Zusammenfassung
Der Beitrag zu Strategien Öffentlicher Bibliotheken legt einen Schwerpunkt auf die Frage, welche Rolle Öffentliche Bibliotheken angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts einnehmen können. Auf Basis der Analyse – mehr oder weniger – versteckter Werte der Institutionen und anhand von Beispielszenarien werden die Möglichkeiten und Aktionsfelder von Bibliotheken aufgezeigt und somit ihre Chancen für eine auch zukünftig hohe gesellschaftliche Relevanz betont.
Abstract
The paper focuses on the role of public libraries and how to meet the global challenges of the 21st century. By using analyses of hidden assets and example scenarios, the author points towards opportunities for public libraries and their potential central fields of action and underlines their chances to remain highly relevant social institutions in the future.
An einem verregneten Sonntagnachmittag im Herbst betritt eine ca. 50-jährige Bürgerin den „Salon“ der Berliner Amerika-Gedenkbibliothek. Sie zieht ein Handwägelchen hinter sich her, auf dem ein Mikrowellenherd und einige Küchengeräte stehen. Die Frau sucht sich eine Steckdose, schließt den Herd und einen Mixer an und beginnt, den Teig für eine besondere französische Schokoladentorte anzurichten. Und während sie all das tut, startet sie einen faszinierenden Vortrag über die wirtschaftliche und politische Bedeutung der Kakaobohne in den letzten Jahrhunderten. Sie entführt ihre Zuhörer*innen in ferne Zeiten und Welten, politische Konflikte und Machtkämpfe, unterbrochen immer wieder von kurzen Erklärungen, was sie gerade bei der Kuchenproduktion macht. Nach einer halben Stunde schiebt sie den Kuchen in den Herd, und während langsam der Duft frischen Schokoladenkuchens durch die Bibliothek zieht, vollendet sie ihren Vortrag mit Blick auf die heutige Situation der Kakaobauern und internationalen Schokoladenindustrie. Vom warmen fertigen Kuchen können die Bibliotheksbesucher*innen probieren (im Handwägelchen sind weitere vorproduzierte Kuchen versteckt, falls es nicht reicht). Und in der Ecke des Salons wartet ein „Handapparat“ mit Medien, die sich um das Thema Kakao und Schokolade drehen, vom Sachbuch zu Kakaoplantagen über Rezeptbücher bis zur französischen Filmlegende „Chocolat“ – alles zum Ausleihen.
Wie ist das möglich? Ist das noch Bibliothek, mögen sich Bürger*innen fragen, deren Erinnerungen aus Kindheitstagen und Studienzeiten an die Bibliothekswelt schon länger zurückliegen.
1 Ausgangslage zu Beginn des Jahrtausends
Die Stimmung in der deutschen öffentlichen Bibliothekswelt war in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends eher gedämpft. Geprägt von langjährigen Sparrunden öffentlicher Haushalte sahen sich die Bibliotheken in Zeiten zunehmender Digitalisierung der Medienwelt einer neuen Rechtfertigungsdebatte ausgesetzt. Zwar waren die Bibliotheken mit ihren traditionellen Aufgaben des Zugangs zur Vielfalt der – zumeist noch analogen – Medienwelt, der Leseförderung und Medienpädagogik weiterhin erfolgreich und mit nach wie vor großen Besuchszahlen tätig, der Fokus der politischen Wahrnehmung verschob sich aber zunehmend: Wofür würden in Zukunft Öffentliche Bibliotheken (fortan auch: ÖB) überhaupt noch gebraucht werden? Zwar forderte kaum jemand eine radikale Abschaffung der Öffentlichen Bibliotheken. Dafür war ihr Image doch zu sympathisch, von sentimentalen Erinnerungen und Zuschreibungen geprägt und als kindgerechte Infrastruktur wohlgelitten. Aber es mangelte eklatant an aktiver Unterstützung aus Politik und Verwaltung für die Finanzierung dringend notwendiger Investitionen in zeitgemäße Räumlichkeiten und Technik, und das gerade in Zeiten der Digitalisierung. Zuweilen konnte der Eindruck in diversen Kommunen entstehen, die Träger der Öffentlichen Bibliotheken ließen – angesichts vager Annahmen über die zukünftig unendliche Zugänglichkeit von E-Medien und Informationen – ihre Einrichtungen mehr oder weniger bewusst in einen Dornröschenschlaf sinken. Diese Entwicklung spiegelte sich auch in medialen Abgesängen, beispielhaft seien hier benannt der Artikel von Katrin Passig 2013 in der ZEIT[1] und das Buch von Rafael Ball „Was von Bibliotheken wirklich bleibt“.[2]
Zeitgleich mit dieser deutschen Situation gab es international, in Ländern mit einer starken bibliothekspolitischen Aufmerksamkeit und Tradition, eine Aufbruchsstimmung. Neue Konzepte für Öffentlicher Bibliotheken und deren Rolle, Funktion und Bedeutung in der Gesellschaft sind entstanden. Beispielhaft sei hierfür Dänemark mit dem 4-Spaces-Modell[3] erwähnt. In Skandinavien entwickelten sich Prototypen eines neuen Bibliotheksverständnisses, unter anderem steht hierfür das 2015 eröffnete „Dokk 1“ in Aarhus. In den Niederlanden gelang es in vielen Städten aus strikten Sparvorgaben heraus, völlig neue Konzepte für die Öffentlichen Bibliotheken zu entwickeln. Aus den USA inspirierten die Schriften und Ideen des Bibliotheksvisionärs Richard David Lankes. Er provozierte die bibliothekarische Berufswelt in Deutschland mit Identitätskrisen garantierenden Aussagen wie: „Bad libraries only build collections. Good libraries build services [...]. Great libraries build communities.“[4]
Im Sog dieser internationalen Entwicklungen und durch das mutige Vorangehen einzelner Bibliotheken und Akteur*innen entwickelte sich auch in der Deutschen Bibliothekslandschaft sukzessive eine Neuorientierung der Öffentlichen Bibliotheken anhand der Fragestellung: Mit welchen Services und Angeboten werden wir zukünftig in unserer Gesellschaft wirklich relevant sein? Denn nur angesichts unbestritten großer aktueller und zukünftiger Relevanz und Nutzen dieser Infrastruktur für die Gesellschaft würden Entscheidungsträger*innen in Politik und Verwaltung eine Bereitschaft entwickeln, entsprechende Investitionen in Öffentliche Bibliotheken zu tätigen.
2 Strategiefragen
Diese Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz löste zugleich eine ganze Reihe von strategischen Folgefragen aus:
Warum? Wofür gibt es die Öffentliche Bibliothek überhaupt? Was ist deren Sinn, deren gesellschaftliche Mission?
Was tut eine Bibliothek zur Realisierung dieser Mission? Auf welchen Geschäfts- bzw. Tätigkeitsfeldern und mit welchen Angeboten?
Wie soll diese Realisierung erfolgen, mit welcher Haltung und Arbeitsweise?
Die Rückbesinnung auf die bibliothekarische Kernmission jenseits der perfekten Logistik einer Sharing Economy von Medien formuliert Lankes so: „Die Mission einer Bibliothek ist die Verbesserung der Gesellschaft durch die Förderung der Erschaffung von Wissen in der Community“.[5] Nicht der bibliothekarische Output, sondern das gesellschaftliche Outcome steht im Zentrum der Mission. So hat z. B. meine Bibliothek als an den Werten der Aufklärung orientierte Aufgabe für sich formuliert, „die individuelle, emanzipatorische Entwicklung der Bürger*innen genauso wie die Sicherung und Weiterentwicklung unseres demokratischen Gemeinwesens“[6] zu fördern. Um dabei eine echte gesellschaftliche Wirkung zu erzielen und relevante Angebote zu entwickeln, bedarf es einer starken Orientierung auf die jeweils aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und Bedarfe.
Zugleich stellt sich die Frage, welche Potenziale die Öffentlichen Bibliotheken eigentlich mitbringen oder mobilisieren können, um sich mit ihrer Rolle und Funktion in der Gesellschaft neu zu positionieren und erfolgreich diesbezügliche Angebote und Arbeitsweisen zu etablieren. In Profit-Unternehmen der Wirtschaft wird in solchen Momenten der Re-Positionierung häufig nach versteckten Werten, sogenannten Assets gesucht, die neue Optionen des unternehmerischen Handelns eröffnen. Das können materielle Werte wie Immobilien und Rohstoffe genauso wie immaterielle Werte wie besonderes Wissen und spezielle Fähigkeiten sein. Solche Werte sind übrigens i. d. R. nicht wirklich versteckt im Sinne eines geheimen Depots; sie liegen im Gegenteil häufig offen zutage und werden in ihrem Potenzial nur nicht bewusst wahrgenommen. Sie sind ein wenig vergleichbar dem Ölgemälde, dem „alten Schinken“, der jahrzehntelang über dem Sofa von Tante Erna hing und dem wir beim Kaffeetrinken immer gegenüber saßen. Tausendmal gesehen und doch nie wirklich wahrgenommen. Erst im Moment der Wohnungsauflösung wird uns bewusst, dass wir die ganze Zeit auf einen echten Renoir geblickt haben.
In der kapitalistischen Welt geht es natürlich immer darum, diese Assets auf irgendeine Weise zu monetarisieren, sie profitfördernd einzusetzen. Das kommt für gemeinnützige Bibliotheken nicht infrage; für sie kommt es darauf an, wie sie diese versteckten Werte für ihre Arbeit und Aufgaben aktivieren können. Non-Profit-Unternehmen wie Bibliotheken können mit dieser strategischen Herangehensweise durchaus – im Sinne ihrer sozialen, gesellschaftlichen Mission – gewinnbringend arbeiten. Dabei geht es nicht um die Verdrängung wesentlicher traditioneller Kernfunktionen und -aufgaben von ÖBs (wie die Leseförderung und die Medienversorgung). Es geht um erweiterte Funktionen, die von der Gesellschaft als so relevant wahrgenommen werden, dass sie eine neue Investitionsbereitschaft in die ÖB-Infrastruktur auslösen.
Machen wir uns also gezielt auf die Suche nach den häufig nur scheinbar versteckten Werten der Öffentlichen Bibliotheken, die uns neue unternehmerische Optionen bei der Verwirklichung unserer Mission eröffnen können.
3 „Versteckte“ Werte der Öffentlichen Bibliotheken
a) Einzigartige Reichweite in die Bevölkerung[7]
Keine andere Bildungs- oder Kultureinrichtung realisiert so viele und so diverse direkte Kontakte mit Bürger*innen aller Generationen und Milieus wie die Öffentlichen Bibliotheken. Sie sind per se öffentliche Orte, an denen sich alle Schichten und Gruppen der Bevölkerung zufällig oder gezielt und informell begegnen. Sie sind herkunfts- und generationenübergreifende Orte der Vielfalt und Inklusion. Hier trifft sich die gesamte Kommune. Selbst mit Blick auf andere kommunale Servicepunkte erstaunt die Anzahl der direkten Besuche/Kontakte von Bibliotheken: In Berlin z. B. verzeichnen die Bürgerämter pro Jahr knapp 2,6 Mio. Besuche,[8] die Öffentlichen Bibliotheken liegen bei 9,5 Mio.[9] Kommerzielle Unternehmen wären begeistert angesichts der aus dieser enormen Anzahl erwachsenden Kommunikationschancen – was könnte die Bibliothek im Sinne ihrer Mission für das Gemeinwesen daraus machen?
b) Barrierefreier öffentlicher Raum
Bibliotheken sind niedrigschwellig, konsumfrei und im besten Sinne „öffentlich“. Zugleich gilt dieser viele Wochenstunden zugängliche öffentliche Raum als verlässlich, sicher, warm und geschützt. Mit ihren Filialen bieten die Öffentlichen Bibliotheken häufig ein Netz wohnortnaher öffentlicher Aufenthaltsorte, das auch den Aspekt der „Reichweite“ (siehe a)) noch einmal verstärkt. Wie könnten Bibliotheken das große Potenzial dieses Netzes an öffentlichem Raum für ihre gemeinwesenorientierte Arbeit weiter ausschöpfen?
c) Technische Ausstattung
Auch wenn die digitale Ausstattung in vielen ÖBs noch entwicklungsfähig ist, bieten die meisten doch bereits einen „Technologiepark“ mit sicherem Zugang zu moderner Informations- und Kommunikationstechnik, wie etwa PCs oder Tablets und Zugang zum Internet. So ausgestattet finden die Bürger*innen in Öffentlichen Bibliotheken entgeltfreie Arbeitsorte mit entsprechender Infrastruktur. Wie könnte die Bibliothek im Sinne ihrer Mission dieses technische Potenzial und die damit verbundenen Kompetenzen weiter für das Gemeinwesen ausbauen?
d) Besonderes Vertrauen
In einer Zeit, in der öffentlichen Institutionen zunehmend großes Misstrauen entgegenschlägt, genießen die Bibliotheken ein enorm großes Vertrauen in der Bevölkerung. Das betrifft nicht nur die unmittelbare Arbeit der Institution,[10] sondern auch die zivilisierte und respektvolle Aufenthalts- und Kommunikationsqualität des Ortes. Dieses Vertrauen bedeutet ein großes Potenzial für die Entwicklung weiterer Kommunikationsvorhaben im Sinne der Bibliotheksmission.
e) Engagiertes Personal
Der öffentliche Raum der Bibliothek wird in den meisten Öffnungszeiten von kompetentem und besonders intrinsisch motiviertem Personal betreut. Hier erfahren Besucher*innen eine persönliche Ansprache und Hilfsbereitschaft, die in starkem Kontrast steht zu gesichtslosen Online-Services und digitalen Konsumwelten. Diese persönliche Begegnung ist etwas Besonderes.
f) Ein reiches Publikum
Die Menschen, die täglich unsere Bibliotheksräume bevölkern, tragen einen großen Schatz an Wissen, Erfahrungen, Kenntnissen und Fähigkeiten mit sich. Diesen „Schatz“ für das Gemeinwesen im Sinne der Bibliotheksmission zu heben wäre eine riesige Chance. In der Welt der Profit-Unternehmen passiert dies durch Einbeziehung von Kund*innen in die Weiterentwicklung von Produkten und Services bis hin zum „user-generated-content“. Aber auch in gemeinnützigen Institutionen ist das Ko-Kuratieren, die direkte Beeinflussung des Programms durch die Bevölkerung unter Aspekten der Partizipation ein internationaler Trend geworden.[11] Wie könnten Bibliotheken im Sinne ihrer Mission dieses Potenzial heben?
Diese Liste an versteckten Werten der ÖBs ist sicher nicht abschließend. Je nach regionaler bzw. lokaler Situation werden sich noch ganz andere Assets feststellen lassen. Deren Identifikation wird auch beeinflusst durch Veränderungen in der Gesellschaft und deren Bedürfnisse.
Mit diesem Reservoir an versteckten Werten im Rucksack lassen Sie uns fragen, was wir als Bibliotheken damit Gutes tun können im Sinne unserer jeweiligen Mission.
4 Die Bürgermeister*innenfrage
Was soll und kann eine Öffentliche Bibliothek nun machen, um die Assets und Potenziale zu aktivieren und neue Tätigkeitsfelder aufzubauen? Dabei kann folgende Fragestellung hilfreich sein: Wenn Sie Bürgermeister*in Ihrer Kommune wären, und Sie könnten über diese Infrastruktur der Öffentlichen Bibliotheken mit ihren besonderen Stärken und Potenzialen verfügen, was würden Sie damit machen? Für welche Aufgaben und Funktionen, für welche Problemstellungen Ihrer Kommune würden Sie diese Infrastruktur nutzen?
In einer Gesellschaft, die sich zunehmend in Filterblasen aufspaltet, in der Populismus und Fake News die Bürger*innen in die Irre führen und in der Hassreden und Empörungswellen in den Social-Media-Kanälen drohen, einer demokratischen Kultur den Boden zu entziehen, könnte eine Antwort sein, die Öffentlichen Bibliotheken als Orte der demokratischen Begegnung und Erfahrung zu stärken. In einer Gesellschaft, in der ca. ein Viertel der Bevölkerung digital „abgehängt“ ist,[12] könnte eine Antwort sein, dieser Spaltung gezielt durch Angebote der Öffentlichen Bibliotheken entgegenzuwirken. In einer Stadtgesellschaft, die unversöhnlich über widerstreitende Richtungen der Stadtplanung streitet, könnte eine Antwort sein, die Öffentlichen Bibliotheken als Multiplikatoren zu nutzen, um Informationen und Themen in einen städtischen Diskurs zu bringen. Viele weitere kreative Antworten angesichts spezifischer kommunaler und gesellschaftlicher Problemlagen sind denkbar, die alle eines eint: die Fokussierung der Bibliotheksarbeit auf den gesellschaftlichen Mehrwert, die Orientierung an den Bedürfnissen der Kommune und ihrer Bürger*innen. Ende September 2020 haben z. B. in den Niederlanden die kommunalen und staatlichen Träger mit Ihren Bibliotheken einen Pakt über den Beitrag von Bibliothekseinrichtungen zu sozialen Aufgaben[13] geschlossen.
Lassen Sie mich an einigen wenigen – in der Praxis internationaler Öffentlicher Bibliotheken bereits erprobten – Bespielen verdeutlichen, wie die Aktivierung dieser Potenziale erfolgen kann:
1. Öffentliche Bibliotheken agieren als bürgerorientierte Zentren digitaler Aktivität und ermöglichen allen Bürger*innen die Nutzung digitaler Technik.
Der Zugang zu moderner Informations- und Kommunikationstechnik sowie zu digitalen Inhalten ist heute unerlässlich, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Dennoch verfügen nicht alle Bevölkerungsgruppen über den Zugang zu digitalen Endgeräten oder über einen Internetzugang. Zudem wächst in der digitalen Medienwelt das Bedürfnis nach – auch unter Aspekten des Datenschutzes – sicheren und nicht-kommerziellen Einrichtungen, die Menschen verlässlich begleiten.
Durch die hohe Reichweite in die Bevölkerung, die verlässlichen Öffnungszeiten, die rein gemeinnützige Ausrichtung und die technische Ausstattung der Öffentlichen Bibliotheken bieten sich diese an, digital-averse Bevölkerungskreise besonders effektiv zu unterstützen.
Schon drei Monate hat Frau Weber nicht mehr mit ihrer Enkelin gesprochen, seit diese in Kanada lebt. Drei Monate, in der sie zwar ab und an eine Nachricht auf ihrem Mobiltelefon bekam, aber gesprochen haben die beiden nicht. Frau Weber lässt sich von dem fünfzehnjährigen Paul, der mit seiner Klasse einen Digitalkurs in der Bibliothek anbietet, zeigen, wie sie ihr Handy nicht nur zum Videotelefonieren nutzen kann, sondern auch, wie sie das datensicher hinbekommt. Die Verbindung klappt, Frau Weber ist begeistert. Und weil sie ihren Reisepass erneuern muss, würde sie gerne noch digital einen Termin mit dem Bürgeramt vereinbaren. „Da können wir ja gleich mal schauen, Frau Weber.“, sagt die Bibliotheksmitarbeiterin Frau Klose, die sich gerade für eine Sprechstunde im „Bürger*innenterminal“ einrichtet. Dort hilft sie Menschen wie Frau Weber dabei, sich im Dickicht digitaler Verwaltungsservices zurechtzufinden. Die beiden klicken sich gemeinsam durch die Online-Dienstleistungen der Berliner Verwaltung. Frau Weber braucht für ihren Reisepass noch einige Unterlagen, wie sie im Service Portal herausfindet und vereinbart online gleich einen Termin. „Schade, dass ich das Ding nicht gleich online beantragen kann.“, meint sie, dann hätten wir das ja auch gleich hier in der Bibliothek erledigen können.
2. Öffentliche Bibliotheken agieren als Plattform für gesellschaftliche Debatten und Diskurse.
Öffentliche Bibliotheken unterstützen gesellschaftlich wichtige Diskurse der Bevölkerung und stellen dafür Raum und Informationen bereit. Dabei können sie den informierten Dialog zwischen gesellschaftlichen Gruppen genauso initiieren, wie sie Politik und Verwaltung dabei unterstützen können, Themen und Anliegen in einen aufgeklärten Austausch mit den Bürger*innen einzubringen. ÖBs verstehen sich als Orte der qualifizierten Meinungsbildung und des informierten Meinungsaustauschs bzw. demokratischen Diskurses und werden damit aktive Partner bei der Demokratieförderung für ihre Kommunen und Länder. Öffentliche Bibliotheken können dabei gesellschaftliche Querschnittsthemen und -ziele besonders befördern. Zum Beispiel können sie ihre Stärken zur Unterstützung der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen[14] einsetzen, z. B. durch gezielte Informations- und Medienangebote in Kooperation mit Nachhaltigkeitsakteur*innen.
Ihre hohe Reichweite in die Bevölkerung hinein und ihre immer an Aufklärung und Respekt orientierte Kommunikationskultur sowie das große Vertrauen, dass sie in der Bevölkerung genießen, prädestinieren Öffentliche Bibliotheken für diese Funktion. Die Möglichkeit, in der Bibliothek durch entsprechenden Medien- und Informationszugang jederzeit zu jedem Thema eine große Breite an Perspektiven und serösen Informationen heranzuziehen, ist ein besonderes Alleinstellungsmerkmal der Öffentlichen Bibliotheken gegenüber anderen Debattenorten.
Annika hatte sich eben ihren Fahrradhelm aufgesetzt und wollte die Bibliothek verlassen, als sich ein junger Mann an sie wendet. „Hi, ich bin Frederik. Sorry, wenn ich dich einfach so anspreche, aber bist du als Radfahrerin auch an einem zukunftsträchtigen Verkehrskonzept unserer Stadt interessiert?“ Annika nickt zögerlich. „Hier im Veranstaltungsraum 2 der Bibliothek findet gleich der Bürger*innendialog für die Entwicklung des neuen Mobilitätskonzeptes statt.“, fährt er fort. „Hast du vielleicht Lust daran teilzunehmen?“ Annika überlegt kurz, dann gibt sie sich einen Ruck. „Okay, ich habe gerade tatsächlich noch nichts vor. Dann kann ich mich auch gleich über die unmögliche Radwegeführung auf meinem Arbeitsweg beschweren.“
Als in dem gut gefüllten Veranstaltungsraum Ruhe eingekehrt ist, bedankt sich die Bezirksbeauftragte für Stadtentwicklung für die Möglichkeit, die zentral im Stadtteil gelegenen und barrierefreien Räume der Bibliothek für die Diskussionsveranstaltung im Rahmen des Beteiligungsverfahrens nutzen zu können. In den folgenden anderthalb Stunden lauscht Annika gespannt, aber auch immer wieder überrascht, den Ideen der verschiedenen Akteur*innen im Stadtbezirk und ihren Wünschen und Erwartungen an die Stadt- und Verkehrsplanung. Manche Probleme waren ihr bisher noch gar nicht bewusst. Als das Mikrofon für die Allgemeinheit freigegeben wird, meldet sich Annika mit einem Beitrag zu Wort. Schließlich weist der Moderator noch auf die zu den Themen Verkehr, Stadtentwicklung und Mobilität auf einem Tisch bereitgestellten Medien aus dem Bestand der Bibliothek hin, welche mit einem deutlich sichtbaren grün-pinken Flyer zum Bürger*innenverfahren bestückt sind. Mit der Einladung, sich in den kommenden Wochen an der Bürger*innenbefragung auf der Internetplattform „mein Berlin“ oder an der Pinnwand im Foyer der Bibliothek zu beteiligen, endet die Veranstaltung. „Vielen Dank für Ihr Interesse und Ihr Engagement. Wenn Sie mögen, sehen wir uns in vier Wochen wieder.“ „Vielleicht bin ich bei dem Termin in einem Monat, wenn die Ergebnisse der Bürger*innenbefragung vorgestellt werden, wieder dabei.“, sagte Annika bei der Verabschiedung mit einem Grinsen zu Frederik.
3. Öffentliche Bibliotheken agieren als Ort der Begegnung.
Angesichts vielfältiger gesellschaftlicher Entwicklungen und Fliehkräfte brauchen Kommunen und ihre Bevölkerung einen Ort der gesellschaftlichen Begegnung und des Austauschs. Öffentliche Bibliotheken bieten dafür sicheren öffentlichen Raum mit niedrigschwelligem Zugang, angenehmer kultivierter Atmosphäre, bestenfalls wohnortnah und mit nutzerfreundlich langen Öffnungszeiten. Viele Öffentliche Bibliotheken verfolgen Strategien zur Positionierung als „Dritte Orte“.[15] Sie sind per se öffentliche Orte, an denen sich alle Schichten und Gruppen der Bevölkerung zufällig oder gezielt und informell begegnen und sind auf diese Weise herkunfts- und generationenübergreifende Orte der Vielfalt und Inklusion. Viele öffentliche Bibliotheken verfolgen Strategien, diese Begegnungen gezielt zu fördern durch Einrichtung entsprechend gestalteter räumlicher Aufenthalts- und Begegnungsflächen oder durch Veranstaltungen.
Achmed freute sich bereits morgens beim Aufwachen: Es war Mittwoch – Zeit für den Mittagstisch in der Bistroküche der Zentralbibliothek! Wie schon so oft in den vergangenen Wochen würde er nachher zusammen mit Yussuf und Ben, mit Faduma aus Somalia, der grauhaarigen Frau Müller und der fröhlichen Lisa zwei Gerichte für die hungrigen Gäste des Bibliotheksbistros kochen.
Achmed konnte sich noch genau an den Tag vor drei Monaten erinnern, als die neue Küche der Bibliothek mit dem angrenzenden Bistrobereich eröffnet worden war. Eigentlich war er in der Bibliothek gewesen, um sich dieses neue spektakuläre Buch über die Entstehung Schwarzer Löcher im All auszuleihen, als ihm plötzlich der vertraute Duft von Koriander und Paprika in die Nase gestiegen war. Als er sich suchend in der Bibliothek umgesehen hatte, war Lisa auf ihn zugekommen, die kleine Kostproben an probierfreudige Bibliotheksbesucher verteilt hatte. „Hm, schmeckt gut. Da, wo ich herkomme, isst man aber Joghurt mit Knoblauch und Minze zu den Teigtaschen!“, hatte er zu ihr gesagt. Innerhalb kürzester Zeit waren Lisa, Achmed und andere umstehende Bibliotheksbesucher*innen in ein Gespräch über Gewürze und Essen vertieft. Am Ende war Achmed begeistert von der Idee, mit Lisa und anderen regelmäßig internationale Gerichte aus den Kochbüchern der Bibliothek zuzubereiten.
Seitdem kam Achmed regelmäßig in die Bibliothek, um mit anderen zu kochen, zu reden, zu essen und zu lachen. Ob Yussuf wohl gestern seinen Abschlusstest vom Sprachkurs bestanden hatte?
Da fiel ihm ein: Frau Müller hatte doch schon länger angekündigt, dass sie im Dezember das Familienrezept für ihre Lieblingsplätzchen mitbringen wollte. Ob es in der Bibliothek auch ein Buch mit syrischen Backrezepten gab? Bestimmt könnte ihm eine der Mitarbeiterinnen in der Bibliothek bei der Suche helfen. Mit einem Lächeln auf den Lippen stand Achmed auf und ging in die Küche, um Wasser für eine erste Tasse Kaffee anzustellen.
5 Haltung und Arbeitsweise
Die Entfaltung der Assets und Potenziale in neuen Aufgabenfeldern der Bibliothek bedarf auch neuer institutioneller Haltungen und Arbeitsweisen. Es braucht eine ausgeprägte Bereitschaft zum Experiment und zum Betreten unbekannten Terrains. Insbesondere die Aktivierung des Assets „Reiches Publikum“ stellt eine besondere Herausforderung an die Arbeitshaltung der Bibliothek dar. David Lankes schreibt:
„Unser Ziel sollte nicht sein, alles zu sammeln, was unsere Gesellschaft braucht, sondern eine klügere, bewusstere und offenere Gesellschaft in die Welt zu entsenden. [...] Die Menschen, die in Deine Bibliothek kommen, sind keine Konsumenten, die unterhalten oder informiert werden wollen. Sie wollen, dass ihr Leben eine Bedeutung hat. Sie wollen lernen, teilen und teilhaben, die Ingenieure, Klempner, Musiker, Anwälte und viele andere. Diese Menschen bilden den Bestand einer Bibliothek, und der ist viel großartiger als alles, was in den größten Bibliotheken der Welt angesammelt wurde.“[16]
Die hierfür notwendige teilhabeorientierte Bibliotheksarbeit erfordert die Anpassungen der Organisation, ihrer Strukturen, ihrer Haltung. Die traditionelle Bibliotheksarbeit funktionierte – in Wirtschaftssprache formuliert – nach dem B2C-Prinzip (Business to Customer): Das Medium wanderte aus der Hand des Bibliotheksprofis über den Tresen zur Kund*in. Die zur Hebung des Assets „Reiches Publikum“ notwendige Umstellung auf ein C2C-Prinzip (Customer to Customer oder wie wir in meiner Bibliothek lieber sagen: Citizen to Citizen) erfordert andere Kompetenzen und Haltungen – sowohl der Institution als auch des Bibliothekspersonals. Die Programmarbeit der Bibliothek gezielt anzureichern durch engagierte Bürger*innen und die Institution gezielt zu öffnen als Plattform für deren Themen, Interessen und Anliegen stellt eine echte Herausforderung für die Organisationsentwicklung dar.
Die US-Amerikanerin Nina Simon hat mit Ihrer aus dem Museumsbereich kommenden Initiative „OF/BY/FOR/ALL“[17] zur konsequenten Community-Einbindung starke Impulse gesetzt – es ist sehr inspirierend, ihre Ansätze genauer zu studieren. Zur Aktivierung des Assets „Reiches Publikum“ an der eigenen Haltung und Kompetenz zu arbeiten, lohnt alle Anstrengungen: Die Effekte für die gesellschaftliche Wirkung der Bibliotheksarbeit, die Bereicherung in der Programmarbeit und das Zugehörigkeitsgefühl der Bevölkerung zu ihrer „Bibliothek“ können immens sein.
6 Die Bedeutung des bibliothekarischen Alleinstellungsmerkmals
Bei allen Aktivitäten und Leistungen der Bibliothek darf die Frage nach ihrem Alleinstellungsmerkmal nie aus dem Blick geraten. Warum soll eine bestimmtes Leistung gerade durch die Bibliothek erbracht werden, warum nicht durch eine andere Institution? Was macht diese Leistung ganz spezifisch und besonders wertvoll, wenn sie von einer Bibliothek angeboten wird? Welche besonderen Merkmale der Bibliothek und/oder weitere Aktivitäten der Bibliothek können diese Leistung so ergänzen, wie dies in keiner anderen Institution ohne Weiteres möglich wäre?
Die Kombination der im Text angesprochenen Assets kann so eine Alleinstellung hervorbringen. So ist die große Reichweite in die Bevölkerung kombiniert mit dem Vertrauen in die Institution eine Mischung, welche die Bibliothek als demokratischen Diskursort gegenüber anderen denkbaren Orten besonders macht.
Spezifische Alleinstellung gewinnt die Bibliothek aber immer dann, wenn ihr die Rückbindung an ihr klassisches Kerngeschäft gelingt: die Bereitstellung von Information und Medien zur Vertiefung von Themen, Wissen und Interessen.[18] Eine Bibliothek, die zum Thema einer Diskussionsveranstaltung entsprechend zusammengestellte Medienbestände anbietet, ermöglicht informierte Diskurse vermutlich in einer anderen Qualität, als dies andernorts möglich wäre.
7 Am Ende
... zählen keine Worte und grauen Theorien, sondern das, was die Bibliothek in ihrer Arbeit wagt, macht, probiert und zulässt. Aus all den vielen Assets in unterschiedlichen Kombinationen und entsprechend der Bedarfe vor Ort können Öffentliche Bibliotheken eine riesige Vielfalt neuer kommunaler Funktionen und Tätigkeiten entwickeln und müssen sich um ihre zukünftige gesellschaftliche Relevanz keine Sorgen machen. Und wer weiß, vielleicht zieht eines sonntags auch durch Ihre Bibliothek vor Ort einmal der Duft einer frischen warmen Schokoladentorte.
Über den Autor / die Autorin

Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Breite Str. 30–36, D-10961 Berlin
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