Zusammenfassung
Die Geschichtswissenschaft sollte beginnen, so das Plädoyer des Aufsatzes, den Diskurs über die Globalisierung als ein historisches Produkt zu begreifen und zu erforschen. Seine Geschichte reicht bis in die frühen neunziger Jahre zurück, als sich der Begriff und die mit ihm verbundenen Denkfiguren in der Wissenschaft, den Medien und der Politik rasant auszubreiten begannen. Am Beispiel der weit verzweigten Debatte, die sich in der Bundesrepublik in den beiden Jahrzehnten um die Jahrhundertwende entspann, zeigt der Aufsatz, dass sich die Rede von der Globalisierung durchsetzte, weil sie eine mehrschichtige Attraktivität entfaltete: Sie knüpfte an lebensweltliche Erfahrungen an, die sie mit zentralen politökonomischen Entwicklungen in Verbindung setzte. Darüber hinaus ermöglichte sie die Rückkehr eines Denkens in weit ausgreifenden Prozessen und damit auch eine Rückkehr der Geschichtlichkeit. Schließlich stellte sie eine in hohem Maße sinnstiftende Synthesekategorie zur Verfügung, die als Schlüssel der Welterklärung erschien. In der Politik wiederum wurde der Globalisierungsgedanke in verschiedenen Feldern auch handlungsleitend. Vor allem diente er parteiübergreifend als eine Art Evidenzverstärker für das Argument, es bestehe dringender wirtschaftlicher und sozialstaatlicher Reformbedarf. Verortet man den Globalisierungsbegriff auf diese Weise als eine zentrale Deutungsfigur der 1990er und 2000er Jahre, so erscheint es fraglich, ob er sich als ein Terminus der geschichtswissenschaftlichen Analyse oder gar als ein Epochenbegriff eignet, als den ihn eine Reihe von Pionierstudien zur jüngsten Zeitgeschichte Deutschlands und Europas zuletzt verwendet hat. Dagegen spricht, dass sich zeitgenössische Denkmuster, wie etwa die Vorstellung eines allumfassenden Metaprozesses, in die retrospektive Beschreibung hinein verlängern.
Abstract
This essay argues that historians should begin to explore „globalization“ as a historical discourse that tells us much about how intellectuals, politicians, and journalists made sense of the world of the 1990s and 2000s – and how they attempted to shape it. As the German case reveals, the idea of globalization gained an almost irresistible plausibility since it connected (some) people’s everyday experience with large-scale economic or political dynamics, provided a holistic category for understanding the world’s inner workings and augured what may be called a return of history. In the political realm, globalization rhetoric proved arguably even more influential, strongly supporting the belief that the German economy and welfare state were in urgent need of reform. If historians today interpret globalization as the dominant trend of the 1990s and 2000s or even speak of the recent past as the age of globalization, they run the risk of reproducing many of the views that contemporaries developed at the time. Historicizing globalization discourse, then, also cautions against using the term as an analytical concept.
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