Literatur
Avé-Lallemant, E. (1975), Die Nachlässe der Münchener Phänomenologen in der Bayerischen Staatsbibliothek, Wiesbaden.10.1007/978-94-010-1349-9Search in Google Scholar
Kracauer, S. (2004 ff.), Werke, hg. v. Mülder-Bach, I., u. Belke, I., Frankfurt am Main.Search in Google Scholar
Scheler, Max (1954 ff.), Gesammelte Werke, hg. v. Scheler, Maria, u. Frings, M., Bern.Search in Google Scholar
Nr. 1
Max Scheler an Siegfried Kracauer
Beuron in Hohenzollern, 1. Dez. 1916
Sehr geehrter Herr Doktor!
Freundlichen Dank für Ihren Brief und Ihren Aufsatz in den Preußischen Jahrbüchern [4], den ich mit großem Interesse, mit Förderung und Beifall las. Es ist ein sehr fruchtbarer Leitgedanke, einmal zeigen zu wollen, welche ganz verschiedenen seelischen Tendenzen und inneren Leeren sich unter dem Dachgefühl der Vaterlandsliebe befriedigen und füllen. Die Beispiele, die Sie geben[,] haben außer ihrem selbstständigen Wert auch die pädagogische Bedeutung, jeden Leser zu einer analogen Untersuchung über sich selbst anzuleiten. Ihren kommenden Aufsatz im Logos [5] werde ich um so mehr lesen, als das Thema der Freundschaft mich seit Jahren beschäftigt hat[,] auch stets Gegenstand meiner eth. Vorlesungen gewesen [ist]. In meinen gedruckten Arbeiten habe ich es nur vorübergehend berührt. So in „Sympathiegefühlen“ [6], „Formalismus u. materiale Wertethik[“] II geg. Schluß [7] u. im Aufsatz „Liebe u. Erkenntnis“ in „Krieg u. Aufbau“ [8].
Auch ich habe an der Hand Ihres Aufsatzes die starke Empfindung, daß wir uns mancherlei zu fragen hätten. Vielleicht führt Sie der Weg einmal in Berlin zu mir, wo ich von Ostern an wieder sein werde. (Zu erfragen Pragerstr. 26 bei Ehrenzweig).
Meine Ausführungen in Frankfurt [9] scheinen nur auf wenig fruchtbaren Boden gefallen zu sein (abges. von einigen anwesenden Bekannten) und es freut mich um so mehr, zu hören, daß wenigstens die Qualität des Angeregten einigermaßen ersetzt, was die Quantität offenbar vermissen ließ. Der Vortrag wird sich übrigens erweitert u. gedruckt (bei K. Wolff) [10] besser ausnehmen. Daß das, was ich über die Judenfrage äußerte, [11] Ziel und Sehnsucht der Besten unter den deutschen Juden ist, hatte auch ich angenommen und es freut mich, daß Sie es mir bestätigen.
Ich verbleibe mit vorzüglicher Hochschätzung
Ihr Max Scheler
z. Z. Beuron in Hohenzollern, Haus Waldeck
Bis Ostern: Wiessee a. Tegernsee
Oberbayern
Nr. 2
Max Scheler an Siegfried Kracauer
Wiessee a. Tegernsee, 18. Dez. 1916.
Sehr geehrter Herr Doktor!
Heute im größten Weihnachtsarbeitsgedränge nur soviel, daß ich mich sehr freuen würde, Ihr Manuskript über die Freundschaft [12] vorher lesen zu dürfen. Vielleicht kann ich Ihnen noch diesen u. jenen Rat geben, viell. später Ihnen wegen Verlag Ihrer Arbeiten helfen.
Auch von einigen Daten Ihrer Lebensumstände würde ich gerne hören. Über Erkenntnismögl. seel. Lebens dachte [ich] auch viel nach. (S. Idole der Selbsterkenntnis in m. Abh. u. Auf., II. Teil) [13]. Auch dafür würde ich mich interessiren. Nur ein wenig Zeit zur Antwort müßten Sie mir bei meiner starken Arbeitslast lassen.
Daß mein Frankf. Vortrag doch stärkere Kreise gezogen, erfuhr ich jetzt von mehreren Seiten. Ich hatte es nicht erwartet.
Für heute nur dies Wenige.
Ihr ergebener Max Scheler
Nr. 3
Max Scheler an Siegfried Kracauer
Wiessee a. Tegernsee, 12.II.17
Sehr geehrter Herr Doktor!
Unvorhergesehene Besuche und kleine Reisen lassen mich erst heute auf Ihre liebenswürdigen Sendungen und auf Ihren Briefen vom 28.I. antworten. Ich habe Ihre beiden Arbeiten [14] eingehend und mit größtem Interesse gelesen und ich möchte Ihnen bes. zu Ihrer Arbeit über die Freundschaft herzlichst gratuliren. Ich las seit langem Nichts, was mich so an sich zog und ich mußte mich immer wieder wundern, daß Sie mir so lange unbekannt bleiben konnten – da ich doch sonst einigermaßen weiß, was in Deutschland in diesen Dingen vorgeht. Ihre Arbeit ist ein wundervolles Stück aus der Lehre, die ich die Wesensphänomenologie aller möglichen sozialen Verknüpfungen nenne und die ich bisher in gedruckter Form nur für die großen öffentlichen Einheiten bearbeitet habe. Ihre Analyse der verwandten Verbindungen (Bekanntschaft, Fachgenossenschaft, Kameradschaft etc.) und die Art ihrer Abgrenzung von der Freundschaft, sowie deren innere Wesensdifferenzierung finde ich ganz ausgezeichnet und die schöne, geistige Humanität, die über dem Ganzen liegt[,] erwärmt ungemein die Helle und das starke Erlebnisfundament Ihrer Ideen. Da ich demnächst Frankfurt berühren werde und Sie bei dieser Gelegenheit zu sehen hoffe, so möchte ich in dieser schwerfälligen Form des Schreibens nicht auf das Einzelne eingehen, wo ich entweder Bedenken habe als wo mir noch eine Vervollkommnung möglich erscheint. Ich habe mir Einiges angemerkt und es wird sich dies mündlich besser erörtern lassen. So sehr gut ich Ihre methodische Haltung im Ganzen finde, so verschwimmt mir zuweilen zu sehr dasjenige, was dem streng Wesensmäßigen angehört mit dem, was zufälliger Erfahrung angehört – eine Tatsache, die auch dem sonst klassisch philosophischen Stil der Abhandlung zuweilen etwas wie eine litterarische Füllung gibt, die Viele anziehen mag, die ich aber nach meinem Geschmacke lieber vermieden sehen möchte. Daß [es] eine „Mathematik des Herzens“ [15] gibt, d. h. daß Probleme, die bisher nur dem Appercu oder der Litteratur überlassen waren, strenge eindeutige Lösungen finden können, die sich über den Zufall der historisch-psychologischen Erfahrungen erheben (in die Sphäre des ewig Ideellen) das werden wir diesem verworrenen Zeitalter (verworrener als alle Categorien des Lebens) nur klar machen, wenn wir peinlich Sorge tragen, das Wesensmäßige mit seiner Erfüllung durch die Geschichte zu scheiden.
Ist der Druck im Logos schon festgelegt? [16] Wenn nicht, so könnte ich Ihnen zur Veröffentlichung auch eine Zeitschrift empfehlen, aus der ich – obzwar ich selbst mitwirke im 1. u. 2. Heft – freilich noch nicht genau weiß, was aus ihr werden wird. Sie heißt Summa u. Herr Blei (freilich so, daß Sie hierdurch nicht auf ihren Inhalt schließen dürfen!) gibt sie bei Hegner (Dresden) heraus. Jedenfalls laß ich Ihnen das erste eben erscheinende Heft (besser Band) zugehen – schon da sich auch von mir eine Abh. über die Reue darin befindet. [17] Die Zeitschrift soll wesentl. Moral u. Religionsphilos. gewidmet sein – streng, aber nicht fachlich. Sie ist finanziell sehr gut fundirt und gibt auch gute Honorare. (Wenn Sie wünschen, daß ich Blei schreibe oder die Arbeit mitsende, tue ich es). Sollten Sie einmal eine Mehrheit solcher verwandter Abhandlungen besitzen, so will ich mich gerne bemühen, daß sie Kurt Wolff oder sonst Jemand druckt. (Dr. Franz Blei, Wien 17, Auerspergstr. 13)
Ihrer zweiten Arbeit [18] kann ich nicht ganz die Zustimmung zollen, die ich der Freundschaft aus vollem Herzen erteile. Die genauen Gründe in Frankfurt. Da ich über dieses Thema sehr bestimmte Ansichten besitze (auch viel darüber las) ist mir das, was Sie sagen[,] oft zu vag, oft auch zu synkretistisch hins. Rickert u. Bergson. Den Rickertschen Ideen, die Sie stark voraussetzen, kann ich lange nicht die Bedeutung zuschreiben, die Sie ihnen erteilen. Trotzdem enthält die Arbeit genug Eigenes und selbständig Gesehenes, um den Druck zu rechtfertigen. Hier dürfte sich nur der Logos eignen. –
Sehr erfreut hatte mich, was Sie mir über mein Parergon „Krieg und Aufbau“ [19] schrieben (erst durch Formalismus I u. II, II jetzt bei Niemeyer erschienen, [20] erhielte es die volle Basis) und es wäre mir gewiß recht, wenn Sie das Buch besprechen oder einen kl. Aufsatz darüber schreiben wollten. [21] Die Frankft. Zg. hat – soweit ich weiß – Dr. Kuno Mittenzwey damit betraut [22] – leider; es wäre mir eine Besprechung durch Sie lieber gewesen. Was nun andere Orte betrifft, so kämen in Betracht: 1.) Das neue Deutschland [23] hg. von Dr. Adolf Grabowsky, Berlin W. 62, Wichmannstr. 18; ich lege eine Empfehlung an Dr. Gr. bei. (Ich nehme nat. nicht an, daß Sie sich politisch mit Grab. identifiziren; das ist auch nicht nötig.) 2.) Die Europ. Staats- u. Wirthschaftszeitung [24], hg. von Prof. Jaffé, München, Leonrodstr. 18; da ich Jaffé gut kenne, brauchen Sie sich nur auf mich zu berufen. 3.) Auch die Neue Rundschau [25] (d. h. Prof. Sänger) käme in frage; auch hier hilft wohl eine Berufung auf mich.
Von Zeitungen käme der Hamburger Correspondent [26] (Redakteur Müller-Rastatt) in Betracht, wenn Sie sich auf mich berufen. (Mit der liberalen Presse stehe ich – abges. von der Frankf. Zg. – nicht eben gut.)
Ich freue mich sehr, Sie womöglich in Frankfurt zu sehen und teile Ihnen den Tag meiner Ankunft noch mit.
Hochachtungsvollst grüßt Ihr ergebener
Dr. Max Scheler
Nr. 4
Max Scheler an Siegfried Kracauer
5. März [1917]
Sehr geehrter Herr Doktor!
Schönsten Dank für Ihre freundlichen Briefe und die Abschrift Ihres Aufsatzes. [27]
Heute nur in Eile, daß ich am 8. März von ½ 7 Uhr abend an in Frankf. a. M., Baslerhof sein werde.
Ich würde mich freuen, Sie zu sehen. Vielleicht hinterlassen Sie im Basler Hof, wann Sie am 8. od. 9. März Zeit haben.
Ergebenst grüßt Ihr ergebener
Max Scheler
Nr. 5
Max Scheler an Siegfried Kracauer
Berlin, Holsteinischestr. 14/II [24.5.1917]
Sehr geehrter Herr Kracauer!
Schönsten Dank für die freundliche Übersendung Ihrer Besprechung [28] und für die beiden Briefe. Ihr Manuskript [29] erhielt ich richtig und hörte mit Freuden von Ihren neuen philosophischen Plänen. Ich habe schwere Gewissensbisse, Ihnen noch nicht auf Ihre freundlichen Briefe und über das Manuskript geschrieben zu haben. Aber Berlin und eine Reihe Arbeiten, die ich nicht verschieben darf, dazu meine Kräfte fast übersteigende menschliche Anforderungen ließen mich – beim besten Willen – noch nicht dazu kommen, Ihr Manuskript in Ruhe zu lesen. Nur Blicke tat ich bisher herein, die immer Verwandtes berührten. Aber ich will nun in den Pfingsttagen in Ruhe daran gehen und Ihnen dann eingehend schreiben. Der Formalismus [30] wird Ihnen gewiß manche Ihnen bisher fremde Seiten meiner Denkart aufgewiesen haben und – wie ich dem Ausdruck „reagiren“ entnehme – Ihnen auch manche Schwierigkeit bereitet haben. Aber ich scheide eben gerne die freiere weltmännische Art des Schreibens von der rein philos. systematischen, die wieder eines gewissen geistigen „Militarismus“ bedarf.
Einstweilen grüßt Sie herzlich
Ihr Max Scheler
* Haben Sie die „Summa“ schon gesehen? Sie ist erschienen.
Nr. 6
Max Scheler an Siegfried Kracauer
23. Juli 1917, Berlin, Holsteinischestr. 14/II
Sehr geehrter Herr Doktor!
Ich lag (einst Weilen hier) krank an der Ruhr, dazu inmitten dringendster Geschäfte, und so kann ich erst heute Ihren freundlichen Zeilen antworten. Ja, der liebe Herr Hensel! Hätte die Sache (wie das Verhalten der Frankf. Zg. d. h. des Herren Drill überhaupt) nicht die ausgesprochene Absicht, meine eventuelle Berufung nach Heidelberg (für Lask) zu hintertreiben, so würde ich nur darüber lachen. Denn er läßt mich ja das ausgesprochene Gegenteil (s. Krieg u. Aufbau z. B. S. 272 etc.) von dem sagen, was ich sagte. „Jede Spur des Charakters eines Religionskriegs fehlt diesem Krieg.“ etc. Doch da ist jedes Wort überflüssig! [31] Lesen Sie eben die gleichzeitig erschienenen Ausführungen von Dr. Buchheim in den Grenzboten (Juniheft) „Innere Kräfte“ [32]. Dazu habe ich von erster protestantisch-theologischer Seite gerade ca. 30 Recensionen – die alle davon Nichts gemerkt haben. Kennen Sie Hensel? Ich kenne ihn gut. Er ist mehr zu bedauern als zu bekämpfen. Er hatte viel Unglück in seinem Leben – und seine groteske Witzeleisucht ist mit diesem Unglück gewachsen. Jetzt bin ich (zufällig) ihre Materia! Dazu ist der Arme halbblind – und lebt ganz in seinen Träumen. Freilich giftig und böse ist er auch geworden. Ich weiß nicht – ich hab nur (wirkliches) Mitleiden mit dieser Art Menschen. Denn „bös“sein – das tut so weh. –
Vielleicht antworte ich noch im N. Deutschland. [33] Je nachdem es A. Weber zweckmäßig findet. Übrigens hat er sich selbst bei allen Besseren mehr geschadet wie mir. Meine Freunde sind viel aufgebrachter als ich selbst. Im Hintergrund steht der Neukantianerhaß auf mich. Lesen Sie Drills Aufsätze? –
Auf Ihre Arbeit über die Überbewußtheit der Zeit [34] etc. bin ich gespannt. Warum senden Sie Jonas Cohn die andere Arbeit [35] nicht? – Ich reise 1. August zurück nach München (Seestr. 5) – 20. August u. gehe dann im Auftrag des Ausw. Amts in die Schweiz, um dort Vorträge zu halten u. mit Franzosen gewisse kulturelle Fragen zu besprechen. Adresse dann: Bern, Deutsche Gesandtschaft. November (anfangs) halte ich in Wien (an d. Urania) Vorträge; dann in Köln; da hoffe ich Sie in Frankfurt zu sehen, wenn Sie noch dort sind. In München kann ich nun in Ruhe Ihre Arbeit [36] lesen und schreibe Ihnen dann.
Der „Deutschenhass“ [37] ist jetzt heraus. Wenn ich nach Leipzig komme, sende ich Ihnen ein Exemplar.
Sie werden also jetzt bald eingezogen? Schreiben Sie mir doch bald, wohin Sie kommen, wenn Sie es wissen. Wenn Sie noch über den Eindruck des Henselschen Artikels in Frankfurt etwas hörten, würde es mich interessiren. –
Mit Herr[n] Blei bin ich jetzt – glücklicherweise, wie ich sagen muß – ganz auseinander. Privatbriefe unvollständig zu zitieren, mir Motive unterlegen, die mir ganz fremd sind. – und jetzt mir noch (nachher) drei Liebesbriefe schreiben – das geht dann doch über das Erlaubte. [38]
Er ist nicht böse; nur schwach und jede seiner Regungen ist ohne Konsequenz. Aber der Mensch – so Nietzsche – ist „ein Tier, das versprechen darf“.
Ihnen immer das Herzlichste
Ihr ergebener Max Scheler
Nr. 7
Max Scheler an Siegfried Kracauer
München, Seestr. 5, 4.I.18
Sehr lieber Herr Doktor!
Schönsten Dank für Ihren freundlichen Brief vom 23. Dez. und einen anderen, den ich in der Schweiz s. Z. erhielt, aber der Censur wegen und tausendfacher Abhaltung nicht beantworten konnte. Bin erst seit wenigen Tagen aus Wien zurück, wo ich einen Monat zubrachte – nach 3 monatlichem Aufenthalt in der Schweiz. Ich fahre eben nach Berlin (Adr: Deutsche Gesellschaft 1914, Wilhelmstr.). Daß Ihre Soldatenzeit für Sie ein Ende gefunden, freut mich sehr für Sie. Es ist bei Ihrer zarten Constitution doch besser so und gewiß werden Sie auf anderem Boden Besseres wirken können.
Ihr neues philos. Opus [39] interessirt mich natürlich ganz besonders. Ich werde im Februar die nötige Zeit herausbringen, es zu lesen und Ihnen über meinen Eindruck zu berichten. Also senden Sie es mir doch bis dahin an obige Adresse. Im Januar habe ich Vorträge in Köln, Düsseldorf, Aachen, Münster, Berlin, dazu viel für mich zu arbeiten – bin also übermäßig besetzt.
Über Rathenau habe ich im Hochland vor einigen Monaten eingehend mich ausgelassen. Aufs.: „Von Kommenden Dingen“. [40] Vielleicht lesen Sie das mal, ehe Sie selbst darüber schreiben. Ich lehnte im wesentlichen seinen positiven Bauplan ab – mit eingehender Begründung. Schreiben Sie doch was darüber: Ihr Urtheil intissirt mich sehr. Die gen. Denker sind sehr lehrreich – nur ist das Ganze zu positivistisch (Mill!) und zu sehr im Spiegel geschrieben.
Ihr Manuskript über Persönlichkeit [41] las ich s. Zeit mit viel Förderung und will es in Berlin (wo es liegt) aufs neue vornehmen. Auch Ihre Verse haben mich bewegt und erfreut.
Ich wünsche Ihnen von Herzen zu diesem Neuen Jahre baldige geruhige Muße für Ihre vielen schönen Pläne. Vielleicht läßt Ihnen der Dienst in Osnabrück doch zu Vielem Zeit. Also nach d. Krieg in München? Das wäre schön für Sie und da ich fast immer 4 Monate dort oder in Tegernsee verbringe[,] hätte ich zugleich den Vorzug, Sie oft zu sehen.
Ich lebe seit 3 Jahren fast ganz auf dem Schnellzug, was der Continuität meiner größeren Arbeiten sehr nachteilig ist. Zwar habe ich in der Schweiz und noch mehr in Wien (wo ich an der Urania mehrfach sprach, ich will es im Frühling wieder), gar sehr vieles Neues gelernt; Wien gefiel mir so sehr, daß ich wahrscheinlich nach d. Kriege ganz hinziehen will. Der Boden für mich ist dort sehr günstig. Aber – ich bin müde jetzt und sehne mich nach Ruhe.
Lasen Sie Meinecke (Januarh. d. Rundschau) über den Deutschenhass [42], u. Jonas Cohn über die Ethik in Logos [43]? Sehr thöricht Leop. v. Wiese in Schmollers Jahrb. [44] besser gefällt mir die Schrift von Kerler „Max Scheler“ [45] – Ulm – wenn er auch als rein moralistischer Typ mir fern ist.
Ich arbeite am „Tod“ u. bes. an meiner Erkenntnistheorie [46], die Juli in Druck soll. Zuerst kommen jetzt 3 Bändchen über „Religiöse Erneuerung“, – eine Art Vorbote meiner großen Arbeit über Gottesidee. [47] „Reue“ [48] u. „Christliche Gemeinschaftsidee“ [49] im 1. Bd. kennen Sie wohl schon? Das erste „Religiöse Erneuerung“ [50] wird Ihnen neu sein. In Summa II steht ein Aufsatz „Wesen der Philosophie“ [51] und eine sehr schöne Arbeit von Frau Konrad über Geist u. Seele [52].
Kommen Sie mal nach Berlin? Wenn ja, so bitte ich, daß Sie es mir anzeigen.
Seien Sie herzlich begrüßt für heute
Ihr Max Scheler
Nr. 8
Siegfried Kracauer an Max Scheler
Frankfurt aM., Eppsteinstr. 40°, 09.I.18
Sehr geehrter Herr Doktor!
Für Ihre freundlichen Zeilen sage ich Ihnen vielen Dank. Der Grund, warum ich Ihnen sogleich antworte, ist dieser: Sie schreiben, daß Sie im Laufe des Januar auch einen Vortrag in Münster halten werden. Könnte ich Sie nicht vielleicht dort sehen? Ich gedenke, am 19. oder 20. nach Osnabrück zu fahren, das nur in 50 Minuten Schnellzugsentfernung von Münster liegt. Am Ende kommen Sie zu der gleichen Zeit nach M. und ich würde es dann so einrichten, daß ich dort meine Fahrt unterbreche oder extra hinfahre um Sie zu hören und zu sprechen. Sollte das nach Ihrer Ansicht möglich sein, so darf ich vielleicht noch auf eine Mitteilung von Ihnen hoffen, aus der ich den Tag Ihres Aufenthalts in M. entnehmen kann.
Heute las ich Ihre im Hochland erschienene Auseinandersetzung mit Rathenaus Buch: Von kommenden Dingen. [53] In den meisten Punkten konnte ich Ihrer Kritik durchaus zustimmen, z. B. darin, daß die unbedingte Oberherrschaft des Staates ein furchtbares Verhängnis für jede wahrhafte Kultur bedeutet, daß man nie weiß, ob das entworfene Zukunftsbild einen Notstaat oder einen Idealstaat darstellt usw. In jenem z. B. wäre die Beschneidung des Luxus berechtigt, in diesem meiner Ansicht nach nicht. Im Ganzen vermag ich aber dem Werk nicht so anerkennend gegenüber zu stehen, wie Sie es offenbar doch tun. Wenngleich ich wohl glaube, daß es in seiner Art zu den bedeutendsten Büchern gehört, die uns der Krieg gebracht hat. Es herrscht eben in Deutschland ein auffälliger Mangel an synthetischen Köpfen, an Menschen, die, ohne daß sie Polyhistoren, Vielwisser, zu sein brauchten, doch alles, was sie wahrnehmen und erfahren, innerlich miteinander verknüpfen und in große Zusammenhänge bringen, bei denen aber alles von ihrer ganzen Seele ausstrahlt. In Anbetracht solchen empfindsamen Mangels verdient ja in der Tat Rathenau als synthetischer Geist gewürdigt zu werden. Wollte ich noch über sein Buch schreiben, so würde ich vor allem die Dürftigkeit seines philosophischen Untergerüstes, seiner ganzen Metaphysik enthüllen (Sie haben sich offenbar mit Absicht jeder Kritik des Philosophen Rathenau enthalten), eine Dürftigkeit, die unter einem oft peinlich berührenden Wortgepränge verborgen wird. Wer wirklich tief fühlt und etwas will, der schreibt nicht so gespreizt und gekünstelt verworren, ich vermisse die wahre Ehrlichkeit, den Willen zur Tiefe. Mir erscheint Rathenau als großzügiger Praktiker von ästhetischer Grundstimmung mit Anlagen zur Mystik; das alles macht noch nicht den Denker, der er doch sein will. Niemals sagt er, wie die Seele gestaltet sein soll, der das Materielle zu dienen hat; ihm fehlen eben die eingeborenen Wertmaßstäbe, den Staat deutet er sich als immerzu nach Macht strebend, im Einzelnen soll aber der Machttrieb ausgerottet werden, hier gähnt ein ungelöster Widerspruch. Auf Schritt und Tritt begegnet man übrigens psychologischen Unmöglichkeiten. Auch sein Optimismus ist viel zu wirklichkeitsfremd, um beglückend zu sein. Der alte Bellamy [54] hat – nebenbei bemerkt – manches schon treffender gesagt als R.
Ich hoffe bald wieder zu eigener Arbeit schreiten zu können. Zunächst will ich mich an das Studium Ihrer „Ethik“ [55] machen. Mein Manuskript [56] sende ich Ihnen, Ihrem Wunsche gemäß, Anfang Februar zu.
In hochachtungsvoller Ergebenheit
verbleibe ich
Siegfried Kracauer
Nr. 9
Max Scheler an Siegfried Kracauer
Beuron i. Hohenzollern, Haus Waldeck! [04.04.1918]
Verehrter Herr Doktor!
Erst gestern erhielt ich ihre liebenswürdigen Zeilen hierher nachgesandt, wo ich mit meiner Frau die Ostertage verbrachte! Ich habe mich sehr gefreut, von Ihnen zu hören (nach Münster ging ich s. Z. nicht u. schrieb das a. nicht); ich hätte Ihnen gern eingehend geantwortet, muß es aber verschieben. Denn ich fahre heute abend auf ca. 14 Tage in die Schweiz, um dort im Auftrag des pr. Kultusm. bei internirten philos. Akademikern Vorträge zu halten. Meine Frau bleibt hier u. ich komme wieder hierher zurück. So bitte ich Sie, mir baldigst Ihr Manuskript „Das Leiden[“] [57] etc hierher (Adr. s. oben) einzusenden. Ich lese sie gleich nach Rückkehr. Ihre litt. Pläne intrissiren mich sehr. Gerne will ich Ihnen auch nach Rückkunft u. Lektüre zu weitrer Vorlage behilflich sein.
K. Wolff gibt jetzt eine neue Reihe „Vom neuen Geist“ heraus (auch m. Bücher dort, desgl. Simmel, Nelson, Plenge u. s. w.) [58] da paßte es doch wohl gut hinein. Ich spreche gern mit Wolff, den ich sowieso bald aufsuchen muß. Ich bleibe bis 15. Sept. von Berlin weg; später in München.
Hoffentlich seh ich Sie bald irgendwo.
Herzlich grüßt Ihr
Max Scheler
Nr. 10
Märit Furtwängler-Scheler an Siegfried Kracauer
Beuron i. Hohenzollern, Haus Waldeck! [17.04.1918]
Sehr geehrter Herr Dr!
Damit Sie sich bei den jetzigen Postverhältnissen nicht um das Schicksal Ihres Manuskriptes [59] beunruhigen, das Sie meinem Mann geschickt haben, möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich es erhalten habe u. für ihn verwahre bis er in ca 14 Tagen aus der Schweiz hierher zurückkommt. Er ist seit 2 Wochen dort um in mehreren Städten Vorträge bei den Internierten zu halten.
Unbekannterweise grüßt Sie
Frau Märit Scheler
Nr. 11
Siegfried Kracauer an Max Scheler, Fragment
[undatiert, ca. April bis Juni 1918]
[…]
Was Sie mit dem Satze am Schluß: „Schon beseelt unsere jüngste Literatur… Hingabe an das Seiende, Reale selbst…“ [60] meinen, verstehe ich wohl. Es soll in diesem Zusammenhang etwa heißen: die Jüngsten erblicken nicht mehr eine durch den Intellekt vorgeformte Welt, sondern wagen es, als volle Persönlichkeiten zu erleben. So sehr ich dies auch anerkenne, finde ich in der Gegenwartsliteratur nicht minder eine Angst vor der Hingabe an das Reale, die lehrreiche Aufschlüsse über den Ursprung des Expressionismus gibt. Wenn nur die jungen Künstler ahnten, wie sehr sie noch von jenem selben Intellekt beherrscht und geleitet werden, den sie abgeschüttelt zu haben wähnen!
Was Ihre Ethik anbetrifft, so habe ich zu verschiedenen Punkten noch eine Reihe von Fragen, die im Laufe der Zeit (man muß solche grundlegende Werke erst richtig „lieben“, ehe man sie einigermaßen durchmessen kann) in mir aufgetaucht sind und deren Lösung mich beschäftigt. Z. B. die fundamentale Frage, ob man geistige Wesenheiten nun wirklich allgemeingültig erkennen kann, oder ob es sich bei ihrer Erschauung und beschreibenden Festlegung doch stets höchstens um eine Deutung handelt, die verschieden ausfallen muß je nach der Wesensstruktur der schauenden Persönlichkeit? Dann frage ich mich z. B., ob zentrale Unseligkeit und daraus ersprießendes Bedürfnis nach Surrogaten tatsächlich Hauptfundament des Hedonismus bildet. Ist das nun Deutung oder objektiver Wesenszusammenhang? Ich bin mir darüber noch ganz im Unklaren. Die Auswahl und Abstufung der Wertpersontypen macht mir auch Schwierigkeiten. Welche Gründe mögen Sie wohl dazu bewogen haben, dem „harmonischen“ Menschen keine Stelle unter diesen Typen zu gönnen? [61] Doch der Brief ist schon zu lang, als daß ich auf die mich peinigenden Probleme näher eingehen könnte; auch wird man ihnen höchstens in mündlicher Besprechung mit Erfolg zu Leibe rücken.
Wie sehr freue ich mich, daß Sie trotz Ihrer beanspruchten Zeit in meinen Arbeiten lesen. Hoffentlich bereitet Ihnen die Lektüre im Ganzen keine Enttäuschung. Ich blicke schon auf manches zurück und in den nächsten Kreis meiner Entwicklung hinein, aber mag man auch noch so viel schreiben, immer wird doch das Bedeutende, was man etwa zu sagen hat, mit Unreifem und bloß Angedachtem verquickt sein. Sollten Sie, wie Sie es letzthin als möglich andeuteten, mit einem Verlag über die Arbeiten zu sprechen in der Lage sein, so würde wohl niemand glücklicher sein als ich. Indessen: nur das Würdigste möchte ich herausgeben, wenn auch die Unbekanntheit an mir nagt.
Zur Zeit bin ich geistig etwas ausgepumt (Versagen der Nerven). Ich denke viel, ohne eine bestimmte Arbeit vorzuhaben, ein für mich ganz unleidlicher Zustand, in dem mich Ungeduld martert. Vergeblich taste ich nach Klarheit über die Strukturzusammenhänge des geistigen Wesens eines Menschen. Jahre vergehen vielleicht, ehe ich hier auf festen Grund stoße. In greifbarerer Nähe liegen für mich Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen dem ästhetischen Zustand und dem Zustand, der wahrhafte Sittlichkeit fundiert. Jüngst las ich wieder Schillers Briefe über ästhetische Erziehung und fand neben vielem Wahren auch falsche Grundanschauungen. Vor allem eine gewaltige Überschätzung der Kunst und ein gänzliches Außerachtlassen des Zustandes religiöser Frömmigkeit. Auf diesem Gebiet wäre noch viel neues zu sagen. Übrigens verehre ich tief Schillers philosophischen Geist: er war von Grund auf Phänomenologe. Meine Abhandlung über den Expressionismus [62] hat mich zum Nachdenken über ästhetische Dinge sehr angeregt. Eine Frage: Haben Sie über das „Schamgefühl“ [63] geschrieben? Der Gegenstand reizt mich ungemein. Kennen Sie von Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist [64]? Es hat mich erleuchtet.
Verzeihen Sie bitte gütigst die Länge des Briefs. Juli komme ich vielleicht nach München.
In hochachtungsvoller Ergebenheit
Ihr Sie verehrender
S. Kracauer
Nr. 12
Märit Furtwängler-Scheler an Siegfried Kracauer
München 23 Seestr. 5/6 5.9.18
Sehr geehrter Herr Dr!
Im Begriff meinem Mann nach Holland zu folgen finde ich bei der Durchsicht seiner Papiere etc. diese Manuskripte [65] von Ihnen. Da wir voraussichtlich längere Zeit, zunächst denken wir an ein halbes Jahr, in Holland bleiben werden, sende ich Ihnen die Manuskripte zurück weil wir sonst so lange nicht daran können.
Mein Mann ist seit 3 Tagen im Haag per Adr. Prof. Brinckmann Deutsche Gesandtschaft. Ende November kommt er zu Vorträgen in Köln, München, etc. auf 2–3 Wochen nach Deutschland.
Mit bestem Gruss
Frau Märit Scheler
Nr. 13
Max Scheler an Siegfried Kracauer
Köln Klettenberg, Asbergpl. 2a, 1. Juli 1921
Lieber Dr. Krackauer! [66]
Ich freute mich sehr, durch Ihre Karte und durch die Lektüre Ihrer Arbeit über Simmel (logos) [67] und ihres letzten Aufsatzes in der Frankfurter Zeitung [68] wieder etwas von Ihnen zu hören. Kommen Sie nie hierher? Und wo werden Sie im Sommer sein? Ihre mir ausgedrückte Bereitschaft über mein Buch „Vom Ewigen im Menschen“ eventuell in der Frkft. Ztg. etwas zu schreiben, [69] hat mich sehr gefreut. Und die Ausführung dieser Idee würde ich auch dann lebhaft begrüssen, wenn Sie mit weitgehender Kritik verbunden wäre. Ausserdem möchte ich Ihnen heute sagen, dass Ihnen demnächst ein Buch eines jungen Freundes von mir, des Privatdozenten der Philosophie an der hiesigen Universität Dr. Willy Haas [70] zugehen wird. Es stellt einen Versuch dar, gegenüber der herrschenden Bewusstseinspsychologie eine neue Realpsychologie zu begründen (ähnlich wie ich in meinem Idolen der Selbsterkenntnis [71] und M. Geiger im letzten Jahrbuch [72]). Wenn Sie auch für dieses Buch in der Frkft. Ztg. gelegentlich ein Wort sagen wollten wäre ich Ihnen und der Autor sehr dankbar. [73]
Mit freundlichen Grüssen
Ihr Max Scheler
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