Zusammenfassung
In diesem Artikel wird die Österreichische Nationalbibliothek als wichtiger kultureller Gedächtnisort, auch für frauen- und genderspezifische Erinnerung, vorgestellt. Der erste Abschnitt verweist auf die wissenschaftliche Rezeption im Kontext Bibliothek und Geschlechterforschung, während der zweite Abschnitt einen Streifzug durch die symbolische und allegorische Frauenwelt der Hofbibliothek und ihrer Bestände unternimmt. Im dritten Abschnitt wird der Beitrag von Ariadne an der Aufarbeitung genderspezifischen Wissens am Beispiel der österreichischen historischen Frauenbewegung präsentiert.
Abstract
In this article, the Austrian National Library is analysed as an important institution for the preservation of cultural heritage, also for women’s and gender memory. The first chapter of the article refers to libraries and gender research in this context. In the second chapter it is explained what kind of women’s history is told in the so-called “Hofbibliothek” within its baroque representation and rare collections. Finally, the specific contribution of Ariadne to the gender knowledge is presented by means of the various materials to the historical women’s movement.
Die Marginalisierung von Frauen- und Geschlechterwissen im kulturellen Gedächtnis wird seit den 1970er-Jahren von Feministinnen kritisiert. Geschlecht als zentrale Kategorie kollektiven Erinnerns – neben Religion, ethnischer Herkunft, Alter, Ideologie – wurde bis dahin weitgehend vernachlässigt. Frauen- und Geschlechterforscherinnen, aber auch Bibliothekarinnen und Archivarinnen begannen, diese Lücken aufzuarbeiten: In den Literaturwissenschaften ging es darum, die Aufnahme von Autorinnen in den Kanon zu forcieren, in den Geschichtswissenschaften um das (Wieder)Erinnern an die vergessenen und verdrängten Frauen.[1]
In diesem Artikel wird die Österreichische Nationalbibliothek als ein bedeutender kultureller Gedächtnisort und -speicher auf ihr frauen- und geschlechterspezifisches Erinnerungsvermögen hin analysiert: Im ersten Abschnitt wird es darum gehen, den Kontext zu Bibliotheken und Geschlechterforschung herzustellen. Im zweiten Abschnitt wird aufgezeigt, was der historische Bestand sowie die baulichen Elemente und Repräsentanz darüber aussagen und im dritten Abschnitt wird der spezifische Beitrag von Ariadne, der frauen- und genderspezifischen Information und Dokumentation an der Österreichischen Nationalbibliothek, anhand ihrer Aufarbeitungs- und Erschließungsarbeit zur historischen Frauenbewegung vorgestellt.[2]
1 Frauenspezifisches Gedächtnis und Bewahrung von Geschlechtergeschichte – im Kontext von Bibliothek und Forschung
„Das Archiv [auch die Bibliothek] ist die Basis dessen, was in der Zukunft über die Gegenwart gesagt werden kann, wenn sie zur Vergangenheit geworden sein wird.“[3] Sowohl Bibliotheken als auch Archive sammeln, ordnen und bewahren Dokumente, die als potentielle historische Quellen bewertet werden und schaffen auf diese Weise ein retrospektives gesellschaftliches Gedächtnis. Hier erfolgt die Auswahl derjenigen Dokumente, die gespeichert, als bewahrenswert eingestuft oder nicht aufgenommen werden. Bibliotheken und Archive erfüllen laut Assmann eine „memoriale“[4] Funktion.
Voraussetzung für eine Wissensweitergabe ist also, dass materielle, mündliche oder schriftliche Fragmente an die Nachwelt überliefert werden und es für diese auch Wahrnehmung und Aufmerksamkeit gibt. Das tradierte Wissen wird auch weiterhin laufend aktualisiert oder verworfen und ist somit einem permanenten Wandel ausgesetzt. Gleichzeitig entstehen auch neue Erzählstränge. Die Erinnerung an Personen, ihre Werke, Ereignisse und Monumente spielt also eine wesentliche Rolle in der Wissensproduktion und -weitergabe. Nur was im kulturellen Gedächtnis[5] zirkuliert und damit aktiv und präsent gehalten wird, ist weiterhin verfügbar. Auch hier bestimmen vielschichtige hegemoniale Diskurse, welches Wissen in Erinnerung behalten wird und was in Vergessenheit gerät. Die Speicherung von Kulturgütern, die sonst vergänglich wären, ist selektiv und Bedingung dafür, dass etwas schlussendlich in das kollektive Gedächtnis aufgenommen werden kann. Damit haben Bibliotheken und Archive eine zentrale Funktion als kulturelle Gedächtnisorte und sind keineswegs neutrale Institutionen.[6]
Lange Zeit waren Bibliotheken und Archive auf das Sammeln von Literatur und Schrifttum zur Politik- und Herrschaftsgeschichte, die vornehmlich von Männern verfasst wurde, ausgerichtet. Autorinnen und weibliches Schreiben, auch Frauen als Subjekt und Thema von Schriften, gab es zwar immer, allerdings nur am Rande. Frauen und ihre Werke waren – bis auf Herrscherinnen und einige Frauen in machtvollen Positionen – aus dem identitätsbildenden kulturellen Gedächtnis lange Zeit ausgegrenzt. Die Frauen der Vergangenheit blieben anonym und unsichtbar, wie Gerda Lerner konstatiert.[7]
Kritik an der Ausgrenzung von Frauen entstand in der Zweiten Frauenbewegung. Die sich infolgedessen entwickelnde Frauenforschung begann seit den 1970er-Jahren gleichzeitig mit der Kritik am männerdominierenden Kanon und am Ausschluss der Frauen aus Kanon und Geschichtsschreibung, mit der Suche nach der ‚Geschichte der Frauen‘, u. a. in Archiven und Bibliotheken. Nichttradiertes Wissen wurde (wieder)entdeckt und damit sichtbar und erinnerbar gemacht. Schriften wurden neu verlegt, Biografien und Bibliografien wurden verfasst. Dies ist ein Prozess, der mit verschiedenen Forschungskonjunkturen bis heute andauert.
Im Laufe der 1980er-Jahre erfolgte in den Forschungen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte ein Diskurswechsel. Anstelle von Forschung über Frauen trat Forschung zu Geschlecht und Geschlechterverhältnissen. Gesellschaftliche Machtverhältnisse und Ungleichheiten – auch unter Frauen – rückten in den Fokus der Analysen.[8]
Ab den 1990er-Jahren entstanden weitere theoretische Ansätze, die die soziale Konstruktion von Geschlecht und die Kritik an der Zweigeschlechtlichkeit im Fokus hatten. Fragen danach, wer die Subjekte einer sog. Frauen- und Geschlechtergeschichte sind, welches ihre Dokumente sind, wer durch diese Dokumente repräsentiert wird bzw. durch sie spricht, rückten ins Zentrum der Aufmerksamkeit – auch frauen- und geschlechterspezifische Informationseinrichtungen wie Ariadne.[9]
Ariadne begab sich auf diese Spurensuche in dem jahrhundertealten, bedeutsamen Bauwerk der Österreichischen Nationalbibliothek, der früheren Hofbibliothek.
2 Die Österreichische National-bibliothek als frauenspezifischer Gedächtnisort – Frauenspuren in der Palatina10[10]
Sich dem „Weltgebäude der Gedanken“,[11] der kaiserlichen Hofbibliothek (erbaut ab 1723, vollendet 1730) nähernd, wird jeder Besucherin und jedem Besucher klar, dass es sich um ein barockes Gesamtkunstwerk aus Architektur, Plastik, Malerei und Buchkunst handelt. Allerdings war es von Anfang an auch als Profan- und Zweckbau, nämlich als ‚Obdach‘ für eine umfangreiche Büchersammlung, konzipiert. Uns interessiert bei diesem Blick in die Vergangenheit, inwiefern wir einer weiblichen Geschichte – dem Geschlechtergedächtnis (wie oben beschrieben) – nachspüren können. Denn die männliche Gelehrtenwelt imaginierte Frauen zwar, sie fanden aber dennoch in gewisser Weise eine Repräsentanz.
Unser Frauenspaziergang beginnt bereits auf dem heutigen Josefsplatz (früher Tummelplatz) mit Blick auf das Dach des Prunksaales: Oberhalb des Mittelrisaliten gibt es eine imposante Vollplastik des italienischen Bildhauers Lorenzo Mattielli, eine Figurengruppe mit Minerva (der Göttin der Kriegskunst, der Weisheit, der Künste und Wissenschaften und des Friedens), eine Quadriga lenkend. Sie stellt allegorisch den Triumph über Neid und Unwissenheit dar. Daneben findet sich Atlas mit riesiger Himmelskugel und der Frauenfigur Tellus (Gottheit der mütterlichen Erde, griechisch Gaia), eine Erdkugel stützend und flankiert von weiblichen Figuren, die „mathematische Verrichtungen vorstellen“.[12]
In einem der damaligen Nebenräume des Prunksaales, einem sog. ‚Curiositäten-Cabinet‘, war neben antiken Vasen auch ein berühmter griechisch-hellenistischer, äußerst kostbarer Amazonen-Sarkophag aus dem 4. Jhdt. v. Chr. ausgestellt. Gezeigt wird auf einem Marmorrelief ein Kampf der Amazonen gegen die Griechen. Mit Hose und Mantel orientalisch bekleidete, bewaffnete Reiterinnen kämpfen in einer Schlacht gegen nackte Soldaten. Der Sarkophag wurde bereits 1805 an die Antikensammlung (heute Kunsthistorisches Museum Wien) übergeben und bildet dort das Herzstück der Sammlung.[13]

Amazonen-Sarkophag aus dem 4. Jhdt. v. Chr.[14]
Das ganze Gebäude des Prunksaals inklusive der Deckengemälde ist dem antikischen Ideenkreis entnommen. Repräsentiert wird dies durch Tempelsäulen, Reliefmedaillons mit ausschließlich antiken Schriftstellern, Büsten, die römische Kaiser darstellen, Grabinschriften und nicht zuletzt durch Kaiser Karl VI. als ‚Hercules Musarum‘. Um ihm Ehrerbietung zu erweisen bzw. den Tempel zu betreten, die Bibliothek zu nutzen (publico commodo), musste das Publikum zuerst ein Säulenpaar durchschreiten.
Allegorien, Symbole und Personifikationen des Barock sind heute nicht einfach zu erklären und nachzuvollziehen. Diese sind nicht selten einem Programm oder einem Entwurf eines Gelehrten gefolgt. „Dem heutigen Besucher fehlen alle geistigen Voraussetzungen, die ihn zur selbständigen Deutung dieser symbolischen Sprache befähigen könnten“.[15] Auch uns ist keine explizit frauenrelevante kunstgeschichtliche Interpretation barocker Gebäude bzw. Fresken bekannt. Dennoch können wir im Prunksaal zumindest peripher in eine mythische Frauenwelt eintauchen.
Im Deckengemälde der Bibliotheca Palatina Vindobonensis des österreichischen Barockmalers Daniel Gran entfaltet sich eine allegorische Darstellung des Himmels und der Erde in Kriegs- und Friedenszeiten, der Wissenschaften und Künste mit mehr als 150 weiblichen und männlichen Figuren zum Ruhme des Kaisers. In der Kuppel selbst ist die Apotheose Karls VI. und die sinnbildliche Geschichte der Erbauung der Bibliothek dargestellt.
Das Programm für das Deckengemälde von Daniel Gran stammt von Conrad Adolph Matthias, Edler von Albrecht, das er in seiner „Dilucida representatio“[16] penibel bis ins kleinste Detail niedergeschrieben hat. Einzig in der Form- und Farbgestaltung hatte der Künstler Gran Spielraum.
Mythologische Frauenfiguren sind zahlreich, sowohl als Friedens- wie auch als Siegesgöttinnen und Musen vertreten – meist in der Hierarchie gleich nach dem idealen Herrscher und Erbauer der Bibliothek, Karl VI., dessen Handlungen auf die Förderung des Gemeinwohls gerichtet sind. Im Besonderen möchten wir hier auf ein frauenrelevantes Detail der Malerei in der Mitte des Kuppelovals eingehen. Dafür erlauben wir uns, der Interpretation von Anton Knoll, unserem Kollegen und Spezialisten für das ‚Alte Buch‘ und für historische Führungen durch die Österreichische Nationalbibliothek zu folgen:
„Hervorzuheben sind Figuren, die Eigenschaften bzw. Tugenden der Habsburger (Codex Albrecht §§ 11-13) an der Schmalseite der Kuppel Richtung Josefsplatz, wie die Prosperität bzw. ‚Friedens-Göttin‘ des Reiches (Codex Albrecht § 27) zeigen; auf dem zweitwichtigsten Platz gegenüber dem Goldmedaillon des Herrn Karl, aber etwas tiefer gesetzt, ‚welche die ersten Früchte an ihren grünen Oliven-Zweigen der Göttin Minerva darreichet‘ und vor allem die ‚Göttin des immerwährenden Ruhms‘ im Scheitelpunkt der Kuppel (Codex Albrecht § 6) und natürlich die Musen in der Lünette über den beiden Säulen zur Linken der Statue des Herrn Karl. Für den frauenspezifischen Aspekt ebenfalls sehr interessant: dass im Kriegs- und Friedensflügel fast alle Allegorien der kriegerischen Künste als Männer und alle friedlichen Künste als Frauen dargestellt sind sowie das vollkommene Fehlen von Frauen in der rundumlaufenden ‚Gelehrten-Schule von Athen‘. Zur Rollenverteilung ist noch anzumerken, dass alle schlechten Eigenschaften ebenfalls durch Frauen versinnbildlicht werden (Codex Albrecht § 30; unterhalb der Minerva). Zum Beispiel die Trägheit in Gestalt eines ‚fetten Weibes‘. Neben der oben erwähnten Minerva, links von ihr dargestellt sind Genien mit Büchern und Schätzen, rechts fallen die Feinde der Gelehrsamkeit vom Himmel. Nach oben hin sichtbar wird Fortuna mit dem geschwellten Segel und die Figur des Ruhmes über dem Bildnis Karls VI.“[17]

Deckengemälde ÖNB
Zur barocken Ausstattung mit Antikebezug gehören auch die römischen (Grab-)Inschriftensteine und Porträtstelen (u. a. für Kaiser und Statthalter), die das Interieur des heutigen Stiegenhauses und der damaligen Anticamera schmückten – manche davon sind auch Frauen gewidmet, wie z. B. die Grabinschriften für Aelia Marcia (Tochter des Publius), die in der zweiten Hälfte des 1. Jhdt. erst neunzehnjährig verstorben war und für die Etruskerin Castenia Nice, die 27 Jahre wurde. Bemerkenswert eine Porträtstele für Cornelia Faustina mit Pinienzapfen als Symbol der Fruchtbarkeit und des Lebens und Delphinen als Sinnbilder des sich stets ändernden und doch gleich bleibendes Meeres – der Ewigkeit –, die heute als einziges Schmuckelement im sog. Camineum[18] am Josefsplatz oberhalb eines Kamins platziert ist.
Jedem Wissensdurstigen sollte dieser neue Musentempel offen stehen „der Benützer braucht nichts bezahlen, er soll reicher von dannen gehen und öfter wiederkehren“.[19] Gegen eine allgemeine Öffnung sprachen natürlich die Praxis der äußerst knapp bemessenen Öffnungszeiten und eine Wintersperre. Eine liberale Öffnung hing auch vom jeweiligen Ermessen und Wohlwollen des Präfekten ab. Bis zu den Paccassi-Umbauten um 1769 gab es auch keinen offiziellen Lesesaal. Das sog. ‚Alte Lesezimmer‘ (heute Sekretariat der Generaldirektion) war gezwungenermaßen fast 150 Jahre der einzige Lesesaal. Manchmal waren in diesem Raum fast 100 Personen anwesend, die meisten davon mussten stehen – dazu kamen noch die Bibliothekare, die dort ihren Dienst versahen. Äußerst beengt waren auch die sog. Studier-(‚Stern‘)kammern im Prunksaal, die als Arbeitsraum und Depot für Handschriften dienten. Es ist einfach unvorstellbar, dass sich in diesen Räumlichkeiten – schon wegen der damaligen Moralvorstellungen und den gesellschaftlichen Usancen – Frauen aufgehalten, geschweige denn Literaturstudien betrieben hätten. Von 1730 bis ins 19. Jhdt. beherbergte der Bibliothekssaal mit seinen Seitenkabinetten sämtliche Handschriften, Inkunabeln, Druckschriften, Landkarten, Globen, Musikhandschriften, Notendrucke, Autografen, Handzeichnungen und Druckgrafiken der Hofbibliothek. Erst sehr spät, um 1900, konnten Lesesaal und Räumlichkeiten des Augustinerklosters und der Naturalienkabinette (Seitentrakt Josefsplatz) dazu erworben werden, was endlich eine adäquate Öffnung für die wissenschaftliche Benutzung ermöglichte.
Von der Fürsten-, zur Hof- bis zur heutigen Nationalbibliothek ist die Bestandsvermehrung mit Dotations- und Raumproblemen konfrontiert, dessen ungeachtet hat diese Universalbibliothek weltweit einen sehr wichtigen Stellenwert. Dazu trägt auf eine qualitative Weise auch der frauenspezifische Bestand bei.
Auf zwei bedeutende Handschriften möchten wir besonders hinweisen. Sie sind durch den Erwerb der Bibliothek des Prinz Eugen von Savoyen an die Wiener Hofbibliothek gekommen: Christine de Pisans „Le trésor de la cité des Dames“[20] und Marguerite d‘Autriches „Complainte“.[21] Christine de Pisan, 1365 geboren, verdiente nach dem Tode ihres Mannes durch Schreiben für sich und ihre drei Kinder den Lebensunterhalt. Als erste freischaffende Schriftstellerin lag ihr die Verteidigung der Rechte der Frauen besonders am Herzen. „Die Stadt der Frauen“, eine wunderschön illuminierte, kunstvolle Handschrift, deren Einband aus dunkelrotem Maroquin mit Golddruck gestaltet wurde, ist ein Dokument gegen die Herabsetzung der Frauen in männlichen Schriften. Ihre weiteren poetischen Werke, die zu ihren Lebzeiten große Verbreitung fanden, lassen sich in den Katalogen der Österreichischen Nationalbibliothek erst wieder in Nachdrucken des 19. Jhdt. nachweisen.
„Die Liebesklagen“ von Marguerite d‘Autriche, der Statthalterin der Niederlande, sind in Ich-Form an einen Unbekannten gerichtet und präsentieren sich in einem rubinroten, samtenen Renaissance-Einband.
Weitere Spuren von Frauen in der Hofbibliothek sind die Mäzeninnen, die der Hofbibliothek wertvolle Codizes und Drucke vermachten. Da ist zum Beispiel Maria von Burgund, die durch ihre Heirat mit Maximilian I. als Mitgift kostbare Handschriften in den Hofschatz brachte und so den Bestand an flämischer Buchmalerei vergrößerte. Des Weiteren Bianca Maria Sforza, die zweite Gattin Maximilians, die als Besitzerin, Widmungsempfängerin und Auftraggeberin zahlreicher Handschriften gilt. Durch Marie Louise, Herzogin von Parma, kamen 1827 wertvolle orientalische Bodoni-Drucke[22] an die Hofbibliothek.
Ein großer Teil des Bestandes der Hofbibliothek konnte durch die 1569 in Frankfurt am Main getroffene Regelung der allgemeinen Pflichtablieferung des Bücherkommisariatsamtes erworben werden (sog. privilegiertes Pflichtexemplar). Eine allgemeine Ablieferungspflicht für gedruckte Werke im gesamten Habsburgerreich gab es seit 1808.[23] Idealerweise kam es immer wieder zu großzügigen Bücherschenkungen und Überlassungen ganzer Bibliotheken. Auch spätere Klosteraufhebungen unter Josef II., wie des fürstlichen Frauenstiftes in Innsbruck und des Damenstiftes Hall, brachten weitere wertvolle Bestände nach Wien.
Weibliches Schreiben oder weibliche Autorschaft aus den frühen Jahrhunderten ist vor allem durch die Klosterliteratur, Erbauungsschriften, religiöse und philosophische Abhandlungen einer Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Gertrud von Helfta oder Katharina von Siena vertreten. Heute ist die Befassung mit diesen gebildeten Frauen in der feministischen Forschung und Philosophie eine Selbstverständlichkeit. Doch wurden ihre Traktate damals schon benutzt oder schmückten sie nur den Prunksaal? An welchen Büchern erfreuten sich die ‚gelehrten Frauenzimmer‘? Wie groß war die Verbreitung dieser Werke? In den diversen Katalogen und deren Abschriften der Hofbibliothek waren die Werke gelehrter Frauen und italienischer Humanistinnen jedenfalls verzeichnet, wie z. B. ein kleiner Teil der Schriften von Marie le Jars de Gournay oder Moderata Fontes „Il Merito Delle Donne“ (1600) und Lucrezia Marinellas „La Nobiltà Et L’Eccellenza Delle Donne“ (1621), die jeweils in der Gruppe 40 des Prunksaales aufgestellt und heute in digitalisierter Form weltweit zugänglich sind.[24]
Die Bibliothek als Hort der wissenschaftlichen Freiheit, in dem alle Interessen gefördert werden, dieses Ideal des Humanismus und der Aufklärung wird für Frauen erst im 19. und 20. Jhdt. mit dem allgemeinen Zugang zu höherer Bildung, zum Studium und zu freier Berufswahl real. Frauen war der Weg in die Hofbibliothek als Benutzerinnen bzw. Leserinnen erst dann möglich, als es keinerlei Einschränkungen mehr beim Zugang zu den Universitäten gab, also ab 1897. Die Annalen schweigen leider trotzdem über die ersten weiblichen Schritte auf der Prunksaalstiege.[25]
Im Folgenden vollziehen wir einen Perspektivenwechsel: Die Bibliothek als frauenspezifischer Repräsentationsort wird zum ‚Aktionsort‘ von frauen- und geschlechterspezifischer Vermittlungsarbeit. Da passt es ganz gut, dass sich die Gründerinnen von Ariadne[26] 1992 mit ihrer Namensgebung intuitiv für ihre fortschrittliche neue Dokumentationsstelle wieder auf die Antike bezogen haben.
3 Aufarbeitung des frauen- und geschlechterspezifischen Bestandes der Österreichischen Nationalbibliothek zur historischen Frauenbewegung
Frauen- und Genderinformationseinrichtungen wie Ariadne entstanden aus der schon eingangs beschriebenen feministischen Kritik und befinden sich in einer permanenten Wechselbeziehung zur Frauen- und Geschlechterforschung an den Universitäten. Dementsprechend hat es auch in der frauenrelevanten und feministischen Informationswissenschaft einen Wandel gegeben.[27]
Stand zu Beginn das Schreiben einer Frauengeschichte mit einem homogenen und einheitlichen Subjekt Frau auf der Agenda, so sind es heute soziale Wirklichkeiten und Machtverhältnisse, die auch in der feministischen Dokumentation entsprechende methodische Vorgangsweisen generieren. Im Austausch mit der Forschung wurde das Nachdenken über die eigenen Sammel-und Dokumentationsvorgänge Teil der Bibliotheks- und Dokumentationspraxis und wirft Fragen auf wie: Welches Wissen, welche Diskursstränge werden in den Bestand aufgenommen, wie wird mit diesem Wissen umgegangen, wer hat also die Möglichkeit, an diesem Wissen zu partizipieren?
Einrichtungen wie Ariadne fungieren als einschlägige Informationszentren, in denen dieses Wissen gebündelt und Neues produziert wird. Der Bestand wird angereichert und die Inhalte werden weiterentwickelt. Es geht z. B. darum, sich Wissen über Errungenschaften und Aktivitäten historischer Akteurinnen sowie Vernetzungen, Situierungen und Kontextualisierungen anzueignen und durch Dokumentations- und Digitalisierungspraxen zu vermehren. Dieser Herausforderung stellen wir uns mit dem Projekt „Frauen in Bewegung“.

Auszug aus Ariadne: Projekt „Frauen in Bewegung“
Ab den 2000er-Jahren wandte sich Ariadne vermehrt den historischen Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek zu. Ausgangspunkt war die Annahme, dass in der Österreichischen Nationalbibliothek einzigartiges Quellenmaterial an historischen frauen- und geschlechterspezifischen Dokumenten vorhanden sein müsse. Der Befund, dass dieses bisher kaum bearbeitet und vermittelt worden war, stand am Beginn der Tätigkeit, und dass es Aufgabe von Ariadne sei, darin die frauen- und geschlechtergeschichtlich relevanten Dokumente zu heben und aufzuarbeiten.
Das Interesse an der Erforschung historischer Frauenbewegungen nahm nach 2000 zu und so entwickelte Ariadne mit „Frauen in Bewegung“[28] als Webportal und Online-Dokumentation eine neue Präsentationsform. Akteurinnen und Frauenvereine der Habsburgermonarchie, der Ersten Republik und des ständestaatlichen Regimes in Österreich – im Zeitraum von 1848 bis 1938 – werden präsentiert. Frauenbewegungsgeschichte wird anhand ihrer Dokumente kontextualisiert und über Texte, Bilder, Digitalisate, Nachweise zu Quellen sowie Sekundärliteratur sichtbar gemacht. Entstanden ist ein Webportal, das zurzeit u. a. 550 Personen, 200 Vereine und 160 digitalisierte historische Periodika präsentiert.
Im Rahmen des Projektes wurden bzw. werden, angefangen bei den historischen Frauenzeitschriften, die Bestände der Österreichischen Nationalbibliothek zum Thema Frauenbewegung aufgearbeitet und nach und nach digitalisiert. Unter „Online-Dokumente“[29] finden sich auf der Webseite Links zu den Digitalisaten der relevanten historischen Dokumente aus dem Bestand. Am Ausbau dieses Bereichs wird auch weiterhin gearbeitet, da die Aufbereitung von Dokumenten oder Quellen und ihre Zugänglichmachung durch Digitalisierung laufend an Bedeutung gewinnen.[30]
Mit dem Webportal wird also ein erster Einblick in teilweise bisher unbearbeitete oder schwer einsehbare Bestände zur Frauen(bewegungs)geschichte geschaffen und ein dokumentarisch noch kaum erschlossener Zeitraum bearbeitet. Die Dokumentationsarbeit fördert immer wieder neue Informationen zu bis dahin wenig bekannten Aktivistinnen der Frauenbewegung/en zutage oder macht bestimmte Ereignisse bestimmten Frauenvereinen zuordenbar. Bis zur Jahrtausendwende waren Namen wie z. B. Auguste Fickert, Bertha Pauli Grete Meisel-Hess, Irma Troll-Borostyani relativ unbekannt. Immer wieder gerieten mit zunehmendem zeitlichem Abstand Personen und Ereignisse in Vergessenheit und verschwanden aus der Rezeption, wenn nicht Forschungskonjunkturen sie wiederum in die Erinnerung holten. Ebenso waren historische Frauenzeitschriften und Vereinsschriften nicht leicht zugänglich, u. a. weil sie in den Bibliothekskatalogen und Bibliographien schwer zu finden waren. Diese in die Sichtbarkeit zu holen, z. B. durch die Erfassung der Inhaltsverzeichnisse der Frauenzeitschriften und durch zunehmend flächendeckende Digitalisierungen, sind weitere noch nicht abgeschlossene Aufgaben dieses Projekts.
All dies sind entscheidende Schritte, um das Frauen- und Geschlechterwissen zu verbreitern und in das kulturelle Gedächtnis zu holen.
4 Ausblick
Die Archivierung und Bewahrung des kulturellen Erbes zu Frau und Geschlecht ist für eine Gedächtniseinrichtung wie die Österreichische Nationalbibliothek von Bedeutung und hat einen zentralen Stellenwert in der Arbeit von Ariadne. Durch die feministische Bibliotheks- und Dokumentationsarbeit wird nachträglich daran gearbeitet, Frauen- und Geschlechterzusammenhänge in die Geschichtsschreibung einzutragen und den Kanon des Frauen- und Geschlechterwissens zu erweitern. „Mit Dokumentationspraktiken, Digitalisierungen und Visualisierungen u. a. mit ‚Frauen in Bewegung‘ arbeitet Ariadne an ‚Gegen-Erzählungen‘ oder ‚Gegen-Geschichten‘,[31] die eine wichtige Rolle im kulturellen Gedächtnis von Gesellschaften haben.“[32] Anspruch und Ziel von Frauen- und Genderinformationseinrichtungen ist, dieses Wissen weiterzugeben und einer möglichst breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.
Der technische Wandel hat dazu geführt, dass Bewahrung und Archivierung von kulturellem Erbe anders gedacht werden muss. Was wird von den vielen Projekten, in denen heute kulturelles Erbe digitalisiert wird, erhalten bleiben? Was wird aus der großen Masse digitaler Informationen zukünftig gesammelt werden? Wer entscheidet über die Auswahl? Wie ändert sich durch die Digitalisierung die Rolle von Bibliotheken, Archiven und Frauen- und Genderinformationseinrichtungen?[33] Big Data und Digital Humanities sind aktuelle Schlagworte und Entwicklungen. Die Interkonnektivität der Daten bietet viele neue Möglichkeiten der Vernetzung und des Austausches. Große Projekte und Initiativen sind inzwischen angelaufen. Wie diese jedoch für das spezialisierte frauen-, feministische und geschlechterspezifische Wissen genutzt werden können, ist eine noch weitgehend ungeklärte Frage, über die nachgedacht werden muss. Einerseits geht es um die Problematik, dass was nicht im Netz zu finden ist, zunehmend unsichtbar und als nicht mehr existent eingestuft wird.[34] Andererseits wird die Frage immer relevanter, wie feministisches und Geschlechterwissen, das zunehmend digital produziert wird, in Zukunft erhalten und zugänglich gemacht werden kann. Die Speicherung der digitalen Wissensproduktionen, als Teil des zukünftigen kulturellen Gedächtnisses, stellt für alle – so auch die feministischen und frauenspezifischen Einrichtungen – eine Herausforderung dar.[35]
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