Zusammenfassung
Julia Bergmann ist seit 2003 als Trainerin, Vortragende und Beraterin im Bereich Bibliotheken und Bildungseinrichtungen national und international tätig. Sie ist Gründungsmitglied des Vereins Zukunftswerkstatt Kultur- und Wissensvermittlung e. V. und Mitglied des EU Think Tanks Library Avengers. 2015 besuchte sie im Rahmen von längeren Fachexkursionen Bibliotheken in den Niederlanden, Dänemark, Schweden und Finnland und im Jahr 2016 war sie auf Bibliotheksreise in Kolumbien. Das vorliegende Interview beschreibt ihre Eindrücke in den verschiedenen Ländern und geht besonders auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Bibliotheken in Deutschland ein.
Abstract
Since 2003, Julia Bergmann works as a trainer, lecturer and consultant in the area of libraries and educational institutions, nationally and internationally. She is a founding member of the society Zukunftswerkstatt Kultur- und Wissensvermittlung e. V. (Future workshop for imparting culture and knowledge) and member of the EU Think Tank Library Avengers. During fairly long study tours in 2015, she visited libraries in the Netherlands, Denmark, Sweden and Finland, whereas in 2016 she travelled to Colombia. The following interview describes the impressions she received in the different countries and especially deals with common features and differences in comparison with libraries in Germany.
Bibliotheksdienst: Frau Bergmann, Sie haben im letzten Jahr Bibliotheken in den Niederlanden, Skandinavien, Dänemark, Schweden und Finnland besucht und waren aktuell unterwegs auf einer Bibliotheksreise in Kolumbien – also in einer ganz anderen Kulturlandschaft. Konnten Sie Gemeinsamkeiten bei den Bibliotheken in den Niederlanden und den skandinavischen Ländern feststellen?
Julia Bergmann: Gemeinsam ist diesen Bibliotheken vielerorts die gezielte Ausprägung als dritter Ort, als öffentliches Wohnzimmer ihrer Community. In Dänemark ist es z. B. selbstverständlich, dass es für junge Familien eine Mikrowelle zum Erwärmen von Babynahrung gibt und einen ruhigen Rückzugsort zum Stillen. Kleine Essensplätze, wo die Kinder zwischendurch mit ihren Eltern etwas essen können. Auch finden sich für die Kleinen in der Bibliothek immer Kostüme zum Verkleiden, weil Kinder Geschichten gern nachspielen oder eigene erfinden und sie große Freude am Verkleiden haben. Häufig finden sich auch Basteltische u. ä. in der Bibliothek.
Die Bibliotheken haben sich insgesamt viele Gedanken gemacht, was ihre Zielgruppen beim längeren Verweilen in der Bibliothek benötigen. Das geht über gemütliche Sitzmöbel klar hinaus.

Kinder-Eltern-Küche DOKK1 Aarhus, Dänemark.
Bibliotheksdienst: Gibt es deutliche Unterschiede zur Bibliothekswelt in Deutschland und wenn ja, welche?
Julia Bergmann: Viele der neu eingerichteten Bibliotheken in Dänemark, ob nun neu gebaut oder renoviert, orientieren sich am Konzept der „Four Spaces“ von Henrik Jochumsen, Dorte Skot-Hansen und Casper Hvenegaard Rasmussen. In Dänemark gibt es z. B. eine Bibliotheksinitiative[1] bzw. ein Modellprogramm für öffentliche Bibliotheken (http://modelprogrammer.slks.dk/en/) mit konzeptioneller Unterstützung für Bibliotheken, aber vor allem auch vielen Good-Practice-Beispielen von den teilnehmenden Modellbibliotheken, um Bibliotheken in der Breite in ihrer Weiterentwicklung zu unterstützen.
In Skandinavien und aber besonders in den Niederlanden konnte ich eine starke, sehr pragmatische Form der Kundenorientierung beobachten, die bereit ist, herkömmliche Verfahrensweisen von Bibliotheken zu hinterfragen und ggf. auch radikal zu verändern – zugunsten von Kundenbedürfnissen.
Ein Beispiel ist hier die öffentliche Bibliothek in Almere (Niederlande) mit ihrer Entscheidung, die Bücher nach Zielgruppen wie in einem Buchladen zu präsentieren. Nach einer genauen Analyse des Kundenverhaltens hat man sich hier nicht nur für das Zusammenführen von Büchern nach Zielgruppen entschieden, sondern präsentiert die Bücher auch als „Stöberware“ nach Möglichkeit frontal oder nach Farben sortiert. Diese Aufstellung wird von den Kunden als ansprechend empfunden und lädt zum Stöbern und Entdecken ein.
Ein weiteres Beispiel wäre die Bibliothek TU Delft, die nach einer Kundenanalyse einen Prozess gestartet hat, um dem zunehmenden Bedürfnis nach Lernplätzen in der Bibliothek gerecht zu werden. Schrittweise wurden hier Veränderungen in Gang gesetzt, um das Gebäude, welches nicht erweitert werden konnte, effizienter im Sinne der Kunden zu nutzen. Zunächst wurden die Öffnungszeiten stark erweitert, so dass die Bibliothek nun 365 Tage im Jahr geöffnet ist und fast 24 Stunden am Tag genutzt werden kann. Der Innenraum der Bibliothek wurde nochmal umgebaut, um einige Bereiche flexibler wechselweise als Lern- und Eventbereich nutzen zu können. Die Mitarbeiter haben ein Konzept für mobile Arbeitsplätze entwickelt, so dass Flächen frei geworden sind, weil nicht mehr jeder Mitarbeiter einen festen Arbeitsplatz hat, sondern nur so viele Plätze bereit gehalten werden, wie gleichzeitig Mitarbeiter im Haus sind. Diese mobilen Arbeitsplätze haben sich bisher gut bewährt, da sie auch Homeoffice und andere flexible Arbeitsformen erlauben. Nachdem es nun bereits eine „Clean Desk Policy“ („Aufgeräumter Arbeitsplatz“) im Haus gibt, ist der nächste Schritt, die Büros außerhalb der Kernzeiten als Gruppenarbeitsräume buchbar zu machen.

Kostüme in Guldborgsund, Dänemark.
Bibliotheksdienst: Welche Spezifika haben Sie in Kolumbien erlebt?
Julia Bergmann: Kolumbien hat in den großen Städten wie z. B. Bogotá ein gut finanziertes System großer, gut ausgestatteter öffentlicher Bibliotheken aufgebaut. Diese sind im Netzwerk BiblioRed http://www.biblored.gov.co/zusammengeschlossen. Die Finanzierung ist zwischen Stadt und Land geteilt, manchmal mit dem Zuschuss privater Gelder. Diese Bibliotheken sind in der Regel Teil eines Kulturzentrums, gemeinsam mit einem Theater untergebracht und liegen in einem zum Kulturzentrum gehörenden Park, der den Bürgern auch Möglichkeiten zur sportlichen Betätigung bietet. In Kolumbien begreift man Bildung und Bibliotheken als wichtiges Mittel gegen Armut, Gewalt und Kriminalität. Ich hatte die Möglichkeit, die Bibliothek „Biblioteca Pública Virgilio Barco“ und die Bibliothek „Centro Cultural y Biblioteca Pública Julio Mario Santo Domingo“ zu besuchen und war besonders angetan von den sehr liebevoll gestalteten Kinderbibliotheken, der sehr modernen technischen Ausstattung und dem reichen Veranstaltungsprogramm dieser Bibliotheken.
Besonders beeindruckt hat mich die hohe Kompetenz der KollegInnen in Fragen der Barrierefreiheit und die in diesem Bereich angebotenen Services. So hatten die Bibliotheken Braille-Drucker, Text-to-Voice Stationen, Stationen, wo Texte stark vergrößert werden konnten für sehbehinderte Kunden und einiges mehr. Alles auf aktuellem technischen Niveau.

Kinderbibliothek im „Centro Cultural y Biblioteca Pública Julio Mario Santo Domingo“.
Bibliotheksdienst: Lassen sich Themen herauskristallisieren, die die von Ihnen besuchten Bibliotheken besonders in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen?
Julia Bergmann: Sicherlich sind hier Leseförderung, Veranstaltungen zu gesellschaftlichen Themen und Bildungsarbeit für alle Teile der Gesellschaft als Schwerpunkte auszumachen.
Bibliotheksdienst: Welche neuen, innovativen Modelle der Bibliotheksarbeit, die Sie erleben konnten, halten Sie für besonders interessant und evtl. für ein Vorbild auch für deutsche Bibliotheken?
Julia Bergmann: Ich nehme von meinen Reisen als positive Denkanstöße vor allem die sehr kundenorientierte Herangehensweise an die Bibliotheksarbeit mit. Die Bereitschaft, Bibliotheksarbeit immer wieder neu zu denken.
Ich schätze die sehr pragmatische Herangehensweise an Probleme und Neuerungen. Die Bereitschaft, Dinge schnell und lösungsorientiert umzusetzen und auch mal etwas auszuprobieren.
Ich habe mich in der Mehrzahl der von mir besuchten Bibliotheken gleich „zu Hause“ gefühlt. Die Fähigkeit, einen wirklich ansprechenden dritten Ort zu schaffen, ist eine große Stärke der niederländischen und skandinavischen Bibliotheken.
Bibliotheksdienst: Gerade in Dänemark ist das Modell der „Offenen Bibliothek“ verbreitet. Welche Vor- und welche Nachteile dieses Modells konnten Sie feststellen?
Julia Bergmann: Nun, die Vorteile sind ganz klar, dass die Öffnungszeiten kundenfreundlich erweitert werden können, auch dann, wenn die personelle Ausstattung dies unter klassischen Bedingungen nicht bieten könnte.
Die Gefahr dabei liegt in der verkürzten Wahrnehmung durch politische Entscheider, die diesen Service als Signal verstehen können, dass eine Bibliothek eine Buchentleihstation ist, die heute auch ohne Personal mit technischer Unterstützung realisiert werden kann.
So ist in Dänemark durchaus eine Tendenz spürbar, dass die Gelder für Bibliotheken sich zunehmend auf Ballungszentren konzentrieren und aus dem ländlichen Bereich abgezogen werden.
Bibliotheksdienst: In der deutschen Presse wurde im Frühjahr über eine „Eselsbibliothek“ in Kolumbien berichtet. Mit einem Esel versorgt ein engagierter Mann Menschen in ländlichen Regionen Kolumbiens, die schwer zugänglich sind, mit Büchern und anderen Medien. Haben Sie ähnliche Formen von Literaturversorgung in Kolumbien erlebt? Ist die Form der „mobilen Bibliothek“, ob mit Esel oder KFZ in diesem Land von besonderer Bedeutung?
Julia Bergmann: Ich war bei meiner Reise leider nicht im ländlichen Raum unterwegs und kann daher nur Beobachtungen aus der Stadt Bogotá beisteuern. In Bogotá gibt es an einer Reihe öffentlicher Plätze und Parks kleine mobile Bibliotheken, bei denen man sich gegen ein Pfand, wie z. B. dem Personalausweis, ein Buch für die Nutzung vor Ort ausleihen kann. Diese werden in der Regel ehrenamtlich von Vereinen zur Leseförderung betrieben.
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Julia Bergmann
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