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Publicly Available Published by De Gruyter June 1, 2018

Bibliotheken mit Vorstellungskraft – Bausteine für einen Lehrplan für zukünftige Bibliotheksarbeit

Libraries for Imagination – Building Blocks for a Curriculum of Future Library Work
  • Rob Bruijnzeels EMAIL logo and Joyce Sternheim

Zusammenfassung

Um die Wissensschaffung und Interaktion in ihren Gemeinschaften zu verbessern, müssen Bibliotheken die kollektiven Kenntnisse der Menschen nutzen und deren Aktivitäten und Wissen in ihre Sammlung einbeziehen. Um dies zu erreichen, hat das niederländische Ministerium für Vorstellungskraft einen neuen Arbeitsprozess entwickelt, der die Nutzung des Bibliotheksraums berücksichtigt und zu einem neuen Lehrplan für Bibliothekare und einer neuen Typologie für öffentliche Bibliotheksgebäude führen könnte.[1]

Abstract

To enhance knowledge creation and interaction in their communities, libraries need to tap into the collective insight of people and allow their activities and knowledge to become part of the collection. To achieve this, the Dutch Ministry of Imagination has developed a new work process that affects the use of space and could lead to a new curriculum for librarians and a new typology for public library buildings.

„Die coolste Bibliothek der Welt“, so wurde die Bibliothek von Tianjin Binhai, das jüngste Projekt des niederländischen Architekturbüros MVRDV in China, Ende letzten Jahres in den Medien bezeichnet. Dass eine neue Bibliothek „cool“ genannt wird, davon konnte man vor einigen Jahren nur träumen. Damals wurde man mitleidig belächelt, wenn man Neubaupläne erwähnte, als ob man nicht mitbekommen hätte, dass das digitale Zeitalter angebrochen ist. Warum sollte man noch so etwas Rückständiges wie eine Bibliothek bauen?

Abb. 1 Die Bibliothek von Tianjin Binhai, China (MVRDV architects 2017), Photo: Ossip van Duivenbode, mit freundlicher Genehmigung
Abb. 1

Die Bibliothek von Tianjin Binhai, China (MVRDV architects 2017), Photo: Ossip van Duivenbode, mit freundlicher Genehmigung

Seitdem hat sich eine Trendwende vollzogen und immer mehr die Einsicht durchgesetzt, dass eine Öffentliche Bibliothek eine zentrale Rolle für die kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Vitalität einer Gemeinschaft spielt. In der ganzen Welt werden beeindruckende und oft sogar ikonische Gebäude errichtet. Sind das aber auch gute Bibliotheken? Wenn wir ehrlich sind, herrscht Verwirrung unter Bibliothekaren. Einige der spektakulären neuen Gebäude sind auf den zweiten Blick sehr traditionell eingerichtet. Es handelt sich bei ihnen um herkömmliche Bibliotheken in einer ultramodernen Verpackung. Außerdem sehen wir trendige neue Bibliotheken, in denen allerlei Aktivitäten stattfinden, aber die Bibliothekare nichts mit dem Bestand anzufangen wissen, er bleibt im neuen Konzept verwaist zurück. Offenbar führt die Angst, mit einer klassischen Leihbibliothek identifiziert zu werden, zu dieser stiefmütterlichen Behandlung des Bestands.

1 Bibliothek und Gesellschaft

Den meisten Bibliothekaren ist klar, dass das althergebrachte Distributionsmodell ausgedient hat. Sie möchten Ko-Kreation, Wissensaustausch, Teilhabe und die Beziehungen innerhalb der lokalen Gemeinschaft fördern. Wir stellen fest, dass der Fokus sich immer stärker zur Organisation von Aktivitäten und zur Schaffung einer Umgebung mit angenehmer Aufenthaltsqualität verschiebt. Daher entstehen lauter neue Bezeichnungen für die Bibliothek, die ihren Wert für die lokale Gemeinschaft betonen: „Third Place“, „Agora“, „Wohnzimmer der Stadt“. Sie verweisen auf die Rolle der Bibliothek als öffentlicher Raum, einen frei zugänglichen und niederschwelligen Begegnungsort, an dem sich Menschen aus allen Gesellschaftsschichten treffen können.

Dabei fällt auf, dass das Ziel der Begegnungen und die Weise, wie diese gefördert werden können, kaum zur Sprache kommen. Es entsteht der Eindruck, als gehe es bei der Begegnungsfunktion vor allem um die Einrichtung, um einen attraktiven Raum mit ausreichend vielen Tischen und Stühlen, gutem WLAN und Kaffee. Das ist natürlich nicht verkehrt, aber dann unterscheidet sich die Bibliothek in nichts von allen anderen Treffpunkten, wie Cafés oder Stadtteilzentren.

Wie können wir eine Bibliothek entwerfen, die ihre ganz eigenen Qualitäten zeigt? Dazu müssen wir zunächst untersuchen, welche neue Rolle die Bibliothek in der Gesellschaft spielt, welche Arbeitsweisen dazu gehören und welche Bedeutung der Bestand dabei hat.

Vier herausragende niederländische Bibliotheken (in Herzogenbusch, Breda, Mitten Brabant und Nord-Ost Brabant) sind bei ihrer Suche nach ihrer Rolle in der Gesellschaft bereits weit gekommen. Sie wollen die Wissensschaffung und soziale Interaktion in der lokalen Gemeinschaft anregen und voranbringen, sodass sie nicht nur die Entfaltung von Individuen, sondern auch eine klügere und sozialere Gemeinschaft fördern. Dies bedeutet, dass sie Menschen aktiv fordern müssen, Inspiration und Wissen zu teilen und zu erwerben. Dabei ist ihnen bewusst, wie bedeutsam weiterhin der Bestand ist. Sie haben aber erkannt, dass es nicht mehr reicht, den Bestand lediglich bereitzustellen. Künftig geht es um die Vermehrung der Bedeutungen, die Schaffung von Beziehungen, von Kontext und Ko-Kreation. Warum ist dies so wichtig und zu welchen fundamental anderen Entscheidungen führt dies? Was bedeutet es für den Umgang der Bibliothek und Besucher mit dem Bestand? Welche Kompetenzen brauchen die Mitarbeiter? Und welche Anforderungen werden an die Einteilung des Raums gestellt?

Um eine Antwort auf diese Fragen zu erhalten, wurden wir gebeten, für vier Bibliotheken ein neues Konzept für den Umgang mit dem Bestand zu formulieren. Das Ergebnis war ein eigenwilliges Plädoyer, den Bestand anders zu bewerten und vor allem auch anders mit ihm zu arbeiten.

2 Zeit für andere Dinge

Der Bestand ist heutzutage besser erschlossen, wird attraktiver präsentiert und ist immer öfter auch digital verfügbar. Wir haben zwar viele bessere und andere Verfahren entwickelt, konzentrieren uns aber im Grunde immer noch auf das Sammeln, Erschließen und Bereitstellen. Dies bleibt sicher auch zukünftig wichtig, trägt jedoch nicht aktiv zu den Kompetenzen des 21. Jahrhunderts bei.[1] Unsere Gesellschaft braucht kreative Bürger, die Initiative ergreifen, komplexe Zusammenhänge verstehen und Probleme lösen können, Informationen bewerten, kritisch denken und eine eigene Meinung bilden können, Menschen, die zusammenarbeiten können, auch online. Wir möchten auf die Frage eingehen, was diese neuen Kompetenzen für die Rolle der Bibliothek bedeuten und – genauer gesagt – wie sie die Arbeit mit dem Bestand beeinflussen. Dabei spielen drei Trends eine wichtige Rolle.

2.1 Von der Fragmentierung zum Zusammenhang

Dieser Trend wurde unter anderem in einer Veröffentlichung von Henry Jenkins über „Participatory culture“[2] identifiziert, der mit dem Begriff „Teilhabekultur“ beschreibt, welche bedeutende Rolle „Teilhabe“ (Partizipation) in erster Linie für die jüngere Generation in der Welt der digitalen Informationen spielt. Gemäß Jenkins sind die Kompetenzen, die man braucht, um an der Teilhabekultur mitzuwirken, die neuen sozialen Kompetenzen des 21. Jahrhunderts. Er nennt u. a. die Kompetenz, zu „samplen und remixen“, das heißt, die verfügbaren Informationen wiederzuverwenden und mit einer neuen Bedeutung anders zu kombinieren. Ein weiteres Beispiel ist die Kompetenz, Wissen zusammenzufassen und die Ergebnisse mit anderen zu teilen, um so miteinander an einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten.

Eine zweite wichtige Inspirationsquelle ist das Buch „Unsere kreative Zukunft“[3] von Daniel Pink. In diesem legt Pink dar, dass das Informationszeitalter vom „konzeptionellen Zeitalter“ abgelöst wurde, einem Zeitalter, in dem es um Ideenreichtum, kreatives Denken und Empathie geht. Informationsflut und materieller Wohlstand kennzeichnen die heutige Gesellschaft, in der Sinngebung und Interpretation immer wichtiger werden. Dazu braucht man Kompetenzen wie Kreativität, Empathie, Phantasie und die Fähigkeit, überraschende Verbindungen herstellen zu können. Was bei Jenkins „samplen und remixen“ heißt, nennt Pink „synthetisieren“, letztlich betonen jedoch beide, wie wichtig es ist, dass man Informationsfragmente aus allerlei Quellen auf neue Weisen zu einem zusammenhängenden Ganzen kombinieren kann. Das heißt, dass wir mit Kreativität und Phantasie die überraschenden Verbindungen schaffen, die uns vom Text zum Kontext bringen, von den Details zur weiten Perspektive und vom Argument zum Narrativ. Am besten ist es, wenn dies im ständigen Austausch miteinander passiert, sodass unter Einsatz von Empathie an der Lösung von Problemen, an Wissensentwicklung, an neuen Bedeutungen gearbeitet werden kann.

2.2 Von der individuellen zur kollektiven Intelligenz

Bibliotheken erfüllen ihre gesellschaftliche Aufgabe bisher vor allem durch die Förderung individueller Fähigkeiten, wie Lesen und Schreiben, digitale Kompetenzen, die erfolgreiche Bewerbung um eine Stelle, den Umgang mit Geld, gesunde Lebensführung usw. Dies sind notwendige und wichtige Fähigkeiten. Wenn man sich jedoch auf die persönliche Entwicklung konzentriert, führt dies noch nicht zu engagierten und empathischen Bürgern, die sich für ihre Mitmenschen oder eine bessere Gesellschaft einsetzen. Dies passiert erst, wenn die Menschen das Gefühl haben, Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, und bereit sind, ihren Beitrag zu lokalen Belangen zu leisten. Dazu müssen sie über die lokalen Themen informiert sein, erfahren, was zu den Themen gesagt und geschrieben wurde, und anschließend herausgefordert werden, miteinander darüber in einen Dialog zu treten. Erst dann kann es zu einem kollektiven Verständnis kommen. Bibliothekaren, die wirklich gesellschaftlich engagiert sind, reicht es nicht, die Wissensentwicklung von einzelnen Menschen voranzutreiben. Ihnen geht es auch um eine intelligentere Gemeinschaft.

2.3 Vom Wissen zur Erkenntnis

Wissen entsteht durch die Kombination von Informationen aus mehreren Quellen, deren Interpretation und Kontextualisierung. Genau dies meinen Jenkins und Pink mit „samplen und remixen“ oder „synthetisieren“. Wir sind jedoch der Ansicht, dass Wissensschaffung nicht das ultimative Ziel einer Bibliothek sein kann. Denn Wissen an sich ist zwar wertvoll, letztlich geht es aber um Erkenntnisse und darum, ein Thema, ein Ereignis oder Problem von Grund auf zu erarbeiten und anschließend Unterschiede, Ähnlichkeiten und Zusammenhänge zwischen dem eigenen Wissen und der Perspektive von Anderen zu erkennen. Auf der persönlichen Ebene brauchen Menschen Erkenntnisse, um Entscheidungen über ihr Leben treffen zu können. Auf der kollektiven Ebene ist dies jedoch genauso wichtig, da wir gemeinschaftliche Erkenntnisse brauchen, um die komplexen Fragen unserer (lokalen) Gesellschaften beantworten zu können. Wir setzen uns daher für gesellschaftlich bewusste Bibliotheken ein, in denen nicht nur an der Wissensschaffung gearbeitet wird, sondern auch kollektives Verständnis gefördert wird. Diese Prozesse können nicht einfach eingeführt oder umgesetzt werden: Es geht vielmehr um einen wesentlich weiter reichenden Wandel und eine andere, viel aktivere Vorgehensweise.

3 Eine aktivere Rolle für den Bestand

Die Trends zeigen, dass die zeitgemäße Bibliotheksarbeit eine viel aktivere Haltung und somit andere Arbeitsweisen voraussetzt. Um diese in der Praxis zu erproben, hat das „Ministerium für Vorstellungskraft“ einen neuen Bibliotheksprozess entworfen, der in den Begriffen Inspiration, Schöpfung und Teilhabe verankert ist. Mehr dazu können Sie in einem früheren Artikel von Rob Bruijnzeels nachlesen.[4]

Den Kern dieses neuen Arbeitsprozesses bilden die Behandlung relevanter gesellschaftlicher Themen, der Einsatz des Bestandes dazu und die Schaffung eines thematischen Zusammenhangs zwischen den Aktivitäten.

Dazu gehört, dass in der Bibliothek während eines längeren Zeitraums ein Thema oder Problem analysiert wird, dessen Wurzeln in der lokalen Gemeinschaft liegen. Wenn allerlei Aktivitäten zu einem Thema organisiert werden, untersuchen Menschen und Organisationen der lokalen Gemeinschaft, was das gewählte Thema bedeutet, womit es zusammenhängt, was dazu gesagt und geschrieben wurde und wie jetzt darüber gedacht wird. Dazu werden der Bestand der Bibliothek und die Fachkenntnisse der Mitarbeiter, aber auch das Wissen der lokalen Gemeinschaft eingesetzt.

Diese Arbeitsweise wird mit dem Begriff „Programmarbeit“ bezeichnet. Die Pioniere in diesem Bereich sind die Bibliotheken der niederländischen Region Nord-Ost Brabant. Sie setzen die Programmgestaltung bereits seit mehr als zehn Jahren ein und formulieren ihre Arbeitsweise so:

„Eines der zentralen Elemente unserer Programmarbeit ist ein Jahresthema: ein selbst gewähltes Thema, in dessen Rahmen zahlreiche Fragen auf allerlei Weisen, in Vorträgen, Ausstellungen, Workshops usw. behandelt werden. Dieses Jahresthema fungiert als Grundlage der Programmgestaltung. Das Thema ist der rote Faden für die Aktivitäten in der Bibliothek und somit ein Jahr lang das Narrativ der Bibliothek. Diese Bibliotheken nennen wir auch ‚Bibliotheken, in denen Themen erörtert werden‘. Der wichtigste Aspekt des Jahresthemas ist, dass es von unseren Mitarbeitern gewählt wird. Sie treffen einander regelmäßig, um zu besprechen, was in der Gesellschaft passiert (lokal, national und international). Dabei stöbern sie auch im Zeitungs-, Zeitschriften-, Bücher-, Filmbestand usw. Auf dieser Grundlage wird eine Analyse erstellt (was passiert in der Gesellschaft) und untersucht, welches Jahresthema dazu passen könnte. Dieser kreative Prozess führt schließlich zu einem Thema, mit dem sich unsere Mitarbeiter identifizieren können. Anschließend ist es ihre Aufgabe, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen, sodass es ‚unser aller‘ Thema wird. Dazu werden allerlei Methoden überlegt.“[5]

Der Bestand spielt bei dieser Vorgehensweise eine aktive und vielseitige Rolle Er wird zunächst dazu eingesetzt, Menschen Anregungen für die Vertiefung in ein Thema zu bieten. Die Bibliothek zeigt in anregenden Ausstellungen, wie über das Thema gedacht wird und was dazu geschrieben wurde. Zu diesem Zeitpunkt fungiert der Bestand als Wissens- und Inspirationsquelle. Anschließend werden die Besucher gebeten, ihre eigenen Sichtweisen und Erfahrungen mithilfe des Bestands zu untersuchen. Der Bestand wird so das Arbeitsmaterial zur Schaffung neuer Bedeutungen. Da dem Bestand immer wieder neue Bedeutungen gegeben werden, werden die Besucher ständig aufs Neue inspiriert. Unterdessen entwickelt sich der Bestand zu einem lebendigen Archiv, in dem sich ablesen lässt, welche Themen untersucht wurden und welches neue Wissen und welche Erkenntnisse dadurch entstanden sind.

Diese neue Arbeitsweise erfordert eine andere Definition des Begriffs „Bestand“. Bisher haben wir das oft als eine Sammlung zugänglicher und fachkundig zusammengetragener, physikalischer und digitaler Quellen bezeichnet. Künftig gehören auch das Wissen der Bibliotheksbenutzer, ihre Geschichten und die Gespräche dazu, die dort geführt werden. Man kann die Eigenheiten der lokalen Gemeinschaft also am Bestand ablesen. Das passiert dann nicht auf die übliche Weise, anhand von Kundenprofilen oder Ähnlichem, sondern anhand der Themen, die im Bestand vertreten sind und der entsprechenden alternativen Ordnungsprinzipien. An ihnen lässt sich schließlich ablesen, womit die Menschen sich beschäftigt haben, worüber sie nachgedacht und gesprochen haben und zu welchem neuen Bestand dies geführt hat.

Es bedeutet auch, dass die klassischen Verfahren zur Erschließung und Präsentation eines Bestands nicht mehr adäquat sind. Bestimmte Teile können je nach den Geschichten, die man mit ihnen erzählen möchte, oder der Bedeutung, die ihm während der Behandlung eines Themas gegeben wird, umgestellt werden. Jeffrey Schnapp, Autor von „The library beyond the book“[6] sagt dazu, dass die Gegenstände in einer Bibliothek auf die Reise gehen müssen, um so ständig das Aussehen der Bibliothek zu ändern.

4 Die Benutzer als Experten

Ein wichtiges Ergebnis dieser neuen Arbeitsweise ist, dass die Bibliothek ihre Beziehung zu den Benutzern neu definiert. Sie werden oft nur als Verbraucher oder Kunden betrachtet. Im Zuge der Inspiration, Kreativität und Beteiligung sind sie auch Experten, Wissenslieferanten und Kontextschöpfer. Sie sind die „Wissensschöpfer/Begegnungsinitiatoren“, wie einige niederländische Bibliotheken sie bezeichnen. Das bringt mit sich, dass wir Menschen aktiv dazu bringen müssen, sich mit dem Bestand zu beschäftigen und ihre neu gewonnenen Erkenntnisse mit anderen Besuchern zu teilen. Es müssen also Gespräche und ein Austausch miteinander stattfinden. Wir finden dazu Anknüpfungspunkte u. a. in der Konversationstheorie[7] von Gordon Pask, nach der „das gesamte Wissen durch Konversation entsteht“, aber auch im Buch „Better library and learning space“, in dem die Autoren Les Watson und Jane Howden auf die Aussage von John Seeley Brown[8] verweisen: „All learning starts with conversation.“[9]

Leider sind Menschen im Allgemeinen nicht dazu geneigt, spontan Gespräche miteinander anzuknüpfen. Man muss sie dazu erst auf einer persönlichen Ebene ansprechen. Wir haben entdeckt, dass das Stellen von Fragen eine sehr effektive Methode dazu ist. Wenn eine Bibliothek eine anregende Frage über ein aktuelles Problem oder einen relevanten gesellschaftlichen Konflikt stellt und die erforderliche Inspiration zu ihrer Beantwortung bietet, bringt das Menschen dazu, ihren Meinungen und Erfahrungen auf den Grund zu gehen.

Einige niederländische Bibliotheken stellen als Ausgangspunkt ihrer Programmarbeit Fragen. Mari Nelissen, Direktorin der Bibliotheken in Nord-Ost Brabant, hat es folgendermaßen beschrieben:

„Sobald man Fragen stellt, steht die eigene Existenz nicht mehr zur Diskussion. Damit hat die Bibliothek einen Teil ihrer Legitimität wiedergefunden. Unsere Legitimität beruht nicht auf der Distribution von Büchern, sondern den Fragen, die wir stellen. Seit es Google gibt, sind nicht mehr die Antworten interessant, sondern die Fragen.“[10]

Auf den ersten Blick erscheint es unnatürlich, dass eine Bibliothek Fragen stellt, statt Antworten zu geben. Es ist aber dann logisch, wenn man berücksichtigt, wie komplex unsere Gesellschaft geworden ist. Die Menschen werden täglich mit Fakten, Meinungen, Bildern usw. überschwemmt. Um diese deuten zu können, reichen einfache Antworten nicht aus. Unsere Inspirationsquelle war eine Veröffentlichung von Laurie Putnam, Dozentin an der School of Library & Information Science der San José State University. In einem visionären Artikel aus dem Jahr 2005 schrieb sie:

„Wir brauchen heutzutage Menschen, die uns dabei helfen, die Komplexität zu verstehen. Wir brauchen kritische Denker, Menschen, die Alternativen erkennen und auf unterschiedliche Perspektiven Wert legen. Wir brauchen Menschen, die den Wert ihrer Quellen einschätzen können und nach ihrer Bedeutung fragen. Wir brauchen eher gut gestellte Fragen als einfache Antworten, weil die Antworten nicht mehr einfach sind. Bibliothekare schaffen Orte, an denen Menschen Zugang zum vorhandenen Wissen und zu Fakten haben. Noch wichtiger ist es jedoch, dass sie Umgebungen schaffen, in denen Menschen stimuliert werden, Fragen zu stellen und Antworten zur Diskussion zu stellen, Orte, an denen Leute aufgefordert werden, Alternativen zu suchen und zu verstehen, Antworten zu suchen, die zu neuen Fragen und zu frischen Ideen führen. Wir brauchen Menschen und Orte, an denen wir lernen können und die uns inspirieren. Unsere Welt braucht Bibliotheken und Bibliothekare mehr denn je!“[11]

Die Programmgestaltung und Erörterung von Fragen führt dazu, dass ein Bibliotheksbesuch nicht mehr so unverbindlich ist wie früher. Wir erwarten nämlich etwas von den Menschen, die die Bibliothek betreten: Dass sie offen für die Eindrücke und Erfahrungen sind, zu denen der Bestand und die Aktivitäten führen, und dass sie bereit sind, auf Fragen zu reagieren und am Austausch teilzunehmen, der in der Bibliothek stattfindet. Die Benutzer bekommen also eine neue Rolle, die natürlich auch von den Mitarbeitern eine andere Einstellung und andere Kompetenzen verlangt.

5 Die neuen Bibliothekare

Eine Bibliothek, in der Themen erörtert werden, setzt Mitarbeiter voraus, die die Wende vom passiven Anbieten des Bestands zu einer aktiven und initiierenden Rolle vollziehen können, bei der es um Inhalte, Kontextualisierung und die Anregung des Wissensaustausches geht. Außer dem inhaltlichen Wissen sollten die Bibliothekare gesellschaftlich engagiert sein, wissen, was in der lokalen Gemeinschaft passiert, und in der Lage sein, Verbindungen zu den Einwohnern, Experten und Organisationen herzustellen, die über die Gestaltung des geplanten Themas mitdenken können. Die Bibliothekare sollten zudem auch über Kreativität und Mut zum Experimentieren verfügen, denn diese neue Arbeitsweise muss durch Versuch und Irrtum gelernt werden.

Derzeit gibt es noch keinen überregionalen Studiengang, der das alles vereint. Cubiss, die Organisation, die Bibliotheken im Süden der Niederlande unterstützt, hat vor einiger Zeit einen landesweiten postgradualen Studiengang „community librarian“ eingerichtet. Die Initiative ist vielversprechend, unseres Erachtens gibt es jedoch noch Verbesserungs- und Vertiefungsmöglichkeiten. So wurde z. B. nicht genug über die Rolle des Bestands für die Unterstützung von Gemeinschaften nachgedacht, wodurch die Bibliothek in erster Linie zur Bereitstellung von Räumen dient, statt Inhalte zu bieten und Initiativen zu fördern. Außerdem haben wir den Eindruck, dass der Schwerpunkt derzeit vor allem auf Gemeinschaften von Gleichgesinnten oder Personen mit dem gleichen Interesse liegt, während wir die Bibliothek als einen Ort sehen, an dem ein Austausch zwischen sehr unterschiedlichen Menschen stattfinden kann. Im Idealfall ist die Bibliothek der öffentliche Raum, in dem man mit Wissen, Erfahrungen und Geschichten von Anderen in Kontakt treten, den Blick auf das Leben, Partnerschaften und Arbeit aus unterschiedliche Perspektiven entdecken und Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen und politischen Überzeugungen treffen kann.

6 Ein anderes Bibliotheksgebäude

Eine Bibliothek gemäß einem neuen Konzept, in der Themen erörtert und themenbezogene Fragen an die lokale Gemeinschaft gestellt werden, in der der Bestand eine wichtige Rolle spielt, Benutzer als Experten und Schöpfer neuer Kontexte und Geschichten betrachtet werden, stellt andere Anforderungen an das Bibliotheksgebäude. Die Praxis hat gezeigt, wie schwierig es ist, eine passende Architektur und Formensprache für diese Ansprüche zu schaffen. So modern die neuen Bibliotheksgebäude auch aussehen mögen, sie beruhen noch auf den Prozessen, bei denen es hauptsächlich um Informationsbereitstellung und das Ausleihen geht. Andererseits sehen wir auch immer öfter unauffällige Gebäude, die in erster Linie den Rahmen für einen angenehmen Aufenthalt bieten, ohne Erwartungen an die Besucher.

Es geht jedoch nicht um einen gemütlichen und flauschigen Raum, sondern um eine stimulierende Umgebung, die Menschen zu Gesprächen und zum Teilen ihrer Inspiration, Kenntnisse und Erkenntnisse herausfordert. Wir brauchen also – mit einem Wort – einen Entwurf, der vielleicht eher disruptiver Art ist.

Wir meinen, dass die Zeit reif ist für eine wirklich innovative Architektur, für die wir eine spezifische Typologie öffentlicher Bibliotheken entwickeln müssen. Diese Typologie muss Öffentliche Bibliotheken von wissenschaftlichen und spezialisierten Bibliotheken unterscheiden, denn uns fällt auf, dass derzeit in der einschlägigen Literatur kaum zwischen diesen Bibliothekstypen unterschieden wird, während sie sich immer stärker auseinander entwickeln.

Diese neue Architektur kann nur durch eine intensive Zusammenarbeit zwischen Bibliothekaren und Architekten entstehen. Sie müssen gemeinsam daran arbeiten, Bibliotheken zu bauen, die der Phantasie und Teilhabe wirklichen Raum bieten.

7 Schlusswort

Beim Ministerium für Vorstellungskraft[12] unterstützen wir Bibliotheken, die von der Notwendigkeit einer Wende überzeugt sind und den von uns entwickelten neuen Arbeitsprozess einführen möchten. Dazu haben wir einige spezielle Arbeitsformen entwickelt, die in Einrichtungskonzepte umgesetzt werden können. Sie haben dafür gesorgt, dass unsere Ansichten zu öffentlichen Bibliotheken sich geändert haben und wir für öffentliche Bibliotheken einen neuen Referenzrahmen verwenden. Daher haben wir, inspiriert von „The participatory museum“[12] von Nina Simon, ein eigenes Manifest geschrieben, das einen Programm der Bibliothek der Zukunft enthält.

Auf, an die Arbeit!

8 Manifest: Partizipation in der Bibliothek: Warum und wie?

Immer mehr öffentliche Bibliotheken sind damit konfrontiert, dass es nicht mehr reicht, das derzeitige Produkt- und Serviceangebot der Bibliothek zu modernisieren oder zu verbessern. Sie brauchen ein radikal neues Konzept, dessen Ziel nicht nur die persönliche Entwicklung, sondern die Förderung der kollektiven Intelligenz der lokalen Gemeinschaft ist. Dies erfolgt über die aktive Nutzung des Bestands zur Unterstützung des Wissensaustauschs und Gewinnung von Erkenntnissen. Um deutlicher zu machen, was die Bibliothek damit erreichen kann, möchten wir im Folgenden fünf Aussagen nennen, die alle Bibliothekare gerne von ihren Besuchern hören würden. Sie zeigen, wie die unterschiedlichen Formen von Interaktion und Ko-Kreation dazu beitragen können, dass der Bestand kontinuierlich angereichert wird und die Besucher sich tatsächlich mit ihrer Bibliothek verbunden fühlen.

  1. „Die Bibliothek hat eine Bedeutung für mein Leben.“

  2. Wenn man eine fragende Haltung einnimmt und aktiv auf Ideen, Geschichten und die Kreativität der Besucher reagiert, wird ihr Engagement zunehmen. Das Engagement betrifft dann sowohl die Angebote (den Bestand, die Aktivitäten) als auch das Wohlergehen und den Fortbestand der Bibliothek.

  3. „Die Bibliothek und ihr Bestand bieten mir den Kontext, bestimmte Themen und Entwicklungen zu verstehen, und lassen mir Raum für meine eigenen Ansichten.“

  4. Indem man mehrere Geschichten und Gesichtspunkte anbietet, hilft man den Besuchern, eine eigene Sichtweise zu entwickeln und sie aus unterschiedlichen Perspektiven zu untersuchen.

  5. „Es gibt immer einen Grund, wieder hinzugehen, weil es ständig etwas Neues zu sehen oder zu erfahren gibt.“

  6. Wenn man Menschen die Möglichkeit bietet, während ihres Besuchs Ideen, Wissen, Geschichten und Erfahrungen auszutauschen, sorgt man für ständige Entwicklungen und tief greifende Erfahrungen, ohne viel in teure Präsentationen usw. investieren zu müssen.

  7. „Die Bibliothek ist für mich eine kreative Umgebung, in der ich mich ausdrücken kann, indem ich selbst etwas produziere.“

  8. Nicht alle wollen passiv Ihre Angebote konsumieren. Bieten Sie Ihren Besuchern die Gelegenheit, selbst etwas anhand der Materialien, die Sie Ihnen bieten (dem Bestand) zu erschaffen.

  9. „Sie ist ein angenehmer Treffpunkt, wo ich gerne hingehe, um mich mit Freunden oder auch Leuten, die ich noch nicht kenne, auszutauschen.“

  10. Schaffen Sie Raum für Begegnungen, Gespräche und Dialoge, sorgen Sie jedoch dafür, dass Sie sich von einem Debattierclub oder Stadtteilzentrum unterscheiden, indem Sie immer eine Verbindung zum Bestand herstellen.

Über die Autoren

Rob Bruijnzeels
Joyce Sternheim

Literaturverzeichnis

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Online erschienen: 2018-6-1
Erschienen im Druck: 2018-6-1

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 28.3.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/bfp-2018-0045/html
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