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Publicly Available Published by De Gruyter Saur November 12, 2018

Das Fachreferat: vom Universalgelehrten zur Schwarmintelligenz

  • David Tréfás

    Dr. David Tréfás

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From the journal Bibliotheksdienst

Zusammenfassung

Die Diskussion um das Berufsbild des Fachreferenten gebiert immer neue Entwürfe, während die Rolle der Fachreferenten innerhalb der Organisation der Bibliothek vernachlässigt wird. Dieser Artikel erläutert, wie man die Fähigkeiten dieser Gruppe von sehr gut ausgebildeten Fach- und Bibliothekswissenschaftlern in einem Sinne nutzt, dass sie es schafft, neue Entwicklungen im Bibliothekswesen zu adaptieren oder gar anzustossen. Um die kreative Kraft zu entfesseln braucht es aber eine Führungsphilosophie, die Solidarität und Vertrauen im Betrieb fördert.

Abstract

Debates on the occupational profile of subject specialists produce ever new job descriptions, while in practice their role within the library’s organisational design is neglected. The article illustrates ways in which the library sector could benefit from the special skills and competences of these highly qualified subject specialist and library scholars to adapt to or even promote new developments. A management philosophy fostering solidarity and mutual trust within the organisation is, however, essential to unleash the creative potential of these specialists.

1 Einleitung

Bibliotheken verändern sich rasant. Noch vor wenigen Jahren war der Buchlauf das zentrale Organisationsparadigma, dem sich Abteilungen wie Erwerbung, Katalogisierung, aber auch das Fachreferat unterwarfen. Der digitale Wandel, der die Bibliotheken seit den 1990er Jahren beschäftigt, hat zum Aufbrechen dieser Organisationsform geführt. Zugleich wurde die Diskussion nach den Aufgaben und der Rolle des Fachreferats befeuert. Noch vor wenigen Jahren beantwortete die IG WBS, die schweizerische Fachorganisation der wissenschaftlichen Bibliothekare das Berufsbild des Fachreferenten mit den Schlagworten Informationen sammeln, erschliessen, vermitteln und erhalten. „Auch in Zukunft werden diese Aufgaben bestehen bleiben und laufend wandeln.“ Allerdings würde auch das Online-Angebot zunehmen.[1] Ähnlich klingt auch das Positionspapier des Vereins Deutscher Bibliothekare zur Qualifikation als Wissenschaftlicher Bibliothekar von 2014.[2] Radikaler mutet der Ansatz von Inga Tappenbeck (2015) an, der zwar auf Ausbildungsfragen gerichtet ist, jedoch mit der Formel „From Collections to Connections“ eine Abkehr vom Buchlauf als zentrales Organisationsparadigma suggeriert. Die vermehrt eingeforderte Technikaffinität befeuerte Veränderungsängste in den Fachreferatskollegien: Wandelt sich das Berufsbild so stark, dass nichts anderes mehr übrigbleibt, als den Beruf jüngeren digital natives zu überlassen? In Zeiten des Wandels stehen vor allem aber die Bibliotheksleitungen und Führungspersonen in der Pflicht: Welches Personal muss beschäftigt werden, in welche Richtung muss das Personal entwickelt werden, um den zukünftigen Herausforderungen zu genügen? Und wie kommen Bibliotheken zu neuen Antworten auf neue Herausforderungen?

Dieser Artikel vertritt die These, dass die Bewältigung des stetigen Wandels weniger durch den Entwurf neuer Berufsbilder gelingen kann, sondern in einer veränderten Sichtweise des Personalmanagements. Fachreferenten gehören zu den am besten ausgebildeten Fachkräften in Bibliotheken. Mit ihrer Einpassung in ein starres Organisationsparadigma wird man ihrer wandelnden Kraft nicht gerecht. Komplexe Aufgaben erfordern komplexe Lösungen, die vorzugsweise von Personen gelöst werden können, die komplex denken können. Oder von einer Abteilung, die es versteht, möglichst viel Potenzial für die Lösung dieser Aufgaben zu nutzen. Dies bedingt aber, dass das Fachreferat als Gruppe verstanden wird, das bibliothekarisches Fachwissen mit individueller Kreativität paart. Fachreferenten in diesem Sinne sind Personen, die hohe Ansprüche an den Arbeitgeber stellen. Hier ist vor allem Führung gefragt, die sowohl Kreativität als auch Solidarität fördert. Das zentrale Schlüsselwort ist aber Vertrauen, sowohl zwischen Führung und Mitarbeiter als auch unter den Mitarbeitern.

2 Höhere Komplexität durch digitalen Wandel

Die Schwierigkeit, dem technologischen Wandel zu begegnen rührt nicht zuletzt daher, dass Bibliotheken aus einer Zeit stammen, in der vor allem Publikationen auf Papier verwaltet wurden. Ausserdem handelte es sich bei Publikationen vorrangig um Bücher. Die Organisationsform der Bibliotheken, der „Buchlauf“, wurde erst im Verlauf der 1950er Jahre aufgebrochen, als immer mehr wissenschaftliche Zeitschriften auf den Markt kamen, blieb jedoch nach wie vor das bestimmende Paradigma. Eine ernsthafte Herausforderung bedeutete erst das Aufkommen elektronischer Medien (Gasc 2010).[3] Allerdings ist der digitale Wandel in der Buchproduktion langsam. Das Buch ist noch lange nicht am Ende. Während die Produktion von elektronischen Medien ansteigt, steigert sich auch die Produktion von gedruckten Medien. In absehbarer Zukunft werden Bibliotheken entgegen beliebter Utopien nicht von Papier frei sein.[4] Und auch der Buchlauf ist nicht zu Ende: Mit den Zeitschriften, vor allem aber mit der stark zunehmenden elektronisch verfügbaren Literatur haben sich jedoch zusätzliche Abläufe etabliert. Es ist diese Zunahme der Komplexität, die eine Anpassung der bibliothekarischen Organisation verlangt, nicht jedoch in erster Linie die Ablösung eines Buchlaufs für gedruckte Bücher durch einen für elektronisch verfügbare Bücher. Das heißt: Die traditionellen Aufgaben der einzelnen um den Buchlauf gruppierten Abteilungen verschwindet nicht. Dafür gesellen sich neue hinzu.

3 Verstärkter universitärer Wettbewerb

Neben dem digitalen Wandel stellt auch die Bedeutungsverschiebung von Universitäten Herausforderungen an die Bibliothek. Antonio Loprieno, ehemaliger Rektor der Universität Basel, bezeichnete den Wandel der Universitäten als „Vergesellschaftung“, „weil die alte Gemeinschaft der Gelehrten sich nun gesellschaftlichen Erwartungen ausgesetzt sieht, die sie als Akteurin herausfordern. Von ihrer privilegierten Position eines Patrizierhauses in einem eleganten suburbanen Viertel rückt sie jetzt ins Zentrum des postindustriellen urbanen Geschehens: Wirtschaft, Politik, Kultur - alle wollen etwas von ihr, vielleicht am allerwenigsten die davon am meisten betroffenen Studierenden.“ Loprieno skizziert die neue Welt der Universität als Austritt aus dem Paradies: „Die Universität sieht sich ständig mit einer Reihe von Anspruchsgruppen konfrontiert - man nennt sie jetzt stakeholders. Nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft in ihrer Gesamtheit erwarten etwas von der Universität, und sagen es ihr direkt, laut und deutlich.“[5] Dieser Trend der erhöhten zivilgesellschaftlichen und politischen Erwartungen an die Universität vollzog sich vor allem in den 1980er und 1990er Jahren und führte etwa zum Bologna-Prozess, in dem die Bedeutung der Universitäten für den Erfolg Europas im Zeitalter technologischer und wirtschaftlicher Globalisierung hervorgehoben, die Vergleichbarkeit der akademischen Abschlüsse vorangetrieben und die Verzahnung des europäischen Hochschulraumes mit dem Arbeitsmarkt forciert wurde.[6] Loprieno macht auch auf die unterschiedlichen Verankerungen der Universitäten in Europa und im angelsächsischen Raum aufmerksam. Im Gegensatz zu Kontinentaleuropa galt das symbolische Kapital im angloamerikanischen Bereich nicht der Universität als Wertegemeinschaft, sondern dem universitären Studium. Ein drittes Modell, das an Deutungsmacht gewonnen hat, ist die World-Class University, die sich der Great American University anlehnt: Als Folge entwickelte sich an den Universitäten ein Streit zwischen wissenschaftlichen Diskursen und Bedürfnissen, die die Universität oft in andere Richtungen führen als jene, die standortrelevant wären. Der globale Wettbewerb hielt Einzug - und damit auch die steigende Bedeutung von Governance.[7] Dies wiederum führt zu einem Bedeutungszuwachs für Rankings, die im ökonomisierten Umfeld wiederum zu einem Marketinginstrument verkommen können.[8]

Für die Universitätsbibliotheken bedeutet dies, dass es festzustellen gilt, was einerseits die Bedürfnisse der Hochschulleitung und andererseits der Hochschulangestellten und Studierender sind. Für Fachreferenten bedeutet dies, dass sie zum einen den hochschulpolitischen Veränderungen folgen müssen (eher Wissenschafts- oder Lehrorientierung), und dadurch den Kontakt zu den potenziellen Nutzern der Bibliotheksangebote intensiv gestalten müssen. Doch noch immer gilt: Fachreferenten werden bis auf Weiteres für den Bestandsaufbau, ihre Erschliessung und Vermittlung zuständig sein. Zugleich werden sie weiterhin mit den Wünschen der Benutzerschaft, seien es Studierende oder Professoren, Einzelforscher oder ganze Forschergruppen, konfrontiert. Bibliotheken brauchen aus diesen Gründen Fachreferenten, die komplex denken können, um nicht nur den an sie gestellten Ansprüchen zu genügen, sondern diese auch zu gestalten.

4 Diskrepanz zwischen Ausbildung und Beruf

Wie die Bibliotheksmitarbeiter und vor allem Fachreferenten ausgebildet sein sollen, ist eine Frage, die sich wie ein roter Faden durch die Diskussion der letzten hundert Jahre zieht - ebenso wie die Diskrepanz zwischen Ausbildungsgrad und Berufswelt von Fachreferenten. Im preußischen Beamtenstaat etwa war einer der Motivationen, das Aufgabengebiet von Fachreferenten zu erweitern, dass diese den Anspruch erhoben, mit ihrer akademischen Ausbildung nicht einfach Bürotätigkeiten ausführen zu müssen. Auch taugten sie nicht für das Heraussuchen bestellter Bücher. Zwar konnten Fachreferenten nicht mit Akademikern in den Fakultäten gleichgestellt werden.[9] Dennoch ist die Entlastung des akademischen Personals von administrativen Aufgaben eine Forderung, die noch heute Bestand hat. Es gibt unterschiedlich gelebte Wege, diese Diskrepanz zu überbrücken. An gewissen Bibliotheken haben sich Fachreferenten mehr und mehr zu Betriebsleitern ihres Faches entwickelt. So schreibt etwa Wefers, dass neben dem eigentlichen Fachreferat „in zunehmendem Maße Organisations- und Verwaltungsaufgaben übernommen“ werden. Darunter fallen auch Abteilungsleitungen.[10] Je mehr Bibliothekare sich im sogenannten third space zwischen Wissenschaft und Verwaltung nach der Verwaltung orientieren, desto mehr administrative Arbeiten fallen an. Der third space ist ein Konzept, das genau aus dieser Diskrepanz zwischen ausbildungsabhängigem Selbstverständnis und Berufsalltag herrührt.[11] Tréfás und Ledl (2010) erarbeiteten in ihrer Analyse der Rolle des wissenschaftlichen Bibliothekars drei Faktoren, die die Ausrichtung des Fachreferenten zwischen Wissenschaft und Verwaltung beeinflussen: unterschiedliche Ausdifferenzierungsprozesse, unterschiedliche Wissenskulturen und unterschiedliche Hochschulpolitiken. Der Umbau der Universitäten zu Dienstleistungszentren, wie es in Grossbritannien nach 1979 der Fall war, hat bibliothekarische Managementaufgaben und das technische Knowhow der wissenschaftlichen Betätigung vorgezogen.[12]

Es bestehen aber auch Konzepte, die den umgekehrten Weg gehen und bei der Ausbildung ansetzen, wie etwa der eingangs erwähnte Artikel von Inka Tappenbeck mit dem Titel „From Collections to Connections“ in der Zeitschrift Bibliotheksdienst im Jahr 2015.[13] Der Artikel stellt sich die Frage, welche Kenntnisse und Fähigkeiten von Fachreferenten in Zukunft zu erwarten seien, insbesondere um Lehrende und vor allem Forschende in einer sich immer mehr zur eScience entwickelnden Wissenschaft kompetent im Umgang mit Daten und Informationen unterstützen zu können. In dieser neuen Aufgabe sieht Tappenbeck die Möglichkeit, „dass dieser bereits mehrfach totgesagte Aufgabenbereich derzeit die Chance hat, neue Bedeutung zu gewinnen“. Dabei beruft sie sich auf Studien, die den Bedarf der Wissenschaft an Hilfe in technischen, informationsbezogenen, rechtlichen, ökonomischen und ethischen Fragen aufzeigen. Sie fordert, dass Fachreferenten folgende Kompetenzen erwerben müssten, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden: Neben der fachlichen Kompetenz nennt sie auch Forschungs- und Netzwerkkompetenz, informationswissenschaftliche Expertise, Kenntnisse im Forschungsdatenmanagement, Fähigkeiten in der Vermittlung von Informationskompetenz und der Teilnahme an der wissenschaftlichen Kommunikation, Kenntnisse der rechtlichen Rahmenbedingungen, die Fähigkeit, Metadatenschemata zu entwickeln, sowie Kenntnisse neuer Technologien und ihrer Anwendung.[14] Dieses Profil verbindet klassische Profile mit technischen Fähigkeiten und Vermittlungskompetenz. Ein Profil also, das stark an das Tätigkeitsfeld von britischen „Subject Librarians“ erinnert, wie er auch bei Keller 2012 beschrieben wird: „Die fachspezifischen Aufgaben am Bestand werden weiter in den Hintergrund gedrängt, während die Vermittlung von Informationskompetenz und die Nähe zum Lehrkörper der Universität zunehmend in den Vordergrund treten.“[15] Allerdings gibt es nur bedingt Kongruenzen zwischen dem deutschen „Fachreferenten“ und dem britischen „Subject Librarian“: So wurde etwa die Literaturauswahl in Grossbritannien traditionell den Fakultäten überlassen, während die Literaturauswahl im deutschen Sprachgebiet zu den eigentlichen Kernaufgaben des Fachreferenten gehört. Auch die Katalogisierung und Klassifikation gehörte wohl nie zu den Kernaufgaben des Subject Librarians. Keller geht sogar davon aus, „dass der Erschliessung in Grossbritannien vergleichsweise wenig wissenschaftliche Bedeutung beigemessen wurde.“[16] Da die inhaltlichen und fachlichen Auseinandersetzungen mit den Medien vor allem den Fakultäten überlassen wurden, war der Schritt zum Generalisten, der organisatorische und technische Aufgaben übernahm, nicht weit.[17]

Diese Generalistenstellung ist im deutschen Sprachgebiet nur schwer zu erreichen, da die Literaturauswahl nur begrenzt an die Fakultäten ausgegliedert werden kann: Zum einen gibt es neben der Universitätsbibliothek oft Institutsbibliotheken, die über Bibliothekskommissionen geleitet werden, wobei die Universitätsbibliothek nebenher existiert und oft mit einem höheren Erwerbungsbudget ausgestattet, ebenfalls eine Literaturauswahl treffen muss. Zum anderen sind britische Universitätscurricula viel stärker verschult, so dass entsprechend ein schmaler Literaturkanon für das Grundstudium ausreicht.[18] Und da grössere Literaturbestände im deutschen Sprachbereich das Problem der Findbarkeit verschärfen und damit grösserer Wert auf die inhaltliche Erschliessung gelegt wird, ist deren Auslagern nicht so einfach möglich wie in Grossbritannien. Hinzu kommt die kulturelle und diskursive Tradition des Fachreferenten, wo der Fokus auf der eigenständigen Betreuung von Fächern lag und als Basis aller Forderungen nach Veränderung diente. Dazu gehörte neben dem Bestandsaufbau auch die inhaltliche Erschließung.[19] Aber auch in Grossbritannien gilt wie Jo Webb et al. schreiben: „without collections, either physical or virtual, our role is meaningless“. Noch immer bräuchten Forscher vor allem Zugang zu Literatur.[20]

5 Der Spagat zwischen Tradition und Innovation gelingt mit Solidarität und Vertrauen

Aus diesen Ausführungen ist ersichtlich, dass Traditionen nach wie vor eine Rolle spielen, dass einerseits Aufgaben wie Bestandsaufbau und inhaltliche Erschließung nicht vernachlässigt werden dürfen, während andererseits die sich im Wettbewerb befindlichen Universitäten neue Anforderungen an die Bibliothek stellen. Konzepte aus anderen universitären, arbeitsrechtlichen und bibliothekskulturellen Zusammenhängen haben nur eine beschränkte Wirkmächtigkeit. Es ist ebenso schwer nachzuvollziehen, wie ein einzelner Fachreferent alle traditionellen und innovativen Aufgaben übernehmen soll, insbesondere bei einer Teilzeitanstellung. Die zunehmende Komplexität übersteigt mittlerweile die Möglichkeiten des Einzelnen bei Weitem. Hier kommt der Punkt, wo Führungsaufgaben in den Fokus rücken, wo nicht primär nach den Aufgabengebieten des einzelnen Fachreferenten, sondern nach denjenigen des wissenschaftlich am besten gebildeten Personals gefragt werden muss. Was Bibliotheken brauchen, ist ausserdem nicht nur die Forderungen des Tages zu erfüllen oder gar schlicht zu verwalten, Bibliotheken müssen in einem härter werdenden Wettbewerb neue Dienstleistungen entwickeln und auch mal gegen den Strom schwimmen können.

Zuerst muss also der Fokus auf die gesamte Abteilung gelenkt werden, was zugleich den Abschied bedeutet vom Generalistentum des Einzelnen. Zum einen gibt es auf dem Markt nur wenige Generalisten, zum andern ist das Zeitbudget in der Regel so arg beschränkt, dass eine Einarbeitung in alle wesentlichen Wissensgebiete und auch die regelmässige Fortbildung unterbleiben müssen. Aus diesem Grund sind Fachreferenten stärker gefordert, in der Gruppe zu arbeiten. Dies erfordert eine bessere Organisation und die Bereitschaft, persönliche und Gruppen-Ziele aufeinander abzustimmen. Der sich stets erweiternde Anforderungskatalog schafft disparate Situationen, in denen Prioritäten gesetzt werden, sowie Aufgaben koordiniert werden müssen. Hier sind die Führungspersonen gefragt, eine Koordinierungsfunktion auszuüben.

Da die Fachreferenten nicht mehr alle Aufgaben alleine erfüllen können, muss in der Abteilung Solidarität aufgebaut werden. Solidarität jedoch bedingt Vertrauen. Die Gruppenmitglieder brauchen eine Sinngebung, die ausserhalb ihrer täglichen Tätigkeit liegen kann. Diese Sinnstiftung erfolgt zum einen durch die Führungsperson, aber auch durch mehr Austausch innerhalb der Gruppe.[21]

Zum zweiten muss Fachreferenten jener Freiraum gewährt werden, den sie brauchen, um kreative Lösungen zu entwickeln. Hierzu bedarf es des Vertrauens von Seiten der Führungspersonen. Ihre Aufgabe ist es dabei zu helfen, den Arbeitsaufwand für regelmäßig auftretende Aufgaben zu reduzieren, den entstandenen Freiraum jedoch nicht sofort mit Aufgaben zu füllen, und damit jede Kreativität zu ersticken. Es ist wichtig, dass sich einzelne Fachreferenten auch aus intrinsischem Interesse Knowhow aufbauen können und diese Projekte in den Gesamtzusammenhang der Bibliothek stellen. Die Bibliothek braucht das Vertrauen, dass diese motivierten Vorstöße dereinst zum Wohle der Bibliothek eingesetzt werden können. Analyse- und Koordinationsfähigkeiten der Führungspersonen müssen vorhanden sein, ebenso aber Weitblick.

Entlastung jedoch ist nur zum Preis genauer Analysen der Arbeitsbereiche zu haben. Eine Konsequenz könnte zum dritten sein, dass wissenschaftliche von nicht wissenschaftlichen Arbeitsfeldern entflechtet werden. Fachreferenten wählen aus, erschließen, vermitteln, unterstützen Forscher, unterrichten gelegentlich. Daneben suchen sie aber auch nach vermissten Büchern, berufen Sitzungen ein, entscheiden über Reparaturen, vervollständigen Bestände, vergleichen Listen mit Listen, entscheiden über den Ankauf fehlender Zeitschriftenbestände, überwachen ihr Budget. Kurz: Neben wissenschaftlichen Aufgaben, für welche sie ausgebildet sind, übernehmen sie Aufgaben, die auch von Mitarbeitern, die einen weniger zeit- und kraftintensiven Ausbildungsgang durchlaufen haben, ausgeführt werden können. Bibliotheken müssen sich schrittweise von der Kongruenz von Abteilungseinteilung und Aufgabenfeld entfernen, und Arbeiten vom Potenzial der einzelnen Mitarbeiter her denken.

Zum vierten müssen sich Fachreferenten fortbilden. Auch hier gilt nicht mehr das uneingeschränkte Generalistentum: Nicht alle müssen ins Detail über ein bestimmtes Thema informiert sein, sei es wissenschaftliches Publizieren, Anwendung von Literaturverwaltungsprogrammen oder Open Access. Wenige Themen genügen, um sich ein ausreichendes Wissen anzueignen, um neue Entwicklungen kritisch zu beurteilen und je nach dem nachzuvollziehen. Im Idealfall entstehen daraus Neuentwicklungen, die den Studierenden, Lehrenden und Forschenden vor Ort zu Gute kommen.

Zum fünften sollten auch neue organisatorische Ansätze geprüft werden. Die Entwicklung von Fachreferenten in Richtung embedded librarians ist wünschenswert, um mehr Nähe zwischen Lehre und Forschung einerseits und Bibliothek andererseits herzustellen. Doch gilt dies nur dann, wenn sich solche Modelle in die vor Ort vorhandenen universitären Strukturen eingliedern und diese verbessern können. Die Organisation ist kein Selbstzweck. Einschichtige Bibliotheken wären ideal, um neue Arbeitsmodelle zu befördern: lokale Teams, die sowohl wissenschaftliche als auch nicht wissenschaftliche Arbeiten ausführen. Umso stärker ist die Führungsperson gefragt, die wie Satelliten ausschwärmenden Fachreferenten zusammenzuhalten und gemeinsam sinnvolle Entscheidungen herbeizuführen. Zentrifugal- und Zentripetalkräfte sind in solchen Organisationen stärker ausgeprägt, und vieles hängt von der Widerstandsfähigkeit der Abteilungsführung ab. Denn auch hier kann man von den Prämissen Solidarität und Vertrauen nicht abweichen, will man die Innovationskraft der Bibliothek nicht gefährden.

6 Der neue Fachreferent gedeiht unter einer neuen Führungsphilosophie

Damit sich die einzelnen Fachreferenten von Universalgelehrten zu einer schwarmintelligenten Gruppe entwickeln können, braucht es vor allem eine Führung, die es versteht, sowohl vertiefte Wissbegierigkeit, Kreativität und auch Solidarität zu fördern. Wie eingangs erwähnt ist das zentrale Schlüsselwort Vertrauen, sowohl zwischen Führung und Mitarbeiter, als auch unter den Mitarbeitern. Die Empfehlung des Wissenschaftsrats von 2011, wonach Bibliothekare „jedenfalls die fachwissenschaftliche Pflege und Erschließung von Sammlungen nicht zugunsten neuer und anderer Aufgaben vollständig aufgeben“[22] sollten, erscheint in diesem Licht nicht mehr als die Quadratur des Kreises. Jede Organisation, Bibliotheken eingeschlossen, baut auf den Fähigkeiten der Mitarbeiter auf, und jeder neue Mitarbeiter bringt eine neue Note, eine neue Fähigkeit mit.

Dies bedingt die konsequente Umsetzung von Führungsgrundsätzen, wie sie sich etwa die Universitätsbibliothek Basel gegeben hat. Einer der acht Grundsätze heißt etwa: „Mitarbeitende in ihrer Vielfalt gemäß ihren Stärken fördern“. Das bedeutet, dass die Fähigkeiten und Stärken der Mitarbeitenden erkannt und entsprechend eingesetzt werden sollen. Zudem verpflichtet sich die Bibliotheksführung, Potenzial und Talente der Mitarbeitenden zu fördern. Weitere Grundsätze wie „Mit Anerkennung und Wertschätzung führen“, „Offenen Kommunikationsstil pflegen“, sowie „Entscheidungen unter Mitwirkung fällen“ zielen auf ein Klima, das durch Vertrauen geprägt ist. Vertrauen ist insbesondere dann wichtig, wenn unsichere und risikoreiche Situationen vorherrschen - und zwar nicht im negativen Sinn. Dies wiederum ist der Fall, wenn Mitarbeitende Freiräume haben, ohne enge Kontrolle ihren Weg zu den definierten Zielen zu finden.[23] Das ist aber eine bewusste Führungsentscheidung, die einen Schlag von Mitarbeitern voraussetzt, der mit Freiräumen umzugehen versteht. Die Führungsperson muss in diesem Fall vor allem den Grundsatz „Aufgaben, Verantwortung und Kompetenz klar übertragen“ beherzigen. In einem solchen Umfeld, wo Vertrauen herrscht, wo Mitarbeiter dazu ermutigt werden, ihre Talente einzusetzen, ist es umso wichtiger, den Grundsatz „Mit Fehlern konstruktiv umgehen“ ernst zu nehmen. Erst in diesem Klima kann die alte Diskrepanz zwischen Ausbildung und Anforderungen des Tages aufgelöst werden, wodurch das Fachreferat jene Freiräume gewinnt, die es braucht, um nicht nur das von der aktuellen Organisationsstruktur verlangte, sondern das gesamte Potenzial dieser wissenschaftlich hoch gebildeten Mitarbeiter für das Wohl der Bibliothek zu nutzen.

About the author

Dr. David Tréfás

Dr. David Tréfás

Published Online: 2018-11-12
Published in Print: 2018-11-05

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 29.11.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/bd-2018-0103/html
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