Zusammenfassung
Am Beispiel der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin untersucht der Artikel die nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetischen Militäradministration beziehungsweise von der DDR-Führung erlassenen Gesetze und Vorschriften zur Entfernung nationalsozialistischer und militaristischer Literatur aus wissenschaftlichen Bibliotheken. Neben dem Ablauf und der bibliographischen Dokumentation der erzwungenen Aussonderungen werden auch die Folgen dieser Maßnahmen für den Bibliotheksbetrieb beleuchtet. Abschließend widmet sich der Artikel der Rückgabe der Medien in den 1990er Jahren und den Nachwirkungen der Aussonderungsaktionen, die bis in die Gegenwart hinein spürbar sind.
Abstract
Using the Humboldt University Library in Berlin as an example, this article examines the laws and regulations, enacted by the Soviet Military Administration and the GDR leadership, for the removal of National Socialistic and militaristic literature from academic libraries after World War II. In addition to the procedures and the bibliographic documentation of the enforced removal, the impact of the measures on daily library operations is also analyzed. Finally, the article addresses the return of the media in the 1990s and the consequences of the the removal that are felt to the present day.
1 Einführung
Zensur von Texten verschiedenster Art gab es in allen Epochen der Medien- und Publikationsgeschichte – bis in die Gegenwart hinein. Vorliegender Artikel befasst sich mit einem im Vergleich zu kirchlichen Literaturverboten oder den Bücherverbrennungen durch die Nationalsozialisten wenig erforschten und bekannten Kapitel der Zensurgeschichte, nämlich den unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs unternommenen Initiativen der Alliierten Besatzungsmächte zur Befreiung deutscher Bibliotheksbestände von nationalsozialistischem und militaristischem[2] Schriftgut. Wie in den folgenden Kapiteln ausführlicher dargelegt wird, erließen die Sowjetische Militäradministration (SMAD) sowie später das Ministerium für Volksbildung der 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nach Kriegsende diverse Anordnungen zur systematischen Aussonderung[3] nationalsozialistischer, militaristischer und anderer politisch unerwünschter Literatur aus Bibliotheken, Buchhandlungen und Privathaushalten in ihrem Einflussbereich. Einen Höhepunkt dieser Maßnahmen bildete die zwischen 1946 und 1952 in mehreren Etappen erstellte Liste der auszusondernden Literatur. Gemäß diesem Verzeichnis und den ihm vorausgegangenen Befehlen der Besatzungsmächte mussten sämtliche Bibliotheken „belastete“ Publikationen aussondern und an eigens dafür eingerichtete Sonderabteilungen in der Berliner Staatsbibliothek[4] oder in der Deutschen Bücherei (DB) in Leipzig abliefern. Diese zunächst als „Sperrbibliothek“ und später als „Abteilung für Spezielle Forschungsliteratur“ (offiziell abgekürzt als ASF)[5] benannten Einrichtungen existierten bis Ende 1989. In der Bevölkerung wurden sie gewöhnlich als „Giftschränke“ bezeichnet. Nach der Wiedervereinigung wurden die Abteilungen aufgelöst und die Bestände den Ursprungsbibliotheken zurückgegeben. Im Zentrum der nachfolgenden Analysen steht die Universitätsbibliothek (UB) der Humboldt-Universität zu Berlin (HU)[6], die ebenfalls von den Aussonderungsvorgaben betroffen war und aufgrund ihrer Größe und ihres Sammelprofils beträchtliche Kontingente an Büchern und Zeitschriften aussortieren und an die Sperrbibliothek in der Berliner Staatsbibliothek abgeben musste.
Die Rekonstruktion des Ablaufs der Aussonderungen nationalsozialistischer Publikationen sowie deren Rückführung an die UB in den 1990er Jahren stützt sich großenteils auf erhaltenes Schriftgut aus dem Universitätsarchiv der HU sowie dem Archiv der Berliner Staatsbibliothek. Eine weitere wichtige Säule zur Untersuchung der Aussonderungsprozesse nach 1945 sowie der Rückführung der Bestände knapp 50 Jahre später bildeten Auskünfte ehemaliger und gegenwärtiger Mitarbeiter der beiden Bibliotheken.[7]
2 Politische und juristische Grundlagen zur Aussonderung von NS-Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg
In den Jahren 1945 und 1946 wurden in den Besatzungszonen verschiedene Befehle und Gesetze erlassen, die die Entfernung nationalsozialistisch und/oder militaristisch gesinnter Literatur aus öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken und Buchhandlungen anordneten. So forderte der im September 1945 erlassene Befehl des Obersten Chefs der SMAD in Deutschland, Marschall der Sowjetunion Georgi Shukow, alle öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken, Buchhandlungen und Verlage sowie alle Privatpersonen dazu auf, sämtliche Publikationen, die faschistische und militärische Propaganda enthalten, sich mit Rassentheorien oder der „gewaltsamen Aneignung fremder Länder“ befassen, zu entfernen. Wenige Tage später, am 1. Oktober 1945, trat das „Gesetz zum Verbot und zur Liquidierung der militärischen Ausbildung“ in Kraft. Dieses untersagte u. a. „jegliche Propaganda durch Wort und Schrift, die auf die Erhaltung des kriegerischen Geistes oder auf die Verherrlichung der Kriegserlebnisse gerichtet ist“[8]. Die genannten Gesetze beschränkten sich in ihrer Gültigkeit ausschließlich auf die sowjetische Besatzungszone. Am 13. Mai 1946 erließ der Alliierte Kontrollrat mit dem Befehl zur „Einziehung von Literatur und von Werken nationalsozialistischen und militaristischen Charakters“[9] schließlich eine für alle Besatzungszonen verbindliche und umfassende Grundlage zur Befreiung der Bibliotheken von nationalsozialistischer und militaristischer Literatur. Demgemäß hatten alle öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken sowie sämtliche Buchhandlungen und Verlagshäuser
a) „alle Bücher, Flugschriften, Zeitschriften, Zeitungssammlungen, Alben, Manuskripte, Urkunden, Landkarten, Pläne, Gesang- und Musikbücher, Filme und Lichtbilddarstellungen (Diapositive) – auch solche für Kinder jeglichen Alters –, welche nationalsozialistische Propaganda, Rassenlehre und Aufreizung zu Gewalttätigkeiten oder gegen die Vereinten Nationen gerichtete Propaganda enthalten“
sowie
b) „alles Material, das zur militärischen Ausbildung und Erziehung oder zur Aufrechterhaltung und Entwicklung eines Kriegspotentials beiträgt, einschließlich der Schulbücher und des Unterrichtsmaterials militärischer Erziehungsanstalten jeder Art, ebenso alle Reglements, Instruktionen, Anweisungen, Vorschriften, Landkarten, Skizzen, Pläne usw. für alle Truppeneinheiten und Waffengattungen“[10]
mit den dazugehörigen Karten innerhalb von zwei Monaten nach Veröffentlichung des Befehls den Militärbefehlshabern oder sonstigen Vertretern alliierter Behörden „zwecks Vernichtung“ zur Verfügung zu stellen.
Die geplante Makulierung der auszusondernden Literatur stieß bei den wissenschaftlichen Bibliotheken auf erheblichen Widerstand. Daher wurde der Kontrollratsbefehl wenige Monate später modifiziert. Von August 1946 an wurde den Zonenbefehlshabern erlaubt, „eine begrenzte Zahl von Exemplaren der […] verbotenen Schriften für Forschungs- und Studienzwecke von der Vernichtung auszunehmen“.[11] Derartige Literatur musste in gesonderten Räumlichkeiten verwahrt werden, wo sie unter Aufsicht der Alliierten Kontrollbehörde zu Forschungs- oder anderen begründeten Zwecken eingesehen werden konnte. Diese Regelung stellte gleichsam die Geburtsstunde der „Giftschränke“ für nationalsozialistische und militaristische Literatur dar. Denn auf der Basis dieses Paragraphen erfolgte in der SBZ die Einrichtung von Sondermagazinen in Berlin und Leipzig, den so genannten Sperrbibliotheken. Bibliotheken aus den nördlichen Gegenden – dazu zählte neben Greifswald, Rostock und Schwerin u. a. auch Ost-Berlin – mussten ihre entfernten Titel an die Berliner Staatsbibliothek abliefern, während Institutionen aus den südlichen Teilen, wie z. B. Jena, Dresden oder Leipzig, ihre ausgesonderte Literatur der Deutschen Bücherei (DB) in Leipzig zu übergeben hatten. Eine eigenständige Aufbewahrung oder Vernichtung von NS-Literatur war den Bibliotheken nicht gestattet. Die Sperrbibliotheken in Berlin und Leipzig dienten ausschließlich als Sammeldepots für Bestände wissenschaftlicher Einrichtungen. NS-Schriftgut aus öffentlichen Bibliotheken wurde in der Regel makuliert.
3 Die Liste der auszusondernden Literatur
Um die praktische Umsetzung der von den Besatzungsmächten erteilten Instruktionen zu forcieren und den Bibliotheken eine verbindliche Grundlage zu liefern, welche Titel konkret unter die in den Befehlen und Gesetzen genannten Aussonderungskriterien fielen, wurde die DB von der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der SBZ beauftragt, eine detaillierte Liste mit auszusondernden Publikationen zu erstellen. Im Zuge dessen waren ca. 60 wissenschaftliche Mitarbeiter der DB mehrere Jahre ausschließlich mit der Überprüfung des deutschsprachigen Schrifttums befasst.[12] Für Entscheidungen über unklare Fälle sowie über Einsprüche von Verfassern oder Verlegern wurde eine Buchprüfungskommission eingerichtet, deren Vorsitz der Generaldirektor der DB, Heinrich Uhlendahl, innehatte. Auch der damalige Leiter der Berliner UB, Wieland Schmidt, gehörte diesem Gremium an. Bereits im Juni 1946 erschien eine vorläufige Ausgabe der Liste der auszusondernden Literatur.[13] Dieses auch unter dem Namen Leipziger Liste bekannte Verzeichnis enthielt 13.223 Bücher und 1.502 Zeitschriften aus dem Erscheinungszeitraum 1933–1945. Vorneweg wurde bekannt gegeben, dass die Schulbücher aus den Jahren 1933–1945, die Baupläne für Modelle von Flugzeugen, Kriegsschiffen und Kriegsfahrzeugen sowie die Dienstvorschriften des Heeres, der Luftwaffe und der Marine vollständig zu sperren seien, ohne dass für diese Gruppen einzelne Titel genannt würden.[14] Im Anschluss folgte, unterteilt in die Abschnitte ‚Bücher‘ und ‚Zeitschriften‘, eine detaillierte Auflistung auszusondernder Einzeltitel. Während diverse Autoren lediglich mit bestimmten Werken aufgeführt waren, fand sich bei anderen Personen die Anweisung „sämtliche Schriften“. Im Vorwort wurde der vorläufige Charakter des Verzeichnisses betont und explizit auf die Sorgfaltspflicht der Bibliotheken und Buchhandlungen verwiesen sowie eine eigenständige kritische Überprüfung nicht verzeichneter Titel angeordnet.
In den Jahren 1947, 1948 und 1953 erschienen drei umfangreiche Nachträge zur Leipziger Liste. Ab dem zweiten Ergänzungsband wurde nicht nur der Erscheinungszeitraum der zu überprüfenden und gegebenenfalls zu indizierenden Einzeltitel zurück bis in das Jahr 1914 ausgedehnt, sondern auch die Gruppe jener Publikationen, welche als Ganzes auszusondern waren, erweitert. So zählten nun u. a. auch die „seit dem Weltkrieg 1914–1918 erschienenen Geschichten und Gelegenheitsschriften deutscher Regimenter, Kompanien und sonstiger Truppeneinheiten“, die „während des Weltkriegs […] und in den folgenden Jahren erschienene militärische und militaristische Kleinliteratur“ sowie „Broschüren und Flugschriften über den Versailler Vertrag, soweit sie zu einer gewaltsamen Lösung des Vertrages auffordern“, zum Kreis der auszusondernden Literatur.[15] Inklusive aller Nachträge umfasste die Leipziger Liste schließlich rund 32.900 Buch- und knapp 3.000 Zeitschriftentitel.[16]
Die Überprüfung des zwischen 1914 und 1945 erschienenen deutschsprachigen Schrifttums erfolgte, trotz knapper personeller Ressourcen und hohem zeitlichen Druck, durchaus differenziert. So wurden manche Titel lediglich in einer bestimmten Ausgabe oder ab einer bestimmten Auflage bzw. einem konkreten Jahrgang verboten. Bei diversen Schriften galt das Verbot auch für sämtliche fremdsprachigen Versionen. Werke, die inhaltlich nicht zu beanstanden waren, aber wegen ihres äußerlichen Erscheinungsbildes, beispielsweise durch aufgedruckte nationalsozialistische Embleme, oder durch „verdächtige“ Herausgeber wie den Reichsnährstand oder die Deutsche Arbeitsfront auffielen, wurden nicht verboten. Gleiches galt für Publikationen, die im Vor- oder Nachwort kurze, den Nationalsozialismus positiv hervorhebende Äußerungen enthielten, sowie für Titel, in denen diese politische Strömung rein sachlich behandelt wurde.[17]
Bei einem Blick auf die Liste fällt rasch auf, dass sich unter den erfassten Büchern und Zeitschriften diverse Titel befinden, deren Indizierung – zumindest dem ersten Eindruck nach – als nicht gerechtfertigt oder jedenfalls fragwürdig erscheint. So sind z. B. diverse Abhandlungen zur Kurzschrift, Betriebswirtschaftslehre und Mathematik vertreten. Allein schon die Vorgabe, dass sämtliche zwischen 1933 und 1945 erschienenen Schulbücher verbannt werden mussten, führte dazu, dass zahlreiche vollkommen unbelastete Titel, bei denen es sich um reine Fachbücher ohne politische Tendenzen handelte, dem öffentlichen Zugriff entzogen wurden. Außerdem wurde nicht nur explizit militaristisches, d. h. das Militär und Kriege verherrlichendes Schrifttum, verboten, sondern auch ein Großteil der allgemeinen militärischen und militärhistorischen Literatur. Fraglich erscheint zudem, ob, wie von den Herausgebern bekräftigt[18], für die Überprüfung der Literatur ausschließlich der Inhalt der Werke und nicht die Person des Verfassers maßgeblich war.
Hervorzuheben ist, dass sich die Leipziger Liste nicht nur auf – mehr oder weniger einschlägige – nationalsozialistische oder militaristische Literatur konzentrierte, sondern ab dem Ersten Nachtrag auch „Volksfeinde“ und „Gegner des Sozialismus“ indizierte. So finden sich unter den Einträgen diverse, keineswegs dem rechten politischen Spektrum zuzuordnende Personen, die jedoch gleichzeitig bekennende Gegner des sowjetischen Stalinismus waren. Leo Trotzki ist nur eine der zahlreichen in Ungnade gefallenen Personen, deren Schriften insgesamt oder teilweise verboten wurden. Die Leipziger Liste stellte folglich nicht nur ein Hilfsmittel zur Entnazifizierung der Bibliotheksbestände dar, sondern wurde gleichzeitig von der SMAD und den von ihr kontrollierten Behörden dazu instrumentalisiert, die ostdeutschen Bibliotheken von nichtmarxistischen, antikommunistischen, sozialdemokratischen oder anderen politisch unerwünschten Tendenzen zu „befreien“. Die Vielfalt politischer Meinungen wurde zugunsten einer einseitig fokussierten Ideologie aufgegeben. Offiziell berief sich die SMAD dabei auf den Kontrollratsbefehl, der auch Literatur, die sich gegen die Alliierten richtete, einbezog. 1948 ordnete die SMAD darüber hinaus an, auch Publikationen der in der Sowjetunion als Volksfeinde diskreditierten und verurteilten Personen, wie z. B. Bucharin, Jagoda, Rykow, Sinowjew oder Tuchatschewsky, aus den Bibliotheken zu entfernen.[19]
In der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland (BRD) wurde der Kontrollratsbefehl bereits 1949 aufgehoben. Lediglich in der Britischen Besatzungszone waren zentrale Sammelstellen für NS-Literatur eingerichtet worden. Die Arbeiten an einem Aussonderungskatalog für nationalsozialistische Schriften wurden Anfang der 1950er Jahre eingestellt.[20]
4 Die Umsetzung der Aussonde-rungsverpflichtungen und die Folgen für den Bibliotheksbetrieb an der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin
4.1 Die Universitätsbibliothek
4.1.1 Ablauf und Umfang der Aussonderungsaktionen
Bereits im Juni 1945 nahm die UB der HU ihren Dienstbetrieb provisorisch wieder auf. Unter schwierigen äußeren Bedingungen – die Infrastruktur der Stadt war ebenso wie die Energiezufuhr stark eingeschränkt – stand zunächst die Trümmerbeseitigung im Vordergrund. Die offizielle Wiedereröffnung der Bibliothek fand am 8. März 1946 statt.[21] Im Mai desselben Jahres übernahm Wieland Schmidt die Leitung des Hauses, die er bis 1950 innehatte. Die UB litt in den ersten Nachkriegsjahren nicht nur aufgrund allgemeiner Entbehrungen der Nachkriegszeit unter enormen Belastungen, sondern musste zudem viele Aufgaben der im selben Gebäude residierenden Staatsbibliothek übernehmen und deren Benutzer mitversorgen. Die Staatsbibliothek konnte einige Jahre nur sehr eingeschränkt agieren, da ihre Bestände in viele Teile Deutschlands ausgelagert waren und sich die Rückführung über mehrere Jahre hinzog.
Unter diesen schwierigen Verhältnissen fand nach Kriegsende die Aussonderung nationalsozialistischer und sonstiger verbotener Literatur an der UB statt und stellte eine zusätzliche Arbeitsbelastung für die ohnehin stark beanspruchte Einrichtung dar. Die Bibliothek begann bereits 1945, kurz nach Veröffentlichung des Shukow-Befehls, mit ersten Aussonderungsmaßnahmen. Das primäre Ziel lag dabei zunächst in der Beseitigung der NS-Handbibliothek[22], um deren Entdeckung durch sowjetische Besatzungstruppen zu vermeiden. Kurz nach Veröffentlichung des Alliierten Kontrollratsbefehls forderte der Rektor der Universität im Juni 1946 die UB sowie alle Institutsleiter auf, den Erlass unverzüglich zur Kenntnis zu nehmen und die verlangten Aussonderungen fristgemäß durchzuführen.[23]
Solange noch keine verbindliche Liste existierte, wurden die Aussortierungen an der UB zunächst mit Hilfe des systematischen Katalogs realisiert. In diesem nach Wissenschaftsdisziplinen sortierten Nachweisinstrument überprüften die Mitarbeiter schrittweise die Fachgruppen auf das Vorhandensein nationalsozialistisch gesinnter Titel. Begonnen wurde dabei mit den vermeintlich besonders belasteten Gebieten. Neben der Gruppe „Fan“ (Nationalsozialismus) betraf dies vor allem die Bereiche Staats-, Rechts-, Verwaltungs- Gesellschafts- und Militärwissenschaften sowie Geschichte.[24] Nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe der Liste der auszusondernden Literatur inspizierten die Bibliothekare auf der Grundlage dieses Verzeichnisses den alphabetischen Katalog und entfernten die indizierten Titel. Die Entscheidungen über die Aussonderung trafen in der Regel die Fachreferenten oder die Erwerbungsleitung. Das Ausheben der betroffenen Titel oblag den Magazinkräften.[25] Eine Personal- und Zuständigkeitsliste der UB aus den ersten Nachkriegsjahren Jahren zeigt, dass es dort zeitweise sogar einen Mitarbeiter gab, dessen Aufgabengebiet sich eigens auf die „Sperrbücherei“ konzentrierte.[26]
Die Leiterin der Benutzungsabteilung überprüfte in den ersten Jahren nach Kriegsende bei jedem einzelnen Buch, das zur Ausleihe aus dem Magazin ausgehoben wurde, vor der Aushändigung an den Benutzer nochmals, ob der fragliche Titel nicht auf der Leipziger Liste indiziert war. Diese Kontrollmaßnahme erfolgte aus Sicherheitsgründen, um zu verhindern, dass verbotene und möglicherweise noch nicht entfernte Bücher verliehen würden. Auf der Abteilungsleiterin lastete mit dieser Verantwortung für die Ausleihe ausschließlich politisch „korrekter“ Bücher damals ein erheblicher Druck, da bei Fehlern Sanktionen durch die SMAD drohten.[27]
Die UB führte die Aussonderungsarbeiten nicht ausschließlich isoliert auf der Basis der zugrunde liegenden Instruktionen der Besatzungsmächte durch, sondern stand darüber hinaus im Dialog mit anderen wissenschaftlichen Bibliotheken der SBZ beziehungsweise DDR. In seiner Eigenschaft als Mitglied der Buchprüfungskommission nahm Wieland Schmidt als Leiter der Berliner UB zudem an wichtigen bibliothekarischen Konferenzen teil, auf denen Details zu den Aussonderungen festgelegt und komplizierte Fälle erörtert wurden. Die UB stützte sich denn auch in ihren konkreten Vorgehensweisen bisweilen auf Empfehlungen der Buchprüfungskommission oder griff Ratschläge und Erfahrungen anderer Bibliotheken auf. Dies traf z. B. auf die Behandlung jener Publikationen zu, die ihrem Inhalt nach nicht unter die Bestimmungen des Alliierten Kontrollrats fielen, jedoch nationalsozialistische Embleme aufwiesen, Vor- oder Nachworte hochrangiger Parteiführer enthielten oder in nationalsozialistischen Verlagen erschienen waren. Für derartige Bücher und Zeitschriften hatte die Buchprüfungskommission vereinbart, dass sie zwar auszusortieren, aber nicht ablieferungspflichtig seien. Die Titel durften im Besitz der jeweiligen Bibliothek verbleiben, mussten dort jedoch gesondert aufgestellt werden.[28] Ebenfalls unter Rückgriff auf Empfehlungen der Buchprüfungskommission verfügte Schmidt für die UB, dass in den geschilderten Fällen stets das gesamte Medium zu separieren oder abzugeben sei. „Ein Zurechtstutzen der Bücher durch Ausschneiden der anstössigen Stellen, durch Überkleben, Ausstreichen oder Aussonderung einzelner Lagen [sei] abzulehnen“,[29] da die Exemplare wissenschaftlicher Bibliotheken häufig Entnazifizierungskommissionen als Beweismaterial dienten. Entscheidend seien dabei gerade die zu beanstandenden Stellen, so dass intakte Exemplare erhalten werden müssten. Diese Maxime scheint von den Mitarbeitern der UB durchgehend befolgt worden zu sein. Unter den seinerzeit abgegebenen oder separierten Medien finden sich keine Beispiele für das Heraustrennen oder die Unkenntlichmachung einzelner Seiten oder Abschnitte.
Die aussortierten und zur Abgabe an die Staatsbibliothek vorgesehenen Monographien und Zeitschriften wurden von der UB auf dem Buchrücken oder der Vorderseite in der Regel mit einem auf der Spitze stehenden gelben Dreieck gekennzeichnet (Abb. 1). Innen brachten die Bibliothekare häufig handschriftlich den Vermerk „LL“ (Leipziger Liste) sowie ein blaues Kreuz an. Für die ausgesonderten Medien wurden Vertreterpappen angefertigt und in die Regale gestellt. Darauf waren Titel und Signatur sowie der Zusatz „Sperrbibliothek“ vermerkt.

: Bücher und Zeitschriften aus dem ASF-Bestand der UB der HU mit den charakteristischen gelben Dreiecken
Ob oder bis zu welchem Grad die UB die Vorgaben des Alliierten Kontrollrats sowie der Leipziger Liste vollständig umsetzte, kann rückblickend nicht mehr mit letzter Gewissheit ermittelt werden. Anhand der bis in die Gegenwart erhaltenen äußerlichen und innerlichen Kennzeichnungen der Bücher lässt sich allerdings nachweisen, dass die Bibliothek bei den Aussonderungen teilweise weit über die Leipziger Liste hinausging und somit der dort angemahnten eigenständigen bibliothekarischen Sorgfaltspflicht nachkam. So finden sich unter den entfernten Medien zahlreiche fremdsprachige Werke, die weder in der Originalausgabe noch in der deutschsprachigen Version auf der Liste der auszusondernden Literatur verzeichnet waren. Überdies sortierte die Bibliothek mitunter sogar Bücher aus dem 19. Jahrhundert aus. Dies betraf hauptsächlich Werke aus dem Judaica-Bestand, die antisemitische Tendenzen aufwiesen. Die Mitarbeiter scheinen sich tatsächlich die Mühe gemacht zu haben, möglichst jeden Titel einzeln zu überprüfen. Eine pauschale Aussonderung ganzer Signaturgruppen – eine Maßnahme, die zwar den Arbeitsaufwand erheblich reduziert, gleichzeitig aber unbelastete Bücher in Mitleidenschaft gezogen hätte – fand an der UB offenbar nicht statt. Dies lässt sich vor allem aus dem Umstand schließen, dass im systematischen Zettelkatalog in der Gruppe „Fan“ (Nationalsozialismus) nach wie vor diverse Titel aus dem Erscheinungszeitraum 1914–1945 vertreten sind,[30] die sich kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen. Allerdings blieben auch derartige Schriften meist nicht frei zugänglich, sondern wurden bibliotheksintern sekretiert.
Wie fragmentarisch erhaltene Abgabelisten[31] zeigen, zog sich die Aussonderung nationalsozialistischer Literatur an der UB bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre hin. Diese große Zeitspanne hing einerseits mit dem zeitlich versetzten Erscheinen der Leipziger Liste zusammen, deren letzter Nachtrag erst 1953 veröffentlicht wurde, und resultierte andererseits aus personellen Engpässen. Hinzu kam, dass die UB in den Nachkriegsjahren vereinzelt Bestände aufgelöster Bibliotheken übernahm[32] und diese Literatur somit auch erst später prüfen und gegebenenfalls abgeben konnte. Exakte Zahlen über den Gesamtumfang der in den Nachkriegsjahren gemäß Alliiertem Kontrollratsbefehl entfernten Literatur sind nicht überliefert. Weder über die Abgabe der Titel an die Berliner Staatsbibliothek noch über die Rückführung in den 1990er Jahren existieren vollständige Statistiken. Nach Schätzungen verschiedener an der Rückführung und Wiedereingliederung beteiligter Bibliotheksmitarbeiter belief sich der so genannte ASF-Bestand[33] auf insgesamt ca. 40.000–50.000 Bände.[34] Dieses im Vergleich zu anderen Bibliotheken sehr umfangreiche Kontingent resultierte zum einen aus der Erwerbungspolitik zwischen 1933 und 1945. In diesen Jahren hatte die UB auf Anweisung ihres damaligen Leiters Gustav Abb nationalsozialistische Literatur in „möglichster Vollständigkeit“[35] erworben. Zum anderen hatte die UB – im Gegensatz zu zahlreichen anderen deutschen Universitätsbibliotheken – kaum Kriegsschäden erlitten, so dass dieses Schriftgut nahezu unbeschränkt erhalten blieb. Da die UB zudem kaum Bestände evakuiert hatte, verfügte sie über ein großes Volumen an Titeln, die von den Aussonderungsvorgaben betroffen waren.
4.1.2 Hochschulschriften
Eine interessante Frage ist, wie die UB bei der Aussonderung nationalsozialistischer und militaristischer Dissertationen vorging. Denn Hochschulschriften waren grundsätzlich nicht auf der Leipziger Liste verzeichnet. Eine Überprüfung dieser Schriftgattung hinsichtlich „belasteter“ Titel wäre anhand der Jahresverzeichnisse der deutschen Hochschulschriften[36] durchaus möglich gewesen, hätte aber vermutlich eine zu große Arbeitsbelastung für die an der Liste der auszusondernden Literatur mitwirkenden Leipziger Bibliothekare bedeutet. Daher mussten die Bibliotheken ihre Hochschulschriften zunächst eigenständig hinsichtlich nationalsozialistischer oder militaristischer Inhalte kontrollieren. Allerdings hatte die UB Rostock 1946 einen Katalog[37] mit Dissertationen, die gemäß dem Kontrollratsbefehl zu entfernen waren, zusammengestellt und Kopien dieses Verzeichnisses auch anderen wissenschaftlichen Bibliotheken zukommen lassen. Gegliedert nach Name, Signatur, Erscheinungsjahr, Universität und Thema, listete dieser handschriftlich angefertigte Katalog insgesamt 762 „giftige“ [sic!] Dissertationen deutscher Hochschulen aus den Erscheinungsjahren 1933–1943 auf.
Wann genau die UB der HU in den Besitz des Rostocker Katalogs gelangte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Aus Archivunterlagen geht allerdings hervor, dass die Bibliothek erst Anfang 1952 mit der Aussonderung nationalsozialistischer Dissertationen begann und sich dabei auch auf das Rostocker Verzeichnis stützte.[38] Wie für Monographien und Periodika wurde für jede entfernte Hochschulschrift eine Vertreterpappe angefertigt und die Karteikarte aus dem Katalog gezogen. Zusätzlich zu den gelben Dreiecken erhielten alle aussortierten Dissertationen als Kennzeichnung einen weißen Kreis auf dem vorderen äußeren Umschlag. Innen wurde teilweise „LL“ und/oder ein blaues Kreuz angebracht. Die entfernten Dissertationen wurden zunächst in einem abgeschlossenen Sondermagazin gesammelt, bevor die UB sie nach Abschluss der Aktion an die Staatsbibliothek übergab.
Die UB der HU ging bei der Aussortierung von Dissertationen nationalsozialistischen oder militaristischen Inhalts in erheblichem Maße über das Rostocker Verzeichnis hinaus. Dies gilt nicht nur für die dort nicht berücksichtigten Fachgebiete[39] und Erscheinungszeiträume (1914–1932 und 1944/45), sondern auch für Hochschulschriften, die zwischen 1933 und 1943 verfasst worden waren und aus den einbezogenen Disziplinen stammten.
4.1.3 Komplikationen
Ein Problem im Zuge der Entfernung von NS-Literatur aus der UB stellte der Umgang mit Büchern dar, die äußerlich mit nationalsozialistischen Symbolen versehen waren. Alle von der UB zwischen 1933 und 1945 erworbenen Medien, demzufolge auch Antiquaria, deren Erscheinungszeitraum vor 1933 lag, waren auf der Außenseite des vorderen Buchdeckels mit einem Superexlibris ausgestattet worden, welches das nationalsozialistische Hoheitszeichen enthielt. Da bei weitem nicht jedes dieser Bücher unter die Aussonderungskriterien fiel, verblieb ein großer Teil der Publikationen in der UB. Deren Leitung hatte zunächst eine Entfernung oder Unkenntlichmachung dieser Prägestempel erwogen. Dazu waren verschiedene Methoden, wie z. B. das Übermalen der Hakenkreuze mit Tusche, das Ausstanzen mit einem scharfen Gegenstand oder ein Überkleben mit Papier, erprobt worden. Diese Techniken hatten sich jedoch als ungeeignet erwiesen, da sie die Bücher verunzierten oder die Embleme nicht restlos unsichtbar machten. Lediglich die im Lesesaal aufgestellten Bände waren mit Papier überklebt worden.[40] Eine professionelle Entfernung der Superexlibris schied aus finanziellen Gründen aus. Mitarbeitern des Verlags Volk und Wissen war 1950 das Vorhandensein der nationalsozialistischen Superexlibris auf diversen Büchern der UB aufgefallen, woraufhin sie dies gegenüber dem Bibliotheksdirektor monierten und „im Wiederholungsfalle“ mit einer Anzeige bei der zuständigen vorgesetzten Stelle drohten.[41] Schmidt erläuterte dem Verlag daraufhin die Ursachen für die Nichtentfernung der Embleme und empfahl schlicht, bei Unbehagen mit dieser Situation von einer weiteren Benutzung der UB abzusehen. Gleichzeitig kontaktierte der Bibliotheksdirektor auf eigene Initiative das Ministerium für Volksbildung und informierte die Behörde über die Sachlage sowie die Gründe der unterlassenen Maßnahmen.[42]
Systematische Kontrollen seitens der SMAD oder später seitens des Ministeriums für Volksbildung der DDR hinsichtlich einer korrekten Umsetzung der Aussonderungsvorschriften gab es an der UB nicht.[43] Durch die starke öffentliche Präsenz der Bibliothek wurden allerdings bisweilen Benutzer auf „Missstände“ aufmerksam und meldeten ihre Beobachtungen den zuständigen politischen Institutionen.
1952 fand eine allgemeine Überprüfung der UB durch das Ministerium für Volksbildung statt. Dabei fiel auf, „dass der Sachkatalog eine Reihe von Titeln politisch unzulässiger Literatur [enthielt]“.[44] Zwei Katalogkästen, in denen sich derartige Publikationen in besonderem Maße häuften, wurden daraufhin vorläufig für die Benutzung gesperrt und zur Inspektion in das Direktorzimmer gebracht. Das Ministerium hielt eine Überprüfung dieser Kästen sowie des gesamten Katalogs für dringend geboten. Um dies mit der „notwendigen Sachkenntnis“ durchzuführen, forderten die Politiker dazu eigens wissenschaftliche Unterstützung bei der Philosophischen Fakultät der HU an. Da sich die Personalsituation der UB durch die Einstellung vier neuer wissenschaftlicher Kräfte kurze Zeit später deutlich gebessert hatte, konnte die Bibliothek diese Arbeiten schließlich selbst übernehmen.[45] Die Tatsache, dass das Ministerium nicht explizit von nationalsozialistischer oder militaristischer, sondern allgemein von „politisch unzulässiger Literatur“[46] sprach, lässt darauf schließen, dass es sich bei den betroffenen Titeln im Sachkatalog auch um andere politisch unerwünschte – z. B. kommunismuskritische – Schriften handelte, die bei dieser Gelegenheit gleich mit entfernt werden sollten.
4.1.4 Die bibliographische Dokumentation der Aussonderungen
Der Bandkatalog
Der Bandkatalog der UB, unterteilt in einen Verfasser- und einen anonymen Abschnitt, verzeichnet Titel aus dem Erscheinungszeitraum 1466–1966. Im Verfasserteil existieren für jeden Autor eine oder gegebenenfalls mehrere eigene Seiten. Bei Autoren, von denen die UB gemäß den Aussonderungsvorschriften nach Ende des Zweiten Weltkriegs Titel an die Staatsbibliothek abgegeben hatte, wurden die entsprechenden Werke in der Regel hinter der Signatur mit einem Stempel „Sperrb.“ (Sperrbibliothek) versehen, der später handschriftlich durch „ASF“ korrigiert wurde. Diese Kennzeichnungen wurden jedoch nicht durchgehend angebracht und geben daher nicht immer zuverlässig Auskunft über definitiv erfolgte Aussonderungen. So finden sich bisweilen Schriften, die keinen Stempel tragen und dennoch ausgesondert wurden, wie Autopsien der mit den typischen Dreiecken gekennzeichneten Bücher zeigen.
Wenige Jahre nach den Aussonderungsaktionen beschloss die UB, die an die Sperrbibliothek abgegebenen Bestände in einem zentralen Verzeichnis zusammenzuführen. Dazu trennten Bibliothekare die Seiten derjenigen Autoren, von denen Titel ausgesondert worden waren, sukzessive aus dem Bandkatalog heraus und legten damit einen eigenen Katalog an, der später als „ASF-Bandkatalog“ bezeichnet wurde. Die Entnahme der Seiten erfolgte unabhängig davon, ob die UB tatsächlich sämtliche Werke eines Autors oder lediglich einzelne Schriften abgegeben hatte. Somit wurden in den ASF-Bandkatalog auch zahlreiche Titel verbannt, die nicht entfernt worden waren und sich weiterhin im Bestand der Bibliothek befanden. In den meisten Fällen fügten die Mitarbeiter im ursprünglichen Bandkatalog für die entfernten Autoren als Ersatz eine Seite ohne Werkeintragungen ein, auf der lediglich der Name des Verfassers und „LL“ (Leipziger Liste) vermerkt waren. Somit besaßen die Benutzer zumindest die Möglichkeit, den Autor an sich gezielt zu finden oder zufällig darauf aufmerksam zu werden und bei Interesse mit Hilfe eines Bibliothekars im ASF-Bandkatalog zu recherchieren. Mit einem vermeintlichen „Gefahrenpotenzial“ der Autoren und ihren Schriften beziehungsweise ihrem Grad der Verstrickung in den Nationalsozialismus korrelierte die Anfertigung von Ersatzseiten scheinbar ebenso wenig wie mit der tatsächlichen Nennung oder der Anzahl der Eintragungen dieser Personen in der Leipziger Liste. Denn während einschlägige Nationalsozialisten wie Adolf Hitler, Heinrich Himmler, Joseph Goebbels und Hermann Göring im herkömmlichen Bandkatalog weiterhin – nun eben mit leeren Seiten und dem Vermerk „LL“ – vertreten und dadurch für die Benutzer sichtbar waren, wurden „unverfänglichere“ oder unbekanntere Personen, wie z. B. Werner Wilm und Fritz Zadow, gänzlich aus dem Katalog getilgt.
Im anonymen Teil des Bandkatalogs, der neben verfasserlosen Titeln und Publikationen mit mehreren Autoren auch Periodika verzeichnet, wurden die an die Staatsbibliothek abgegebenen Werke ebenfalls mit „Sperrb.“-Stempeln markiert und später mit „ASF“ überschrieben. Ein separater ASF-Bandkatalog wurde für diesen Teil nicht angelegt, da es nicht möglich ist, aus diesem Katalog einzelne Blätter herauszunehmen ohne gleichzeitig zahlreiche andere, inhaltlich vollkommen unterschiedliche Titel mit zu entfernen. Somit blieben die anonymen ausgesonderten Titel für die Benutzer im Bandkatalog weiterhin sichtbar.
Der bis heute erhaltene ASF-Bandkatalog umfasst 21 Bände. Solange die Sperrbibliothek respektive ASF existierte, war dieser Katalog nicht frei zugänglich, sondern zusammen mit der Leipziger Liste separat in einem verschlossenen Schrank verwahrt. Er konnte von Benutzern nicht eigenständig, sondern lediglich in Begleitung eines Bibliothekars eingesehen werden. Dies geschah hauptsächlich bei Vermutungen, dass es sich bei einem gesuchten und nicht auffindbaren Titel um ein ASF-Buch oder um ein Werk, welches durch das Heraustrennen ganzer Seiten unbeabsichtigt in diesen Katalog gelangt war, handeln könnte. Denn die Problematik, dass sich im ASF-Katalog auch Titel befanden, die die UB nicht an die Sperrbibliothek abgegeben hatte, war den Bibliothekaren durchaus bewusst.[47]
Zettelkataloge
Im alphabetischen und im systematischen Zettelkatalog der UB wurden die Karten der ausgesonderten Titel jeweils gezogen. Entgegen der Anweisung des Alliierten Kontrollrats wurden die Karten nicht an die Sperrbibliothek mit abgeliefert, sondern verblieben in der UB. Dort wurden sie in einen eigenen Katalogschrank einsortiert, für den sich später die Bezeichnung „ASF-Zettelkatalog“ etablierte. Dieser enthielt einen alphabetischen und einen systematischen Teil. Im „normalen“ systematischen Katalog waren die gezogenen Titelkarten durch Karten ersetzt worden, die lediglich die Signaturen der Werke enthielten. Für den alphabetischen Katalog wurden derartige Ersatzkarten nicht angefertigt. Wie bereits erwähnt, waren die Dissertationen der UB Ende der 1940er Jahre noch im allgemeinen alphabetischen Katalog verzeichnet. Ein separater Dissertationskatalog wurde erst in späteren Jahrzehnten eingerichtet. Daher wurden die Karten der an die Staatsbibliothek abgegebenen Dissertationen ebenfalls in den alphabetischen ASF-Zettelkatalog einsortiert. Wie der ASF-Bandkatalog war auch der ASF-Zettelkatalog nicht öffentlich zugänglich. Er konnte nur unter Aufsicht eines Bibliothekars eingesehen werden.[48] Der ASF-Zettelkatalog ist bis heute erhalten und mittlerweile wieder frei zugänglich.
4.2 Die Institutsbibliotheken
4.2.1 Allgemeines
An der HU existierte bis Mitte der 1960er Jahre ein zweischichtiges Bibliothekssystem. Während des Zeitraums der Aussonderung von NS-Literatur, also zwischen 1945 und Ende der 1950er Jahre, gab es neben der bislang beschriebenen Zentralen Universitätsbibliothek (UB) 191 (!) Fakultäts-, Instituts- und Seminarbibliotheken.[49] Während die UB neben Wissenschaftlern und Studenten auch der allgemeinen Öffentlichkeit offenstand, hatten zu den Institutsbibliotheken nahezu ausschließlich Wissenschaftler der HU und nur sehr selten auch Studenten Zutritt. Der breiten Bevölkerung blieben diese Standorte verschlossen. Die Institutsbibliotheken gingen bei der Aussonderung nationalsozialistischer Literatur sehr unterschiedlich vor. Da diese Einrichtungen eigenständig agierten, waren sie nicht an das Vorgehen der UB gebunden. Wie für letztere lässt sich auch für einige der Institutsbibliotheken nachweisen, dass sie über die Leipziger Liste hinaus Bücher und Zeitschriften entfernten. Äußerliche Kennzeichnungen der Medien sowie diverse erhaltene Abgabelisten[50] zeigen, dass sich das inhaltliche Spektrum dabei ähnlich breit gestaltete wie an der UB. Andererseits wiederum zog sich die Aussonderung nationalsozialistischer Literatur bei vielen Institutsbibliotheken über einen langen Zeitraum bis 1960 hin. Diverse Einrichtungen begannen überhaupt erst Anfang der 1950er Jahre mit der Entfernung derartigen Schrifttums. Für diese späten Reaktionen lassen sich verschiedene Gründe anführen. Einige Institute hatten ihren gesamten Bibliotheksbestand oder Teile davon ausgelagert, so dass die NS-Literatur erst nach der Rückkehr der Medien ausgesondert werden konnte. Des Weiteren resultierte die verzögerte Abgabe teilweise aus der Übernahme von Beständen fremder Bibliotheken oder von privaten Nachlässen. Diese in den Nachkriegsjahren neu in die Bibliotheken gelangte Literatur musste erst noch auf NS-Titel überprüft werden. Andere Bibliotheken hingegen hatten bestimmte Bücher, die gemäß der Leipziger Liste indiziert waren, bewusst zurückgehalten, da sie dringend für Forschungsarbeiten benötigt wurden. Allerdings war die betreffende Literatur in den Instituten in der Regel einstweilen unter Verschluss gehalten worden. Bei einer Revision Anfang 1953 wurde festgestellt, dass sich in den Bibliotheken der HU immer noch Bücher und Zeitschriften befanden, die gemäß dem Kontrollratsbefehl längst auszusondern und abzuliefern gewesen wären. Um jene Bibliotheken, die ihre NS-Literatur bislang noch nicht an die Sperrbibliothek überführt hatten, zur Abgabe zu bewegen, forderte die Universitätsleitung im Februar 1953 sämtliche Einrichtungen der Hochschule nochmals eindringlich dazu auf, derartige Titel unverzüglich auszusortieren und ordnungsgemäß der Sperrbibliothek zu übergeben.[51] Dieser Appell löste denn auch einen größeren Aussonderungsschub aus. Nicht zuletzt konnten sich die Institutsbibliotheken auch deshalb die späten Abgaben der Bücher „erlauben“, da sie, anders als die UB, nicht im Fokus einer breiten Öffentlichkeit standen und somit kaum Anzeigen von Benutzern zu befürchten hatten.
4.2.2 Die bibliographische Dokumentation der Aussonderungen
Die Institutsbibliotheken verfügten nur selten über Bandkataloge. Aussonderungen oder andere Standortveränderungen vermerkten sie stattdessen in der Regel in ihren Inventarverzeichnissen. Stichprobenartige Untersuchungen an erhaltenen Bandkatalogen und Zugangsbüchern für den Zeitraum 1914–1945 zeigen, dass die Bibliotheken bei der Dokumentation der nach Kriegsende an die Staatsbibliothek abgegebenen nationalsozialistischen und militaristischen Literatur sehr unterschiedlich vorgingen. Manche Einrichtungen vermerkten jede Aussonderung detailliert mit jeweils unterschiedlichen Einträgen in ihrem Inventarverzeichnis, andere Bibliotheken hingegen registrierten ausgesonderte Titel an keiner Stelle. Die Zettelkarten der an die Staatsbibliothek abgegebenen Titel wurden in den Institutsbibliotheken in der Regel ersatzlos gezogen. Ob die entfernten Karten gesondert aufbewahrt wurden, lässt sich nicht mehr eindeutig ermitteln. Da allerdings keine separaten Katalogteile aus diesen Einrichtungen existieren, ist anzunehmen, dass die Karten vernichtet wurden.
Die unterschiedlichen Vorgehensweisen der verschiedenen Institutionen sind zunächst auf das Fehlen zentraler Vorgaben zurückzuführen. Wie bereits erwähnt, unterstanden die Institutsbibliotheken damals noch nicht der UB und waren nicht weisungsgebunden. Somit konnte jede Einrichtung ihre eigene Praxis entwickeln. Außerdem gestaltete sich die Personalausstattung sehr heterogen. Während die Bibliotheken mancher Institute von einem ausgebildeten Bibliothekar geleitet wurden, der gegebenenfalls über einen oder mehrere Assistenten verfügte, betreute in anderen Einrichtungen ein wissenschaftlicher Mitarbeiter die Bibliothek, und dies bisweilen auch nur nebenbei. Nicht zuletzt mussten die Aussonderungen ebenfalls unter hohem zeitlichen Druck erfolgen, so dass oft schlicht die Zeit dafür fehlte, die Bücherabgaben ordnungsgemäß zu dokumentieren.
4.3 Die Aufbewahrung der ausgesonderten Literatur in der Berliner Staatsbibliothek
Die von der UB und den Institutsbibliotheken an die Staatsbibliothek abgegebenen nationalsozialistischen Bücher und Zeitschriften wurden dort zusammen mit den eigenen ausgesonderten Medien sowie den Beständen anderer wissenschaftlicher Einrichtungen aus dem Norden der SBZ/DDR in einem separaten, verschlossenen Magazin, der bereits erwähnten Sperrbibliothek, aufbewahrt. Zu diesem „Giftschrank“ hatten nur wenige ausgewählte Mitarbeiter der Staatsbibliothek Zugang. 1961 erhielt die Sperrbibliothek den freundlicher klingender Namen „Abteilung für Spezielle Forschungsliteratur“ (ASF).
Die Staatsbibliothek hatte die ihr aus anderen Bibliotheken überstellten Bestände lediglich als Deposita in Gewahrsam genommen. Das Eigentumsrecht verblieb bei den abgebenden Einrichtungen. Daher wurden die Medien auch nicht in den Bestand der Staatsbibliothek eingearbeitet, sondern blieben stets als Fremdbestände identifizierbar. Größtenteils waren die Bücher und Zeitschriften nicht nach Provenienzen geordnet, sondern alphabetisch nach Verfassern oder Sachtiteln aufgestellt. Die abliefernden Bibliotheken hatten die zu den Büchern gehörenden Titelkarten meist nicht mit abgegeben. Zur besseren Übersicht legte die Staatsbibliothek daher für die in der Sperrbibliothek beziehungsweise ASF befindlichen Bände einen eigenen Zettelkatalog an, in dem die Medien jedoch nicht nach den allgemeingültigen Regeln der Titelaufnahme, sondern nur äußerst provisorisch erschlossen wurden. Die handschriftlich beschriebenen Karten beinhalteten in der Regel lediglich die Signatur (mit vorangestelltem Bibliothekssigel der Herkunftseinrichtung) sowie den Titel der Werke. Bisweilen wurden auch Verfasser und Erscheinungsjahr vermerkt (Abb. 2). Bei diesem Katalog handelte es sich um einen Mischkatalog, der neben den sekretierten Beständen der Staatsbibliothek auch den Großteil der von anderen Bibliotheken überstellten Literatur umfasste. Die Sperrbibliothek bzw. ASF stellte somit gewissermaßen eine eigene Bibliothek mit einem eigenen Katalog innerhalb der Staatsbibliothek dar.

: Titelkarten aus dem provisorischen ASF-Katalog der Berliner Staatsbibliothek. Die abgebildeten Titel stammen aus dem Bestand der UB der HU, wie an dem der Signatur vorangestellten Sigel (11) zu erkennen ist.
4.4 Die Benutzungsmodalitäten der abgegebenen Literatur
Die von den wissenschaftlichen Bibliotheken aus den nördlichen Teilen der ehemaligen SBZ/DDR an die Sperrbibliothek abgegebene Literatur stellte keinen „toten“ Bestand dar, sondern konnte, wie auch die eigenen sekretierten Bestände der Staatsbibliothek, durchaus benutzt werden. Die konkreten Modalitäten dazu hatte das Sekretariat des Zentralkomitees der SED 1949 festgelegt.[52] Sie galten in gleichem Maße auch für die Sperrbibliothek der DB in Leipzig. Die Bestände der Sperrbibliotheken durften nur bei nachweisbarem Bedarf für besondere Zwecke eingesehen werden. Darunter fielen vor allem wissenschaftliche Tätigkeiten sowie schriftstellerische oder journalistische Arbeiten. Die Berechtigung zur Einsichtnahme musste durch den Rektor einer Hochschule oder die Zonenleitung einer Partei, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, des Kulturbundes oder des Presseverbandes bestätigt werden. Ferner waren auch die Präsidenten der Oberlandesgerichte sowie die Innenminister der Länder befugt, Berechtigungsscheine auszustellen. Die sekretierten Medien durften nur in einem der Öffentlichkeit nicht frei zugänglichen Raum bereitgestellt werden. In den späteren Jahrzehnten wurden die Bestimmungen gelockert, so dass u. a. auch Hochschulprofessoren oder Institutsleiter Berechtigungserlaubnisse ausstellen konnten.
In der Berliner Staatsbibliothek wurde ein spezieller Lesesaal eingerichtet, in dem Benutzer die entsprechende Literatur unter Aufsicht einsehen konnten. Dabei wurde jeder Leser exakt mit Datum, Name sowie Kurztitel und Signatur der konsultierten Literatur erfasst. Die Staatsorgane hatten somit eine permanente Kontrolle darüber, wer sich zu welchem Zeitpunkt mit eventueller „Hetzliteratur“ beschäftigt hatte.[53]
An der UB der HU gab es in den Jahrzehnten zwischen 1946 und 1990 regelmäßig Anfragen von Studenten oder Wissenschaftlern nach Titeln, die sich in der Sperrbibliothek beziehungsweise ASF befanden. Die ausgesonderten Werke waren zwar nicht mehr in den öffentlich zugänglichen Zettelkatalogen nachgewiesen, die Benutzer wurden jedoch durch Empfehlungen von Professoren, älteren Verwandten oder durch den Bandkatalog, aus dem derartige Titel ja erst später (Verfasserteil) oder gar nicht (anonymer Teil) entfernt wurden, auf entsprechende Bücher aufmerksam. Dissertationen ließen sich nach wie vor durch die Jahresverzeichnisse der deutschen Hochschulschriften finden. Das Auskunftspersonal der UB erläuterte in diesen Fällen die Benutzungsmodalitäten und verwies die Interessenten an die Staatsbibliothek. Auch in Benutzungsführern der UB aus den 1960er und 1970er Jahren fand die ASF Erwähnung. Unter der Rubrik „unerledigte Bestellungen“ wurde neben Buchverlust, konservatorischen Aspekten oder einem noch nicht abgeschlossenen Bearbeitungsprozess auf die Möglichkeit verwiesen, dass es sich bei einem nicht bereitstellbaren Buch um einen Titel handeln könnte, den die UB an die ASF abgegeben hatte. In diesen Fällen wurde empfohlen, sich direkt an die Staatsbibliothek zu wenden.[54]
Die ASF-Bestände der UB und der Institutsbibliotheken konnten nicht nur im ASF-Lesesaal der Staatsbibliothek eingesehen werden, sondern wurden, ebenso wie die anderen Fremdbestände und die eigene sekretierte Literatur der Staatsbibliothek, grundsätzlich auch in den Fernleihverkehr gegeben. Dazu musste sich die empfangende Bibliothek verpflichten, die Bücher ausschließlich für wissenschaftliche Zwecke an Benutzer auszuhändigen.[55]
Im Bibliotheksalltag der HU zwischen 1945 und 1990 erwies sich der Umstand, dass die Leipziger Liste auch viele „unbelastete“ Titel indiziert hatte und dass seinerzeit die Bibliothekare selbst in manchen Bereichen im Übermaß ausgesondert hatten, als spürbare Beeinträchtigung für die Benutzer. Diese reagierten gegenüber dem bibliothekarischen Auskunftspersonal oft mit Unverständnis, wenn sie erfuhren, dass die von ihnen benötigten, vermeintlich „unverfänglichen“ Medien in der UB nicht (mehr) verfügbar waren. In besonderem Maße galt dies für die Militaria-Bestände, die nahezu komplett an die Staatsbibliothek abgegeben worden waren.
5 Die Rückführung und Wiedereinarbeitung der Bestände
5.1 Die Auflösung der ASF
Im Zuge der Deutschen Wiedervereinigung wurde die ASF Ende 1989 aufgelöst. Die Abteilung war bis zu diesem Zeitpunkt auf insgesamt rund 188.000 Medieneinheiten angewachsen. Ca. 48.000 Bände gehörten der Berliner Staatsbibliothek selbst, wobei 28.000 davon auf den Bereich nationalsozialistische und militaristische Literatur vor 1945 entfielen und die anderen 20.000 Exemplare aus dem Bereich politisch unerwünschter Literatur, die zu DDR-Zeiten erschienen war, stammten. Bei den übrigen 140.000 Bänden handelte es sich um Deposita aus anderen wissenschaftlichen Bibliotheken.[56] Ihre eigenen, bis dahin in der ASF untergebrachten Medien stellte die Staatsbibliothek sukzessive wieder an die ursprünglichen Standorte im Magazin zurück. Gleichzeitig begannen Mitarbeiter der Erwerbungsabteilung 1991 mit einer ersten Sichtung der ASF-Fremdbestände. Die Sondierungsarbeiten erwiesen sich als äußerst kompliziert und zeitaufwändig, da die Medien größtenteils nicht nach Provenienzen geordnet waren, bisweilen keine Besitznachweise enthielten und es zudem kaum Übernahmeunterlagen aus den Nachkriegsjahren gab. Der überwiegende Teil der Bücher entfiel mit den Universitätsbibliotheken Berlin, Greifswald und Rostock sowie der Berliner Stadtbibliothek und der Mecklenburgischen Landesbibliothek auf die größten wissenschaftlichen Bibliotheken der SBZ/DDR. Wenngleich im Zuge der ASF-Auflösung keine exakten Statistiken über die Menge der an die verschiedenen Bibliotheken jeweils zurückgegebenen Titel erstellt wurden, lässt sich dennoch konstatieren, dass die Bestände der HU mit den bereits erwähnten schätzungsweise 40.000–50.000 Bänden das umfangreichste Einzelkontingent darstellten.[57]
Um die ASF-Fremdbestände ihren rechtmäßigen Eigentümern bzw. Nachfolgeinstitutionen zurückgeben zu können, startete die Berliner Staatsbibliothek Ende 1992 einen Aufruf in der Fachzeitschrift Bibliotheksdienst.[58] Darin wurden alle Bibliotheken, die nach Kriegsende Literatur an die Staatsbibliothek abgegeben hatten, aufgefordert, ihre Rückgabewünsche unter Vorlage beweiskräftiger Unterlagen bis zum 30. Juni 1993 geltend zu machen. Gleichzeitig kündigte die Staatsbibliothek an, nach Ablauf der Frist über nicht zurückverlangte Bestände frei zu verfügen.
Die Sichtung der ASF-Bestände nach jenen Provenienzen, die Rückgabeansprüche ihrer Literatur angemeldet hatten, konnte 1993 abgeschlossen werden. Allerdings blieb ein beträchtliches Kontingent an Medien übrig, die keiner Bibliothek zuzuordnen waren oder für die die Ursprungseinrichtungen kein Interesse bekundet hatten.[59] Einen Teil dieser „herrenlosen“ Bücher übernahm die Staatsbibliothek selbst, um Bestandslücken zu ergänzen. Um auch die dann noch verbliebenen Bücher einer sinnvollen Verwendung zuzuführen, lud die Staatsbibliothek in den folgenden Jahren Vertreter zahlreicher Bibliotheken und Institutionen ein, nach Bedarf aus den Beständen auszuwählen. Das Angebot erfuhr regen Zuspruch. Auch die UB der HU sowie verschiedene Lehrstühle der Universität „bedienten“ sich an diesem Restkontingent.[60] Diese weitere Verteilung der ASF-Titel lief bis 1999. Bis auf einen Restbestand von 28 Regalmetern konnten alle ehemals in dieser Abteilung verwahrten Medien einer wissenschaftlichen Benutzung zugeführt werden.[61] Die übriggebliebenen Bücher wurden aus ethischen Gründen bewusst nicht in den Antiquariatshandel gegeben, sondern makuliert.
5.2 Die Reintegration der ASF-Titel an der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität
5.2.1 Der ASF-Bestand der Universitätsbibliothek
Mit vielen eindeutig identifizierbaren Herkunftseinrichtungen der ASF-Fremdbestände war die Staatsbibliothek bereits ab 1991 in Kontakt getreten und hatte ihnen die Rückgabe ihrer Bücher angeboten. Wie die anderen größeren wissenschaftlichen Bibliotheken Ostdeutschlands bekundete auch die UB der HU umgehend großes Interesse an einer Rückführung ihrer ASF-Titel. So erhielt sie zwischen 1991 und 1993 in mehreren Schritten die seinerzeit abgegebenen, mehreren zehntausend Medien, zusammen mit einem Teil der dafür von der Staatsbibliothek angelegten provisorischen Kartei, zurück. Da die UB zunächst vollkommen überfordert war, einen Bestand dieser Größe unmittelbar wieder an die jeweiligen ursprünglichen Standorte im Magazin zu stellen, wurden die zurückerhaltenen Bücher und Zeitschriften vorerst als geschlossenes Kontingent in gesonderten Magazinräumen zwischengelagert. Je nach personellen Kapazitäten stellten Mitarbeiter die Bände in den Jahren 1995–2000 schließlich an ihre regulären Standorte zurück. Die dort installierten Vertreter wurden gezogen und aufbewahrt. Die auf den Büchern angebrachten gelben Dreiecke wurden beim Zurückstellen nicht entfernt. Beim Einsortieren der Medien fiel auf, dass der Bestand nicht vollständig zurückgekommen war. Derartige Verluste, die sich nicht exakt beziffern lassen, wurden entweder bereits während der Aussonderungsaktionen nach dem Zweiten Weltkrieg verursacht oder resultieren aus Zuordnungsschwierigkeiten im Zuge der ASF-Auflösung.
Da sich Anfang der 1990er Jahre bereits abzeichnete, dass die Zukunft der bibliothekarischen Erschließung in elektronischen Katalogen liegen würde, erteilte die UB-Leitung nach der Rückkehr des ASF-Bestandes keine Anweisung, die Karten aus dem ASF-Zettelkatalog wieder in die regulären alphabetischen und systematischen Kataloge einzusortieren. Sie verblieben stattdessen im ASF-Katalog. Die Zentralbibliothek verfügte damals bereits über ein elektronisches Bibliotheksverwaltungssystem (BIS-LOK). Eine Aufnahme der ASF-Titel in dieses System wurde von der Bibliotheksdirektion jedoch bewusst nicht veranlasst. In BIS-LOK waren zu diesem Zeitpunkt nämlich erst einige wenige Neuerwerbungen verzeichnet. Mit der Eintragung der 40.000–50.000 ASF-Titel hätte die Bibliothek plötzlich überproportional viel nationalsozialistische und militaristische Literatur in ihrem Katalog nachgewiesen. Wenngleich die Gesamtanzahl der in BIS-LOK beziehungsweise später im Online-Katalog enthaltenen Titel rasch und kontinuierlich wuchs, fand aufgrund mangelnder personeller Kapazitäten auch in den folgenden Jahren keine Aufnahme des ASF-Bestands in den Online-Katalog statt.[62]
Abgesehen von wenigen Ausnahmen, wie z. B. den ASF-Dissertationen sowie einem Teil der ASF-Zeitschriften, die im Rahmen von Projekten zufällig elektronisch miterschlossen wurden, ist der Großteil des ASF-Bestands bis heute nicht im Online-Katalog der UB verzeichnet. Die Medien befinden sich wieder an ihrem regulären Standort, sind aber für Benutzer kaum gezielt online recherchierbar, sondern lediglich anhand der erhaltenen ASF-Band- und/oder Zettelkataloge nachgewiesen.
5.2.2 Die ASF-Bestände der Institutsbibliotheken
Die Bibliotheksstruktur der HU hatte sich zwischen den Aussonderungsaktionen der 1940er und 1950er Jahre und der rund vier Dekaden später erfolgten Rückführung der Bestände gravierend verändert.[63] Da ein Großteil der ehemaligen Institutsbibliotheken in den 1990er Jahren nicht mehr existierte, übergab die Staatsbibliothek die ASF-Bestände dieser ehemals eigenständigen Einrichtungen komplett an die Zentralbibliothek der HU, welche mittlerweile als übergeordnete und weisungsbefugte Instanz innerhalb eines einschichtigen Systems agierte. Die Rückführung dieser Titel, zu deren Anzahl sich rückblickend keine genauen Angaben mehr machen lassen, erfolgte erst einige Jahre später als die Rückgabe des UB-Bestandes. Die Bücher aus den Institutsbibliotheken wurden ebenfalls zunächst in einem gesonderten Magazin der Zentralbibliothek aufgestellt. Eine Kartei wurde zu diesen Beständen nicht mit zurückgegeben.
Anfang des 21. Jahrhunderts begannen Mitarbeiter der Abteilung Historische Sammlungen mit einer ersten Sondierung der Bestände. Diese Arbeiten gestalteten sich sehr zeitaufwändig, da die Bücher und Zeitschriften aus über 100 einstigen Institutsbibliotheken stammten, von denen ein Großteil nun nicht mehr existierte. Die Medien waren nicht nach Ursprungsprovenienzen geordnet, sondern vollkommen unsortiert. Erschwert wurden die Sondierungsarbeiten durch Maßnahmen zur Schimmelbekämpfung sowie durch Umzüge der Zentralbibliothek in den Jahren 2000, 2005 und 2009. Aufgrund fehlender personeller Ressourcen konnte die UB die Verteilung der aus den ehemaligen Institutsbibliotheken stammenden ASF-Titel nur sehr partiell betreiben und musste die Aktion Mitte der 2000er Jahre vorerst abbrechen. Daher befinden sich gegenwärtig noch ca. 5.000 Bücher und Zeitschriften aus diesen Institutionen in der Zentralbibliothek. Diese dort im internen Bearbeitungsbereich untergebrachten ASF-Titel sind komplett unerschlossen, weil dazu keine alten Kataloge mehr existieren.
Im Gegensatz zum ASF-Bestand der UB befinden sich einige der ASF-Titel aus den Institutsbibliotheken in einem schlechten Erhaltungszustand. Die bisweilen erheblichen Schäden resultieren aus der jahrzehntelangen konservatorisch sehr ungünstigen Lagerung in der ASF. Das ASF-Magazin der Staatsbibliothek hatte sich direkt unter dem Dach befunden. Dort war es an verschiedenen Stellen häufiger zu Regeneinbrüchen, Wasserschäden und Staubbelastung gekommen. Im Jahr 2000 schickte die UB die gesamten rund 5.000 Medien bereits zur Schimmelbeseitigung in das Zentrum für Bucherhaltung nach Leipzig.
6 Resümee
Die vorausgegangenen Darlegungen haben gezeigt, dass die von der SMAD beziehungsweise von der DDR-Führung erlassenen Aussonderungsvorschriften sowie die auf der Basis dieser Instruktionen erstellte Liste der auszusondernden Literatur signifikante Auswirkungen auf die wissenschaftlichen Bibliotheken hatten. Die zwischen 1945 und Ende der 1950er Jahre erfolgten Aussonderungen nationalsozialistischer, militaristischer, aber auch in nicht geringem Maße „unbelasteter“ Literatur zählten zu den prägendsten Ereignissen im ostdeutschen Bibliothekswesen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Für die Bibliotheken, von denen viele unter erheblichen Kriegsschäden litten und beträchtliche Bestandsverluste zu verzeichnen hatten, stellten die angeordneten Aussonderungen eine hohe Zusatzbelastung neben den ohnehin nur unter großen Anstrengungen zu bewältigenden Alltagsaufgaben dar. Die Aussonderungen mussten unter hohem zeitlichen Druck und geringen personellen Ressourcen erfolgen. Die Aussonderungsanordnungen griffen somit nicht nur, wie jede Zensurmaßnahme, in das freiheitliche und selbstbestimmte Denken und Handeln der Bibliothekare ein, sondern stellten diese darüber hinaus vor große arbeitsorganisatorische Herausforderungen.
Hervorzuheben ist an dieser Stelle nochmals, dass die unter der Ägide der SMAD begonnene und später unter der Führung der DDR weitergeführte und vollendete Leipziger Liste keineswegs ausschließlich ein Instrument zur Befreiung der ostdeutschen Bibliotheksbestände von dezidiert nationalsozialistischer und militaristischer Literatur darstellte. Das Verzeichnis und der ihm zugrundeliegende Kontrollratsbefehl wurden vielmehr von der politischen Führung der SBZ respektive DDR auch in erheblichem Maße dazu benutzt, kommunismuskritische oder sonstige politisch unwillkommene Literatur zu beseitigen und so das kollektive Wissen der Bevölkerung zu kontrollieren und in die gewünschten Bahnen zu leiten. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Leipziger Liste weder von SMAD-Offizieren noch von DDR-Politfunktionären, sondern von deutschen Bibliothekaren zusammengestellt wurde. Die politischen Instanzen hatten die Rahmenbedingungen für die zu entfernende Literatur vorgegeben. Die „Feinarbeit“ hingegen oblag den Fachkräften. Freilich waren diese grundsätzlich an die Maßgaben der politischen Instanzen gebunden. Gleichzeitig besaßen sie aber durchaus auch einen gewissen Entscheidungsspielraum bei den rund zwei Millionen Einzeltiteln, die sie hinsichtlich einer Aufnahme in die Liste überprüften. Somit kann den an der Erstellung der Leipziger Liste beteiligten Bibliothekaren ein gewisses Maß an Mitverantwortung hinsichtlich der Indizierung nicht-nationalsozialistischer und nicht-militaristischer Literatur nicht gänzlich abgesprochen werden. Wieland Schmidt, seinerzeit Mitglied der Buchprüfungskommission, gestand 1988 rückblickend in einem Interview denn auch ein, „dass unter den Titeln, die auf die Liste gekommen sind, […] natürlich viele Fehlentscheidungen waren.“[64]
Auch für die Bibliotheken der HU stellten die Aussonderungsaktionen der Nachkriegszeit ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte ihrer Einrichtungen dar – mit spürbaren Nachwirkungen bis in die Gegenwart hinein. Die Entfernung der indizierten Literatur stellte keineswegs ein auf die unmittelbaren Nachkriegsjahre begrenztes Unterfangen dar, das die UB und die Institutsbibliotheken nach Abschluss der Aussonderungsaktionen nicht mehr tangierte. Die Aussonderungen gingen vielmehr mit jahrzehntelangen Einschränkungen für die Benutzer einher, welche an die Staatsbibliothek verwiesen werden mussten und die gewünschte Literatur dort nur unter speziellen Voraussetzungen konsultieren konnten. Da die Bibliotheken der HU, ob gezwungenermaßen oder aus eigenem Antrieb, in nicht geringem Umfang auch nicht dezidiert nationalsozialistische oder militaristische Literatur an die Sperrbibliothek abgegeben hatten, waren überdies zahlreiche „unbelastete“ Titel für Benutzer nicht mehr zugänglich.
Auch die im Zuge der Aussonderungen vorgenommene Entfernung der Titelkarten aus den Zettelkatalogen zieht bis in die Gegenwart Konsequenzen für den Bibliotheksbetrieb an der HU nach sich. Da die Karten von den einzelnen Bibliotheken, mit Ausnahme der UB, in der Regel vernichtet wurden, sind die aus der ASF zurückgekommenen Titel heute nicht nur in den konventionellen Katalogen, die in einigen Zweigbibliotheken immer noch die einzige Erschließungsquelle darstellen, nicht verzeichnet, sondern blieben und bleiben auch bei sämtlichen Retrokonversionsprojekten unberücksichtigt.
Das Bibliothekswesen der HU unterschied sich hinsichtlich der Aussonderungen und deren Konsequenzen nicht nur aufgrund der Menge der seinerzeit entfernten Titel von anderen wissenschaftlichen Bibliotheken der ehemaligen SBZ/DDR, sondern auch durch die außergewöhnlich hohe Anzahl der Bibliothekstandorte sowie deren sukzessive, drastische Reduktion seit den 1960er Jahren. Zwar durchliefen alle ostdeutschen Hochschulbibliotheken die Entwicklung von der Zwei- in die Einschichtigkeit. Eine derart signifikante strukturelle Veränderung in der Bibliotheksstruktur wie an der HU fand jedoch an keiner anderen Einrichtung statt. Während andere ostdeutsche Universitätsbibliotheken die Wiedereingliederung ihrer ehemals ausgesonderten NS-Literatur längst abgeschlossen haben und die Bücher und Zeitschriften größtenteils wieder regulär recherchierbar und benutzbar sind[65], konnten diese Arbeiten an der UB der HU bislang nur partiell erfolgen. Insbesondere die (Neu-)Zuordnung der Bestände aus den ehemaligen Institutsbibliotheken bedeutet(e) beträchtlichen zusätzlichen Arbeitsaufwand für die Bibliothek.
Viele Titel aus dem ASF-Bestand der UB der HU sind heute auch an anderen Bibliotheken Deutschlands noch vorhanden. Als „Forschungsschatz“ im Sinne einer überwiegend vorhandenen Unikalität lässt sich der Bestand insgesamt somit nicht charakterisieren. Gleichwohl befinden sich unter den Büchern und Zeitschriften durchaus diverse „Juwelen“. Neben andernorts selten verfügbaren Monographien zählen dazu insbesondere der Großteil der Dissertationen und das Verzeichnis der ehemaligen NS-Handbibliothek. Des Weiteren zeichnet sich der ASF-Bestand durch seinen Umfang und sein breites inhaltliches Spektrum aus. Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen attestieren dem ASF-Bestand eine herausragende Relevanz als Quellenmaterial für Forschung und Lehre.[66] Anhand der überwiegend zwischen 1914 und 1945 erschienenen Literatur lassen sich nicht nur zahlreiche Facetten der nationalsozialistischen Ideologie, Rassen-, Raum- und Bevölkerungspolitik, Kriegsführung etc. ergründen, sondern die Publikationen bieten auch aufschlussreiches Untersuchungsmaterial für weitere Fragestellungen, z. B. aus den Bereichen Militär- und Medizingeschichte, Soziologie, Politikwissenschaft, osteuropäischer Geschichte oder Antisemitismus- und Widerstandsforschung. Darüber hinaus stellt der Bestand an sich, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die dazugehörigen Titel äußerlich und über die speziellen Kataloge nach wie vor gut identifiziert werden können, ein interessantes Forschungsobjekt dar, weil sich daran verschiedene Aspekte der Bibliotheks- und Zensurgeschichte analysieren lassen. Angesichts dieser Bedeutung des Bestandes und des nachgewiesenen großen Interesses der Wissenschaft ist es wünschenswert, dass die gegenwärtig noch ausstehenden Arbeitsschritte für eine vollständige Recherchier- und Benutzbarkeit der ASF-Titel an der UB der HU baldmöglichst eingeleitet und abgeschlossen werden können.

© 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
This article is distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 3.0 Public License