Rezensierte Publikation:
Hermann Rösch: Informationsethik und Bibliotheksethik. Grundlagen und Praxis. Berlin, Boston: De Gruyter, 2021. (Bibliotheks- und Informationspraxis: 68) XVI + 584 S., 10 Tabellen. ISBN 978-3-11-051959-4, 69,95 €
Zu schreiben, dass Hermann Rösch mit dem zu besprechenden Buch sein opus summum vorlegt, wird seiner vielfältigen Leistung als Wissenschaftler und Hochschullehrer (bis 2019 an der TH Köln) sicher nicht gerecht. Neben dem von ihm maßgeblich mitgeprägten, in Ko-Herausgeberschaft publizierten Standardwerk „Bibliotheken und Informationsgesellschaft in Deutschland“, ist es jedoch in der Tat der Themenbereich Ethik, mit dem er sich in der letzten Zeit besonders intensiv beschäftigt hat. Erkenntnisreich war dabei sicherlich sein langjähriges, aktives Engagement in der IFLA Kommission FAIFE: „Free Access to Information and Freedom of Expression“, der er von 2007 bis 2015 angehörte. In Lehre, Forschungen und Publikationen war seine Stimme auch stets in Deutschland zu hören, vor allem, wenn es darum ging, Informationsfreiheit zu verteidigen und Zensur zu verhindern. In der, wie er eingangs schreibt, recht langen Redaktionszeit des Buches konnte er nur ahnen, dass und wie sehr ethische Fragen für uns aktuell immer wichtiger werden. Lange Zeit war das Thematisieren von Informationsethik und vor allem von ethischen Grundfragen im Bibliothekswesen eher randständig, wenn nicht tabuisiert. Insofern ist der Ausdauer des Autors in mehrfacher Hinsicht zu danken, dass wir jetzt ein so wichtiges Grundlagen- und Nachschlagewerk zur Hand haben.
Schon im Titel wie auch durch die Aufnahme des Buches in der Reihe „Bibliotheks- und Informationspraxis“ bei De Gruyter wird Ausrichtung und Tenor deutlich. Anders als bei manchen anderen Werken ähnlicher Thematik dreht es sich vorwiegend um die Reflexion der praktischen Konsequenzen eines ethischen Grundverständnisses in der Informations- und Bibliotheksarbeit. Der Titel spricht explizit von zwei Bereichen: „Informationsethik“ und „Bibliotheksethik“ und nicht von einer inhaltlichen Konjunktion, wie sie sonst oft vorgenommen wird etwa bei LIS: „Library and Information Science“. Konsequenterweise ist das Buch denn auch in drei distinkte, unterschiedlich umfangreiche Teile aufgeteilt: „Ethik“ (46 S.), Informationsethik“ (172 S.) und „Bibliotheksethik“ (260 S.). Ein ausführliches Abkürzungsverzeichnis, ein Tabellenverzeichnis, ein kurzer Ausblick und die Dokumentation „Bibliothekarischer Ethikkodizes (13 S.) umrahmen diese. Ein 60-seitiges „Literatur- und Quellenverzeichnis“ sowie zwei ausführliche Sach- und Autorenregister runden die hervorragend lektorierte Publikation ab. Jedes Kapitel hat eine eigene DOI, eine eigene Fußnotenzählung und ist bis zur vierten Stufe numerisch gegliedert, was die Zugänglichkeit und Lektüre enorm erleichtert.
Eingangs betont Rösch, dass der Umfang der einzelnen Kapitel nichts mit deren Bedeutung zu tun hat, sondern im Gegenteil, längere Abschnitte eher darauf hindeuten, dass hier noch mehr aufgearbeitet werden muss. Insofern ist das einführende Kapitel zur Ethik allgemein relativ kurz und erhebt damit auch den Anspruch, die philosophisch schwerwiegende Thematik nicht zu überfrachten. Es klärt vor allem Grundbegriffe, die im Folgenden immer wieder angesprochen werden: der Unterschied zwischen Ethik und Moral, das Verhältnis zu Moralität und dem Rechtssystem und es erläutert verschiedene Ansätze der theoretischen Ethik: von der Pflichten-, der Gesinnungsethik und der Verantwortungsethik bis zur Diskursethik, ohne tiefer in die einzelnen Debatten einzusteigen. Wichtig für die folgenden Darstellungen ist vor allem die Unterscheidung in Individualethik und Institutionenethik. Eine Institutionenethik entlastet zwar das Individuum, aber es entbindet es nicht von letztlicher moralischer Verantwortung. In der Praxis unterschiedlichster Institutionen im Nonprofit- wie im Profitbereich wird das Wertesystem und das Handeln ihrer Mitglieder zunehmend angeleitet von Leitsätzen, Leitbildern, Policies o. ä., die oft vor allem der Identitätsstiftung, Imagebildung und dem Compliance-Management der Institution und ihrer Mitglieder dienen. Seit spätestens den 1990er-Jahren gibt es aber auch zunehmend Ethikkodizes für einzelne Berufsfelder (Vorreiter waren hier die sozialwissenschaftlichen Information Professionals), die als Berufsethiken dem Individuum Orientierung im Beruf und im praktischen Handeln geben sollen. Antikes Beispiel ist der Eid des Hippokrates für Ärzte. Da es hierbei aber auch zu Konflikten kommen kann, gibt es Ethikkommissionen, Ethikräte und Ethikschulungen.
Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden die Informationsethik als übergreifende Disziplin mit „individuelle[n], kollektive[n] und menschheitliche[n] Aspekte[n]“ (Capurro zitierend) diskutiert. In kritischer Auseinandersetzung mit den grundlegenden Beiträgen von Luciano Floridi, Rainer Kuhlen und Rafael Capurro wird zunächst das ganze Feld aufgespannt und in Bezug auf seine Nachbarbereiche (wie Medienethik, Computerethik u. a.) erläutert. Die unterschiedlichen Funktionen und Zielsetzungen, die sich informationsethische Diskurse geben, unterteilt Rösch dann in deskriptive, kritische, normative, emanzipatorische und aufklärende. Die beiden letzten werden in der weiteren Diskussion breiteren Raum einnehmen, beziehen sie sich doch auf die „Förderung von Bildungs- und Informationsgerechtigkeit“ zum einen und das „Aufdecken von Informationsmythen und Desinformation“ zum anderen. Beides sollte vor allem mithilfe von Bildungs- und Schulungsangeboten realisiert werden. Konkret behandelt Rösch anschließend zentrale Themen der Informationsethik und in einem weiteren Unterkapitel spezielle ethische Problemfelder der digitalen Gesellschaft mit ihren Techniken und sozialen Phänomenen.
Hier wird das Buch detaillierter und im Einzelnen sehr praktisch und anschaulich. Die dargestellten Themenfelder sind der gesamte Bereich der Freiheit – mit Informationsfreiheit, Meinungsfreiheit und Freiheit von Zensur. Diesem folgt der Aspekt der Gerechtigkeit mit den Unterthemen Informationsgerechtigkeit, informationelle Grundversorgung und Digitale Spaltung (digital divide). Die Entwicklung der Auffassung von Privatheit bis hin zum Konzept der „privacy literacy“ mit dem ganzen Komplex des Datenschutzes, und der informationellen Selbstbestimmung nimmt einen wichtigen Raum ein, ebenso wie das immer komplexer werdende Thema des geistigen Eigentums in der Netzgesellschaft, das sehr kenntnisreich und anschaulich bis hin zu Plagiarismus und Piraterie behandelt wird. Schließlich wird unter dem Stichwort „Qualität“ die Frage der Validität von Information z. B. im Hinblick auf Desinformation und Fake News – immer unter ethischen Gesichtspunkten – diskutiert, um abschließend Informationsökologie und Informationsverschmutzung als neuere Themen zu streifen.
Die daraufhin behandelten speziellen, informationsethisch sensiblen Themen der Digitalität drehen sich um die Suchmaschinentechnologie und -praxis, die problematischen Entwicklungen rund um soziale Netzwerke wie Facebook, die Personalisierung z. B. mithilfe von Recommendersystemen bis hin zu Big Data, künstliche Intelligenz und Cyberkriminalität. Alle informationsethischen Fragestellungen, die sich ergeben, werden hinsichtlich der eingangs dargestellten Funktionen und Zielsetzungen überprüft und immer wieder mit kritisch abwägenden Lösungsvorschlägen für die von dem jeweiligen Themenfeld betroffenen Handelnden ergänzt. Dabei kann die Einzelproblematik naturgemäß nicht gänzlich vertieft werden, aber der jeweils dafür vorgesehene Raum ist hinreichend genug, um einen Einstieg für Themenneulinge aber auch eine ethische (Re-)Orientierung für Expert:innen zu geben.
Ähnlich verhält es sich mit dem dritten Hauptabschnitt des Buches: der Bibliotheksethik. Eingangs wird beschrieben, wie jung eigentlich das Konzept Bibliotheksethik auch international erst noch ist und betont, dass es sich um eine eigenständige Bereichsethik handelt, die ähnlich wie Archiv-, Computer-, oder Netzethik Bestandteil der Informationsethik ist, so dass auf der vorher geführten Argumentation mit der grundlegenden Einteilung verschiedener Arten von Funktionen und Zielsetzung aufgebaut werden kann – es folglich deskriptive, kritische, normative, emanzipatorische und aufklärende Bibliotheksethik gibt.
Die Herausarbeitung „bibliotheksethischer Grundwerte“ beginnt interessanterweise mit den fünf Bibliotheksgesetzen von Ranganathan und deren Aktualisierung durch den ehemaligen ALA Präsidenten Michael Gorman in seinem zentralen Werk „Our Enduring Values“ aus dem Jahre 2000, welches er 2015 überprüft („revisited“) und mit einem äußerst starken Bekenntnis zur Gemeinwohlorientierung („The Greater Good“) von Bibliotheken erweitert hat. Die von Gorman beschriebenen Grundwerte vergleicht Rösch in sehr aufschlussreichen, tabellarischen Analysen mit der eher empirisch gestützten Liste von elf Grundwerten von Wallace Koehler, ebenfalls aus dem Jahr 2000, den zuletzt 2019 aktualisierten „Core Values of Librarianship“ der ALA und den zuvor herausgearbeiteten Aspekten der Informationsethik. Zusammen mit weiteren Quellen ergeben sich damit neun bibliotheksethische Grundwerte, für die 30 „zugehörige handlungsrelevante Aspekte“ benannt werden. Zusätzlich zu den allgemeinen informationsethischen Werten kommen jetzt noch sehr deutlich Werte wie „gesellschaftliche Verantwortung“ (mit über 10 Einzel-Aspekten) „Dienstleistungsorientierung“, „Professionalität“ (im Management) und „persönliche Integrität“ hinzu. Ich würde sagen, dass diese Analyse, Aktualisierung und Auflistung bibliothekarischer Grundwerte, das wichtigste Ergebnis des Bandes ist. Es dient gleichzeitig als Scharnier und Ausgangspunkt für eine detaillierte Analyse klassischer bibliothekarischer Handlungsfelder und deren jeweilige ethische Implikationen.
Im Folgenden wird mit großer Praxisrelevanz und erneut mit sehr anschaulichen Beispielen untersucht, welche ethischen „Probleme“ sich bei Erwerbung, Erschließung, Überlieferung, Benutzung, Informationsvermittlung und Bibliotheksmanagement ergeben. Dass die Analyse umfangreicher ausfällt als der entsprechende Teil im Kapitel Informationsethik ist auch der Tatsache geschuldet, dass Rösch hier auf noch mehr wichtige Fälle hinweisen kann, die im Einzelfall, etwa bei der Diskussion „problematischer Werke“, dem Bibliothekspersonal auf allen Ebenen zumindest Reflexionsanregung für die eigene Positionierung bieten können. Und dabei entgeht Rösch effektiv nichts, was die bibliothekarische Alltagsarbeit ausmacht: von der mangelnden Aktualisierung der vorurteilsbehafteten Erschließungsinstrumente über Fragen der Sekretierung, des Jugendschutzes, der Langzeitarchivierung bis zum Diversity Management in der Bibliotheksorganisation. Die Auswahl und Darstellung zeugt von großer, breiter Einsicht und Erfahrung als Bibliothekswissenschaftler und -praktiker. Und auch hier liefert Rösch nicht immer die letztgültige Entscheidung und kommt bei den meisten seiner Einzelabschnitte zu dem Schluss, dass hier ein selbstbewussteres Einstehen für Informations- und Meinungsfreiheit Not tut, gleichzeitig aber Nutzende, Unterhaltsträger und Öffentlichkeit durch bibliothekarische Schulung und Programmarbeit mehr Möglichkeiten zur Kompetenzaneignung und Diskussion erhalten sollten. Als konkrete Methode dazu empfiehlt er, in Anlehnung an die juristische Casuistik, die Methode der Fallstudie, die er in seinen Lehrveranstaltungen mehrfach erprobte und von denen er auch einige Beispiele beschreibt.
Zum Schluss beschäftigt er sich ausführlich mit den langjährigen Kodifizierungsbestrebungen jener Grundwerte, d. h. mit der Entwicklung von Ethikkodizes für Bibliotheken in unterschiedlichen Ländern. Hierbei ist immer mal wieder ein kritischer Unterton in dem sonst stets sehr sachlichen und neutralen Stil des Autors zu vernehmen, nämlich dann, wenn es um die Ethikdiskussion im deutschen Bibliothekswesen geht. Es wird dabei mehrfach das Augenmerk auf eine saubere Differenzierung von Institutionen- und Individualethik geworfen. Zwei zusammenfassende, vergleichende Tabellen mit allen Einzelwerten veranschaulichen die Differenzen und machen deutlich auf die Lücken in der bibliothekarischen Ethikdiskussion aufmerksam: in dieser Zusammenschau äußerst lesenswert und erkenntnisreich. Die Argumentation wird gestützt durch den Abdruck zentraler Ethikkodizes im Anhang.
Der voluminöse Band (im PDF sind es technisch exakt 600 S.) ist eine umfassende und zugleich äußerst praktische Gesamtschau auf Bibliotheken und das bibliothekarische Handeln im zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext, bei der deutlich wird, wie sehr alles von ethischen Fragestellungen, ja notwendigen ethischen Entscheidungen durchdrungen wird, was in unserem Berufsfeld von Institutionen und Individuen getan oder gelassen wird.
Eine sequentielle Lektüre des Buches ist zwar sinnvoll, aber angesichts des Umfangs nicht unbedingt notwendig. Es sind immer wieder Redundanzen eingebaut, die das Werk zum gelegentlichen Konsultieren befähigt. Die tiefe Gliederung und die ausführlichen Register unterstützen dies. Es sei aber nicht nur zur Lösung individueller ethischer Fragestellungen in der Praxis empfohlen, sondern gerade auch den Stakeholdern, Entscheidern und Unterhaltsträgern nahegelegt, um zu verstehen, welche zentralen ethischen Werte Bibliotheken in unserer Gesellschaft wahren und verteidigen könnten.
© 2022 Hans-Christoph Hobohm, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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