Abstract
In The Origins of Totalitarianism Hannah Arendt reads Hobbes’ Leviathan as a prefiguration of totalitarian politics. She does so in a unique manner, criticising not his overbearing sovereignty, but the incessant accumulation of power, which turns into an unstoppable process of destruction. Arendt claims that the ultimately self-annihilating accumulation of power is necessitated by bourgeois societies’ pursuit to increase property. This paper first clarifies the methodological assumptions which allow Arendt to read Hobbes’ theory as a clue to bourgeois history in general. It then reconstructs her portrait of the “power-hungry individual” as a result rather than starting point of Hobbes’ political model, and examines her verdict that the Hobbesian sovereign is inherently unstable. With the help of passages contained only in the expanded German version of Origins, Arendt’s more familiar Luxemburgian critique of territorial expansiveness is completed by a Benjaminian analysis of the temporality of accumulation: colonial catastrophe.[1]
Viele Kommentator:innen haben in den letzten hundert Jahren bedenkliche Ähnlichkeiten zwischen dem Faschismus und Thomas Hobbes’ Rechtfertigung tyrannischer Staatsgewalt festgestellt. [2] Auch Hannah Arendt zog in ihrer bahnbrechenden Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft Hobbes’ Leviathan als eine Präfiguration der politischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts heran. Allerdings weicht sie dabei auf bemerkenswerte Weise von den üblichen Kritiken übermächtiger Souveränität ab.
Arendt zufolge legte Hobbes als Chronist der endlosen Akkumulation eine erschreckende Weitsicht an den Tag. Sie liest Hobbes nicht als einen frühneuzeitlichen Befürworter des Absolutismus, sondern als Propheten des imperialistischen Progressivismus des 19. Jahrhunderts und der totalitären Herrschaft des 20. Jahrhunderts. Sie entdeckt in seiner politischen Theorie den grundlegenden – und zerstörerischen – Mechanismus der bürgerlichen Gesellschaft: „Der ‚Leviathan‘ ist der Staat, und seine Philosophie ist die Weltanschauung, denen die bürgerliche Gesellschaft seit ihrem Beginnen zustrebte.“ [3]
Was wir in Arendts Untersuchung des Leviathan finden, ist eine Verknüpfung von liberaler Marktrationalität und imperialistischer Politik, eine Verknüpfung von Kapital und Eroberung. Wie Zeynep Gambetti kürzlich gezeigt hat, hilft Arendts Fokus auf zersetzende und expansive Macht, den zeitgenössischen Faschismus mitsamt seinen neoliberalen Wurzeln zu verstehen. [4] Anders als Crawford MacPherson, der ebenfalls eine enge Verbindung zwischen Hobbes’ politischer Philosophie und ökonomischer Rationalität herstellte, hebt Arendt die finstersten Auswirkungen der Akkumulation hervor. [5] Wir haben es hier nicht mit einer Theorie des besitzenden, sondern des autoritären Individuums zu tun, nicht mit seiner Arbeitsamkeit, sondern seiner Zerstörungswut.
Arendts eigentümliche Hobbes-Deutung ist wiederholt in Frage gestellt worden. Eric Voegelin bemerkte 1951 in einem Brief, dass ihm ihre Lesart „zweifelhaft“ erscheine; [6] spätere Kommentator:innen nannten ihre Interpretation des Leviathan eine „crude analysis“ [7] und „biased, inconsistent and ad hoc“ [8]. Edgar Straehle hat dafür argumentiert, Arendts Herangehensweise an Hobbes in ihrem Totalitarismus-Buch vollkommen zu vernachlässigen und sich stattdessen auf ihre spätere Lesart in Vita activa und nachfolgenden Texten zu konzentrieren. [9]
In ihrem Folgewerk zu Elemente und Ursprünge diskutiert Arendt Hobbes (neben einer sehr viel ausführlicheren Kritik an Descartes), um die Verbindung des wissenschaftlichen Rationalismus und der modernen Weltentfremdung herauszustellen. Aber auch hier führt Arendt Hobbes als Denker einer „Erwerbsgesellschaft“ [10] ein und bekräftigt damit eine Kontinuität zu ihrer früheren Interpretation. Straehles Periodisierung entgegen möchte ich zeigen, dass Arendts späteres methodologisches Interesse an Hobbes den Status ihrer Rekonstruktion des Leviathan in Elemente und Ursprünge untermauert. Arendts Lektüre von Hobbes mag nicht die akkurateste sein, kommt aber weder einer Herabminderung seines Werks gleich noch ist sie allein von ihrer ‚Feindseligkeit‘ ihm gegenüber geleitet [11]. Arendt sieht in Hobbes den „größte[n] Vertreter“ der modernen politischen Philosophie. [12] Nichtsdestoweniger behandelt sie ihn eher als Vermittler eines aufsteigenden sozialen Paradigmas denn als philosophischen Innovator. Die radikale und faszinierende Idee, die sie Hobbes zuschreibt, ist der Gedanke, dass man eine politische Struktur und anthropologische Sichtweise auf nichts anderes als den fundamentalen Bestandteil der kapitalistischen Ordnung gründen kann: Akkumulation. Das Ergebnis ist ein ökonomisches Gemeinwesen, das, wie Arendt behauptet, die im 19. Jahrhundert auftretende Konstellation der gewaltvollen Expansion und des Glaubens an eine fortschreitende Geschichte antizipiert. Genau diese Konstellation ist es, aus der sich totale Herrschaft laut Arendt herauskristallisieren sollte.
Im Kontext von Arendts eigenem Werk ist es von mehr als exegetischem Interesse, die proto-totalitäre Konstellation auf den „einzige[n] Philosoph[en], auf den die Bourgeoisie sich je hätte berufen dürfen“ [13], zurückzuführen. Mit dem Leviathan findet ein oft übersehener materialistischer Strang Eingang in Arendts politische Theorie. Indem sie den Faschismus auf die Herrschaft der Bourgeoisie zurückführt, arbeitet Arendt die Problematik neuzeitlicher Weltlosigkeit nicht im Kontrast zu griechischer Herrlichkeit heraus, sondern als eine Konsequenz der kapitalistischen Weltaneignung. Stärker als ähnliche Theoreme innerhalb der Frankfurter Schule es tun, trägt Arendts Interpretation dabei dem Zusammenspiel verschiedener Varianten der Akkumulation Rechnung: Akkumulation durch Marktanreize und durch Gewalt; von Eigentum und von Macht; in Expansion oder in Vernichtung endend. So betrachtet beruht Arendts Modernismus „wider Willen“ [14] auf einer Analyse der ursprünglichen Akkumulation von Souveränitätsgewalt und ist grundlegend mit einer Kritik kolonialer Rationalität verkoppelt. [15]
1 Hobbes als Ausgangspunkt der Arendt’schen Totalitarismustheorie
Hannah Arendt schrieb Origins of Totalitarianism zwischen 1945 und 1949 im New Yorker Exil. [16] Das Buch erschien in der englischen Version 1951. Die deutsche Ausgabe wurde vier Jahre später von Piper in München publiziert. [17] Arendt nutzte die Übersetzung, die sie selbst vornahm, für eine umfassende Überarbeitung. Sie ergänzte sie um ein abschließendes Kapitel und integrierte neue Passagen, teilweise auf der Grundlage von früheren, auf Deutsch verfassten Manuskriptentwürfen. Außerdem änderte sie den Titel zu „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, um zu betonen, dass sie mit ihrer genealogischen Untersuchung nicht eine singuläre Quelle, sondern eine Konstellation verschiedener Faktoren ausmachen wollte, die in der Shoah gipfelte.
Ihr monumentales Werk ist in drei Teile gegliedert. Der erste ist eine Geschichte des modernen Antisemitismus, der zweite eine Analyse des Kolonialismus im 19. Jahrhundert. Der umfangreichste, dritte Teil enthält Arendts Phänomenologie totaler Herrschaft. Sie hält dieses Phänomen für eine neue, eigentümliche und beispiellose politische Formation. Der Totalitarismus ist ihrer Analyse gemäß eine entfesselte Form des Faschismus, der sich von der Tyrannei oder Diktatur, die territorial eingegrenzt sind und eine gewisse Stabilität anstreben, unterscheidet. Totale Herrschaft wird als eine unaufhörliche Bewegung beschrieben, als ein sich ewig ausdehnender und alles zerstörender Prozess. Die Essenz dieses Prozesses ist Arendt zufolge der Verlust menschlicher Initiative und Spontaneität. Menschen verkümmern zu bloßen Funktionen einer übergreifenden Bewegung, sie verlieren die Fähigkeit, sich voneinander abzugrenzen und etwas Neues anzufangen. In ihrem späteren Werk Vita activa oder Vom tätigen Leben postuliert Arendt, dass „Pluralität“ die Bedingung für Politik sei: „die Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern“ [18]. Der Totalitarismus sei der erste Versuch in der Geschichte, Pluralität vollständig auszumerzen. Die Konzentrationslager kennzeichnen den ‚Erfolg‘ dieses Versuchs. In ihnen vollzogen die deutschen Nazis eine „Fabrikation von Leichen“ und entmenschlichten ihre Opfer zuvor, so rekonstruiert Arendt, indem sie deren juristische und moralische Person zerstörten. [19]
Während Arendt die Neuartigkeit dieser Form von Herrschaft betont, sieht sie in ihr nichtsdestoweniger eine Verwirklichung von Tendenzen und Entwicklungslinien, die in modernen Gesellschaften tief verankert sind. Der früheste Moment, auf den sie verweist, ist Hobbes’ Leviathan. Dieses Werk ist mehr als nur ein ‚Element‘: wenn nicht der Ursprung, dann zumindest eine originäre Versammlung all jener Aspekte, die Arendt für den Totalitarismus verantwortlich macht. „It had taken Hobbes, the great idolator of Success, three centuries to succeed“ [20], schreibt sie in einer düsteren Passage der englischen Fassung. Wie ist eine solche Entwicklung möglich, wo doch im Leviathan die für den Totalitarismus spezifischen Elemente zu fehlen scheinen, weil er weder eine antisemitische bzw. rassistische Abhandlung ist noch den Imperialismus direkt befürwortet?
Arendt führt die Vorgeschichte totaler Herrschaft auf den Antisemitismus und Imperialismus zurück, ihr Argument ist jedoch weniger unmittelbar, als man meinen mag. Sie zieht keine gerade Linie von der Entwürdigung jüdischer und kolonisierter Menschen zur ‚arischen‘ Vorherrschaft im Nationalsozialismus. Der Totalitarismus ist nicht einfach die politische Organisationsform, die effektiv genug gewesen wäre, um die sozialen Vorurteile des 19. Jahrhunderts mittels mörderischer Politik vollstrecken zu können. Vielmehr geht es Arendt darum, die strukturellen Eigenschaften moderner Massengesellschaften zutage zu fördern, die soziale Vorurteile in politische Kräfte transformieren. Arendt spürt tiefgehenden Problemen sozialer Organisation nach, denen gegenüber sich genozidale Politik, so unbegreiflich es klingt, als ‚Lösung‘ darbietet.
Zwei Motive treten in Arendts Analysen immer wieder auf und bilden zusammengenommen die Bruchlinie der Moderne, wie Arendt sie betrachtet. Das eine ist die Entwurzelung und Isolation von Individuen im industriellen Produktionsprozess, das andere die Unterordnung der Politik unter die Idee eines unaufhaltsamen Fortschritts der Geschichte. Der erste Faktor, die Verlassenheit, könnte grob als materialistisch beschrieben werden – als ein Resultat von Arbeitsorganisation und -teilung –, der zweite ist eher symbolisch oder ideologisch: der im 19. Jahrhundert fest verwurzelte Glaube an Fortschritt. Es ist Hobbes’ Leviathan, der es Arendt erlaubt, ihre Analyse methodologisch zu vereinigen. Sie findet in diesem Text beide Elemente – das verlassene Individuum und den historischen Progressivismus – und entblößt sie als Kerneigenschaften der westlichen Moderne. Hobbes, so ihre hyperbolische Behauptung, hatte alles im Blick, er formulierte Prinzipien, die dreihundert Jahre später in der äußersten Katastrophe gipfelten, und dennoch war alles, was er tat, Schlussfolgerungen zu ziehen, skrupellos, gleich zu Beginn, in den frühen Phasen der bürgerlichen Gesellschaft. [21] Aber warum dachte Arendt, dass Hobbes als Philosoph solch enorme Voraussicht gehabt haben sollte? [22] Wir sollten Arendts Interpretation von Hobbes’ Leviathan innerhalb ihres eigenen phänomenologischen Denkansatzes situieren, um uns zu verdeutlichen, wie sie seine Methode zur selben Zeit als grundlegend falsch und aufschlussreich betrachten kann.
2 Kalkül als Methode
Bereits in Origins verwendet Arendt häufig die Formulierung reckoning with consequences, um Hobbes’ Denkstil zu beschreiben. Die Passage, auf die sie sich damit bezieht, findet man im fünften Kapitel des Leviathan mit dem Titel „Of Reason, and Science“. Hobbes entwickelt darin seine Epistemologie. Er vergleicht Begriffe mit numerischen Werten – quasi mit Preisschildern – und bestimmt gültiges Schlussfolgern als die Ausführung korrekter mathematischer Operationen: „For Reason, in this sense, is nothing but Reckoning (that is Adding and Substracting) of the Consequences of generall names agreed upon.“ [23] Er setzt diese Analogie mit dem Beispiel eines „master of the family“ – eines Familienoberhaupts –, das sich um die Rechnungen kümmert, fort. Gute Buchführung müsse jeden Posten prüfen und von dort aus bis zur endgültigen Summe voranschreiten. [24] Und das, so behauptet Hobbes, sei auch für das wissenschaftliche Denken das perfekte Modell. [25]
Arendt findet den Gedanken, von ‚Namen‘ ausgehend arithmetische Folgerungen durchzuführen, natürlich abwegig. Ihr Spätwerk, die Theorie der Urteilskraft, die sie mit Vom Leben des Geistes vorlegt, kann als diesem ‚Kalkül‘ genau entgegengesetzt verstanden werden, [26] und schon in Vita activa besteht sie darauf, dass quasi-mathematisches Denken jedes echte Verständnis der Welt von vornherein ausschließe. [27] Die deduktive Epistemologie ist für Arendt nicht in der Lage, neue Erfahrungen und einzigartige Phänomene zu begreifen: „Im Modus des Herstellens zu handeln, bzw. in der Form eines Kalküls mit Konsequenzen zu denken, heißt, das Unerwartete und damit das Ereignis selbst auszuschalten“ [28]. Dennoch – so sehr sich Arendt der Ablösung des Denkens durch das ‚Kalkül‘ auch widersetzt, gesteht sie ihr zugleich eine gewisse Enthüllungsfunktion zu. Hobbes konnte das „Ereignis“, in ihren eigenen Worten, nicht begreifen, brachte es jedoch meisterhaft auf den Punkt. Arendt bringt Hobbes’ vermeintlich erste Prinzipien mit dem Durchbruch einer neuen historischen Formation in Verbindung. Ihr zufolge ist Hobbes einer der Philosophen, die „mit einer Genauigkeit ohnegleichen die ungeheure, schockartige Wucht des Ereignisses registrierten“ [29]. In seiner von ‚ersten Prinzipien‘ ausgehenden Deduktion buchstabiere Hobbes die gesamte Grammatik der bürgerlichen Moderne aus – obgleich er das eigentliche Ereignis verpasste.
Wenn man verstehen möchte, wie Arendt den Hobbes’schen Quellcode der Moderne rekonstruiert, macht es Sinn innezuhalten, um sich zu fragen, an welches „Ereignis“ sie überhaupt denkt. Arendt zeigt kein Interesse an den konfessionellen und dynastischen Konflikten, die Hobbes’ Biographie prägten. Auch auf die koloniale Konstellation des 17. Jahrhundert, als sich das spanisch-portugiesische Reich dem Ende zuneigte und der angelsächsische Siedlungskolonialismus Fahrt aufnahm, bezieht sie sich nicht direkt. Ihr konstanter Bezug auf die ‚bürgerliche‘ Ära wirkt in einer vorindustriellen Epoche, [30] in der Wohlstand noch hauptsächlich auf Grundeigentum und Landwirtschaft beruhte, seltsam anachronistisch. [31]
Was es Arendt erlaubt, den Aufstieg der Bourgeoisie zurückzudatieren, ist ein Fokus auf das Verhältnis von Kapital zur Eigentumsform anstatt zur Lohnarbeit. In Origins of Totalitarianism definiert Arendt die Bourgeoisie als jene Klasse, zu der alle gehören konnten, „who conceived of life as a process of perpetually becoming wealthier, and considered money as something sacrosanct which under no circumstances should be a mere commodity for consumption“ [32]. In der deutschen Version macht Arendt expliziter, inwiefern dieses neue, akkumulative Verhalten durch den Eigentumsbegriff vermittelt wurde:
Die Bezeichnung der Bourgeoisie als einer besitzenden Klasse ist nur in einem oberflächlichen Sinne zutreffend; es hat sich herausgestellt, daß nicht jeder zu ihr gehörte, der Besitz hatte, aber daß jeder in ihr willkommen war, der den Prozeß der Akkumulation des Besitzes mitmachen wollte und konnte. Und dies hieß, Geld unter keinen Umständen als ein Mittel der Konsumption zu betrachten und auf keinen Fall seinen Besitz einfach zu verzehren. [33]
In der anschließenden Passage – die im englischen Text vollständig fehlt – führt Arendt aus, wie erschreckend und neuartig eine solche Behandlung von Eigentum als Proto-Kapital sei. Sogar die Erhaltung, behauptet sie, laufe dem Wesen des Eigentums zuwider und Expansion widerspreche ihm völlig. Sterblichen Menschen, die selbst von der Erde verschwinden, stehe kein besserer Weg zur Verfügung, ihr Eigentum zu ‚sichern‘, als es zu benutzen, sich daran zu erfreuen und es zu verzehren. [34] Arendt zufolge liegt es in der Natur des Eigentums, als menschliches Anrecht auf einen Gegenstand, vergänglich zu sein. Im Kontrast dazu konstituiert die Praxis der Akkumulation von Eigentum einen Paradigmenwechsel und liefert jenes schockartige Ereignis, durch das sich Hobbes’ Ära von der antiken und mittelalterlichen Welt grundlegend unterscheidet.
Wenn wir uns dem England des frühen 17. Jahrhunderts zuwenden, in dem kapitalistische soziale Klassen im orthodoxen Sinne noch fehlen, können wir in der Tat einen Wandel in der Natur des Besitzens ausmachen. Hobbes schrieb genau zu der Zeit, die häufig als ‚ursprüngliche Akkumulation‘ bezeichnet wird, sich jedoch besser als Propertisierung [35] oder, um Katharina Pistors Begriff zu nehmen‚ als Codierung von Grund und Boden in Kapital beschreiben lässt. [36] Dieser Prozess setzte mit der Einhegung von Allmenden und mit einer neuen, exklusiven Formulierung von Eigentumsrechten in den Gerichtshöfen ein. Bis 1600 wurde ein Großteil des kultivierbaren Landes in England eingehegt und das gemeine Volk von dort vertrieben. [37] Der Grundbesitz wurde von den aristokratischen Eigentümern nicht zum eigenen Verbrauch und zur Absicherung ihres Status, sondern mit neuen Gewinninteressen genutzt. Die Verschärfung der Eigentumsrechte innerhalb der eingehegten Grundstücke kann als Expansion bezeichnet werden – wenn nicht der Reichweite des Gebiets, dann der Kontrolle über das besessene Gebiet. In viele Fällen jedoch trugen Einhegungen direkt zur Vergrößerung des Grundbesitzes bei – eine Akkumulationstendenz, die in der kolonialen Eroberung und Besiedlung im Weltmaßstab verfolgt wurde. Die Expansivität des Eigentums geht den Investitionszyklen des ausgereiften Kapitalismus damit voraus. ‚Mehr haben müssen‘ ist bereits im Skript des Kolonialismus und des enclosure movement enthalten, und deren unmittelbar gewaltsame Modi der Akkumulation werden von der Abschöpfung des Mehrwerts niemals vollständig verdrängt. Die Frage nach der fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation ist in den letzten Jahren Gegenstand lebhafter Debatten gewesen, vor allem, weil sie es ermöglicht, intersektionale Herrschaftsverhältnisse wie das Patriarchat und die weiße Vorherrschaft in die Analyse der politischen Ökonomie zu integrieren. [38] Arendts Darstellung sticht dadurch heraus, dass sie von Anfang an eine koextensive politische Logik identifiziert: „Durch eine unbegrenzte Akkumulation von Macht, das heißt von Gewalt, die kein Gesetz begrenzte, konnte eine unbegrenzte oder jedenfalls erst einmal unbegrenzt scheinende Akkumulation von Kapital vonstatten gehen.“ [39] Diese Lektion, sagt sie, erteilt uns am besten, und zugleich erstmalig, Hobbes.
3 Das besitzakkumulierende Individuum
Das Grundprinzip, mit dem Hobbes selbst sein Individuum ausstattet, ist das natürliche Recht auf Selbsterhaltung. Es ist absolut und unanfechtbar und dient der Rechtfertigung der souveränen Macht des Leviathans als Letztbegründung. Hans Blumenberg hat den Selbsterhaltungstrieb als das zentrale Merkmal oder „Leitfossil“ der frühneuzeitlichen Rationalität bezeichnet. [40] Es ist ein neues Prinzip, das von scholastischen Konzeptionen der Erhaltung abweicht. In der mittelalterlichen Theologie wurde Erhaltung als kontinuierliche Schöpfung begriffen, als Ausdruck des sich permanent wieder-bestätigenden Willen Gottes, Lebewesen in ihrer Existenz zu halten. Dieses transitive Konzept von Erhaltung als von einer externen Kraft ausgehend wandelte sich in ein intransitives Verständnis. Von der frühen Aufklärung an ist es das Individuum selbst, das mit der Aufgabe seiner Erhaltung betraut ist. [41] Hobbes’ mechanistisches Weltbild versperrt sich der aristotelischen Option, die darin besteht, Selbsterhaltung einem inneren Entwicklungstelos zuzuordnen und mit Selbstvervollkommnung gleichzusetzen. Stattdessen übernimmt der individuelle Wille in den aufkommenden Vertragstheorien die Aufgabe, nach Existenz zu streben. Der Wunsch, sich zu erhalten, wird verstärkt durch die korrespondierende Angst, nicht sterben zu wollen, erst recht keines gewaltsamen Todes. Bei Hobbes schlägt die angstgetriebene Selbsterhaltung unmittelbar in Selbstexpansion um. [42] Berühmt geworden ist seine in Kapitel XIV des Leviathan formulierte These, dass sich aus dem Recht auf Selbsterhaltung ein Recht auf „every thing; even to one anothers body“ ableiten ließe. [43] Umgeben von mörderischen Seinesgleichen, ohne eine höhere Gewalt, ist es für das Individuum nur rational, proaktiv anzugreifen und zu plündern. Ein Krieg aller gegen aller ist daher unvermeidlich, solange die Individuen nicht aufhören, ihren Willen zur Selbsterhaltung durchzusetzen, anstatt sich einer höheren Autorität zu unterwerfen.
Arendt untersucht das aus diesen Annahmen resultierende Konstrukt des Leviathan aus einem etwas schrägen Blickwinkel. Zunächst einmal weigert sie sich, Hobbes’ eigene Ableitungsrichtung zu übernehmen. In einem von Arendt konsultierten Kommentar hatte Michael Oakeshott argumentiert, dass Hobbes’ Konzeptionen des Individuums und des Staates dieselbe Grundlage hätten und ihr Aufeinanderfolgen nur eine Frage der Darstellung sei. [44] Arendt geht noch einen Schritt weiter und ordnet beide dem Akkumulationsprinzip nach. Sie behauptet, dass Hobbes’ Individuum, weit entfernt davon, als Ausgangspunkt zu dienen, ein zukunftsweisendes Produkt der Hobbes’schen Vorstellungskraft gewesen sei: „[Hobbes] beschreibt, wie der Mensch sein muß und wohin er, von der Tradition des Abendlandes christlichen oder antiken Ursprungs sich abwendend, gehen muß, um den Forderungen einer kommenden Gesellschaftsordnung, die er nicht nur ahnte, sondern bis ins Detail durchschaute, zu genügen und in ihr sich zu bewegen.“ [45] Für Arendt ist die vermeintliche Grundlage – das eigentümliche Verständnis von Selbsterhaltung-cum-Selbstexpansion – genau das, was der Erklärung bedarf. Und ihr eigener Erklärungsansatz besteht darin, systematisch herauszuarbeiten, inwiefern dieser „neue Menschentypus“ [46] mit dem Prinzip der Akkumulation übereinstimmt.
Das Individuum, wie Hobbes es skizziert, ist in gewisser Weise nichts anderes als eine auf sich selbst zurückgeworfene Akkumulation. Eine Akkumulation, die sich selbst heimsucht. Nicht Selbsterhaltung, wie sie ein Individuum verfolgt, das sich seiner Geburt und Sterblichkeit bewusst ist, sondern Selbsterhaltung, wie sie sich ein Wille vorstellt, der darauf versessen ist, den Tod um jeden Preis zu vermeiden. Jedes Handeln verkümmert zu einem Anhäufen von Macht. Macht ist für Hobbes das Mittel, propertisierte Güter zu erwerben und zu sichern, und wird deshalb zum primären Ziel der Akkumulation. Arendt betont, dass jede andere Ambition – „Reichtum, Wissen, Ehre“ – der grundlegenden Macht-Leidenschaft des Individuums, das von nichts anderem als privaten Interessen angeleitet wird, untergeordnet sei. [47] Wenn Arendt von privaten Interessen spricht, ist es wichtig, ihre pejorativen Assoziationen zu ,privat‘ als ‚privatus‘ nicht zu überhören. Das Individuum hegt nicht einfach egoistische, sondern entmachtete Interessen, denen es an politischer Gestaltungskraft fehlt. Hobbes’ These, dass das private Wohl und das Gemeinwohl übereinstimmten – im späteren Liberalismus bekräftigt durch die Fiktion einer unsichtbaren Hand des Marktes –, steht Arendts eigener Auffassung diametral entgegen. [48] Was sie in der englischen Version „the aimless, senseless chaos of private interests“ [49] nennt, betrachtet sie als Bedrohung für die Politik, nicht als deren Matrix. Ferner sind private Interessen für Arendt nicht einmal im engeren Sinne ‚individuell‘. Sie haben ihren Ursprung nicht in der Einzelperson, sondern sind aus einer Sozialität abgeleitet, die den Wettbewerb um tauschbare Güter voraussetzt. Damit degradieren diese Interessen das Hobbes’sche Individuum zu einer Funktion der Gesellschaft bar jeder eigenständigen Urteilsfähigkeit. Arendt zitiert Hobbes’ Aussage, dass der Wert eines Individuums sein Preis sei. „Der Wert ist das, was früher Tugend geheißen hat, und wird festgestellt durch die ‚Schätzung der anderen‘, die als Gesellschaft konstituiert in der öffentlichen Meinung die Werte nach dem Gesetz von Nachfrage und Angebot bestimmen.“ [50] Extrinsisch festgelegt ist der Wert nie fixiert und nie sicher. Er wird auf der materiellen und, analog, auf der symbolischen Ebene produziert. [51] Macht ist daher immer schon beides, die Fähigkeit zur Sicherung des Besitzes genauso wie die Fähigkeit zur Sicherung von Anerkennung. So wie jedes Individuum darauf programmiert ist, alle Güter zu begehren, ist in ihm ebenfalls angelegt, ein Monopol auf die öffentliche Meinung zu begehren, um eine symbolische ‚Preiskontrolle‘ ausüben zu können und dafür zu sorgen, dass es selbst in der Anerkennungsordnung zuerst kommt. Das liest sich ein wenig so, als hätte Arendt (wenn nicht sogar Hobbes) bereits über eine digitale kapitalistische Ordnung klickbasierter Bewertungen geschrieben. Auf jeden Fall aber sind diese Mechanismen der wettbewerbsorientierten Akkumulation der gefährliche Wegbereiter für gewaltsame Konflikte.
Eine der Schwächen von Arendts Lesart des Leviathan ist, dass sie den Unterschied zwischen dem Naturzustand und der Situation nach dem Vertrag völlig zu vernachlässigen scheint. Sie schreibt von machthungrigen, besitzergreifenden Individuen, als hätte es das Ende des Bürgerkriegs nie gegeben. Sozusagen ein Leviathan ohne Leviathan. Aus einem bestimmten Blickwinkel ist diese Lesart jedoch korrekt. Der Leviathan ist der Leviathan – die allumfassende Übermacht –, weil Hobbes’ Individuen keine innerliche Begrenzung kennen. Sie unterliegen nur einer externen. So sehr ihre Vernunft – das rationale Kalkül der Selbsterhaltung – ihnen diktiert, einen Vertrag reziproker Unterwerfung unter die Autorität anzustreben, bleibt ihr Begehren an die mit allen Mitteln herbeigeführte Expansion dieses Lebens gebunden. Natürlich sollen die Individuen das Gesetz post-Vertrag kennen, aber es bleibt für sie extern und instrumentell. Das Gesetz hat Gültigkeit als Emanation der souveränen Autorität, es wird nicht unabhängig begründet: „Der Staat entsteht durch die Delegation von Macht und nicht von Rechten.“ [52] Es gibt also eine Kontinuität zur anarchischen Selbsterhaltung aus der Zeit vor dem Vertrag, in der Hobbes’ Individuen – anders als John Lockes connaisseurs des Naturrechts – weder Recht noch Unrecht kennen, sondern nur die Anhäufung und den Verlust von Macht.
Dieses Kriterium – die Anhäufung von dem Verlust von Macht unterscheiden zu können – geht schließlich auch jedem individuellen Recht voraus. Wer der Machtakkumulation nicht dient, wird zu einer „dangerous nuisance“ [53], zu einer gefährlichen Störung. Hobbes’ theoretisches Konstrukt prädestiniert bestimmte Individuen als diejenigen, die vernichtet werden müssen. Wer sich dem Vertrag verweigert, macht sich dadurch zu Freiwild, zu einem Feind, den es zu zerschmettern gilt. Aber nicht nur Widerstand kann ein Individuum ‚überflüssig‘ machen, sondern auch sein biopolitisches Schicksal. Wie Lorenzo Bernini mit Bezug auf eine Stelle in Kapitel XVII aus De cive gezeigt hat, kann Hobbes’ Souverän mit seinem Monopol auf den Wert des Lebens auch entscheiden, „which of his subjects should be considered fully human“ [54]. Der Leviathan hat das ausdrückliche Recht, den Tod von jemandem anzuordnen, der als untauglich angesehen wird – „a child of an unwonted shape“ [55] lautet die Hobbes’sche Formulierung, auf die Bernini aufmerksam macht.
Falls Arendt einen gewissen Unterschied von vor und nach dem Vertrag einräumt, besteht dieser nicht in der grundlegenden Leidenschaft für Macht, die ein konstantes Merkmal ist, sondern darin, wo diese Macht angesiedelt ist. Den Individuen immer äußerlich, entspringt sie zunächst der ungeregelten Konkurrenz und wird später durch den Leviathan eingenommen. In Gegenwart einer übermäßig einschüchternden Macht fügen sich die machthungrigen Tiere der Fortsetzung der Akkumulation über ihre Köpfe hinweg. Das Individuum, das Arendt letztlich für einen „poor meek little fellow“ hält, wird dann zum „cog in the power-accumulating machine, free to console himself with sublime thoughts about the ultimate destiny of this machine.“ [56] Ungeachtet solcher Träume, fährt Arendt in ihrer Argumentation fort, werde aber die Schwäche für Akkumulation, die das Individuum überhaupt erst an den Apparat band, auch letzteren erodieren.
4 Der machtakkumulierende Staat
Arendt wehrt sich gegen die Idee, dass der Staat die Individuen, indem er sie und ihr Eigentum voreinander schützt, in einen friedlichen Zustand versetzt. Sie wehrt sich auch gegen die Idee, dass dieser Staat selbst jemals friedlich wäre. [57] Es gibt keine Grenze, die ein Leviathan zu respektieren hätte, tatsächlich wird er ein umso vollkommenerer Leviathan, je größer die Einheiten sind, die er usurpieren kann – solange seine Macht ausreicht, sie zu beherrschen. Allerdings identifiziert Arendt genau wie bei dem Individuum, dessen Machthunger von den neuen Eigentumslogiken abhängt, einen Mechanismus, der der Expansion des Leviathans vorausgeht. Zum Krieg treibt nicht nur die äußere Konkurrenz mit anderen Staaten, sondern auch eine innere Notwendigkeit, die sich aus einer auf Erwerb gegründeten Gesellschaftsform ergibt. Das von Arendt entwickelte Kernargument besagt, dass die bloße Besitzakkumulation, als vermeintlich rein ökonomischer Prozess, nicht ohne eine vorausgehende und andauernde Machtakkumulation ablaufen könne. Dieser Punkt wäre evident, wenn Machtakkumulation Intensivierung bedeuten würde. Das schließlich ist an sich der Sinn des Leviathan: eine größere Autorität über jene Individuen zu errichten, die ihre individuellen Kräfte sonst tödlich gegeneinander richten würden. Was Arendt aber meint, ist, dass die Besitzakkumulation, die sie durch die Individuen hindurch wirken sieht, auch ihren Staat steuert. Der Leviathan muss nicht nur errichtet, sondern konstant erweitert werden. Nur wenn er wächst, kann er die angestrebten Erwerbe stabilisieren. Nicht eine stabile Autorität, die Eigentum schützt, sondern eine expansive Macht, die der Akkumulation den Weg ebnet.
Arendt denkt auf zwei verschiedene Weisen über die notwendige Unbegrenztheit politischer Macht, wenn sie kapitalistischen Besitz schützen soll, nach. Eine ist in dem Kapitel ausgeführt, das auf ihre Auseinandersetzung mit Hobbes folgt. Im Hinblick auf den Neuen Imperialismus, in dessen Zuge zwischen 1870 und 1914 beinahe der gesamte afrikanische Kontinent von europäischen Mächten kolonisiert wurde, vertritt Arendt eine Luxemburg’sche Analyse. Die kapitalistische Akkumulation könne nur aufrecht erhalten werden, wenn sie neue Territorien als Investitionsgrundlagen annektiere. Und – das ist Arendts eigener Punkt – nur wenn sie kolonisierte Gebiete erhalten, können die „überflüssigen“ Mitglieder der europäischen Gesellschaften irgendwohin geschickt werden und ungeachtet ihrer ökonomischen Enteignung in der Heimat als „Eigentümer“ posieren. [58] Die Kategorie der ‚Rasse‘ wird eingesetzt, um diejenigen, die akkumulieren, von denjenigen, denen man die Besitzrechte genommen hat, zu unterscheiden, und vermittelt diesen Prozess. Arendt stellt fest, dass Hobbes, während er jede explizite Rassenideologie vermied, den Grundstein zur Verdinglichung der Menschen legte, indem er Individuen von allen gemeinsamen Bindungen oder Kapazitäten befreit darstellte. [59] Nur dadurch, dass er immer mächtiger werde, schließt Arendt, kann der Leviathan den Akkumulationsprozess sichern, den die privaten Interessen seiner Subjekte diktieren.
Arendts zweite Darstellung des katastrophalen Progressivismus ist abstrakter gehalten. Während ihr die Luxemburg’sche Theorie des Imperialismus dazu diente, die räumliche Logik der Akkumulation auszubuchstabieren, bringt Arendt die zeitliche Logik der Akkumulation mithilfe von Walter Benjamin zum Vorschein. Sie zitiert die Stelle über den Angelus novus aus Benjamins Thesen über die Philosophie der Geschichte in der deutschen Ausgabe in voller Länge. [60] Der abschließende Satz schaffte es auch in die englische Fassung: „What we call progress is [the] wind [that] drives [the angel of history] irresistibly into the future to which he turns his back while the pile of ruins before him towers to the skies.“ [61] Zur Zeit von Arendts Schreiben war dieses Bild keineswegs so allgegenwärtig, wie es in der zeitgenössischen kritischen Theorie inzwischen ist. Tatsächlich hatte man es noch nicht einmal in englischer Sprache veröffentlicht, zum Leidwesen von Arendt, die von Benjamin selbst den Auftrag erhalten hatte, das Manuskript an seine Kollegen des sich im Exil befindenden Frankfurter Instituts weiterzugeben. [62]
In ihrer Interpretation setzt Arendt den Wind des Fortschritts mit dem Imperativ der Akkumulation gleich. Aber warum sollte er auf eine umfassende Katastrophe hinauslaufen? Und wie zieht er sich durch den Leviathan? Die individuelle Besitzakkumulation wird, wie eingangs erwähnt, durch die natürliche Lebensdauer der Menschen begrenzt. Um sie als einen unendlichen Prozess begreifen zu können, muss diese Zeitspanne überwunden werden. Genau das ist es, was der Leviathan tut: Er bietet eine unsterbliche Struktur, auf die die ewige Fortführung der Akkumulation projiziert werden kann. Individuelle Besitzakkumulation kann nicht unendlich sein, politische Machtakkumulation aber ist es. Das Individuum mag sterben, doch das Gemeinwesen fährt mit seiner Eroberung fort. Es sind diese Überlegungen, mit denen Arendt ein Argument dafür liefert, warum expansive Akkumulation unweigerlich selbstzerstörerisch und nicht ‚bloß‘ unterdrückerisch sein sollte. Das ist so, weil die ausgesetzte Grenze wiederkehrt, diesmal als Begrenzung des Erdballs. Arendt spielt auf den allzu zeitgenössischen Unternehmer an, der sich ärgert, dass er die Sterne nicht annektieren kann, und stellt unmissverständlich fest, dass die Eroberung mit der externen Begrenzung nicht ende, sondern in innere Vernichtung umschlage:
[T]he power-accumulating machine, without which continual expansion would not have been achieved, needs more material to devour in its never-ending process. If the last victorious Commonwealth cannot proceed to „annex the planets“, it can only proceed to destroy itself in order to begin anew the never-ending process of power generation. [63]
Die Zerstörung kehrt somit als liminale Form des Besitzens zurück. Sie ist sowohl die höchste Form der Akkumulation als auch ihr Ende. Ein Leviathan, der sich aus Individuen mit privaten Interessen zusammensetzt, kann sich Arendt zufolge niemals dauerhaft behaupten. Seiner vertraglichen Grundlage mangele es an echter politischer Substanz. „Besitz und Erwerb“, schreibt sie, „[können] niemals echte politische Prinzipien abgeben“. [64] Arendt erläutert, dass letztere die Aufgabe erfüllen müssten, für Nichtsterblichkeit zu sorgen – jenes Element, das die sterblichen Individuen nicht einbringen können. [65] Die Nichtsterblichkeit des Besitzes in der Akkumulation ist aber hohl, sie heftet sich an die politische Dauer, anstatt sie zu begründen. So bleibt die vermeintlich mächtige Struktur instabil, ständig bedroht von der Auflösung, „ein ewig schwankendes Gebäude“. [66] Mehr noch, wie Arendt – wiederum nur in der deutschen Ausgabe – ausführt, infizieren die in den Leviathan importierten Privatinteressen ihn mit etwas Schlimmerem als Instabilität: Zerstörung.
Dann stellt sich nämlich heraus, dass die privaten Interessen, die sich aus der Nichtsterblichkeit des Gemeinwesens ihre übermenschliche Zeitdauer des Prozesses gestohlen haben, damit in das Gemeinwesen wiederum jenes Element der Zerstörung hineingetragen haben, das ihnen, weil sie an menschlichen und daher sterblichen Besitz gebunden bleiben, unweigerlich anhaftet. [67]
Der Leviathan wurde errichtet, um über die Grenze hinauszugehen, die die individuelle Lebensdauer der Akkumulation setzt. Getragen von der Expansion souveräner Macht sollte die Akkumulation unendlich werden. Als solche stieß sie jedoch letzten Endes an eine neue Grenze, die von Arendt als geographische Endlichkeit der Erde bezeichnet wird. Neben dieser äußeren Begrenztheit können wir nun aber sehen, dass auch die vermeintlich überwundene Grenze der Konsumierbarkeit von Besitzgütern den Leviathan wieder heimsucht. Dies zumindest ist die Struktur des Arguments, das Arendt vorbringt, wenn sie meint, dass der „sterbliche Besitz“ die „Zerstörung“ im Herzen des politischen Gesamtkörpers ansiedele. Die Zukunft der Akkumulation ist so gesehen immer schon ein Trümmerhaufen.
5 Konklusion
Nur der Totalitarismus hat, Arendt zufolge, den Weg der ewigen Machtakkumulation, der durch die bürgerliche Akkumulation von Besitz notwendig geworden ist, offen bejaht. Das Fortschrittsprinzip leite die sozialdarwinistischen Ideen einer sich durch die Weltgeschichte entfaltenden Rassenideologie und ende in der Apotheose von rastlosen faschistischen Massenbewegungen. Arendts Zergliederung des Leviathans liefert eine Vorlage für das räumliche und zeitliche Skript des Totalitarismus. Außerdem dient sie dazu, den selbstzerstörerischen Gang der ewigen Akkumulation zu entlarven. Dieser Fortschritt funktioniert nicht. Arendt zeigt, dass sich die Expansion letzten Endes gegen sich selbst wenden wird und schürt dabei wenig Hoffnung auf eine dialektische Lösung. Der Prozess, der durch die angstgetriebene Selbsterhaltung in Gang gesetzt und an ein politisches Organ, das zur ewigen Erweiterung bestimmt ist, delegiert wurde, mag selbstzerstörerisch sein, aber er ist es erst dann, wenn nichts anderes mehr übrig ist als dieses Selbst. Zu dem Zeitpunkt ist es bereits zu spät, den Rest des Lebens vor der Zerstörung zu bewahren. Arendts Interpretation von Hobbes ist zweifelsohne eine ziemlich eigenwillige Übung im Rückwärtslesen. Sie ist aber auch ein Beispiel dafür, wie man den Keim der Katastrophe dort findet, wo es noch nicht zu spät ist.
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