E-Book“ ist noch umstritten. Politisch forciert, von etlichen Nutzern präferiert aufgrund realer oder scheinbarer Vorteile einer elektronischen Publikation: keine lokale Bindung, unbeschränkte Nutzungsmöglichkeiten bezüglich Download, Ausdruck und Kopieren. Dass die Realität oftmals anders aussieht, wissen Bibliothekare und Bibliothekarinnen nur allzu gut. Es ist erstaunlich, welch hohe Ausleihzahlen so manches gedruckte Buch in einer Bibliothek noch verzeichnet, obwohl der gleiche Titel gleichermaßen als E-Book im Bestand ist. Bislang sind diese Sachverhalte noch zu wenig untersucht und quantifiziert.
Das Profil der Bibliotheken – Basis für Anforderungen an ein Berufsbild
Wollen Bibliotheken auch zukünftig einen Platz in Bildung, Kultur und Forschung behaupten, so ist es erforderlich, sich tiefgründiger und in stärkerem Maße mit den aufgeführten Sachverhalten und den daraus resultierenden Entwicklungen und Optionen auseinanderzusetzen.
Die Aufgaben der Bibliotheken, die im Kern definiert sind als Sammeln, Erschließen, Bewahren, Vermitteln, werden von verschiedenen Seiten auf den Prüfstein gestellt. Erinnert sei an die Aussage der Generalsekretärin der DFG, Dorothee Dzwonnek: „Aber das reine Bücher kaufen und bereitstellen hat sich halt überlebt.“[28] Auch die Einschätzung: „Traditionelle bibliothekarische Konzepte wie die Mediensammlung für den voraussichtlichen künftigen Bedarf, die Bibliothekseinführung als ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ oder das Fachreferatesystem als Repräsentation eines universalen Fächerkanons sind hierzu nicht mehr stimmig“[29] , charakterisiert die Problematik. Der Gewinn und die Qualität kooperativ gewonnener bibliothekarischer Daten könnte ebenfalls kompensiert werden durch „… den Nutzen der riesigen Menge an Daten, die weltweit frei als interaktive Infrastruktur zur Verfügung stehen. Sie werden geliefert von allen, die ein Interesse daran haben: von Autoren und Verlagen, von Händlern und Wissenschaftlern, von Suchmaschinenbetreibern und Bibliotheken. Sie alle werden ihren Input freiwillig geben, da sie jeweils ein spezielles Interesse daran haben, ihre Produkte und Dienstleistungen in neuen Netzwerken möglichst unkompliziert zur Verfügung zu stellen.“[30]
Steuern wir auf eine Vision „2084“ zu? Bücherspeicher archivieren den „Altbestand“, der im konkreten Bedarfsfall digital zur Verfügung gestellt wird, wenn er nicht längst digitalisiert vorliegt. Eine Lizenzierungszentrale, übergangsweise zunächst auch noch mehrere, lizenzieren bei kommerziellen Anbietern digitale Produkte, welche für bestimmte Nutzergruppen, die über ein riesiges Meta-Directory verwaltet werden, zugänglich gemacht werden. Eine andere Zentrale koordiniert die dezentrale Formal- und Sacherschließung von Informationsobjekten, falls diese Datenerfassung und Datengeneration nicht längst entfallen sind. Die Veranstaltungen zur Informationskompetenz werden ersetzt durch wissenschaftspropädeutische Lehrveranstaltungen, die von Doktoranden oder Tutoren durchgeführt werden, die auch die Last der Lehre tragen. Für Bücher, die im Einzelfall noch tatsächlich gedruckt werden, bedarf es weniger Punkte, um diese Bücher für den konkreten Bedarfsfall zu beschaffen und an „Einzelkunden“ auszuleihen. Vereinzelt werden „Leuchttürme“ (in Anlehnung an Paul Raabe) überdauern, weil sie über ausreichend Renommee verfügen und Zentren der Forschung an „non-e-book-material“ (NEBM) – wie zum Beispiel Handschriften und Druckwerke – sind. Mehrere Lehrstühle für Information and Library Science (ILS) könnten noch Informationsmanager ausbilden und das Phänomen „Bibliothek“ erforschen.
Gibt es Alternativen zu dieser Vision? Haben die Kernaufgaben von Bibliotheken – Sammeln, Erschließen, Bewahren, Vermitteln – doch noch Gültigkeit? Wenn ja: Wie definieren sich die vier Elemente im Einzelnen? Wer sammelt, erschließt, bewahrt, vermittelt was? In welcher Form? Für wen? Und schlussendlich – wie finanziert sich dieses System?
Aus den Antworten auf diese Fragen lassen sich Modelle für Bibliotheken oder auch für die „Informationsversorgung“ in der Zukunft herleiten. Das eigentlich Entscheidende jedoch ist eine Verständigung darüber, welche Bibliotheken in welcher inhaltlichen Ausrichtung und in welchem Maße heute noch einen Sammelauftrag haben.
Der Sammlungsgedanke ist – historisch bedingt – insbesondere unter den wissenschaftlich orientierten Bibliotheken verbreitet. Da das Sammeln in der Regel keinem Selbstzweck dient(e), gab es in Deutschland schon vor ca. 200 Jahren Ansätze zu einer Arbeitsteilung zwischen Bibliotheken, um der Literaturproduktion und den eigenen Ansprüchen an Vollständigkeit gerecht zu werden.[31] Der Sondersammelgebietsplan, der nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt wurde, stellte in seiner Gesamtheit eine verteilte deutsche Forschungsbibliothek dar.[32] Die Sondersammelgebiete wurden wesentlich geprägt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die sowohl eine inhaltliche Ausrichtung vorgab als auch erhebliche finanzielle Mittel für die beteiligten Bibliotheken zur Verfügung stellte. Aus diesen Finanzposten konnte nach festgelegten Regelungen Literatur erworben werden.
Das Zeitalter der „verteilten deutschen Forschungsbibliothek“ endete im Jahr 2012, als die DFG entschied, ihre Förderung mit dem Nachfolgeprogramm „Fachinformationsdienste für die Wissenschaft“ grundsätzlich neu auszurichten. Damit wurden a) der Sammlungsgedanke und b) das Streben nach Vollständigkeit dieser Sammlung in Frage gestellt:
„Ein funktionierendes Gesamtarchiv von Forschungsliteratur und Forschungsmaterialien – analog wie digital – ist aus dieser Perspektive vielmehr eine kooperativ wahrzunehmende Aufgabe der Nationalbibliotheken und -archive oder vergleichbarer Einrichtungen nationalen Rangs rund um den Globus.“ Dennoch betonen die Autoren, dass „… hiermit keine Stellungnahme verbunden [ist], ob Bibliotheken im 21. Jahrhundert noch umfangreiche Sammlungen anlegen sollen oder nicht.“[33]
„Da eine umfassende Sammlung im Sinne eines Reservoirs – so sehr sie in anderer Hinsicht wichtig sein kann – nicht mehr mit dem DFG-Förderziel identisch ist, wird es künftig als Begründung für einen umfangreichen vorsorgenden Bestandsaufbau in einem Fachinformationsdienst auch nicht ausreichen, pauschal mit drohenden Lücken im Bestand zu argumentieren.“[34]
Mittlerweile haben sich viele Bibliotheken mit der neuen Situation auseinandergesetzt. Es wurden erste Fachinformationsdienste initiiert, erste Modelle haben sich herauskristallisiert. Über die gesammelten Erfahrungen gibt es bereits Publikationen.[35]
Ohne im Einzelnen auf Aspekte des komplexen und vielschichtigen Transformationsprozesses einzugehen, sei doch darauf hingewiesen, dass „… bislang der Gedanke der Sammlung als Grundlage der Sicherung des Zugriffs auf den Content im Zentrum [stand], so tritt demgegenüber nunmehr der Stellenwert des Content deutlich zurück.“[36] Außerdem lässt sich nun auch die „Informationsversorgung“ in neuen Strukturen denken: Die lokale Versorgung von Wissenschaftlern kann zukünftig immer mehr vernachlässigt werden zugunsten einer zentral nach fachlichen Gesichtspunkten geordneten „Informationsversorgungsinfrastruktur“.
Plädoyer für eine bewahrende und weitsichtige Neuausrichtung
Michael Knoche hat sich sowohl in seinem Vortrag auf dem 104. Bibliothekartag in Nürnberg als auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung[37] prinzipiell mit der Frage auseinandergesetzt, ob Bibliotheken noch einen Sammelauftrag haben. Er vergleicht systematische Sammlungstätigkeit zu Forschungszwecken mit der Bereitstellung elektronischer Publikationen „just-in-time“ und wägt beides differenziert gegeneinander ab. Sehr eindringlich spricht er sich dafür aus, den Sammelauftrag auch künftig arbeitsteilig wahrzunehmen. Dazu gehören für ihn die Selektion, die Aufbereitung, das vertrauenswürdige Archivieren, das Finanzieren und die Vermittlung von Forschungsinformation – sei diese analog oder digital.
Gegenwärtig ist die Tendenz zu beobachten, dass sich Bibliotheken bestimmten Kategorien zuordnen oder sich davon abgrenzen: „Gebrauchsbibliothek“, „Archivbibliothek“, „Forschungsbibliothek“, ohne dass jedoch diese Begriffe aus aktueller Sicht ausreichend definiert worden sind. Der Begriff „Gebrauchsbibliothek“ wird somit leicht im Sinne von „Verbrauchsbibliothek“ interpretierbar. Damit steht die entscheidende Frage, welcher Personenkreis wie und wann eine Entscheidung im Sinne von Entsorgung bzw. Verschleiß treffen darf, im Raum.
Somit ist es dringend geboten, im Zuge der Transformation der Sondersammelgebiete über die Frage des Archivierens und des Umgangs mit geschlossenen Sammlungen neu und ohne Kurzsichtigkeit nachzudenken.
Die Ausführungen haben gezeigt, dass Berufsbilder ein Teil der Veränderungsprozesse sind, die Bibliotheken gegenwärtig durchlaufen. Wenn das Bibliothekswesen seine Gestaltungsräume erkennt und sich strategisch neu aufstellt, dann kann und muss über Berufsbilder geredet werden. Das initiiert eine produktive Neubeschäftigung mit dem Humboldt’schen Bildungsideal, um der raumgreifenden Tendenz einer neoliberalen Ausrichtung von Bildung und Forschung gemeinsam mit anderen Akteuren ein Gegengewicht zu schaffen. Nicht unerheblich ist, dass „ den Veränderungsprozess strategische Vorteile [unterstützen], die sich nicht zuletzt aus der großen Tradition und der öffentlich-rechtlichen Trägerschaft von Bibliotheken ergeben: Bibliotheken genießen gegenwärtig noch große gesellschaftliche Zustimmung und hohes Vertrauen und können notwendige Veränderungen so vergleichsweise kontrolliert umsetzen. Der Vorteil verkehrte sich ins Gegenteil, falls das Privileg etwa zur stillschweigenden Vertagung von Reformprozessen missbraucht oder die neue, unbequeme ‚Wahrheit‘ autosuggestiv kleingeredet wird. Zukunft ist möglich. Sie muss aber zügig und entschlossen gestaltet werden.“[38]
Wissenschaftliche Bibliothekarinnen und Bibliothekare erleben den Wandel konkret im Berufsalltag. Das sollte die produktive Auseinandersetzung mit Inhalten und der Ausrichtung ihres Berufsbildes anregen. Bei der Lösung der in diesem Artikel angesprochenen komplexen Fragen kommt der Berufsgruppe eine nicht zu unterschätzende Eigenverantwortung zu.
Gut fachlich qualifizierte und verantwortungsbewusste wissenschaftliche Bibliothekarinnen und Bibliothekare sind damit gefordert. Resümierend lässt sich sagen, dass es für die nahe, aber auch für die fernere Zukunft – wie schon verschiedentlich öffentlich geäußert – einer Neuausrichtung des Bibliothekswesens bedarf.
About the author
Kathrin Drechsel
Universität Erfurt
Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha
Nordhäuser Str. 63
99089 Erfurt
© 2016 by De Gruyter