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Publicly Available Published by De Gruyter June 1, 2018

Im Labyrinth

Über die (Un-)Möglichkeit der Bibliothek als Qualitätsmedium

Going in the Maze. On the Im-possibility of the Library as a Quality Medium
  • Nikolaus Wegmann EMAIL logo

Zusammenfassung

Ausgehend von der Fallstudie der Bibliotheksbenutzung durch Johann Wolfgang von Goethe wird die Operation des Suchens und Findens speziell in der Bibliothek als risikoreiches Eintreten in ein Labyrinth beschrieben. Den aktuellen Versuchen gerade auch nutzerorientierter Formalisierung des Suchprozesses wird entgegen gehalten, dass diese nicht der eigentlichen „Qualität“ der Bibliothek entsprechen. Es wird eine Bibliothekskritik gefordert, die das Operative des Findens jenseits von Recommender-Systemen und einfacher Serendipity in den Blick nimmt.

Abstract

Taking the case study of library use by Johann Wolfgang von Goethe as a starting point, the operation of searching and finding, especially in the library, is described as a risky entry into a maze. The current attempts especially user-oriented formalizations of the search process is countered that these do not correspond to the actual “quality” of the library. A library criticism is called for, focusing on the process of finding which goes beyond recommender systems and the mere observation of serendipity.

Es ist ein Gemeinplatz, dass die Bibliothek eine kulturelle Leistung von besonderem Rang darstellt. Gemeinplätze sind in der Selbstverständlichkeit, mit der sie gelten, nicht weiter zu begründen. Sie verstehen sich von selbst, und also braucht auch der Stellenwert der Bibliothek keine explizite Rechtfertigung. Andererseits kann gerade die Selbstverständlichkeit, mit der man die Bibliothek schätzt und immer schon geschätzt hat, dazu führen, dass man aktuelle Veränderungen in den Bibliotheksverhältnissen übersieht oder zumindest in ihren Folgen unterschätzt. Zu diesen gravierenden Veränderungen zählt unstreitig die Digitalisierung der Bibliothek. Doch diese Entwicklung, ist ebenso unvermeidlich wie vielgestaltig. Eine bibliothekskritische Sicht hat es daher entsprechend schwer, zumal Bibliothekskritik als eher randständige Teildisziplin der Bibliothekswissenschaft eher selten praktiziert wird.

Das Folgende nimmt die Digitalisierung der Bibliothek zum Anlass, um den eingangs zitierten Topos von der kulturellen Relevanz der Bibliothek auf seinen Sachgehalt zu prüfen. Den Ausgangspunkt bestimmt dabei nicht die bereits mehrfach diskutierte Beobachtung von der „Auflösung der Buchkörper“ bzw. der Entmaterialisierung der „alten“ Bibliothek. Der Fokus liegt im Folgenden vielmehr auf den Prozeduren und Operationen, in denen der Nutzer auf die vielen Bücher zugreift. Schlechterdings unhintergehbar ist dabei das, was als Problem sich jeden Nutzer immer schon stellt: Aus der (über-)großen Zahl der Bücher dasjenige Buch zu finden, das er sucht, da nur so die vielen Bücher der Bibliothek aus der Unlesbarkeit in Lesbarkeit überführt werden. Thema ist im Folgenden also jene Operation, in der ein Buch aus den Beständen heraus „singularisiert“ und dann als „Fund“ qualifiziert wird. Genau auf diesem Feld des „Suchens und Findens“ scheint die Digitalisierung heute besonders weitreichende Änderungen zu bewirken. Verdeckt als schiere Benutzerfreundlichkeit scheint die neue, ach so bequeme Technik des maschinengestützten Abfragens – vulgo: des Googelns – die bisher für das Lesen der Bibliothek notwendige Kunstfertigkeit im Suchen und Finden zu verdrängen. Worum geht es in diesem Formenwandel und welche Folgen hat dieser Wechsel für den kulturellen Rang der Bibliothek?

1 Bibliothek als Medium

Das Folgende ist eine Fallgeschichte auf die besonderen kommunikativen Leistungen der Bibliothek. Allerdings ist es kein Beispiel aus einer sozialgeschichtlich ausgelegten Wissenschaftsgeschichte. Hier wird kein Netzwerk einer (z. B.) gelehrten Kommunikation um eine je bestimme Bibliothek zu einem je konkreten Zeitpunkt – sagen wir: Göttingen im 18. Jahrhundert – rekonstruiert, um so zeigen zu können, wie sich aus einer „symphilosophischen“ Situation heraus kulturelle Kommunikation organisiert hat. Im Zentrum steht vielmehr die systematische These von der Unwahrscheinlichkeit der Bibliothek: „Bibliothek“ ist danach zunächst nur ein Sammelplatz für viele Bücher, ein Ort, der experimentell – also ohne Voraussetzungen – gesehen nur aus Regalmetern und Tonnen von Papier besteht. Überwunden wird diese Unwahrscheinlichkeit – so die These – durch das, was die Nutzer in einer genuinen Kommunikation mit diesen vielen Büchern allererst herstellen: operative Schemata des Suchens und Findens. Aus dieser Grundausrichtung heraus gilt für das Folgende:

1. Hier ist nicht eine bestimmte Bibliothek das Thema. Es geht nicht um die Bibliothek von Weimar oder Göttingen, oder um meine Privatbibliothek. Auch die Unterscheidung von Öffentlicher Bibliothek und Forschungsbibliothek soll keine Rolle spielen. Der Fokus liegt vielmehr auf der Bibliothek als solcher und damit auf der Abstraktion, um so über die epistemologische bzw. medientheoretische Begründung der Bibliothek nachdenken zu können.

Eine solche Begründung der Bibliothek verstehe ich als Herausforderung, denn die Bibliothek ist weder bloße Büchergelehrsamkeit noch Magazin oder Museum. Sie ist vielmehr ein Feld, wo konkrete Probleme der Wissens-Praxis auf hochkomplexe Formen des Wissens stoßen und sie ist darin ein Ort der Wissens-Gewinnung.

2. Gegenwärtig boomt die Medienwissenschaft. Doch die Bibliothek hat – im Unterschied zu Fernsehen oder Fotografie – bislang noch wenig interessiert. Wenn doch, dann meist im Kontext der Kittler-Schule. Hier setzt man bei den „klassischen“ Phänomenen der Bibliothek an – Geschäftsgang, Katalogsystem, Zettelkasten oder Bibliothekarsausbildung – und reformuliert all dies als eine Apparatur der Speicherung, Sammlung und Übertragung von Daten. Auch die Bibliothek ist dann ein weiteres Kapitel in der Genealogie der modernen Datenverarbeitung.

Auch das Folgende beschreibt die Bibliothek als technisches Medium. Allerdings soll Technik mehr sein als das glatte Funktionieren – der Zettelkästen, der Kataloge, der Algorithmen. Technik heißt vielmehr auch: das Nicht-wie-gedacht Funktionieren oder die nicht vollständige Kontrollierbarkeit der Apparate. Für diesen Wechsel der Perspektive habe ich keine stringente Theorie oder saubere Ableitung. Nur das Misstrauen gegenüber dem der Technik eigenen Mythos der Machbarkeit und Effizienz.[1]

Die folgenden Überlegungen zur Medialität der Bibliothek stehen daher nicht in einer allgemeinen Geschichte der Medien. Erster Kontext ist vielmehr die „hauseigene“ Epistemologie der Bibliothek, wie sie seit langem unter dem Leitbegriff „Labyrinth“ mitgedacht wird. Demnach ist „Labyrinth“ im Folgenden mehr als eine Metapher für individuelle Erfahrungen des Überfordertseins in allzu vielen Büchern oder für eine unüberschaubare Architektur. „Labyrinth“ ist auch nicht eine einfache Unvollkommenheit, der bessere Organisation abhelfen kann. Es ist vielmehr eine generelle Eigenschaft der funktionierenden Bibliothek: Labyrinthisch an ihr ist, dass die vorhandenen Bestände als eine unüberschaubare Menge an Verweisungen – von Buch zu Buch – möglich werden.

Ein Labyrinth ist – ganz allgemein – ein artifizielles Gebilde – und darin eine technische Vorkehrung. Allerdings ist dies eine Technik zu der es keinen souveränen Baumeister nebst Master-Plan gibt. Selbst Daedalus als mythischer Erbauer des Minotaurus-Labyrinths konnte das Labyrinthische seines eigenen Bauwerkes nicht außer Kraft setzen: Nur die Flucht durch die Luft – und nicht der einfache Gang zum rettenden Ausgang – gab ihm die Freiheit.

Auch wenn das Labyrinth als Verkörperung von Nicht-Überschaubarkeit in keine plane Ordnung überführt werden kann, so verzichtet der Begriff dennoch nicht auf Erkenntnis. Schließlich kann man sich in einem Labyrinth auch ohne Zentralperspektive zurechtfinden, wenn auch nur mit dauerndem Aufwand und ohne hoffen zu können, so viel an Orientierung zusammenzutragen, dass sich das Labyrinthische irgendwann verliert. Die Bibliothek beobachten, heißt hier und im Folgenden demnach in der Bibliothek seinsilvae – ist eine der angestammten Bezeichnungen dafür.

2 Der Gang in die Bibliothek

Die Bibliothek scheint als ein eigenes Phänomen nicht wirklich erklärungs- oder sogar theoriebedürftig. Thema wird sie fast ausschließlich als bereits je konkrete Bibliothek, als Bibliothek in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, mit je spezifischen Organisationsschemata und speziellen Aufbau- und Bestandsgeschichten. Und die offizielle Semantik der hehren Aufgaben, die die Bibliothek allgemein als Ort der Kulturpflege propagiert, spricht weniger über die Bibliothek als über Politik und Pädagogik. Gibt es die Bibliothek überhaupt? Jenseits der Empirie von Katalogen und Bauwerken, von Bibliotheksordnungen und Laufbahnregelungen?

Meine These ist, dass die Bibliothek dort ihre eigentliche Realität hat, wo sie als Bibliothek betätigt wird. Will man demnach die Bibliothek beobachten, muss man dorthin, wo der Bibliotheksnutzer von der Bibliothek als Bibliothek – und nicht als Wartesaal oder Paarungs-Ort – Gebrauch macht. Als Gang in die Bibliothek ist dies jedem Bibliotheksleser vertraut. Und doch gilt auch hier, dass gerade das so Alltägliche auch das Unbekannte ist im Sinne des Nicht-Gewussten. Das meint nicht nur, dass Routine vom Nachdenken entlastet. Medientheoretisch gilt vielmehr: Das Medium, und das gilt auch für das Medium „Bibliothek“, ist nicht als solches zu beobachten. Beim Gang in die Bibliothek überlagert Erfolg oder Misserfolg das, was die Büchersuche mit einer hinreichenden Erfolgserwartung überhaupt erst möglich macht.

Wenn es stimmt, dass die Bibliothek labyrinthisch ist, wenn also eine Groß-Theorie, die sagt, wie eine Bibliothek zu sein hat, als Form des Wissens ausscheidet, dann hilft nur die Fallgeschichte weiter. Eine Fallgeschichte, die nicht in die allzu luftige Höhe einer abstrakten Theorie abhebt, und die als Anekdote über die konkret erzählte Begebenheit hinaus eine zweite, allgemeinere Geschichte zu erkennen gibt: Es braucht also einen konkreten Nutzer, einen Bibliotheksleser, dem man über die Schulter schauen kann – oder der sich gleich selbst beim Gang in die Bibliothek zuschaut und registriert, was dabei über den simplen Erfolg und Misserfolg hinaus passiert. Die hier ausgewählte Geschichte spielt in Göttingen. Ihr Held, also der Bibliotheksbesucher – er kommt eigens wegen der Bibliothek nach Göttingen –, ist einer der stärksten (auch quantitativ gesehen) Nutzer der Bibliothek seiner Zeit. Zugleich ist er auch ein hervorragender Fachmann für Aufbau und Organisation von real existierenden Bibliotheken. Ja er ist sogar lange Jahre selber Bibliotheksdirektor gewesen. Am Ende werden es 35 Jahre gewesen sein! – und das nicht irgendwo, sondern in Weimar und Jena. Unser Mann – ja, es ist Johann Wolfgang von Goethe – ist also für unsere Zwecke hochgeeignet.

Die Anekdote sagt eigentlich nichts Besonderes. Sie hat nichts Spektakuläres, nichts Genialisches und sie ist auch sonst nicht rekordverdächtig. Dieser Gang Goethes in die Bibliothek ist keineswegs kunstvoll-raffiniert. Goethe erweist sich in seinen Aufzeichnungen zu diesem Bibliotheksgang aus dem Jahre 1801 nur besonders sensibel für das, was sich in der Bibliothek als Bibliothek ereignet. Ohne diese besondere Sensibilität hätte es zu diesem Nicht-Ereignis gar keine Aufzeichnungen gegeben – und also ist es dann doch kein Zufall, soviel admiratio muss sein, dass diese Anekdote zum so offensichtlich Unscheinbaren eine Goethe-Anekdote ist!

Zum Kontext: Goethe macht Station in der Göttinger Bibliothek, der damals auch dank seines Chef-Bibliothekars Christian Gottlob Heyne wohl besten Bibliothek. Als gut vorbereiteter Benutzer bringt er eine Liste der Bücher mit, die er einsehen will. Was dann passiert, ist offensichtlich selbst für den erfahrenen Bibliotheksleser Goethe überraschend. Er gibt seine Liste ab und muss bald irritiert feststellen: „Nicht allein ward mir was ich aufgezeichnet hatte vorgelegt, sondern auch gar manches, das mir unbekannt geblieben war, nachgewiesen.“[2]

Doch was zunächst nur willkommene Ergänzung oder Zugewinn verspricht, wird auf den zweiten Blick als Gefahr registriert, und mit der Unvermeidlichkeit dieser zwei Seiten hat die Fallgeschichte ihr eigentliches Thema. Goethe sieht sich kurz davor, die Souveränität im Kontakt mit den vielen Büchern zu verlieren. Obwohl durch bibliografische Vorarbeiten gewappnet, spürt er an diesem kleinen Vorfall den mächtigen Sog des Bücherlabyrinths. Die „große Masse“ lockt mit der Aussicht auf noch nicht Bekanntes, vielleicht (noch) Passenderes. Einmal im Kontakt mit den – so Goethe verblüffend genau – „nebenher allseitig“ [!] weiterverweisenden Büchern geraten die eigenen Vorsätze, ja das Projekt, das ihn in die Bibliothek geführt hat, ins Wanken. Hier die Aufzeichnung über das unspektakulär Spektakuläre des Göttinger Gangs in die Bibliothek in aller Vollständigkeit:

„So verbracht’ ich denn die Zeit so angenehm als nützlich, und mußte noch zuletzt gewahr werden, wie gefährlich es sei sich einer so großen Masse von Gelehrsamkeit zu nähern: denn indem ich, um einzelner in mein Geschäft einschlagender Dissertationen willen, ganze Bände dergleichen akademischer Schriften vor mich legte, so fand ich nebenher allseitig so viel Anlockendes, daß ich bei meiner ohnehin leicht zu erregenden Bestimmbarkeit und Vorkenntniß in vielen Fächern, hier und da hingezogen ward und meine Collectaneen eine bunte Gestalt anzunehmen drohten.“[3]

Das registriert ungewöhnlich präzise, wie es zu einer Auseinandersetzung kommt zwischen dem, was der Bibliotheksbesucher sucht und dem, was sich findet und das heißt: Was jetzt auch noch als relevant wahrgenommen wird, obwohl es auf keiner Such-Liste gestanden hat. Dass diese Begebenheit eigens als Irritation aufgezeichnet wird, ist möglicherweise ein Indiz für das noch Ungewöhnliche einer bibliothekarischen Situation, in der das Auswählbare nicht nur ehedem allein legitime Adressen überschreitet, sondern für das auch keine neuen Begrenzungen benannt werden können.

Die prekäre Situation wird hier mit Selbstdisziplin gemeistert. Es bleibt bei den – zumindest für den Bibliotheksleser Goethe – bewährten Formen und Balancen des Suchens und Findens: „Ich faßte mich jedoch bald wieder in’s Enge und wußte zur rechten Zeit einen Abschluß zu finden.“[4]

Kann man diesen kleinen Vorfall verallgemeinern, ihn als bibliothekarisches Lehrstück lesen? Was Goethe sich – und allen für Bücher sensible Leser – empfiehlt, ist als Remedium angesichts der Anregungs- und Attraktionskraft der allseitig verweisenden Bestände von genereller Bedeutung. Eine erfolgreiche Arbeit in der Bibliothek hängt davon ab, ob und wie der Nutzer sich gegen den als Vielzahl und Vielfalt anbrandenden Bücher-Overload behaupten kann. Ohne eine Begrenzung des Blicks wird man sich verzetteln, schafft keinen Abschluss oder bringt ihn nur als Potpourri zustande.

Diese gelingende Limitierung ist jedoch nur zu einem nachgeordneten Teil als vernünftige Selbstkontrolle, als psychische Leistung oder gar nur als ein Charakterzug Goethes zu denken. Hier geht es um eine grundsätzliche Konstruktionsanforderung für den Gang in die Bibliothek bzw. die dabei realisierten operativen Schemata: Ihre Brauchbarkeit hängt davon ab, ob und wie sie es einem Benutzer ermöglichen, in den vielen Büchern einen Suchradius abzustecken, der so groß ist, dass er einerseits Funde erwarten lässt, ohne andererseits die vorhandene Aufmerksamkeits- und Verarbeitungskapazität zu überfordern. Die Lesbarkeit der Bibliothek ist gebunden an das Herstellen von bearbeitbarer Selektivität. Sollen die vielen Bücher als Bibliothek funktionieren, braucht es ein Feld der Adressierbarkeit inmitten eines größeren und prinzipiell unüberschaubaren Geländes: Die Bibliothek ist als Funktion des operativen Schemas Suchen und Finden entgegen ihrem gegenständlich-konkreten Anschein eine nicht nur variable, sondern auch unwahrscheinliche Konstruktion. Als ein Ort, an dem das operative Schema Suchen und Finden begründete Aussicht auf Erfolg hat, ist die Bibliothek eine künstliche Insel der Überschaubarkeit inmitten des unergründlichen Beziehungsreichtums der Bestände.

3 Das Labyrinth als bibliothekarische Operation

Die Zeit „um 1800“ markiert eine Zäsur in der Geschichte der Bibliothek, die über die allgemeine Diagnose von einem zunehmenden Auseinandertreten der Ordnung des gesellschaftlich präsenten Wissens und der Ordnung der Bücher hinausgeht. Es geht jetzt auch um eine andere Form der Einheit des Gegenstands: Was zur Bibliothek gehört, entscheidet sich nicht länger an einem klassifikatorisch geordneten Wissenskosmos, sondern in der Einheitlichkeit des Operationstyps, mit dem man sich in der Bibliothek bewegt und in dem der Zugriff auf die Bestände organisiert und praktiziert wird. An die Stelle des einfachen Herausholens tritt die Auswahl als typische Operation, mit der auf die vielen Bücher der Bibliothek zugegriffen wird: Indem man etwas herausnimmt, bleibt anderes zurück, was man – so Goethes genaue Selbsterfahrung in der Göttinger Bibliothek – auch oder auch noch hätte nehmen können. Die Unterscheidung zwischen Relevantem und Nicht-Relevantem wird jetzt in die Operation des Zugriffs hineinverlegt – und nicht länger durch eine normativ abgesicherte Klassifikation und Hierarchie des Wissens geregelt.

Und auch diesen Wechsel kann die Epistemologie des Labyrinths ein Stück weit mitformulieren. Wer sich auf die Bibliothek als Labyrinth einlässt, der weiß, dass man diesen nun gerade genommenen Weg nimmt, obwohl es andere gibt, die man auch hätte nehmen können. Vielleicht nur in Richtung auf eine Sackgasse, vielleicht aber – und das ist die andere Seite eines riskant werdenden Zugriffs[5] – hin zu vielversprechenderen Orten. Es gibt keinen richtigen Weg, wenn im Labyrinth ohnehin alle Wege nur Umwege sind. In der labyrinthischen Bibliothek – die Analogie jetzt zurückgespielt – gibt es keine natürliche Ordnung der Bestände und Bedeutungen und also auch keine eindeutig benennbaren Wissens-Objekte, die man nur einsammeln muss, um in der Bibliothek erfolgreich zu sein. Die labyrinthische Bibliothek, als Ganzes nicht formfähig und also auch nicht zu überschauen, ist nur als Korrelat von bibliothekarischen Operationen erreichbar.

Mit dem Begriff der Operation wird der Kontext der traditionellen, in der Semantik von „Bibliothek“ mitlaufenden Epistemologie überschritten. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich in Richtung auf die Mittel zur Orientierung: Die „Labyrinthik“ oder „Labyrinthistik“ – so die sprechenden Termini aus Stanislaw Lems Wissenschaftssatire Lokaltermin – wird zur „Ariadnistik“ oder zur „allgemeinen Ariadnologie“. Das ist, so wird der Neologismus dem Leser erklärt, die Suche nach einer „Idealordnung unfehlbaren Suchens, die natürlich sogleich umschlägt in ein System unfehlbaren Findens“.[6]

Das Projekt ist eines herkulischen Projektmachers wert – doch auch er muss anerkennen, dass eine Büchersammlung aus sich selbst heraus kein Wissen generiert, oder selbst anzeigt, was auszuwählen und „zu finden ist“. Allenfalls eine immer geltende Grundregel lässt sich – so Lem weiter – festhalten: Was immer man in der Bibliothek tut, ein Nutzer muss sie in dafür eigens zu entwickelnden Interventionen gegen zwei negative Grenzfälle spezifizieren: Man darf weder zu wenig noch zu viel finden. Beides verhindert Wissen als Zielbestimmung eines (im weitesten Sinn) bibliothekarischen Gebrauchs der vielen Bücher: „‚Zu wenig‘ zu wissen, ist genauso schlecht“ – so Stanislaw Lems späterem Kommentar zu diesem Projekt mit dem Titel: Ignorantik, Insperten und Labyronthology „wie ‚zu viel‘ zu wissen.“[7]

Von hier aus klärt sich auch die Frage nach der Realität der Bibliothek. Eine Antwort kann sich jetzt an das halten, was in der Bibliothek passiert, ohne in einen bibliothekarischen Empirismus zu verfallen. Was die „Bibliothek“ ist, was sie als Phänomen prägt, zeigt sich nicht an ihrer äußeren Gestalt, ihren Büchergebirgen oder ihrem institutionellen Überbau. Selbst das Labyrinthische lässt sich nicht zur natürlichen Eigenschaft der Bibliothek hochrechnen. Mehr als all diese Dinge und Sachverhalte, ist es der tatsächliche Gebrauch, der jene scheinbar so vertraute Einrichtung des Wissens hervorbringt und in Gang hält: Die Bibliothek hat ihre Realität in jenen Operationen, in denen ein Benutzer auf ihre Bestände zugreift und in denen die Bibliothek als Bibliothek betätigt wird.[8]

4 Quailitätsmedium

Allerdings sind solche Operationen nicht einfach zu beobachten. Gewöhnlich wird die Operation durch das zugedeckt, was mit eben dieser Operation beobachtet wird. Man kann die Bibliothek als Operation nicht gleichzeitig betätigen und beobachten. Was die Operation bietet – hier die zwei Seiten „Suchen“ und „Finden“ – wird man typischerweise nur in der Applikation gewahr. Statt zu sehen, was die Operation bereitstellt, ist man bereits mit ihrer Verwendung beschäftigt. Was gibt die Operation des Suchens und Findens einem Benutzer an die Hand? Was genau leistet dieses technische Problemlösungsverfahren – und, vor allem, was leistet es über die hier beschriebene basale oder durchschnittliche Gebrauchstüchtigkeit von „Bibliothek“ hinaus?

Seitens der organisierten Bibliothek erwartet man, dass sich ein Benutzer beim Suchen und Finden nach allen Regeln der Kunst verhält und sich wie vorgesehen der bereitstehenden Hilfen wie Katalog, Bibliografie oder Schlagwortverzeichnis bedient, gleich ob im Format des alten Zettelkastens oder der neuen Retrievalsysteme. Doch das angeleitete Verhalten ist weit weniger die Norm, als dies die Existenz bibliothekarischer Gebrauchsanleitungen suggeriert. Das weiß nicht nur die eigene Erfahrung. Das bestätigt auch die neuere, am Benutzer orientierte bibliothekswissenschaftliche Forschung. Nur in Ausnahmen, so das nur für die Experten überraschende Ergebnis, verhält sich der Nutzer so zweckmäßig oder „linear“,[9] wie es die allgemeine Bibliotheksordnung vorsieht. Das Suchen und Finden kann derart geradlinig ablaufen, es kann sogar im simplen Reiz-Reaktions-Schema die kürzeste Verbindung zwischen beiden Seiten wählen, aber wohl nur als allzu simple „technische“ Fiktion.

Wichtig ist, dass die schematisierte Operationsroutine des Suchens und Findens auch über die Konstruktion einer Durchschnittlichkeit hinaus relevant ist. Der Begriff „Schema“ impliziert nicht, dass man es nur schematisch betätigt und Abweichung ausgeschlossen ist. Gerade die kreative Betätigung der Bibliothek ist als ein abweichender Gebrauch auf das Normale als Abstoßpunkt angewiesen. Nur im Unterschied kann sie sich als besonders einfallsreich auszeichnen. Schemata können als einfache Formen die Basis sein für weitere, komplexere oder ausgefallenere Formen. Abweichungen gibt es überall und in unzählbarer Vielfalt – soll es nicht sogar Bibliotheksleser geben, die sich am Geruch der Bücher orientieren? Es sind wohl auch und gerade diese bibliomanen Schemata, die neue und andere Chancen für eine innovatorische bzw. kreative Auswertung der Bibliothek eröffnen – und es rechtfertigen, von der Bibliothek als einem Qualitätsmedium zu sprechen. Oder, vom Ergebnis her formuliert: Es sind abweichende und darin unkonventionelle Schemata des Suchen und Findens, die wissenschaftliche oder künstlerische Kreativität wahrscheinlicher machen.

5 Unberechenbares Suchen und Finden

Die Bibliothek beobachten heißt demnach, in der Operation des Suchens und Findens das Gewinnen von Formen zu beobachten. Die eine ideale Form, die alles, was auch noch möglich ist, mitaktualisiert, kann es nicht geben. Vielmehr liegt das sprichwörtliche Kapital der Bibliothek eben nicht in der gleichsam natürlichen „inhärenten“ Qualität der Bestände, sondern in der Komplexität und der Vielzahl der Formen, in denen sie als Medium betätigt wird und die die Bibliothek als Ort der vielen Bücher allererst in lokale Lesbarkeit(en) verwandeln: „Medien“ – so der Techniksoziologe Jost Halfmann – ermöglichen Kommunikation, indem sie eine Folie bieten, der eine Form eingeprägt werden kann.“[10]

Genau dieser Sachverhalt – für das Suchen und Finden gibt es Formalternativen – zeigt an, dass das Entscheidende die Auswahl und das Auswählen-Können aus einer Mehrzahl von Optionen ist. Suchen und Finden kann auch dann zum Erfolg führen, wenn die anempfohlene Ökonomie suspendiert und ein abweichender Weg genommen wird. Mehr noch: Ohne diese prinzipielle Offenheit gegenüber auch anderen Wegen kann vielleicht gerade das Allerwichtigste nicht gefunden werden, weil es den Königsweg zu einem vollkommenen „Allausfinden“ – so wieder Stanislaw Lem in der Satire auf eine ideale Bibliothek – nicht geben kann. So muss selbst noch der pure Zufall in die Formenkunde des Suchens und Findens – bei Lem heißt sie ungleich schöner: „Ariadnistik“ – des Buchlabyrinths einkalkuliert werden können. Das macht dann auch jener wahrlich herkulische Bibliotheksleser, den Stanislaw Lem für uns in ein extraterrestrisches, also außerirdisches(!) Bücherlabyrinth schickt: Die Orientierungsschwierigkeiten sind hier dann auch enorm. Doch dieser Leser gibt nicht auf, sondern sagt sich bei Bedarf die Durchhalteparole auch selbst vor: „Dennoch blieb ich meinem Vorsatz treu, alles bis ins Letzte zu ergründen.“[11] Im Angesicht eines Labyrinths ein verwegener Anspruch!

Sein Fall scheint gleichwohl der Inbegriff einer unlösbaren bibliothekarischen Aufgabe: ein fremder Planet, außerirdische Kulturen, die nur in einem gewaltigen Bibliotheksbestand aufgesucht werden können, zu dem es keinen Universal-Katalog, keine Suchmaschine und erst recht keinen Oberbibliothekar gibt. Doch seine Lage-Einschätzung klingt auch wieder vertraut: „Ich konnte mich in diesem Durcheinander ewig nicht zurechtfinden.“ Dafür gibt es gute Gründe, die als die immer gleichen – die Sachlogik ist unbekannt, die eigenen Kenntnisse mangelhaft, alle Bibliothekare machen Fehler – nur dazu da sind, das Unberechenbare als typischen Ausweg argumentativ in Szene zu setzen: „Die richtigen Regale“, so Lems in Fiktion gekleidete Epistemologie, „fand ich rein zufällig, als ich ein sehr dickes, schweres Buch brauchte, um wieder Bügelfalten in die Hose zu bekommen. Die zog ich nämlich der Bequemlichkeit halber manchmal aus, und dabei sah ich, wie zerknautscht sie war.“[12]

6 Risikominderung?

Angesichts dieser real existierenden Gebrauchs-Verhältnisse in der Bibliothek, sollte denn Lem Recht haben, kann Technik hier schlechterdings nicht als Perfektion oder Perfektionierung gedacht werden. Eine nur nach datentechnischen Standards organisierte „Übertragung“ von Daten, vulgo: Bibliotheksbüchern, verfehlt die reiche Vielfalt der Such-Formen. Ja mehr noch, ist nicht der eigentliche Reichtum der Bibliothek gerade diese nicht berechen- und simulierbare Vielfalt der Prozeduren des Suchens und Findens?

Doch dieser Reichtum – kaum haben wir ihn gerade erst in Umrissen lokalisiert – könnte inzwischen auch schon gefährdet sein. Das ist jedenfalls der Eindruck, den man haben kann, wenn man neuere Entwicklungen beobachtet, die sich menschenfreundlich geben und dem Bibliotheksleser entgegenkommen wollen. Man will ihm die Arbeit abnehmen, genauer: Man will ihm die Gefährdungen, von denen Goethe zu berichten wusste, ersparen. Man will ihm nicht nur den Frust des Nichtsfinden und die Last der überreichen Funde ersparen, ja man will ihm – und vielleicht zeigt das erst recht, wie wichtig das operative Schema des Suchens und Findens als Inbegriff der Bibliothek ist – jedes Risiko beim Gang in die Bibliothek abnehmen. Wie das?

Man setzt auf Operationsschemata, die den Gang in die Bibliothek radikal vereinfachen wollen, die das Suchen und Finden eng zusammenhalten und die zwei Seiten des Schemas grundsätzlich problemlos miteinander verbinden wollen. Entsprechend gegenläufig sind die Motive und die kalkulierten Effekte. Statt des stets mitschwingenden Risikos – noch einmal sei auf die Goethe Anekdote verwiesen – sichert eine konsequent nur auf das Erwartbare ausgelegte Organisation des Bibliotheksgebrauchs ein „Such-Ergebnis“, dessen Instant-Lesbarkeit Überraschungen, weite Umwege oder gar einen Fehlschlag ausschließt.

Demonstrieren lässt sich das an einem Such-Schema, das bereits urheberrechtlich geschützt ist und bereits auf dem Markt für Bibliothekssoftware gekauft werden kann, und das es nicht nur, aber vor allem in den USA zu einer beträchtlichen Verbreitung geschafft hat. Laut Selbstanzeige soll bereits jede vierte amerikanische Bibliothek „dabei sein“. Unter dem Warennamen Novelist wird Bibliothekaren ein Computerprogramm angeboten, das mittels einer narrensicheren Konstruktion die Untiefen und Gefahren der Bibliothek vermeiden können soll. Bemerkenswert ist demnach nicht so sehr, dass ein explizit als Anleitung für den Gang in die Bibliothek konstruiertes Computerprogramm auf den Markt kommt, oder dass eine weitgehend automatisierte Form des Suchens und Findens mehr Anfragen schafft, als dies konventionelle Suchmaschinen können. Entscheidend ist, dass diese Form der Büchersuche so als Schnittstelle zu den vielen Büchern der Bibliothek konstruiert wird, dass ihre Ergebnisse sofort und unmittelbar als Funde erkannt und entsprechend umstandslos wiederverwendet werden können. Abfrage und Ergebnis ersetzen in ihrer kalkulierten Kurzschlüssigkeit das im Vergleich dazu sehr viel riskantere Schema von Suchen und Finden: Erfordert das Suchen und Finden einen konstruktiven Aufwand, um durch das Inbeziehungsetzen beider Operationen erst Wissen zu generieren, so verspricht das Schema Abfrage und Ergebnis einen Direktzugriff auf ein schon vorhandenes, bis dahin nur verborgen gebliebenes Wissen: im Klartext der Eigenwerbung: „the user gets immediate results!“[13]

In der Selbstdarstellung der Hersteller- und Vertriebsfirma wird der Gebrauchskontext, auf den hin die Konstruktion ihres Produkts abgestimmt ist, in aller Deutlichkeit expliziert: „Novelist assumes that frequently people can tell you they‘ve read a book and liked it, but they can’t tell you why.“[14]Von hier aus wird das Suchverfahren organisiert. Es wird nach genau dem – und nur dem – Buch gesucht, das einem ersten, dem Leser bereits bekannten und von ihm geschätzten, ähnlich ist. Dem Bibliotheksbesucher wird die Beschwerlichkeit einer nicht nur aufwendigen, sondern auch im Misserfolg enden könnenden Suche (weitgehend) aus der Hand genommen.[15]Vorbei scheint die Frustration über eine Bibliothek, die einen ungeduldigen Leser überall und nirgendwo hinführt, nur vielleicht nicht dorthin, wo es Bücher gibt, von denen er bereits weiß, dass sie ihm auch zusagen werden, und die er jetzt nur deshalb nicht finden kann, weil er nicht weiß, wie er Suchmaschinen und Beschreibung dessen, was er finden will, aufeinander abstimmen kann: Noch einmal und unmissverständlich die Reklame für dieses Unternehmen: „We don’t want the reader to have to do the hard work of figuring that out.“[16]

Das Programm, das sich wie alle Software in der fort- und ewigwährenden Entwicklung befindet, ist auf sehr vieles, sogar auch auf Romane ausgelegt. Im Speicher seien bereits „11,000 plot summaries“, und darüber hinaus gebe es einen Sachwörterindex „to 36,000 novels divided by title, genre and plot“. Ein Beispiel: Man gibt als Ausgangspunkt Carrie von Stephen King ein. Das Programm rechnet zunächst diesen Buch-Typ in wiederauffindbare Elemente um – hier sind das: „horror, female adolescents, high school proms, telekinetic murder“. Über diese „elements“ werden alle Romane, auf die dieses Raster passt, ausgeworfen. Natürlich kann man auch noch direkter vorgehen, und nur anhand der Elemente ein Suchprofil zusammenstellen. Auch in diesem Fall wird der Leser sicher zu dem – und nur dem – geführt, von dem er vorher schon weiß, dass er es haben will. Auch hier gilt, dass Bibliothek und Bibliotheksbuch relationale Größen sind. Laut Werbung transformiert Novelist die Bestände in sogenannte „read-alikes“, in bis zur punktgenauen Übereinstimmung gesteigerte Ähnlichkeiten, die jede Überraschung ausschließen, im guten wie im schlechten Sinn.[17] Wer sich dieser Lektüre anvertraut, bleibt stets auf vertrautem Terrain: Indem der Leser von Bekanntem zu Bekanntem navigiert, wird er in seinen Vorlieben immer nur bestätigt. Er bekommt, was er will.[18] Schärfer formuliert: Er bekommt nur was er will!

7 Die Stärke der Bibliothek: Sinnüberschuss und Kreativität

Wer das nicht will, muss sich fragen lassen, warum man sich dem Risiko eines Zugriffs aussetzen soll, der zielsicher ausgerechnet auf das zugreift, was noch nicht bekannt ist, sich noch nicht bewährt hat? Nicht in allen sozialen Kontexten sind dies nur rhetorische Fragen. Nicht alle Leser wollen auch Anderes, Überaschendes, Irritierendes und Unbekanntes, und nicht alle können mit den komplizierteren und aufwendigeren Kultur-Techniken hantieren. Möglicherweise kann tatsächlich dank Novelist – wie es der Hersteller den potentiellen Kunden verspricht – die Zahl der Bibliotheksbesucher erhöht werden.

Vielleicht aber geht es hier nur um die Umstellung von einer bewährten intellektuellen Groß-Technologie auf ein Medium (mehr), das nach der Quote organisiert und so auch finanziert wird.[19] Wer das nicht will, kann wie gewohnt weiterhin die Bibliothek verteidigen, kann auf ihren kulturellen Wert und ihre großen Aufgaben verweisen. Um die „Idee der Bibliothek als eines Zentrums der Wissensgewinnung“[20]lebendig zu halten, sind jedoch auch die Argumente für die labyrinthische und darin unerreichbare Bibliothek zu schärfen und wo immer möglich geltend zu machen – auch gegen den Benutzer und sein Verlangen nach einfachen Antworten. Ausgefeilte maschinelle Zugriffe suggerieren ihm eine Bibliothek, in der man die vielen Bücher und ihren labyrinthischen Verweisungsreichtum vollends überspringt, um den „direkten Zugang zum semantischen Inhalt[21] – so Heinz von Foerster – ihrer Bestände zu erlangen. Die gewohnte Suchanfrage „Wo findet sich die Antwort auf meine Frage?“ scheint sekundär gegenüber der neuen Forderung an die Bibliothek: „Wie lautet die Antwort auf meine Frage?“[22]

Gegen diesen Trend zur Vereinfachung von Buch und Inhalt ist jedoch darauf zu bestehen, dass in der Hermetik – die erst in der Konkurrenz zu den (anderen!) Medien, vulgo: Fernsehen, als Nachteil auffällt – die eigentliche Stärke der Bibliothek liegt. Aus ihr kommt das unerschöpfliche Reservoir für eine Auswertung, die gegen die Eindeutigkeit des gesellschaftlich Anerkannten einen zusammen-gelesenen Sinnüberschuss aufbietet. Indem die vielfältig-offene Suche noch ein Verständnis sucht oder doch toleriert, das keiner mehr erwartet oder das nicht ohne Weiteres zugelassen ist, kann sie mit einiger Wahrscheinlichkeit auch dort, wo bis dahin nichts zu finden war, etwas herausschlagen, sei es Bedeutung, Verständlichkeit oder Vergnügen. Ausgeschlossene Möglichkeiten kann sie gegen bis dahin allein wahrgenommene Möglichkeiten stark machen. Sie kann dies, weil sie sich im Gegensatz zu der auf Zustimmung ausgelegten Lektüre nicht mit dem begnügt, was man bis dahin herausgefunden hat. Kürzer: Nur dort, wo man bereit ist, das Risiko zu tragen, beim Gang in die Bibliothek auch zu scheitern, gibt es mit einiger Verlässlichkeit die Kreativitätsprämie, gleich ob auf den Feldern von Literatur und Wissenschaft oder im Bereich von Bildung.

Über den Autor / die Autorin

Prof. Dr. Nikolaus Wegmann

Literaturverzeichnis

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Online erschienen: 2018-6-1
Erschienen im Druck: 2018-6-1

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 28.3.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/bfp-2018-0047/html
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