Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag untersucht unter Berücksichtigung aktueller Diskurse die in kinder- und jugendliterarischen Dystopien implementierten Bibliotheken hinsichtlich ihres strukturellen Aufbaus, ihrer technischen Entwicklung sowie damit verknüpft ihrer topografischen Verortung und des in ihnen enthaltenen Wissens und widmet sich der Frage nach dem Stellenwert, den die Bibliothek für die handelnden Akteure, namentlich staatlichen Machthabern auf der einen und den Protagonistinnen und Protagonisten auf der anderen Seite haben.
Die Analyse diverser ausgewählter Dystopien zeigt, dass Bibliotheken gedoppelt vorkommen, nämlich einerseits virtuell, andererseits aber eben auch als real existentes topografisch verortbares Gebäude, das häufig verfallen und zerstört, immer aber verborgen präsentiert wird. Daraus resultiert ein divergierender Umgang mit dem Bibliotheksbestand: Während das digital vorhandene Wissen in der Regel staatlich kontrolliert und selektiert an die Bewohner weitergegeben wird - es sich somit um staatliche Zensur handelt -, beherbergen die - der Vergessenheit anheim gegebenen - topografisch verortbaren Bibliotheken/Bibliotheksgebäude verbotenes und in dieser Ausformung systemgefährdendes Wissen, das von den Protagonisten entdeckt und im Sinne der Narration zum Sturz der oftmals totalitär aufgebauten Regierung führt, vor allem wenn man bedenkt, dass die Bibliothek „das kulturelle Gedächtnis in räumlicher, konkreter Form [verkörpert]“, wie Dietmar Rieger, Kirsten Dickhaut und Cornelia Schmelz in ihrem Artikel „Bücher in Bibliotheken - Das Motiv der Bibliothek“ (in: Spiegel der Forschung 16 (1999), H 2, S. 14-23, hier: S. 15) festhalten. Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass sich, sobald in jugendliterarischen Dystopien eine Bibliothek bewusst oder zufällig aufgesucht wird, vergessenes, ‚überschriebenes‘ Wissen finden lässt, das den aus dem Verborgenen heraus organisierten revolutionären Sturz von diktatorischen Gesellschaftsentwürfen ermöglicht.
Abstract
Taking into account current debates, the article examines libraries featuring in children’s and young adult dystopian fiction to analyse their structural design, technical development as well as their topographical location and the specific knowledge they contain. It looks at the role libraries play for the fictional characters, i. e. state rulers on the one hand and key protagonists on the other.
The analysis of selected dystopian novels shows that libraries appear in a dual role as virtual versions and as physically existing, topographically located buildings, mostly derelict and demolished but always represented as hidden. This dual role implies different ways to make use of the library collection: While digital resources are usually controlled by the state and only selectively shared with the inhabitants of the fictional world (i. e. are subject to state censorship), the topographically locatable libraries harbour forgotten knowledge that will threaten the system and is hence forbidden. As the narration progresses, the protagonists unearth the old wisdom, which leads to the fall of the (often) totalitarian government, as if to confirm Rieger, Dickhaut and Schmelz’ claim that libraries epitomize “the cultural memory in its spatial and most concrete form” (see “Bücher in Bibliotheken - Das Motiv der Bibliothek”, Spiegel der Forschung no. 2, vol. 16 (1999), p. 15). Therefore it can be assumed that as soon as a library building is entered on purpose or by accident in young adult dystopian fiction, the protagonists stumble over forgotten and ‘overwritten’ knowledge heralding a revolution and the fall of a dictatorial reign, organised out of the hidden depths of a society’s cultural memory.
Einleitendes
Jemand geht in die Bibliothek. Er findet das Haus, das er kennt wie kein zweites, atmet noch einmal tief durch, steigt die Treppe hoch, versucht, sich an einen Verfassernamen zu erinnern, macht die Tür auf, zieht die Straßenschuhe aus, setzt sich an den Arbeitstisch, füttert schnell noch die Katze, wirft die Kaffeemaschine an, bootet den Computer - und schon tut sich vor ihm die Bibliothek auf, die größte der Welt, die universale Bibliothek. Denn diese ist überall, auch bei ihm zu Hause, gleich neben der Espressomaschine. Bibliotheken aus Stein und Beton und Glas sind überflüssig und wurden geschleift oder in Multimediaerlebnisparks verwandelt. Die neue, die allgegenwärtige Bibliothek ist aus elektrischem Strom …
Wird es so kommen? Stirbt im Zeitalter der Digitalität die Bibliothek als das steinerne Depositorium von Büchern?
Nein, so wird es nicht kommen. Die Bibliothek, wie wir sie kennen, wird sich nicht in verstreute Einzelarbeitsplätze am Computer auflösen, in die reine Virtualität. Sie wird fortbestehen als ein Gebäude aus Stein und Beton und Glas, mit Magazinen und Lesepulten, in dem die Benutzer verweilen und wo auch weiterhin Bücher und Zeitschriften aufbewahrt und Wort für Wort gelesen werden.[1]
Was Dieter E. Zimmer hier vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Schrift-, Wissens- und Gedächtniskultur, bedingt durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien,[2] hofft, also das Fortbestehen der topografisch verortbaren Bibliothek, ergänzt er durch die Feststellung, dass trotz Bibliotheksbauten[3] notwendigerweise die „Bibliothek der Zukunft […] zu einem großen und rasch ausweitenden Teil eine elektronisch-digitale sein [wird]“[4], da der Informationszuwachs ein exponentieller sei.[5]
Wirft man hingegen einen Blick auf Bibliotheksvorstellungen in der Literatur und auf die dort imaginierten Räume, bietet sich mitunter ein anderes Bild, das seinen extremsten Punkt in Dystopien findet - und das verstörend auf die Leserschaft wirken kann:
Ich stehe an der erhöhten Airtrainhaltestelle, und von hier oben sieht es so aus, als wären die Trümmer der alten Bibliothek mit riesigen schwarzen Spinnen bedeckt. Die gigantischen schwarzen Saugbrenner spreizen ihre beinartigen Röhren über die Backsteine bis hinein in den Keller der Bibliothek. Der Rest des Gebäudes wurde bereits abgerissen. […] Die Arbeiter, von denen die meisten blaue Zivilkleidung tragen, saugen riesige Stapel von Papier mit den Saugbrennern auf. Mein Vater hat uns erzählt, dass sie schon glaubten, sie hätten alles vernichtet, als sie noch Stahlkisten voller Bücher fanden, die unten im Keller vergraben waren. Fast hatte es den Anschein, als habe jemand versucht, sie zu verstecken und vor ihrem Schicksal zu bewahren. Mein Vater und die anderen Restaurationsspezialisten sind die Kisten durchgegangen und haben nichts Außergewöhnliches gefunden. Daher werden sie den Inhalt dem Feuer übergeben.[6]
Ally Condie geht im ersten Band ihrer Cassia & Ky-Trilogie jedoch noch weiter - und zementiert damit Zimmers Annahme, die Bibliothek der Zukunft expandiere vor allem digital, was die Bibliothek wiederum scheinbar ortlos macht und dezentralisiert[7] - und stellt der zerstörten, architektonisch fassbaren Bibliothek eine digitale gegenüber, wie es ebenfalls in vielen Dystopien anzutreffen ist. Das Wissen allerdings, das hier gespeichert wird, ist staatlich selektiert und kontrolliert:
Hundert Lieder, Hundert Gemälde, Hundert Gedichte. Alle anderen Kunstwerke wurden vernichtet. Zerstört für immer. Zu unserem Besten, sagte die Gesellschaft, und alle glaubten es, weil es Sinn machte. Wie können wir irgendetwas richtig wertschätzen, wenn wir mit zu vielem überschüttet und belastet sind?[8]
Das Bild, das Condie zeichnet, ist ein düsteres: Ein totalitäres System, das Eheschließungen arrangiert und steuert, um genetisch gesunde Kinder zu ‚erzeugen‘, in dem das Essen kein Akt des Genusses ist, sondern der Gesundheit und Leistungsfähigkeit dient, bestimmt auch darüber, was kulturell wertvoll und aufbewahrungswürdig ist und was vernichtet wird - ein Procedere, das durchaus an Jules Vernes Dystopie Paris im Zwanzigsten Jahrhundert erinnert: „[…] classic literature and high art have died out, replaced by homogenous pap and relentless commercial advertising“[9], das gleichzeitig aber auch verdeutlicht, dass „Bibliotheken, die [im Krieg; Anm. S.P.] intakt gelassen werden, […] Werkzeuge der Unterdrückung und des Völkermords werden [können], solange sie Kanones vorschreiben, die den Dünkel eines mystischen Nationalismus und den Willen zur Reinheit vermitteln.“[10]
Bibliotheken in dem Sinn, wie wir sie kennen, sind in der von Condie erdachten Welt weder nötig noch gefragt: Das staatlich kontrollierte Wissen wird selbst in Schulbibliotheken digital und selektiert weitergegeben - jeder Bürger dieser Gesellschaft bekommt nur das Wissen geboten, das für ihn relevant ist[11] -, schreiben können die meisten Menschen nicht mehr. Es scheint auf den ersten Blick paradox, dass es noch Museen gibt, doch bei näherer Betrachtung wird klar, dass sie der Legitimierung der Staatsideologie dienen, in die sich auch die Bibliothek in einer neuen Form einzuordnen hat. So verwundert es nicht, dass im Zuge der von Condie entwickelten Handlung gerade das verbotene Wissen und somit eben auch verbotene Gedichte zu einem Zahlungsmittel werden.
Martina Bork verweist in ihrer Einleitung zur Studie über metaphorische Bibliotheksentwürfe darauf, dass die imaginierte Bibliothek in literarischen Utopien und Anti-Utopien „zumeist in der Negation als vernichtete oder massiv reduzierte Bibliothek“[12] erscheint. An diesen Aspekt und an Diskussionen um die digitalisierte Bibliothek anknüpfend und zudem berücksichtigend, dass die Bibliothek institutionell als Ort des kulturellen Gedächtnisses verstanden werden kann[13] - Stocker konstatiert, dass sich „in der [Bibliothek] Schrift, Wissen und Gedächtnis überlagern […] [und] sich das kulturelle Gedächtnis der Schriftkultur in seiner reinsten Form [manifestiert]“[14] -, werden die nachfolgenden Analysen die dystopisch ausgerichtete Trilogie Cassia & Ky von Ally Condie sowie die Eleria-Trilogie von Ursula Poznanski untersuchen. Die Masse an jugendliterarischen Dystopien macht eine Beschränkung an diesem Punkt schlicht notwendig. Im Fokus steht dabei die Frage nach der technischen Entwicklung der Bibliothek. Damit verknüpft ist die Betrachtung des dargestellten architektonischen Bibliotheksraumes und dessen topografischer Verortung in der Erzählung: Sind Bibliotheken noch an klassischen Orten zu finden - also in eigens für sie errichteten Gebäuden - und damit noch (visuell) präsent für die Bevölkerung, also noch im kulturellen Gedächtnis vorhanden, oder gibt es beispielsweise geheime Bibliotheken, die sich dem kulturellen Gedächtnis der Mehrheit in einem Staat entzogen haben, der die Lektüre von Büchern entweder sanktioniert hat oder streng kontrolliert.[15] Denn Bork hält ebenfalls fest, dass „Bibliotheken […] zu den Parametern [gehören], anhand derer der geistige und kulturelle Entwicklungsstand einer Zivilisation oder Kulturepoche bemessen wird.“[16] Damit verbunden ist die Frage nach dem Stellenwert, den die Bibliothek für die staatlichen Machthaber auf der einen und den Protagonistinnen und Protagonisten auf der anderen Hand haben.
Allie Condie: Die Cassia & Ky-Trilogie
Wie bereits erwähnt, beschreibt Condie ein totalitäres Gesellschaftssystem, in dem die Gesellschaft das Leben der Bewohner kontrolliert, von der Eheschließung über die Berufsausübung bis hin zum Tod, der bei 80-jährigen mittels ‚Sterbehilfe‘ eingeleitet wird.[17] Kontrolliert werden dementsprechend auch Wissen und Kulturgut: Jeweils 100 Werke der Musik, bildenden Kunst und Poesie wurden zur Aufbewahrung ausgewählt, alles andere Kulturgut, darunter eben auch Bibliotheken, wird zerstört, sofern es nicht ideologisch nutzbar ist für das System.[18] Unweigerlich erinnert dieses Vorgehen an Herbert George Wells Vorschlag aus dem Jahr 1938 „einer unentwegt zu aktualisierenden World Enzcyclopedia, die aus 20 oder 40 Bänden bestehen und eine Synthese und Konzentration allen Wissens in gereinigter Form anbieten sollte.“[19]
Der Grund, eine bestimmte Anzahl an Kunst- und Kulturgüter aufzubewahren, entpuppt sich narrativ als vorgeschoben - und wirkt zugegebenermaßen im Rahmen der Handlung sehr konstruiert: Um eine 100 %ige Ausrottung von Krebserkrankungen zu erreichen, dürfen die Menschen, respektive Forscher, nicht von diesem Ziel abgelenkt werden, so dass man Kulturgüter reduziert hat.
Die höchsten Funktionäre sprachen sich dafür aus, Ablenkungen wie übermäßigen Konsum von Poesie oder Musik zu eliminieren, jedoch eine gewisse Dosis davon zu gestatten, um die Kultur zu fördern und die künstlerisch-ästhetischen Bedürfnisse zu befriedigen. Das Komitee der Hundert, zuständig für jeweils ein Gebiet der Kunst, wurden gebildet [sic!], um eine passende Auswahl zu treffen. Damit begann der Machtmissbrauch der Gesellschaft. Zugleich endete das Recht der Generationen, frei zu entscheiden, ob sie unter der Herrschaft der Gesellschaft leben wollten oder nicht.[20]
Das Resultat dieses Vorgehens ist deutlich erkennbar: Effektiver arbeitende Mitglieder der Gesellschaft, deren Leben(sdauer) geplant und genau getaktet ist, so dass eine umfängliche Kontrolle - auch durch Drogen - möglich ist.[21] Wahlfreiheiten gibt es nicht mehr.
Aus der mangelnden Wahlfreiheit resultiert nun auch der die folgende Handlung bestimmende Widerstand, dem sich die Protagonisten anschließen und über den sie etwas aus einer Broschüre erfahren, die den Titel: „Die Erhebung: Eine kurze Geschichte unserer Rebellion gegen die Gesellschaft“[22], trägt. Interessant ist nun der Fundort dieser Broschüre: Auf der Flucht vor der Gesellschaft und auf der Suche nach der Erhebung, also dem Widerstand, entdecken die Protagonisten die Schrift in einer Bibliothek am Rande, oder besser: abseits der Gesellschaft.
Eingelassen und verborgen in einer Höhle - und damit der digitalen Bibliothek der Gesellschaft konträr entgegengestellt - entdecken sie, ordentlich in Kisten sortiert, zahlreiche Bücher und Dokumente, deren Wert sie zunächst nicht inhaltlich, sondern materiell bemessen: „Die Informationen in dieser Höhle sind von unschätzbarem Wert, besonders in ihrem Originalzustand […].“[23] Der materielle Wert bemisst sich für sie somit am Originalpapier, das es in der Gesellschaft nicht mehr gibt, und an den darauf geschriebenen Informationen, die somit aus einer Zeit vor der Gesellschaft herrühren.
Dem materiellen wird später ein ideeller Wert gegenübergestellt:
„Die Bücher sind schwer, deswegen konnte ich nicht viele mitnehmen“, sagt er. „Ich habe nur zwei. Aber schaut mal: Sie sind voll mit Wörtern und Bildern!“ Er öffnet sie, um sie uns zu zeigen. Eine Abbildung zeigt eine riesige geflügelte Kreatur mit kunterbuntem Rücken, die sich über einem großen Steinhaus durch den Himmel schwingt. „Ich glaube, mein Vater hat mir von diesen Büchern erzählt“, sagte ich. „Das waren Geschichten für Kinder. Sie konnten die Bilder anschauen, während die Eltern ihnen vorlasen. Wenn die Kinder dann älter wurden, konnten sie die Texte selber lesen.“ „Die müssen viel Wert sein!“, meint Vick. Ich bin anderer Meinung. Elis Bücher werden sich nicht leicht gegen irgendetwas eintauschen lassen. Die Geschichten können zwar kopiert werden, die Bilder aber nicht. Doch als Eli danach gegriffen hat, dachte er nicht an ihren Handelswert.[24]
Abgesehen von den hier verhandelten Diskursen, um was für Bücher es sich handelt und wie Lesen früher funktionierte, wird die erhaltene Bibliothekshöhle einerseits sowohl den digitalen Wissensbeständen als auch dem zerstörten Bibliotheksgebäude in der Stadt gegenübergestellt, das vorsätzlich vernichtet wurde, um die Ordnung der Hundert Werke und damit die gesellschaftliche Ordnung nicht zu gefährden. Zum anderen wird den in der Bibliothekshöhle gelagerten Büchern - die übrigens in einer höher gelegenen Höhle zum Schutz vor Flutwellen aufbewahrt werden - auf unterschiedlichen Ebenen ein Wert zugesprochen, der die eigenen Erfahrungen der Akteure reflektiert: Während die Älteren in den Büchern Tauschobjekte mit einem Handelswert sehen, der entstanden ist durch die Tatsache, dass sie in einer abgeschiedenen Bibliothek aufbewahrt wurden, sieht der jüngere Eli die Bücher mit anderen Augen als Unterhaltung, mit der er sich ablenken kann. Dementsprechend haben die drei Jungen auch zu unterschiedlichen Büchern gegriffen und sie mitgenommen.
Und dennoch kann Ky auch den Wert der Bibliothek als Ort des Wissens einordnen, wenn er Cassia erzählt, dass es in der Bibliothek alles gebe: „‚Geschichten, historische Werke, alles, was du dir nur vorstellen kannst. Jahrelang haben die Farmer sie in einer Höhle in der Felswand aufbewahrt.‘“[25]
Neben dieser Opposition materieller vs. ideeller Wert wird auch die Opposition zur beschnittenen Kultur durch die Gesellschaft deutlich eröffnet. Als Cassia die Höhle das erste Mal betritt, ist sie überwältigt:
„So viele Texte!“, staune ich überwältigt, als ich den Deckel einer der Kisten öffne und Stöße von Papier und Büchern darin entdecke. Dieser Ordnung liegt eine ganz andere Sortiermethode zugrunde - so viele Seiten, so viele Gedichte. So sieht es also aus, wenn die Gesellschaft nicht alles für uns bearbeitet, beschneidet und zurechtstutzt. […] Eine plötzliche Panik überfällt mich. „Woher soll ich wissen, was wichtig ist?“, frage ich Ky. „Denk dir ein paar Stichworte aus“, rät Ky, „und suche nach ihnen. […].“ […] Ich finde etwas, das vielversprechend aussieht - eine gedruckte Broschüre. „Von denen haben wir schon eine“, wendet Eli ein. „Vick hat einen ganzen Stapel davon gefunden.“ Ich lege die Broschüre wieder hin. Dann öffne ich ein Buch und werde sofort von einem Gedicht abgelenkt.[26]
Die Ablenkung sorgt bei Cassia dafür, dass sie sich nicht mehr auf die Suche konzentriert, sondern ihren Gedanken nachhängt, ein deutlicher Kontrast zum durchgeplanten Leben in der Gesellschaft, in dem für eigene Gedanken und Fragen kaum Raum ist und das Wissen gezielt an die Bewohner verteilt wird. Dementsprechend wird hier noch einmal deutlich, dass Gedichte nicht nur zum Denken anregen, sondern es wird - im Rückgriff auf Band 1 der Trilogie - auch klar, dass Gedicht und Poesie imstande sind, Menschen miteinander auf einer irrationalen, sprich Gefühlsebene zu verbinden, wie es bei Cassia und Ky der Fall ist, die die Erinnerung an ein Gedicht teilen und sich so verbunden fühlen.
Die Bibliothek als Ort des Wissens - und Wissen ist Macht
Insgesamt zeigt sich bereits an diesem Punkt ein interessanter Befund, der sich bestätigt findet bei einem Großteil anderer Dystopien: Wissen ist Macht, Wissen bedroht aber auch Macht. Und „[i]n der Tat haben Bibliotheken auf Grund des in ihnen gespeicherten Wissens etwas mit Macht zu tun - über den Menschen, über die Natur, über den Kosmos.“[27]
Wenn der Romanist Dietmar Rieger also in Bezug auf Utopien festhält, dass „in nahezu jeder Utopie das Wissen (im weitesten Sinn) eine entscheidende Grundlage [bildet] sowohl für Bestand und Funktionieren des Staatsgebildes als auch für die Erfüllung der Funktionen, die dem Einzelnen innerhalb des Kollektivs zukommen“ und dieses Wissen als „staatsbezogenes Wissen“ bezeichnet im Gegensatz zum „Wissen um des Wissens willen“[28], so lässt sich das auch auf Dystopien übertragen. Um die Macht der herrschenden Klasse zu sichern, muss alles Wissen kontrolliert werden, während sich Widerständler und Rebellen genau dieses verbotene Wissen zunutze machen, um gegen das herrschende System vorzugehen. Wissen und Rebellion sind also deutlich an Wissen und damit an Bibliotheken geknüpft, die der Gesellschaft entzogen und im Verborgenen weitergeführt werden müssen, um bestehendes und verbotenes Wissen bewahren zu können.[29]
Zugleich wird deutlich, dass es besonders das virtuelle Wissen ist, das staatlich kontrolliert wird - neben den staatlich erfassten Büchern -, während die digital nicht erfassten Bücher, die oftmals verboten sind, zu einer Gefahr für den Staat werden, und dementsprechend an verborgenen oder gar vergessenen Orten weiter existieren.
Ursula Poznanskis Eleria-Trilogie
Auch in Ursula Poznanskis Eleria-Trilogie, benannt nach der Protagonistin der drei Einzelbände Die Verratenen, Die Verschworenen und Die Vernichteten, wird nicht-digitalisiertes Wissen, das außerhalb der Gesellschaft existiert und versteckt wurde, zu einer Gefahr für staatliche Machtinstanzen. Poznanski etabliert in ihrer Trilogie - wie es auch Condie tut - die Opposition zweier Bibliotheken, die mit den jeweiligen topografischen Gegebenheiten korrespondiert, in denen die Bibliotheken angesiedelt sind.
Auf der einen Seite findet zunächst das gesellschaftliche Leben in den sogenannten Sphären statt, riesigen Kuppelbauten, in denen privilegierte weil die Katastrophe überlebende Menschen auf eine Karriere innerhalb dieses Systems hinarbeiten. Das Leben erscheint geordnet und strukturiert - und der Gedanke der Protagonistin Eleria, genannt Ria, dass „[w]ir in den Sphären […] die Art der Zivilisation bewahrt [haben], wie man sie vor dem Ausbruch kannte“[30], wird erst später konterkariert durch die Erkenntnis, dass nicht ein natürlicher Vulkanausbruch das Leben der Menschen verändert hat, sondern gezielt eingesetzte Bomben, die die Anzahl der Menschen auf der Erde dezimieren sollten. Entsprechend dem strukturierten Leben in den Sphären ist auch das Wissen in den Bibliotheken systematisiert und erfasst und besteht sowohl aus digitalen Büchern - und weckt an diesem Punkt Assoziationen an die uns bekannten E-Books -, als auch aus noch auf echtem Papier gedruckten Büchern, deren Wert sich an ihrer Originalität bemisst, denn echtes, altes Papier ist kostbar in einer Zeit, in der Ressourcen knapp sind[31]: „Alte Bücher bekommt man nur in einer Schatulle aus Metall ausgehändigt, in der man sie aufbewahren und transportieren soll.“[32], so dass daran die Sorgfalt zu erkennen ist, mit denen „in den Sphären die alten Papierbücher behandelt [wurden], in dem Wissen, dass sie unwiederbringliche Schätze sind.“[33] Im Gegensatz zu Condies ‚Bibliotheksentwurf‘ des jederzeit an jedem Ort verfügbaren Wissens und der Vernichtung von Bibliotheksgebäuden und damit Büchern wird hier eine Kombination von Digitalisaten und lokalisierbarer Bibliothek mit klassischem und ausleihbaren Buchbestand entworfen.
Ria schätzt die echten Bücher jedoch noch aus einem anderen Grund:
Wenn ich die Wahl zwischen kostbarem, bedruckten Papier und einem Download auf mein Datenterminal habe, entscheide ich mich meistens für das Buch, auch wenn es unpraktischer ist. Besonders dann, wenn es um Geschichte geht. Die Seiten vermitteln den Eindruck, als hätten sie all das, was auf ihnen geschrieben steht, selbst miterlebt. Andere haben lange vor mir ihren Blick auf die gleichen Zeilen gerichtet und manchmal kommt es mir so vor, als könnte ich ihre Gedanken hören.[34]
Bücher werden somit nicht nur aufgrund ihrer Materialität geschätzt, die in der neuen Zeit nicht mehr verfügbar ist, sondern auch weil sie ein Zeugnis der alten Zeit sind, quasi ‚durch die Zeit gegangen sind‘ und als Zeitzeugen betrachtet werden, denn - so hält Matthew Battles im Hinblick auf Bibliotheksbücher fest:
In den materiellen Bestandteilen von Büchern gibt es viele Anzeichen, die auf das Vergehen der Zeit hinweisen. Oft findet man auch Angaben über den Erwerb des Buches, die auf die Rückseite der Titelei gestempelt oder geschrieben wurden, und die Leihzettel geben Auskunft darüber, ob, wann und wie oft Bücher ausgeliehen worden sind. Beim Zustand der Bindungen und des Papiers verliert die Zeit ihre Linearität und offenbart ein Fluidum, das eng mit unseren persönlichen Erfahrungen verbunden ist. Viele neu erschienene Bücher sehen bald heruntergekommen aus und zerfallen schnell: Die Buchdeckel sind lädiert, die Buchrücken lösen sich ab, die Seiten reißen ein oder werden vollgekritzelt. […] Einst ließen [auch] Zettelkataloge genaue Spuren des Gebrauchs über die Zeit erkennen: Die viel benutzten Zettel bekamen Eselsohren und wurden schmutzig vom vielen Herumblättern und Festhalten, während die unbenutzten Zettel schön weiß und frisch blieben und von ihren Nachbarn beschützt wurden.[35]
Auf fassbare, haptische Art geben die Bücher somit ihr Wissen preis und entziehen sich in Poznanskis Roman der Anonymität des Datenterminals, auf das Ria beliebig viele Bücher unterschiedlichen Titels downloaden kann.
Es verwundert daher kaum, dass Poznanski dieser Bibliothek in den Sphären auf der anderen Seite eine andere Bibliothek außerhalb der Sphären gegenübergestellt hat, die das Gegenteil der digitalen Ordnung repräsentiert und dennoch so viel Wissen beinhaltet, das es vor allem von Ria zu entdecken gilt. Das Leben außerhalb der Sphären wird bestimmt durch Clans, die sich in vielen Regionen gebildet haben und ums Überleben kämpfen. Während den Sphärenbewohnern immer wieder erklärt wird, man wolle den Menschen außerhalb der Sphären helfen und sie in die Sphären integrieren, verfolgt die Regierung heimlich den Plan, die Clans nach und nach zu eliminieren, um weiteres fruchtbares Land zu gewinnen, damit die Versorgung der Sphärenbewohner gesichert ist.
Als Ria in der Außenwelt - sie und fünf andere Studenten der Akademie sollen von der Regierung umgebracht werden, können jedoch entkommen und werden vom Clan der Schwarzdornen gefangen genommen - eine Bibliothek entdeckt, wird sie konfrontiert mit einer Fülle an Büchern, der sie - wie auch Cassia in Condies Trilogie - staunend gegenübersteht:
Weiß glänzende Säulen stützen hoch über uns eine bemalte Decke, der Steinboden schimmert in der Farbe warm geriebener Haut, durchbrochen von braunroten Mustern - Rauten, Rechtecke, Kreise, Blüten. Die Holzwände sind unversehrt und voll mit Büchern. Richtige alte Bücher, mit Seiten aus Papier und Buchstaben aus Druckerschwärze. […] Ich drehe mich im Kreis, um kein Detail dieses Palastes zu übersehen […].[36]
Die Bibliothek der Außenwelt beschränkt sich jedoch nicht nur auf den oberen und damit repräsentativen Teil, sondern verfügt auch über einen Tiefspeicher, in dessen „unterirdischen Hallen früher all die Bücher gelagert [wurden], die in den oberen Teilen der Bibliothek keinen Platz mehr hatten.“[37] Und dieser Tiefspeicher hat es in sich, wird er doch als Ort eingeführt, an dem das Chaos herrscht:
Die Korridore zwischen den hohen Buchregalen scheinen endlos.[38] Gestern habe ich begonnen, mich durch den zweiten von links zu arbeiten, weil das pure Chaos, das dort herrscht, mich fasziniert. Alles durcheinandergeworfen. Auf dem Boden Bücherhaufen, die Regale fast leer. Es sieht so aus, als hätte dort jemand einen unkontrollierten Wutanfall ausgelebt. Ein solches Szenario wäre in den Sphären unmöglich gewesen, schon aus Platzmangel. Dort war Ordnung oberstes Prinzip, alles wurde sortiert, katalogisiert, nummeriert. Nummern und Zahlen tragen auch die Bücher hier unten; Quirin hat mir erklärt, dass diese Signaturen den Platz bezeichnen, an dem man das jeweilige Werk finden soll. Sollte. Nichts davon hat mehr Gültigkeit.[39]
Was - gemessen an der Zeit des Lesers - aus heutiger Sicht Standard ist, nämlich Bücher mittels Signatur zu kennzeichnen und mittels Verschlagwortung zu ordnen,[40] verliert in der Zukunft seine Gültigkeit durch die Zerstörung der Bibliothek, behält andererseits in der geordneten Bibliothek der Sphären jedoch weiterhin Gültigkeit.
Das Chaos in der Bibliothek geht einher mit der Zerstörung von Büchern, deren Seiten verklebt sind und die Ria als „verlorene […] Bücher“ bezeichnet: „Verlorene Bücher sind verlorenes Wissen, verlorene Geschichte, verlorene Gedanken.“[41] Im Zusammenhang mit der Tatsache, dass ein großer Teil der über sieben Millionen Bücher verheizt wurde, wie Ria erfährt - „In der eisigen Kälte der langen Nacht und der Zeit, die darauf folgte, war den Menschen Wärme wichtiger als Wissen.“[42] -, wird die Sorgfalt erklärbar, mit der die noch vorhandenen Bücher gesichtet und neu sortiert werden sollen, um Wissen zu generieren, das für die Menschen in der Außenwelt nützlich ist. Die wissensvermittelnde Rolle von Büchern erweist sich hier als existentiell lebensnotwendig. Das zeigt sich vor allem daran, dass Bücher über Ackerbau und Bodennutzung einen höheren weil praktischen Nutzen haben als Bücher, die ‚nur‘ dem Schönen und der Erbaulichkeit dienen, wie Bücher über kunsthistorische Phänomene, die im Alltag keinen praktischen Nutzen haben.[43]
Gerade diese Bücher ohne praktischen Nutzen - hier vorrangig Bücher über Maler und Musiker - sind es jedoch, die die Informationen beherbergen, die Ria sucht, nämlich Teile aus Jordans Chronik, die der Schreiber der Chronik dort versteckt hat in dem Wissen, dass niemand in ‚nutzlosen‘ Büchern nach seinen Texten suchen wird.[44]
Somit sind die Bibliotheken mehr als Paläste des Wissens und mehr als reine Wissensspeicher. Für Ria werden sie zu Orten, an denen sich ihr Schicksal entscheidet: In der Sphärenbibliothek belauscht sie drei Obrigkeiten und erfährt, dass sie und fünf Kommilitonen eliminiert werden sollen.[45] In der Bibliothek des Clans der Schwarzdornen findet sie einzelne Seiten von Jordans Chronik, einem handschriftlichen Dokument, dessen Inhalt sich ihr erst später entschließt und zum Verständnis ihrer eigenen Situation beiträgt[46]: Alle Babys aus unterschiedlichen Clans wurden und werden mit einem Virus infiziert und so zu biologischen Waffen, die gegen die Sphären eingesetzt werden. Möglich wird dies, da viele Sphären kleine Kinder rauben - Ria ist eines davon -, um sie großzuziehen und um an neues Erbgut zu gelangen. Das Virus ist so programmiert, dass es ab dem 16. Lebensjahr ausbrechen kann. Werden die Kinder nicht geraubt, werden sie im Alter von sechs Jahren mit einem Gegenmittel behandelt, so dass das Virus nicht mehr ausbrechen kann.
Geheimnisse und deren Aufdeckung bzw. Lösung sind somit eng an Bibliotheken geknüpft, so dass diese Orte über reine Wissenshorte hinausgehen.[47] Die Entdeckung des Wissens gerade außerhalb der Sphären wird jedoch nur möglich durch eine Bibliothek, die noch nicht vollständig zerstört ist, sondern sich partiell in einem Zustand der Unordnung befindet, derer Ria sich annehmen soll. Und auch hier zeigt sich, dass Wissen und Macht eine Einheit bilden, denn wer über das Wissen verfügt, hat auch die Macht, das bestehende System zu ändern - oder es zu schützen,[48] so dass „die Macht der Herrscher [letztlich doch] im Zaum [gehalten werden kann].“[49]
Was sich hier ebenfalls zeigt und symptomatisch ist für viele Dystopien ist die Tatsache, dass sich Wissen im Laufe der Zeit verändert hat durch sich wandelnde gesellschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen. Ria findet Bücher, deren Inhalt für sie nicht mehr zu erschließen ist, für den Leser der Geschichte jedoch schon:
Manche Buchtitel lassen mich ratlos zurück, zum Beispiel Die ultimative Google-Bibel. Ich vermute dahinter ein religiöses Werk, aber das stellt sich als Irrtum heraus, es ist ein Ratgeber, der helfen soll, mit einer früheren Form von Datenterminals besser umzugehen.[50]
Hinzu kommt, was sich bereits in Condies Trilogie Cassia & Ky gezeigt hat, nämlich dass Bücher und Texte Menschen auf emotionaler Ebene miteinander verbinden. Auch Ria fühlt sich durch einen Buchtitel, den sie in der Bibliothek findet an den künftigen Clanfürsten Sandor erinnert, in den sie sich verliebt hat:
Stattdessen finde ich etwas anderes. Ein Buch mit dem Titel Falknerei - ein Nachschlagewerk für Prüfung und Praxis. Beim Durchblättern stoße ich auf das Bild eines Sakerfalken, der Kelvin zum Verwechseln ähnlich sieht. Die weißen Federn mit den schwarzen Sprenkeln, der gelbe Schnabel. Sandor kann lesen, das hat er letztens selbst bestätigt, und ich werde das Buch für ihn mitnehmen. Es ist nur ein kleines Geschenk im Vergleich zu der Lampe, die ich von ihm bekommen habe, aber ich hoffe, es wird ihn freuen.[51]
Die Bibliothek wird somit auf einer anderen Ebene, nämlich auf einer emotionalen, zu einem Ort für Ria, an dem sie sich erinnert, an dem sie aber auch trauern und in den sie sich zurückziehen kann, wenn es ihr schlecht geht oder sie sich durch Arbeit ablenken will.
Orte des verbotenen, verschütteten und wiederentdeckten Wissens: Bibliotheken in dystopischen Jugendromanen
Sowohl die hier analysierten Trilogien als auch die einzelnen erwähnten Bücher lassen sich - wie inzwischen mehrfach deutlich geworden ist - dem Genre der Dystopie zurechnen.[52] Als prototypisch anzusehen sind für v. a. jugendliterarische Dystopien in Anlehnung an Ralf Schweikart
exorbitante Vorgeschichten wie Kriege, Naturkatastrophen oder demographische Entwicklungen […], aus denen heraus sich eine neue Gesellschaftsform gebildet hat. Die Herrschenden sind oftmals Vertreter des Bösen, zumindest aber gibt es eine Gruppe, die mit Gewalt die Herrschaft übernehmen will, im Gegensatz zu den meist aus der Breite der Bevölkerung stammenden, die Verhältnisse jedoch tiefergehend reflektierenden, positiven Helden. Und auch die konfliktreichen Verwerfungen zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen gehören zu den typischen Elementen.[53]
Elena Zeißler konstatiert entsprechend, dass Dystopien „scharf auf alle Krisensituationen der letzten einhundert Jahre [reagieren] - eine Tradition, die bis heute andauert“, und führt weiter aus, dass „[a]m Anfang des 21. Jahrhunderts […] die politische und gesellschaftliche Lage alles andere als befriedigend und stabil [ist], was in der dystopischen Phantasie einen Ausdruck findet.“[54] Dabei geht es keineswegs darum, eine unveränderbare Zukunft zu entwerfen, sondern durch die Dystopie auf Missstände aufmerksam zu machen und deren Verhinderung zu erwirken.[55] Schweikart verweist zudem darauf, dass nicht nur die „wohlvertraute Welt aus den Fugen [gerät]“[56], sondern dass sich deren Katastrophen oftmals „ins Private [verschieben], in das Miteinander der Protagonisten und den Kampf gegen das Böse […].“[57] Nicht mehr die Gesellschaft und deren Zustände stehen im Zentrum, sondern die Auswirkungen auf die Individuen, die in den Dystopien leben.[58]
In diesen neuen Gesellschaftsformen - die die Grundlage für dystopisches Schreiben bilden - wird das Alte oftmals aus unterschiedlichen Gründen verdrängt oder zerstört. Und wenn Juri Lotmann festhält, dass sich „jede Zerstörung von Kultur als Zerstörung von Gedächtnis, als Tilgung von Texten, als Vergessen von Zusammenhängen“[59] manifestiert, lassen sich auch Bibliotheken unter diese Zerstörung von Kultur fassen,[60] so dass Borks Aussage, dass die Bibliothek in Anti-Utopien „zumeist in der Negation als vernichtete oder massiv reduzierte Bibliothek“[61] erscheint, für jugendliterarische Dystopien bestätigt werden kann. Wissen wird zerstört, um die Macht der Herrschenden nicht nur zu manifestieren, sondern geradezu zu zementieren.
In den hier analysierten Trilogien hat sich gezeigt, dass das in Bibliotheken aufbewahrte Wissen an zwei Polen angesiedelt ist: Einerseits gibt es real-existente Bibliotheken mit ‚analogen‘ Büchern, die entweder noch innerhalb der Gesellschaften vorhanden und somit staatlich kontrolliert sind, oder die außerhalb der Gesellschaften existieren in alten Bibliotheksgebäuden oder Zwischenlagern, um später in andere Räume umzuziehen. Andererseits existiert v. a. in den technisierten und damit einhergehenden privilegierten Gesellschaften ein umfangreiches digitales Wissen, das staatlich kontrolliert wird und u. U. auch selektiert an die Bewohner weitergegeben wird. Die neuen staatlichen Systeme haben auch die Kontrolle über Wissen, Bücher und damit auch über Bibliotheken. Die Suche nach ‚wirklichem‘ Wissen, also i. d. R. der Wahrheit hinter dem staatlichen System, vollzieht sich dementsprechend dann auch in den Bibliotheken, die nicht staatlich kontrolliert werden. Dies bietet Anknüpfungsmöglichkeiten an ein breites Spektrum an Romanen, in denen in Bibliotheken nach Wissen gesucht wird, wobei sich die Suche oftmals auf ein bestimmtes Buch konzentriert.[62] Diese Suche nach Wissen, die sich hier manifestiert und die zum Dreh- und Angelpunkt der Handlung wird, kann gleichzeitig symbolisch gelesen werden als Angst vor Wissensverlust einerseits und der andererseits damit verbundenen Angst vor Fremdbestimmtheit durch den Staat.
Gleichzeitig scheint sich ein Muster zu ergeben, stützt man sich darauf, dass die Bibliothek „das kulturelle Gedächtnis in räumlicher, konkreter Form [verkörpert]“[63]: Sobald in jugendliterarischen Dystopien eine Bibliothek bewusst oder zufällig aufgesucht wird, kann davon ausgegangen werden, dass sich hier vergessenes, ‚überschriebenes‘ Wissen finden lässt, das den Sturz von diktatorischen Gesellschaftsentwürfen ermöglicht.
Während innerhalb der staatlichen Systeme Bibliotheken nach bekannten Mustern funktionieren - das vorhandene Wissen ist per Signatur erfasst und verschlagwortet -, herrschen in den Bibliotheken außerhalb der Gesellschaft oftmals chaotische Zustände: Bücher wurden verbrannt, um im Winter das Überleben zu sichern, oder liegen unter Trümmern verschüttet. Dementsprechend sind Signaturen obsolet, die ohnehin aufgrund fehlender Technik nicht mehr online ermittelt werden können.[64] Und selbst wenn Bücher ordentlich behandelt werden, werden sie pragmatisch verpackt, so dass dennoch ein manuelles Suchen nach Informationen notwendig ist. Die üblichen Regeln einer Bibliothek sind außer Kraft gesetzt.
Darüber hinausgehend hat sich gezeigt, dass besonders mit dem verbotenen Wissen und damit auch mit der Bibliothek Widerstand verknüpft wird. Dies ist vor allem der Fall, wenn in verborgenen Bibliotheken Wissen gehütet und versteckt wird, das vor den Machthabern des herrschenden Systems, das sich nicht selten als totalitär entpuppt und mit Drohungen, Strafen und sogar dem Tod ihre Bewohner kontrolliert, versteckt werden muss. Diese Bibliotheken und damit auch das in den Büchern enthaltene und von staatlicher Seite verbotene und sanktionierte Wissen, weil machtgefährdend, befinden sich in den seltensten Fällen innerhalb der Gesellschaft: Da die Herrschenden die Kontrolle ausüben über das Wissen, muss alles, was nicht der Auswahl und damit der Vorschrift der Gesellschaft entspricht, zerstört werden, um die Macht zu sichern.
In den meisten Fällen finden sich Bibliotheken mit verbotenem Wissen - und damit analog zum Widerstand - an verborgenen Orten, die in der Mehrzahl der Fälle außerhalb der Gesellschaft liegen und sich topografisch als Heterotopien verstehen lassen, als abgeschottete Orte, die nur durch den Vollzug eines Ritus betreten werden können, um das Wissen einsehen zu können.[65] Erst durch die Einsichtnahme in das verbotene Wissen wird der Sturz der Machthaber möglich, der sich nicht selten in einem Akt der Rebellion vollzieht.
Bibliotheken werden zu einem Ort stilisiert, an dem sich die Macht der Bücher konzentriert, die dazu beitragen kann, in den richtigen Händen die i. d. R. diktatorisch aufgebauten Gesellschaftssysteme zu stürzen, während die Bücher in den falschen Händen jedoch die Kontrolle über die in der Gesellschaft lebenden Menschen sichern. Dementsprechend lässt sich konstatieren: Wer das Wissen hat, hat auch die Macht. Relevant ist allerdings, wie das Wissen angewendet wird. Die Protagonistinnen der hier untersuchten Dystopien teilen ihr neues Wissen oder setzen es ein, um die schmutzigen Machenschaften der Herrschenden zu entlarven. Öffentlich verfügbares Wissen - und damit auch die öffentlich zugängliche Bibliothek - verliert für den Staat seine Bedeutung als Machtsicherungsinstrument und wird zu einem Druckmittel der Menschen, die unter dem Herrschaftssystem zu leiden haben. So wird auch Wissen, das nicht mehr kanonisch und somit nicht mehr im kulturellen Gedächtnis verankert ist,[66] wieder zugänglich und erinnerbar für jedermann und kann ins allgemeine kulturelle Gedächtnis überführt werden, vor allem wenn man berücksichtigt, dass „Bibliotheken als kulturelle Archive fungierten: bei einem Wechsel der Aufmerksamkeit konnte das Vergessene aus dem Archiv herbeigeholt und dem kulturellen Gedächtnis zurückgegeben werden“[67], was jedoch nur ermöglicht wird durch „die lokalistische Struktur der (konventionellen) Bibliothek, die Eigenes und Fremdes/Vergessenes zueinander in Beziehung setzt und damit jene mnemotechnische Aneignung ermöglicht, aus der unser kulturelles Gedächtnis erwächst.“[68] Genau dies zeigen auch die hier untersuchten Dystopien, deren - im Sinne Jochums - lokalisierbare konventionelle Bibliotheksbestände das Wissen bereithalten, das - durch die Protagonistinnen[69] wieder entdeckt - zum Sturz der Staatssysteme beitragen können, indem es - und dies muss der Vollständigkeit halber festgehalten werden - mittels der staatlichen technischen Möglichkeiten, die von Rebellen infiltriert wurden, verbreitet werden kann.
Abschließend sei bemerkt, dass in Dystopien auch noch ein anderes Bild von Bibliotheken gezeichnet werden kann, indem z. B. eine (konventionelle) öffentliche Bibliothek bzw. ein öffentliches Bibliotheksgebäude im dystopischen Kontext auch komplett ihrer Funktion enthoben werden kann und weder als (H)Ort des Wissens noch als Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses fungiert. Ein derartiges Beispiel führt Daniel Höra in seinem Jugendroman Die Welt am Ende an: Im dystopischen Szenario einer Welt, in der Lebensmittel knapp und Städte abgeschottet werden, wird die Bibliothek zu einer Kaserne für die Soldaten, die in einem düsteren Berlin für Ordnung sorgen und die Wahlen für den neuen Senat schützen sollen. Die Bibliothek verliert ihre Funktion vor allem dadurch, dass die Zefs, „Arbeiter und alle, die keine Soldaten oder Senatsbürger waren“[70], nicht mehr lesen können und sich zudem „mit dem alten Papier der Bücher gut Feuer machen [lässt].“[71] Der theoretische Nutzen der öffentlichen Bibliothek wandelt sich ebenso wie es der Nutzen von Büchern tut: Beides wird unter praktischen Gesichtspunkten betrachtet und funktional umgedeutet.
Während in Condies Roman alle Menschen zumindest noch lesen können - die Fähigkeit schreiben zu können, wurde ihnen nicht beigebracht -, können die unteren Gesellschaftsschichten in Höras Roman nicht einmal mehr lesen.[72] Hier zeigt sich, dass über Lesen und Schreiben und vor allem auch über den Besitz von Büchern - Höra etabliert hier im Gegensatz zu den nicht vorhandenen staatlichen Bibliotheken private Büchersammlungen - die Zugehörigkeit der Menschen zu Gesellschaftsschichten etabliert wird. Das Wissen ist für die ‚einfachen Menschen‘ verloren, die Zefs sind fremdbestimmt, so dass Wissen weiterhin elitär bleibt und mit Macht verknüpft ist.
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