Zusammenfassung
Der nachfolgende Aufsatz berichtet über die Einführung der Dewey Decimal Classification (DDC) an schwedischen Bibliotheken im Rahmen eines Projekts der schwedischen Nationalbibliothek (Kungliga biblioteket) während der Jahre 2009 bis 2012. Dazu wird zunächst ein kurzer Überblick über den heutigen Stand der sachlichen Erschließung an schwedischen Bibliotheken gegeben, geschichtliche Hintergründe beschrieben und kursorisch die Struktur der Klassifikation „SAB:s Klassifikationssystem för svenska bibliotek“ (SAB) sowie des Schlagwortsystems „Svenska ämnesord“ (SAO) erläutert. Hiernach werden die Projektziele der DDC-Einführung und deren Umsetzung dargestellt. Beleuchtet wird weiterhin, wieso die DDC an Wissenschaftlichen Bibliotheken in Schweden mittlerweile große Verbreitung gefunden hat, nicht jedoch an den Öffentlichen Bibliotheken.
Abstract
The paper chronicles the introduction of the Dewey Decimal Classification (DDC) in Swedish libraries as part of a project of the Swedish National Library (Kungliga biblioteket) in the years 2009 - 2012. First a quick overview of the current state of affairs in terms of subject indexing at Swedish libraries is presented, followed by a brief historical outline and a cursory description of both the classification structure of SAB (classification system in Swedish libraries) and the keyword system SAO (Svenska ämnesord). The objectives of introducing DDC and some implementation issues are described, and a final section analyzes why DDC has found widespread use in scientific libraries but is, as yet, rarely used in Sweden’s public libraries.
Ein Überblick über die Sacherschließung in Schweden
„Unsere Benutzer scheinen es einfacher zu finden, nach Ziffern als nach Buchstaben zu suchen […].“ [1]
„Unsere Auffassung ist es, dass man die DDC zur Regalaufstellung nicht anwenden kann, da es vielen schwer fällt, sich die Zifferkombinationen zu merken und es zu Verdrehern kommt.“[2]
Das schwedische Bibliothekswesen blickte bis vor wenigen Jahren auf eine fast hundert Jahre währende konsistente Klassifikationslandschaft zurück. Bis auf wenige Ausnahmen wendeten alle Bibliotheken, von der Dorfbibliothek bis zur Königlichen Bibliothek (KB), der Nationalbibliothek Schwedens, das gleiche Klassifikationssystem an: Die alphanumerische SAB (SAB:s Klassifikationssystem för svenska bibliotek). Die vorliegende Arbeit, zurückgehend auf ein mehrmonatiges Praktikum an der Universitätsbibliothek Umeå im Jahre 2012, wird im ersten Teil einen knappen Überblick über den aktuellen Stand der Sacherschließung in Schweden geben, um danach eingehender die Einführung der Dewey Decimal Classification (DDC) in Schweden zu beschreiben.
Der schwedische Sonderweg in Skandinavien
Um die Jahrhundertwende zwischen 19. und 20. Jahrhundert kam dem Öffentlichen Bibliothekswesen der USA aus skandinavischer Sicht eine Vorreiterrolle zu. Aufgrund des gesteigerten Interesses an der Entwicklung in der neuen Welt wurden mehrere Studienreisen aus Skandinavien in die Vereinigten Staaten unternommen. Hierbei wurde der Blick auch auf die damals noch junge DDC geworfen, welche zu dieser Zeit dort mehr und mehr Verbreitung fand. Norwegen übernahm schon in den 1890er Jahren die DDC ohne weitere Anpassungen an nationale Besonderheiten, Dänemark folgte 1915 mit einer abgewandelten Version, da die Klassen für die nordischen Staaten in der Originalausgabe nach Meinung der dänischen Anwender zu „schwerfällige Notationen“ erhielten, die „schwer zu handhaben“ seien[3]. Schweden folgte seinen skandinavischen Nachbarländern bei dieser Entscheidung damals nicht. Hansson stellt hierfür als Gründe heraus, dass
das schwedische Öffentliche Bibliothekswesen eine Tradition von alphanumerischen Klassifikationen pflegte,
der damalige Musterkatalog, der staatlich geförderte Bücher enthielt, eine solche anwandte,
ein alphabetisches System durch seine mehr als doppelt so vielen Hauptklassen leichter zu handhaben sei und
eine Anpassung an schwedische Gegebenheiten die Vorteile des internationalen Systems zunichte machen würde[4].
Die klassifikatorische Sacherschließung
Sveriges Allmänna Biblioteksförenings Klassisfikationssystem för svenska bibliotek, so der volle Name der schwedischen Klassifikation, erschien 1921 in der ersten Auflage, nachdem 1917 von der SAB (aufgegangen in der Svensk Biblioteksförening) ein Komitee eingesetzt worden war, „[…] ein für öffentliche und Schulbibliotheken samt anderer vergleichbarer Bibliotheken angemessenes Katalogsystem, einschließlich Anweisungen zur Verzeichnung der Buchtitel als auch zur Klassifizierung der Werke auszuarbeiten.“[5] Nach der vierten Auflage 1956, bei der es zum ersten Mal zu einer umfassenden Revision des Systems gekommen war, gingen auch die Wissenschaftlichen Bibliotheken zur Anwendung der SAB über[6].
An dieser Stelle folgt eine kurze Übersicht über die Struktur des SAB.[7]
Die SAB bestehen aus 25 Hauptklassen, die sich durch so genannte „Ergänzungszeichen“ erweitern lassen.
Buch- und Bibliothekswesen |
A |
Allgemeines und Gemischtes |
B |
Religion |
C |
Philosophie und Psychologie |
D |
Erziehung und Bildung |
E |
Sprachwissenschaft |
F |
Literaturwissenschaft |
G |
Schöne Literatur |
H |
Kunst, Musik, Theater und Film |
I |
Archäologie |
J |
Geschichte |
K |
Biographie mit Genealogie |
L |
Ethnographie, Sozialanthropologie und Ethnologie |
M |
Geographie |
N |
Gesellschafts- und Rechtswissenschaft |
O |
Technik, Industrie und Kommunikation |
P |
Wirtschaft |
Q |
Sport und Spiel |
R |
Militärwesen |
S |
Mathematik |
T |
Naturwissenschaften |
U |
Medizin |
V |
Musikalien |
X |
Tonträger |
Y |
Zeitungen |
Ä |
Zur Untergliederung der Hauptklassen werden Buchstaben angefügt. Die Ergänzungszeichen lassen sich in sieben Kategorien unterteilen:
I. |
Geographische Ergänzung (Strichergänzung) |
Die Notation wird durch einen Bindestrich und der zugehörigen geographischen Bezeichnung, die aus der Klasse N abgeleitet wird, ergänzt. |
|
Beispiel: |
|
Mzaj-db = Weihnachtsfest in Norwegen. |
|
Mzaj = M Ethnographie, Sozialanthropologie und Ethnologie - Mz Volksglaube und -gebräuche - Mza Feiertage und Feste - Mzaj Weihnachtsbräuche |
|
Db = N Geographie - Nd Übriges Nordeuropa (Schweden bildet eine eigene Klasse= -- N) db Norwegen |
|
II. |
Inhaltliche Ergänzung (Doppelpunktergänzung) |
Eine inhaltliche Spezifizierung einer Thematik. Die SAB sind hier jedoch sehr restriktiv und erlauben diese nur bei wenigen Klassen. |
|
Beispiel: |
|
Ab:oe = Bibliotheksgesetzgebung |
|
Ab = A Buch- und Bibliothekswesen - Ab Bibliotheken |
|
Oe = O Gesellschafts- und Rechtswissenschaft - Oe Rechtswissenschaft |
|
III. |
Chronologische Ergänzung (.1 -.59 Zeitergänzung) |
Klassen mit „historischem Charakter“ werden zeitliche Ergänzungen in Form von Zahlen hinzugefügt, an die jeweils ein zeitlicher Abschnitt geknüpft ist. |
|
Beispiel: |
|
Gk.42 = Über spanische Literatur während des Siglo de Oro |
|
Gk = G Literaturwissenschaft - Gk. Einzelne literarische Perioden - Gk.4 Die neue Zeit - Gk.42 1500 - 1700 |
|
IV. |
Ergänzungen für Monographien (z-Ergänzung) |
Die Ergänzung dient bei der systematischen Aufstellung dazu, Monographien innerhalb einer Klasse nach Körperschaft, Personennamen oder Ortsnamen zu sortieren, wobei die Anwendung streng begrenzt ist. |
|
Beispiel: |
|
Ocf-i.06z PCI = Die italienische kommunistische Partei PCI während der 1990er Jahre |
|
Ocf-i = Staatswesen und Politik anderer Länder - Italien |
|
06 = eine Ergänzung, die nur für diese Klasse gilt und für „Politische Parteien“ steht |
|
z PCI = Die Partei PCI wird in diesem Werk behandelt |
|
In der Regel würde hier eine Doppelklassifizierung gewählt, indem mit Ocf-i:k.59 auf den zeitlichen Aspekt hingewiesen würde. |
|
V. |
Formergänzungen (Klammerergänzung) |
Die inhaltliche Form wie Kongressschriften, Periodika, Gesetze etc. kann hiermit gekennzeichnet werden. |
|
Beispiel: |
|
Ab:oe(u) = Bibliotheksgesetz |
|
Ab:oe = Bibliotheksgesetzgebung |
|
(u) = Gesetze |
|
VI. |
Sprachliche Ergänzung (Gleichheitszeichenergänzung) |
Mit dieser Ergänzung wird die Sprache des Dokuments angegeben. Ähnlich der geographischen Ergänzungszeichen folgt die sprachliche den Einteilungen der Klasse F Sprachwissenschaft. |
|
Beispiel: |
|
Cba=f = Das alte Testament auf Deutsch |
|
Cba = Altes Testament |
|
F= F Sprachwissenschaft - Ff Deutsche Sprache |
|
In der Klasse H Schöne Literatur bietet das System zwei Möglichkeiten an, Übersetzungen zu klassifizieren. Die erste sammelt die Literatur nach der Übersetzungssprache, die zweite nach der Originalsprache. Die erste Methode ist gängige Praxis in Öffentlichen, die zweite in Wissenschaftlichen Bibliotheken. |
|
VII. |
Ergänzungen für Medienart und Zielgruppe |
Zur gesammelten Aufstellung von Medienarten bzw. zur Sortierung nach Zielgruppen, können die Notationen spezifiziert werden. |
|
Beispiel: |
|
Abdc/VK, uf = Video über die UDK für Kleinkinder |
|
Abdc = Klassifikation |
|
VK = Videokassette |
|
Uf = Kleinkinder |
Die verbale Sacherschließung
Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts existierte in Schweden keine geregelte, auf kontrolliertem Vokabular basierende Sacherschließung. Einige Bibliotheken führten ihren eigenen Thesaurus, viele verzichteten gänzlich auf Verschlagwortung. Angeregt durch die IFLA-Konferenz Subject Indexing Principles and Practices in the 90’s 1993 wuchs das Interesse an verbaler Sacherschließung in Schweden Ende der 90er Jahre an[8] und im Dezember 1999 wurde die Datenbank mit dem Titel Svenska ämnesord (SAO) eingerichtet. Dazu bediente man sich des relativen Index’ der SAB, so dass das Projekt mit 27.000 Termen begonnen werden konnte. In dieser Menge waren ebenfalls von der KB bereits verwendete Terme enthalten. Eine Konkordanz zwischen Library of Congress Subject Headings (LCSH) und SAO folgte, die nicht nur bei der Strukturierung, sondern auch zur Fremddatenübernahme behilflich sein sollte. Der Katalogisierer kann nach LCSH verschlagwortete Dokumente anhand der Konkordanz mit den schwedischen Entsprechungen anreichern. Mit Orientierung an den LCSH konnten die SAO in eine hierarchische Relation gebracht und mit weiteren aus dem amerikanischen Schlagwortsystem übersetzen Termen (über-, untergeordnete und verwandte) aus den LCSH angereichert werden[9]. Als Basis für die Anwendungsregeln folgte die KB internationalen Empfehlungen[10], wählte als Vorbilder die genannten LCSH und die französischen Répertoire d’autorité-matière encyclopédique et alphabétique unifié (RAMEAU) und vereinfachte deren Anwendungsregeln für den schwedischen Gebrauch. Beispielsweise werden Schlagwörter nicht invertiert. Daneben folgen sie ausnahmslos der Ordnung Sachschlagwort - geographisches Schlagwort - Zeitschlagwort - Formschlagwort[11]. Nur zwei Jahre später, 2004, wurde das System von beinahe allen Wissenschaftlichen Bibliotheken angewandt[12].
Auf dem Weg zur DDC
Die anfangs erwähnte einheitliche Klassifikationslandschaft Schwedens sollte sich ab dem Jahr 2006 ändern, als die KB, 2005 durch Vorträge mit OCLC-Vertretern angeregt, drei Studien begann, die Rationalisierungspotentiale bei der nationalen Katalogisierungszusammenarbeit aufzeigen sollten. Teil 3 der Untersuchung, die von der KB-Mitarbeiterin und späteren Projektleiterin Magdalena Svanberg verfasst wurde, beschäftigte sich mit den Potentialen eines Übergangs von der SAB zur DDC. Sie beschrieb, dass ein Klassifikationswechsel umfangreiche Rationalisierungsmöglichkeiten böte. Etwa 80 % der Erwerbungen schwedischer Wissenschaftlicher Bibliotheken bestünden aus Medien, die in Ländern erschienen, deren Nationalbibliographien die DDC verwenden[13]. Deshalb ließen sich durch Fremddatenübernahme erhebliche Arbeitserleichterungen erzielen. Sie zeigte außerdem auf, dass die DDC wesentlich dynamischer gepflegt würde, feiner gegliedert und sprachunabhängig sei sowie die schwedische Literatur international sichtbarer machen würde[14]. Das eigene Klassifikationssystem wurde dagegen kritisiert: Innerhalb Skandinaviens (wie erwähnt wenden Norwegen und Dänemark die DDC bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts an) und international sei Schweden isoliert. Außerdem arbeite das SAB-Komitee, das für die Weiterentwicklung zuständig sei, behäbig und zurückhaltend (auch wenn die KB zu diesem Zeitpunkt selbst Mitglied war)[15]. 2008 entschied sich die KB schließlich zum Klassifikationswechsel, nachdem die drei Teilstudien den am nationalen Bibliotheksverbund LIBRIS (LIBRary Information System) teilnehmenden Bibliotheken 2007 zur schriftlichen Stellungnahme vorgelegt worden waren.[16] Viele Bibliotheken äußerten sich im Rahmen dieser Befragung nicht zur Klassifikationsumstellung. Eine nationale Expertengruppe aus Vertretern des Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliothekswesens hatte zuvor auf Basis der Befragung und der Studie einen Übergang empfohlen. Den Umstieg auf die DDC empfahl kurze Zeit später auch die Svensk Biblioteksförening, der Verband der schwedischen Bibliotheken, der die SAB Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt hatte.[17]
Projektablauf
Im Projektbeschluss wurden als zu bearbeitende Meilensteine festgelegt:
Gemischte Übersetzung der DDC,
Erstellung einer Konkordanz zwischen SAO und DDC,
Aktualisierung der bestehenden Konvertierungstabelle zwischen SAB und DDC,
Erarbeitung eines Suchwerkzeuges, das eine gleichzeitige Suche mit Klassenbezeichnungen in DDC- und SAB-Beständen ermöglicht,
Ausbildungsmaßnahmen[18].
Das Projekt begann am 1. Mai 2009 mit der Aktualisierung der Konkordanzen SAB-DDC und dem Mapping von SAO zu DDC. Einen Monat später begannen auch die Übersetzungsarbeiten. Der Beginn der Klassifizierungsarbeit mit DDC, der auf den 1. November 2011 festgesetzt worden war, konnte eingehalten werden. Abgeschlossen wurde das Projekt mit Ablauf des Jahres 2011. Insgesamt waren neun Personen direkt in der KB und zahlreiche weitere im Rahmen einer Expertengruppe sowie dem Steuerungsgremium in das Projekt einbezogen[19].
Übersetzung
Aus Kostengründen entschied die KB sich zu einer so genannten gemischten Übersetzung, deren Tiefe von den folgenden Faktoren bestimmt wird: Alle Klassen, die eine Entsprechung zu denen der SAB haben sowie alle Klassen, die diesen übergeordnet sind, wurden übersetzt. Dazu alle Klassen aus der verkürzten Ausgabe, sämtliche Hilfstabellen (bis auf Gebiete in Tabelle 2, kleiner als Bundesstaaten der USA), Einleitung, Einführung und Standardterminologie wie ”Class here”, ”Including” etc., nicht jedoch Anweisungen für nicht ins Schwedische übersetze Klassen[20]. Rund 40 % der DDC wurden von der Redaktion der KB bis 2012 ins Schwedische übersetzt. Als Herausforderung beschreibt Svanberg dabei insbesondere die Übersetzung eines Systems, das die beteiligten Bibliothekare selbst noch nie angewandt hatten. Zudem fehlten für einige Fachgebiete Spezialisten, weshalb die Arbeit hilfsweise mit Fachlexika bewerkstelligt werden musste. Die Übersetzungen von 340 Recht und 610 Medizin, Gesundheit wurden aufgrund des hohen Spezialisierungsgrads dieser Gebiete auf zwei Fachbibliotheken ausgelagert[21]. Das Lehrbuch ”Dewey Decimal Classification: Principles and application” erschien 2010 in schwedischer Übersetzung[22].
Konkordanz der SAO zur DDC
Um einen verbalen Sucheinstieg in die DDC zu ermöglichen, wurden häufig verwendete schwedische Schlagwörter mit Notationen der DDC angereichert. Während des Projekts konnten rund 7.000 schwedischen Schlagwörtern Entsprechungen in der DDC zugeordnet werden. Neu angelegte Ämnesord erhalten heute direkt eine Klassifizierung nach DDC[23].
Aktualisierung der Konkordanz zwischen SAB und DDC
Im Zuge des Projekts wurde die bestehende Konvertierungstabelle, die die SAB-Notationen in Verbindung zu denen der DDC setzt, grundlegend überarbeitet, Fehler wurden behoben und die Tabelle an die jeweils neueste Auflage der Klassifikationen angepasst. Unter http://export.libris.kb.se/DS/ steht nun eine laufend aktualisierte Konkordanz zwischen SAB und DDC und umgekehrt bereit. Die Relationen zwischen den Klassen werden mittels SKOS-Kategorien (Simple Knowledge Organisation System) ausgedrückt.
Klassifikationsübergreifende Suche
Auch nach dem Umstieg auf die DDC sollte Benutzern weiterhin die Möglichkeit geboten werden, mit Kenntnissen der SAB auch ausschließlich nach DDC klassifizierte Titel in den Katalogen zu finden. Umgesetzt wurde deshalb eine automatische Erzeugung von Notationen. Dewey - sowie SAB-Notationen werden seit Februar 2011 automatisch generiert, womit auch die Voraussetzung geschaffen wurde, ein System wie das in Deutschland genutzte MelvilSearch[24] zur verbalen Suche einzuführen.
Ausbildung
Zur Vorbereitung auf die intellektuelle Klassifizierung nach DDC wurde ein Schulungskonzept aufgestellt. Die eintägige Schulung für das allgemeine Bibliothekspersonal wurde durch eine einwöchige für Katalogisierer ergänzt[25]. Um den Ausbildungsbedarf der Bibliotheken zu ermitteln, wurde im Oktober 2009 eine Umfrage begonnen. Als wichtigstes Ergebnis konnte festgestellt werden, dass die Einschätzung über den Ausbildungsbedarf im Rahmen der einwöchigen Kurse zu niedrig war. Die 24 antwortenden Wissenschaftlichen Bibliotheken, darunter die sechs großen Universitätsbibliotheken mit Pflichtexemplarrecht, meldeten einen Bedarf von 780 Personen für die eintägige und 150 für die einwöchige Schulung[26]. Zu Einordnung dieser Zahlen sollte beachtet werden: Eine Trennung nach gehobenem und höherem Dienst kennt das schwedische Bibliothekswesen nicht. Formal- und Sacherschließung liegen in der Zuständigkeit des Katalogisierers. Bis Ende 2011 wurden insgesamt 800 Personen in Eintages- und 200 Personen in Ein-Wochen-Kursen geschult[27].
Stand der Klassifikationsarbeit um die DDC in Schweden
Ab dem 1. Januar 2011 begann die KB nach DDC zu klassifizieren. Im gleichen Jahr entschieden sich 35 Universitäts- und Hochschulbibliotheken diesem Schritt zu folgen[28], sind diese doch im zentralistischen Schweden von den bibliographischen Diensten der KB in hohem Maße abhängig[29]. Der Verzicht auf einen Wechsel hätte für die Bibliotheken bedeutet, von da an schwedische Literatur selbst klassifizieren zu müssen, deren Aufkommen speziell in den sechs großen Universitätsbibliotheken nicht unerheblich ist, da auch sie über das Pflichtexemplarrecht für das gesamte Land verfügen.
Klassifikationskluft zwischen Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken
Im Gegensatz zur KB und dem Großteil der Wissenschaftlichen Bibliotheken, die schon während des Projektzeitraums zur DDC als Aufstellungssystematik wechselten, zeigen sich solche Bestrebungen an den Öffentlichen Bibliotheken bis heute kaum. Nach einer Untersuchung aus dem Jahre 2009 glaubten knapp 65 % der befragten Öffentlichen Bibliotheken auch in fünf Jahren noch die SAB anzuwenden. Rund 81 % hatten keine konkreten Pläne hinsichtlich eines Klassifikationswechsels[30].
Befürchtungen, dass es zu einer andauernden Spaltung des schwedischen Bibliothekswesens bei der Buch-Aufstellung kommt, sind vorhanden und schon 2009 mahnte die Schwedische Bibliotheksvereinigung ein „sammanhållet biblioteksväsen“ an[31], wogegen Vertreter der KB von einer fünf- bis zehnjährigen Übergangsphase für alle Bibliotheken des Landes ausgingen[32]. Übliche Reaktionen unter Bibliothekarinnen und Bibliothekaren in Öffentlichen Bibliotheken sind bisher jedoch allenthalben: „Dewey? Bis dahin bin ich in Pension.“[33]
Um die Problembereiche für einen Übergang bei den Öffentlichen Bibliotheken zu definieren und Lösungen zu erarbeiten, beantragte die Stockholm regionbibliotek (≈ Büchereizentrale Stockholm) zum Ende des Jahres 2011 bei der KB ein entsprechendes Projekt. Die Arbeit wurde im November 2011 aufgenommen und endete im März 2012 mit einem knapp 30seitigen Projektbericht[34]. Die Zurückhaltung der Öffentlichen Bibliotheken ergebe sich, so Projektleiter Aargaard, aus mangelnden Ressourcen, mangelnden Kompetenzen bei den Mitarbeitern in Klassifikationsfragen, fehlenden technischen Lösungen und einem Mangel an Bibliotheken, die eine Vorreiterrolle einnehmen[35]. Ähnlich wie in Deutschland besteht bei der Verbundkatalogisierung eine Kluft zwischen dem Wissenschaftlichen und dem Öffentlichen Bibliothekswesen, wo vielfach einfache Bibliothekssysteme ohne Anbindung an den überwiegend von Wissenschaftlichen Bibliotheken genutzten Verbundkatalog LIBRIS eingesetzt werden. Die Öffentlichen Bibliotheken beziehen ihre Katalogdaten und ihr Bibliothekssystem mehrheitlich von BTJ (Bibliotekstjänst), einem mit der EKZ vergleichbaren Bibliotheksdienstleister. BTJ unterhält einen eigenen Katalog namens BURK (BTJ:s Universella Register för Katalogdata; auf Deutsch ”Dose”) mit derzeit circa 2,2 Millionen Titeldatensätzen[36]. Von den schwedischsprachigen Materialien sind jedoch bis heute lediglich 20 % mit DDC-Notationen versehen[37]. Aargaard bemerkt 2013, dass es „keinen Grund mehr [gibt], länger zu warten“, seien die technischen Hürden doch dann beseitigt[38]. Eine erneute Befragung der Öffentlichen Bibliotheken im April 2016 kam jedoch zu dem ernüchternden Ergebnis, dass lediglich 1 % der Öffentlichen Bibliotheken komplett auf die DDC als Aufstellungssystematik umgestiegen war[39] und somit die pessimistischen Erwartungen aus dem Jahre 2009 deutlich übertroffen wurden. Dass BTJ Anfang 2018 verkündete, die Katalogdaten aus BURK nach LIBRIS zu überführen, könnte in den kommenden Jahren Bewegung in die DDC-Problematik des Öffentlichen Bibliothekswesens bringen[40].
Lösungen in Wissenschaftlichen Bibliotheken
Bei den finanziell besser ausgestatteten Wissenschaftlichen Bibliotheken, die noch dazu große Bestandsteile magaziniert nach laufender Nummer aufgestellt haben, zeigte sich als Problem die Freihandaufstellung der nach Dewey klassifizierten Bestände. Im Gegensatz zu den deutschsprachigen Ländern, in denen die DDC vor allem für Retrievalzwecke eingeführt wurde[41], sind die Wissenschaftlichen Bibliotheken großflächig auch zu einer Regalaufstellung nach DDC übergegangen. Wie eine solche sinnvoll umgesetzt werden könne, war eine der Hauptdiskussionspunkte beim Klassifikationswechsel[42]. Lösungen wie zum Beispiel an der UB Stockholm (siehe unten), die „gebrochene Aufstellung“, nach der nur die Neuerwerbungen nach DDC aufgestellt werden oder die „gemischte Aufstellung“, bei der nach SAB und DDC klassifizierte Medien in einem Regal zusammen aufgestellt werden, wurden im Vorfeld diskutiert. Eine Umklassifizierung des vollständigen Bestands wie in der Stadt- und Hochschulbibliothek Härnösand gehörte zu den Ausnahmen, wogegen die gebrochene Aufstellung die weiteste Verbreitung fand. Die aktuellste Umfrage zur Verbreitung der DDC an schwedischen Wissenschaftlichen Bibliotheken fand im Jahr 2014 statt. Rund zwei Drittel nutzten die DDC, das restliche Drittel teilte sich auf die SAB und sonstige Klassifikationen auf[43].
Ausblick
Seit dem Ende des Projekts zum Jahresende 2011 führt die KB in Kooperation mit Vertretern weiterer Bibliotheken die Pflege der DDC fort. Eine Arbeitsgruppe tagt etwa einmal monatlich, um sich über aktuelle Entwicklungen auszutauschen und Lösungen für die Anwendung der DDC im bibliothekarischen Alltag zu entwickeln[44]. Die KB unterstützt die Einführung der DDC weiterhin im Rahmen von Schulungen und Konferenzen für an DDC interessierte Bibliotheken und unterhält einen Info-Blog für die schwedische Gemeinschaft der DDC-Anwender[45].
Eine weitere Frage, die die Diskussion um eine Umklassifizierung der Bestände aufgezeigt hat, ist die, ob Bibliothekare mittlerweile dem Paradigma des Digitalen mehr verhaftet sind als die Benutzer ihrer Einrichtungen. Nur 1 % aller LIBRIS-Anwender benutzt die Suche per Klassifikation[46], wogegen ein großer Teil direkt am Regal sucht[47]. Proteste von Studierenden, Forschern und ganzen Fakultäten Anfang 2011 an der Universität Stockholm gegen einen Wechsel von der systematischen Aufstellung zu numerus currens veranschaulichen dies. Die UB zeigte sich verwundert, immerhin seien unter einer einheitlichen Katalogoberfläche alle Ressourcen recherchierbar und zum Teil sofort nutzbar. Ein Vertreter der Stockholmer Studentenvereinigung: „Bei jedem Mal, das man ein Buch ausleihen will, wird man gezwungen, den digitalen Katalog zu benutzen. […] Die Möglichkeit an seinem Regal zu ‚browsen‘, d. h. die Bücher durchzusehen, um neue Einfälle oder Ideen zu finden, verschwindet ganz.“[48]
About the author

Maximilian Lowisch, M.A.
© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston