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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter Oldenbourg June 1, 2021

Nachrichten für die Nachwelt. Turmkugelarchive in der Erinnerungskultur des deutschsprachigen Europa

Messages for Posterity: Tower ball archives in the memory culture of German-speaking Europe
  • Beat Kümin EMAIL logo
From the journal Historische Zeitschrift

Zusammenfassung

Dieser Aufsatz untersucht den weitverbreiteten Brauch, Chroniken und Objekte in die Turmkugeln (bzw. -knäufe/-knöpfe) bedeutender sakraler und profaner Gebäude wie Pfarrkirchen, Kapellen, Ratshäuser und Schlösser zu legen. Hoch über städtischen und ländlichen Siedlungen, in einer liminalen Position zwischen Himmel und Erde, lagern diese Archive als latente Ressourcen der lokalen Gedächtniskultur. Neu entdeckt und ergänzt in einem Rhythmus „absichtlicher Zufälligkeit“, typischerweise im Abstand von ein bis zwei Generationen (oft unter großer örtlicher Anteilnahme), bieten sie faszinierende Einblicke in die Selbstdarstellung vergangener Gesellschaften und die von ihren Vertretern zur Übermittlung an die Nachwelt ausgewählten Informationen. Gestützt auf eine Datenbank von bis ins Mittelalter zurückreichenden Einlagen aus (bisher) fast 900 Standorten, untersucht diese erste überregional angelegte Studie die zeitliche Verteilung, das Profil der Schreibenden, Aspekte der Medien- und Materialkultur, die prominentesten Kommunikationsthemen – insbesondere Gebäude, Gesellschaft, Geschichte und Gottesanrufung – sowie epochenübergreifende (Dis-)kontinuitäten. Mit Bezug auf Fallstudien aus Deutschland und der Schweiz sowie Erkenntnisse aus der Gedächtnisforschung, kreisen weitere Überlegungen um Fragen der Begrifflichkeit, methodische Herausforderungen und Funktionen, dies auch in Abgrenzung zu vergleichbaren Traditionsmedien wie Denkmälern oder Grundsteinen. Mit Blick auf ihre distinktive Prägung lokaler Erinnerungskulturen durch Prozesse der Selektion, Repräsentation und Taktierung wird abschließend vorgeschlagen, Turmkugelarchive als „Generationenorte“ zu konzeptualisieren, die eine zeitliche Ausdehnung des kommunikativen Gedächtnisses ermöglichen. Auch wenn das architektonische Stilelement in weiten Teilen Europas Verwendung findet, scheint das Phänomen serieller Einlagen aus noch nicht restlos geklärten Gründen auf (katholische wie protestantische) Gebiete des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation beschränkt.

Abstract

This article surveys the custom of placing chronicles and objects in the tower balls of prominent sacred and profane buildings like parish churches, chapels, town halls and castles. Overlooking urban and rural communities on top of spires and turrets in the liminal sphere between earth and heaven, such lofty archives serve as latent repositories of local memory. Re-discovered and supplemented on the occasion of major repairs, at „intentionally unpredictable“ intervals of typically 1–2 generations (often sparking considerable public interest), they provide fascinating insights into the self-perceptions of past societies and what local representatives wished to pass on to posterity. Based on a database of (to date) nearly 900 sites with deposits since the Middle Ages, this first supra-regional survey investigates chronological patterns of known series, the profile of scribes, aspects of media use and material culture, prominent themes of transmission – relating to building, society, history and divine protection – and changes over time. Drawing on case studies from Germany and Switzerland as well as scholarship in memory studies, further sections address issues of terminology, methodology and functions, also in demarcation from comparable devices like monuments or foundation stones. Concluding remarks link tower ball archives with distinct processes of selection, representation and timing, proposing to conceptualize them as „generation sites“ helping to extend communicative memory back in time. Although the architectural feature as such appears in many parts of Europe, for as yet cryptic reasons the phenomenon of successive deposits appears to be restricted to the lands of the former Holy Roman Empire, where it is documented in both Catholic and Protestant areas.

I. Einleitung

Auf den Spitzen von Türmen markanter Gebäude, gleichsam zwischen Himmel und Erde, sind von weitem runde oder ovale Objekte zu erkennen, aus einer günstigen Perspektive oft gleich mehrere auf einen Blick (Abb. 1). In Stans etwa, dem Hauptort des Schweizer Kantons Nidwalden, finden sich Beispiele an der Pfarrkirche St. Peter und Paul, am benachbarten Beinhaus, an der Ölbergkapelle, am Rathausturm, an der Rosenburg, am Kapuzinerinnenkloster St. Klara, dem Gstift Tor sowie dem Salzmagazin (alle zwischen dem späten 15. und dem frühen 18. Jahrhundert erbaut), um nur die prominentesten Stellen zu nennen. Vertreten sind vor allem Gottes- und Rathäuser, aber auch Stadttore, Schlösser, Hospitäler, Bildungseinrichtungen und stattliche Villen. Je nach Region Turmkugeln, Turmknäufe oder Turmknöpfe genannt (Begriffe die hier synonym verwendet werden), dienen die Sphären nicht nur architektonischen und ästhetischen Zwecken; von allen zwischen Nord-/Ostsee und Oberitalien identifizierbaren Standorten dürften mit Sicherheit Hunderte, aber wahrscheinlich Tausende dieser meist aus vergoldetem Metall gefertigten Behälter – mit oder ohne Wissen der Anwohner – hermetisch verschlossene Hülsen, Röhrchen oder Schachteln mit geheimnisvollen Nachrichten und Materialien enthalten.[1] Letztere stehen im Zentrum der vorliegenden Untersuchung: Wo sind solche Einlagen bekannt, was genau wurde aus welchen Gründen hinterlassen und wie lassen sie sich für die historische Forschung fruchtbar machen?

Beginnen wir mit zwei Beispielen. Am bekanntesten sind vielleicht die Anfang des letzten Jahrhunderts in den Knäufen der Stadtkirche Wittenberg entdeckten Schriften von Luther und Melanchthon, die umgehend einer weiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Hier handelt es sich um den Ursprungsort der Reformationsbewegung und zwei ihrer wichtigsten Vertreter, deren Werke ganz unabhängig von ihrem Fundort auf Interesse stoßen.[2] Etwas anders präsentiert sich die Situation in Rosdorf bei Göttingen, wo zwischen 1699 und 1991 sieben verschiedene Ablagen von Chroniken und Objekten erfolgten, im Schnitt also ungefähr alle 50 Jahre. Obschon das Dorf keine weltgeschichtliche Bedeutung reklamiert und die Schriftstücke „nur“ von örtlichen Pastoren verfasst wurden, ist auch diese „vergleichsweise lange, weit zurückreichende und vollständige Reihe, wie sie nur wenige Kirchen aufweisen können“ nun in einer Buchveröffentlichung dokumentiert.[3] Sind dies Einzelfälle? Keineswegs. Schon eine kursorische Internetsuche produziert eine fast unüberschaubare Anzahl von Hinweisen auf vergleichbare Quellen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und angrenzenden Gebieten.[4]

Die bisherige Auswertung hat sich auf lokale und regionale Aspekte konzentriert. Hervorzuheben sind ein Überblick über die österreichische Überlieferung, eine auch allgemeinere Betrachtungen formulierende Analyse eines Fundes am Jenaer Kollegiengebäude sowie zwei Untersuchungen zum Kanton Luzern – einerseits eine systematische Zusammenstellung aller bisher identifizierten Fundorte, andererseits eine dem Rathaus von Sursee gewidmete Abschlussarbeit.[5] Dazu werden Turmkugeleinlagen in den verschiedensten thematischen Kontexten exemplarisch herangezogen, abgesehen von Ortsgeschichten vor allem in Studien zur Chronistik im engeren und der Memorialkultur im weiteren Sinne.[6] Eine umfassende Bewertung des Phänomens steht aber noch aus.[7] Im Folgenden sollen zunächst grundlegende Fragen zum regionalen, zeitlichen und sachlichen Profil des Bestandes gestellt werden. Im Mittelteil rücken definitorische, methodische und diachronische Aspekte in den Vordergrund. Abschließend werden einige Perspektiven skizziert, insbesondere der Vorschlag, mit Einlagen versehene Turmkugeln in Anlehnung an Forschungskonzepte zur Erinnerungskultur als liminale – das heißt am Übergang von weltlicher zu göttlicher Sphäre lokalisierte – und latente – im Schnitt nur alle paar Jahrzehnte ins lokale Bewusstsein rückende – „Generationenorte“ zu verstehen, an denen sich sowohl Techniken zur Stützung des kollektiven Gedächtnisses wie auch Abgrenzungen zu anderen Formen der Memorialkultur besonders gut verdeutlichen lassen.[8]

 
          Abb. 1. Wie an vielen Orten des deutschsprachigen Raums lassen sich bei diesem Blick über die Dächer der Stadt Luzern gleich mehrere goldene Turmkugeln auf Kapellen, Befestigungsanlagen und Häusern erkennen. Zumindest in derjenigen an der Spitze des Wach- oder Heuturmes (ganz rechts) sind Einlagen ab 1752 belegt: Colombi, Luzern (wie Anm. 5), 171. Mit Ausnahme von Abb. 6 stammen alle Bildaufnahmen vom Verfasser.

Abb. 1. Wie an vielen Orten des deutschsprachigen Raums lassen sich bei diesem Blick über die Dächer der Stadt Luzern gleich mehrere goldene Turmkugeln auf Kapellen, Befestigungsanlagen und Häusern erkennen. Zumindest in derjenigen an der Spitze des Wach- oder Heuturmes (ganz rechts) sind Einlagen ab 1752 belegt: Colombi, Luzern (wie Anm. 5), 171. Mit Ausnahme von Abb. 6 stammen alle Bildaufnahmen vom Verfasser.

II. Zum Quellenprofil

Was Objektablagen – im Normalfall Münzen – betrifft, reicht die „Sitte [...] in Einzelfällen bis ins 11. Jahrhundert zurück“[9], doch die früheste bei den Recherchen für diese Studie eruierte sprachliche Nachricht, der Abguss einer Bleitafelinschrift vom Turm der Liebfrauenkirche in Halberstadt, datiert von 1394. Das älteste erhaltene Schriftstück wurde 1467 für den Knopf des Amtshauses des Klosters Einsiedeln in Zürich verfasst.[10] Ab der Frühen Neuzeit verdichten sich die Belege. Stimulierend mag der durch die Glaubensspaltung intensivierte Rechtfertigungsbedarf gewirkt haben, aber auch der architektonische Wandel, insbesondere das Aufkommen zwiebelförmiger Turmhelme im Frühbarock.[11] An den bis jetzt 717 erfassten Standorten mit datierbaren Ersteinlagen stammen deren zwölf von vor 1500 (1,67%), 56 (7,81%) aus der Periode 1500–99, 130 (18,13%) 1600–99, 141 (19,66%) 1700–99, 189 (26,35%) 1800–99, 135 (18,82%) 1900–99 und die restlichen 54 (7,5%) aus der Zeit seit 2000. Ein gewisser Höhepunkt scheint an der Schwelle zur Moderne erreicht worden zu sein; zumindest in diesem Sample stammen die Erstnachweise in über einem Viertel der Fälle aus dem 19. Jahrhundert.[12] Die Tradition lässt sich von den mittelalterlichen Anfängen über alle Epochengrenzen hinweg bis in die Gegenwart belegen, wobei lange nicht überall ganze Reihen oder auch nur mehrere Einlagen existieren. Rekordverdächtig sind diesbezüglich die Kirche des thüringischen Steinbach-Hallenberg (ab 1677) und das Rathaus von Sursee in Luzern (ab 1547) mit je zwölf dokumentierten Einlagen (in letzterem Fall allerdings in zwei verschiedenen Türmen), während die insgesamt elf bei St. Peter, der ältesten Pfarrkirche Zürichs, im Zeitraum zwischen 1425 (damals noch in der Form einer Bleiplatte) und 1996 (Datum der vorläufig jüngsten Ergänzung) vorgenommen wurden.[13]

Knopfabnahmen wecken oft beträchtliches öffentliches Interesse, auch in modernen Massenmedien.[14] Die zum Zeitpunkt der Niederschrift aktuellste Fortsetzung erfolgte in der aargauischen Kirchengemeinde Wohlenschwil, wo die Kugel von St. Leodegar bei einer Abnahme im Frühjahr 2019 Dokumente aus dem Jahre 1939 preisgab und im Sommer nach einem Gottesdienst mit neuen Einlagen wieder aufgesetzt wurde, und dies trotz gelegentlich geäußerter Befürchtungen, dass die Auflösung bzw. Zusammenlegung von Sprengeln und der Schwund von Gläubigen zu einem graduellen Verschwinden des Brauches bei den Pfarrkirchen führen könnte.[15]

Aus regionaler Sicht stoßen wir auf einen überraschenden Befund. Das Phänomen scheint auf das Gebiet des alten Reiches und, mit bis jetzt wenigen Ausnahmen, auf (ehemals) deutschsprachige Gebiete beschränkt zu sein. Turmkugeln als solche sind zwar auch in England, Frankreich, Schweden, Ungarn usw. weit verbreitet, vielleicht als ikonographische Anlehnung an salvator-mundi-Darstellungen, in denen der Gottessohn mit der rechten Hand seinen Segen erteilt und in der linken – als Zeichen seiner höchsten Autorität – eine unter dem Kreuz stehende Weltkugel trägt, oder an das vergleichbare globus-cruciger-Attribut in Skulpturen des Christkindes.[16] Warum sind in anderen Teilen Europas aber kaum Inhalte bekannt (was allerdings nicht heißen muss, dass sie nirgendwo sonst vorhanden sein könnten)? Handelt es sich vielleicht um eine Reflexion der Insignien deutscher Könige; zitiert der mit einem Kreuz gekrönte Knopf auf Turmspitzen den seit dem Mittelalter in zahllosen Herrscherbildern erscheinenden – und etwa in der weltlichen Schatzkammer Wiens auch physisch erhaltenen – Reichsapfel, der wiederum das Weltregiment von göttlicher Gnade symbolisierte und ebenfalls Einlagen enthalten konnte?[17] Gab es, pragmatischer argumentierend, im ständig mit Kriegswirren konfrontierten Raum zwischen Rhein, Rhone und Oder häufigere Anlässe, sichere Aufbewahrungsstellen für historisch wertvolle Einlagen zu suchen; oder lieferte die extreme territoriale und konfessionelle Zersplitterung größere Anreize für lokale Selbstdarstellung? Den wohl prominentesten Ausleger bietet der Dom von Florenz. Auf der Spitze seiner gewaltigen Brunelleschi-Kuppel thront seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert eine von Andrea del Verrochio entworfene mannshohe Kupferkugel, die durch einen Blitzschlag 1601 auf den Boden geworfen und im folgenden Jahr (gefüllt mit Reliquien und Dokumenten) wieder aufgesetzt wurde. Aber auch hier ist ein Impuls aus dem Heiligen Römischen Reich nicht auszuschließen.[18] Im Kerngebiet nördlich der Alpen ist laut den bisher erfassten Daten die Überlieferung in Teilen der Inner-/Ostschweiz, in Österreich, den Ländern von Brandenburg/Sachsen/Thüringen sowie in Niedersachsen mit jeweils Dutzenden von Beispielen besonders dicht. Vereinzelt finden sich auch Belege am östlichen Rand des französischen Sprachraumes sowie in westlichen Grenzgebieten von Polen, Tschechien und Rumänien.[19] Konfessionelle, konstitutionelle oder topographische Variablen scheinen eine untergeordnete Bedeutung zu spielen. Die eben genannten Gebiete umfassen mehrheitlich katholische (Luzern, Schwyz), reformierte (Zürich) wie lutherische Gegenden (die nordöstlichen Teile der Bundesrepublik); ehemals monarchisch und republikanisch verfasste Territorien; sowohl städtische als auch ländliche Kontexte; küstennah-nördliche und hochalpin-südliche Standorte.

Rein technisch erleichtert eine sich nach oben zuspitzende Helm- bzw. Dachform das Anbringen geeigneter Bekrönungen. Ein Zugreifen auf Inhalte ist unter solchen Umständen nur bei größeren Reparaturen unter Anbringung eines Gerüstes möglich, was eine zumindest mittelfristige Geheimhaltung der Informationen verspricht, ganz im Gegensatz zur problemlosen Verfügbarkeit bei flachen Turmabschlüssen. Kongenial sind etwa die in der Region Bern vielfach anzutreffenden Pfarrkirchentürme, die – von unten nach oben – einen mehr oder weniger massiven/hohen Steinsockel, eine offene (zum Teil aus Holz gefertigte) Glockenstube und eine typischerweise schindelbedeckte, sich steil verjüngende Spitze aufweisen. Die Krönung bildet eine Kugel mit aufgesetztem Hahn, Kreuz oder einer Wetterfahne. Ebenso günstig sind die seit der Gotik verbreiteten Fünfknopftürme, wo neben der höchstgelegenen, zentralen und meist für Einlagen favorisierten Hauptkugel an den Ecken oder Seiten der Helmbasis vier kleinere Rundbehälter angebracht sind (Abb. 2–3). Ansonsten sind der Phantasie kaum Grenzen gesetzt. Kugeldurchmesser variieren von ca. 25 bis über 150 cm, ihre Gewichte von unter 30 bis zu mehreren hundert Kilogramm und an Materialien kann neben Kupfer auch Zinn oder Blech (zum Teil mit Feuer- oder Blattgoldveredelung) Verwendung finden. Selbst Mehrfachablagen sind nicht unbekannt: in Neunhofen an der Orla (Thüringen) in mindestens zwei der fünf Knöpfe, bei St. Pierre in Genf sowohl im Süd- als auch im Nordturm der Kathedrale.[20] Um Inhalte vor Verwitterung oder Beschädigung zu schützen, gelangen zahlreiche Typen, Größen und Formen von hermetisch verschlossenen/verlöteten Kästchen, Büchsen oder Hülsen zur Anwendung: Einige sind aus Holz, andere aus Glas gefertigt, die meisten aber aus Metallen wie Zinn, Blech, Messing, Kupfer oder Stahl (Abb. 4).

 
          Abb. 2, Der im Hochmittelalter erbaute Turm der reformierten Pfarrkirche von Belp bei Bern (mit Glockenstube und Schindeldach), dessen Kugel Dokumente aus dem 20. Jahrhundert enthält: Der Belper 56/9, 2004, 23: https://tinyurl.com/wqbekym.

Abb. 2, Der im Hochmittelalter erbaute Turm der reformierten Pfarrkirche von Belp bei Bern (mit Glockenstube und Schindeldach), dessen Kugel Dokumente aus dem 20. Jahrhundert enthält: Der Belper 56/9, 2004, 23: https://tinyurl.com/wqbekym.

 
          Abb. 3. Der Fünfknopfturm der katholischen Kirche von St. Martin, Buochs (Nidwalden), die nach einer Feuersbrunst 1802–07 neu errichtet wurde. Die Hauptkugel birgt Einlagen ab 1805: Katholische Kirchgemeinde (Hrsg.), Der Schatz auf dem Kirchturm. Dokumente in der Turmkugel St. Martin. Buochs 2005.

Abb. 3. Der Fünfknopfturm der katholischen Kirche von St. Martin, Buochs (Nidwalden), die nach einer Feuersbrunst 1802–07 neu errichtet wurde. Die Hauptkugel birgt Einlagen ab 1805: Katholische Kirchgemeinde (Hrsg.), Der Schatz auf dem Kirchturm. Dokumente in der Turmkugel St. Martin. Buochs 2005.

 
          Abb. 4. Bei der bisher letzten Kugelöffnung in Gersau von 1983 kam dieses wohl 1810 eingelegte Holzkästchen zum Vorschein. Es enthielt neben Dokumenten einen Textstreifen aus dem Johannesevangelium, drei kolorierte Heiligenbilder, Reste von Palmzweigen und einen kleinen Stoffbehälter für Reliquien. Die konfessionelle Dimension der Überlieferung wird hier intermedial vermittelt. Pfarrarchiv Gersau, reproduziert mit freundlicher Genehmigung.

Abb. 4. Bei der bisher letzten Kugelöffnung in Gersau von 1983 kam dieses wohl 1810 eingelegte Holzkästchen zum Vorschein. Es enthielt neben Dokumenten einen Textstreifen aus dem Johannesevangelium, drei kolorierte Heiligenbilder, Reste von Palmzweigen und einen kleinen Stoffbehälter für Reliquien. Die konfessionelle Dimension der Überlieferung wird hier intermedial vermittelt. Pfarrarchiv Gersau, reproduziert mit freundlicher Genehmigung.

Für die Umschreibung der Kugelinhalte ist der Oberbegriff „Einlagen“ gängigen Alternativen wie „Turmakten/-urkunden“ oder ähnlichen auf schriftliche Nachrichten limitierten Termini vorzuziehen.[21] Materielle Elemente sind generell „very important as carriers of memory and support for tales“[22]; wichtige Aussagen werden in Knöpfen deshalb nicht nur über Texte, sondern intermedial kommuniziert (vgl. Abb. 4). Am häufigsten erscheinen Münzen – so in einem Drittel der Luzerner Beispiele, ursprünglich vielleicht als Bauopfer. Einer der reichhaltigsten Schätze ist für St. Nikolai in Berlin belegt, wo bei mehreren Gelegenheiten Geldstücke von 1514–1734 eingelegt wurden. Im Falle der Laurentius- und Katharinenkirchen in Darlingerode (Sachsen-Anhalt) wiederum ist mit Sätzen von 1820, aus der wilhelminischen Kaiserzeit, der Weimarer Republik, dem 3. Reich, der DDR/BRD sowie seit neuestem dem Euro die Moderne besonders gut vertreten; unter den dort ebenfalls vorhandenen – und 2010 bzw. 2013 wieder eingelegten – Banknoten figuriert ein 1-Milliarden-Reichsmark-Schein aus der Inflationszeit der frühen 1920er Jahre. Gelegentlich bringen Öffnungen auch Medaillen zum Vorschein, so beim Mittelturm der Weißenfelser Augustusburg Silberprägungen zu Ehren sächsischer Fürsten von 1679 und 1712.[23]

In katholischen Gegenden spielen Devotionalien eine bedeutende Rolle. Im Urner Hauptort Altdorf wurden 1607 Reliquien der Heiligen Agatha, Gallus, Pinnosa und Beat zusammen mit – dem jeweils am 5. Februar zum Schutz vor Fieber verteilten – St. Agatha-Brot, einer agnus-dei-Figur sowie dem Johannes-Evangelium eingelegt. Besonders umfassend war das Spektrum 1889 im benachbarten Alpnach (Obwalden): eine Rippe der Hl. Blanda, Knochenstaub von Christophorus, ein Zahn der Clara sowie Knochenteile von Felix und Valentin; dazu ein gesegnetes Karfreitagsei, eine Lamm-Gottes-Wachstafel, je eine Benedikt- und – von Papst Leo XIII. persönlich gesegnete – Maria-Medaille, ein Palmenzweig, etwas Malefizwachs (ein aus Abtropfungen von Altarkerzen gefertigter Hausschutz) und schließlich ein – mit bestimmten Kräutern/Pflanzensamen gefülltes und an einer Halskette getragenes – „Lisenbündeli“.[24] Nicht erst seit dem Aufkommen der Fotografie gehören auch Visualisierungen zum Repertoire: Ortsansichten, Individual- bzw. Gruppenporträts, Baupläne, Karten, Heiligenbilder und manchmal eigens angefertigte Kunstwerke. Eher der Kategorie „Kuriosa“ zuzuordnen sind dagegen die 1950 in Neunhofen dokumentierten Zigaretten und eine wohl 1847 von Bauarbeitern in den Knopf des Zürcher Fraumünsters gelegte Schildkröte, letztere vielleicht wegen deren Gefahren abwehrenden Panzers.[25]

Trotzdem bilden – zunächst auf Metall, dann Pergament und Papier sowie in jüngster Zeit auch elektronischen Datenträgern festgehaltene – Schriften die mit Abstand häufigsten und wichtigsten Medien. Chronologisch frühe oder von Gelehrten stammende Texte können in Latein abgefasst sein, so ein 1504 im roten Turm der Marienkirche in Halle hinterlassenes Dokument oder eine Melanchthon durch Kurfürst August 1558 in Auftrag gegebene Chronik für die Schlosskirche Wittenberg, sonst aber dominiert schon zu Beginn der Frühen Neuzeit Deutsch. Bei St. Martin, Schwyz, ist die erste Einlage von 1550 in der Umgangssprache geschrieben, ein aus dem Jahr 1651 stammender (und vielleicht an einen beschränkteren Kreis gerichteter) Bericht über eine Feuersbrunst samt Reliquienbeilage und Amtssiegel von Pfarrer Dr. theol. Franz Radheller dagegen in Latein.[26]

Thematisch kreisen die allermeisten Nachrichten um die vier Leitbegriffe Gebäude, Gesellschaft, Geschichte und Gottesanrufung. Praktisch immer werden die anvisierten Leser über die jeweilige Renovierung des Gebäudes bzw. Turmes informiert. Mehr oder weniger detaillierte Passagen beschreiben den Anlass (Sturm-/Blitzschaden oder routinemäßiger Renovierungsbedarf), die resultierenden Arbeiten, Finanzierungsquellen und wichtigsten Beteiligten. In Pötewitz (Sachsen-Anhalt) etwa gab es 1606 so starke Windstöße, dass der Knopf sich löste, im Kirchendach stecken blieb und kaum wieder herauszulösen war; in der kleinen Landrepublik Gersau am Vierwaldstättersee empfahl sich der Schreiber, Pfarrer Jost Rudolf Tanner, 1752 der Nachwelt zum anerkennenden Gedenken, weil er „Ursach gewesen, daß die Kirchen vergrößeret, ... und vill andere sachen zum Nutzen des liben Vatterlandts“ an die Hand genommen wurden; zum zürcherischen Wädenswil erfahren wir durch einen Nachtrag von 1791, dass der Verkauf von Kirchenbänken wichtige Geldmittel zum Gesamtneubau des Gotteshauses von 1764–67 beisteuern half; während das Dokument von 1854 zu Püchersreuth (Bayern) den Kunstmaler Johann Strobel aus Bayreuth „vorzüglich“ erwähnt,

„welcher aus freiem Antriebe zur Ehre Gottes und aus Liebe zu seinen Landsleuten, und zum Andenken an seinen Geburtsort den Turmknopf und die Fahne am 27. August ganz schön und gut vergoldete [und] zwar unentgeltlich“.[27]

Fast ebenso universell sind Angaben zur lokalen Gesellschaft, vor allem die Namen von Mitgliedern der Gemeinde- und Pfarreigremien, gelegentlich mit Ausblicken auf höhere Funktionsstufen. Beispiele liefern die Verzeichnisse der Stadträte von Roßwein in Sachsen, die 1862, 1886 und 1959 dem dortigen Rathausturm anvertraut wurden; die 1788 im „Globus“ auf der Augustusburg vorgefundene Liste der Staatsdiener des fürstlichen Amtes Weißenfels von 1679 sowie die 1718 vom Beichtvater Henricus Hegner für die Zisterze Mariazell in Kalchrain (Thurgau) erstellte Aufstellung, die Äbtissin Maria Catharina Reichin aus Wangen im Allgäu, 20 Nonnen, eine Novizin, eine Mäzenin, sieben Laienschwestern und die am Projekt beteiligten Handwerker umfasste. Mit Bezug auf St. Nikolaus, Bad Ischl (Salzburg), nennt 1750 ein erstes Dokument neben den Vertretern von Pfarreiklerus und Kirchenpflegschaft auch die amtierenden Papst und Kaiser, während ein zweites „zu ewigem Angedenken“ die Namen von neun Baufachleuten nachliefert; 1853 wird zudem der Salinenverwalter berücksichtigt.[28] Die nächsthäufigsten Anliegen sind Bemerkungen zu Einwohnerzahl, Witterung, Erntevolumen, Bildungseinrichtungen, topographischer Entwicklung, örtlicher Infrastruktur, kirchlichem bzw. kulturellem Leben und – am allerwichtigsten – zu den Preisen von Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs. Neben der Familie des Gerichtsherrn Wilhelm Siegmund von Mordeisen erscheinen in der Turmeinlage des sächsischen Ritterguts Dornreichenbach anno 1716 alle Hausvorstände der zugehörigen zwei Dörfer, insgesamt 20 bzw. 21 Namen mitsamt ihren vom Richter- bis zum Hirtenamt belegten Aufgaben. Im Kanton Luzern sind so viele Daten zu den Kosten von Getreide, Wein, Käse usw. erhalten, dass sie zur Modellierung ökonomischer Konjunkturen und Vergleichen mit heutigen Verhältnissen herangezogen wurden. Dramatisch klingt die wirtschaftliche Lage in und um die Kleinstadt Sursee Mitte des 18. Jahrhunderts: „Dis 1752 Jahr ware eine seer nasse erndt gewässen also zwar das man die fruchten schier nit hat sammlen können und alles ausgewachsen und man das korn an der sonnen hat [trocknen] muossen.“ Genaueres zu Lehrern (seit 1577!), ihren Löhnen, den Schulgebäuden, Unterrichtsplänen und Schülerzahlen erfährt man dagegen aus der Feder von Carl Gottfried Högel für Allerstedt (Sachsen-Anhalt) 1877.[29]

Zur Veranschaulichung und Vertiefung der speziell für die Kugeln angefertigten Dokumente wurden und werden oft ergänzende Schriften beigelegt: vor allem aktuelle Zeitungen (meist vom Aufsatzdatum der Turmkrönungen), weniger häufig Magazine, Baupläne, Kostenvoranschläge, Pfarreibeschlüsse, Gemeinde-/Kirchenrechnungen, Firmenbroschüren, Festprogramme, Rationierungskarten, Lotteriescheine und vieles mehr. Stellvertretend mag hier die Apostelkirche Hannover stehen, wo das Spektrum 1882 Baudokumentationen, Grußworte einer benachbarten Pfarrei sowie eines Handwerkbetriebs, Werbematerial für die Landeslotterie, Spendenaufrufe, den zuvor im Grundstein eingeschlossenen Text, einen Führer durch das Gotteshaus, Bilder der königlichen Familie sowie verschiedene Zeitungen und Münzen umfasste.[30]

Unter Geschichte ist die Zusammenstellung wichtiger Fakten und Entwicklungen seit dem Datum der letzten Öffnung zu verstehen. In Buochs erstellte Kirchenschreiber Josef Alois Niederberger 1805 „Cronologische Übersichten der merkwürdigsten Ereignisse“ zwischen 1789 und dem Berichtsjahr, die „anschliessend in die Kugel des Kirchturms gelegt“ wurden. Mit Blick auf Inhalte und Struktur der Ausführungen setzte das Dokument eine Vorgabe, an der sich alle seine Nachfolger orientierten. Hier blickte man über den Tellerrand hinaus, berücksichtigte nicht nur lokale, sondern auch regionale und internationale Belange. 1805 waren die verschiedenen Ebenen besonders eng verknüpft, weil die französische Invasion von 1798 vor Ort große Kriegsschäden – nicht zuletzt die Zerstörung der bisherigen Buochser Kirche – und auf gesamtschweizerischer Stufe die revolutionäre Einrichtung der Helvetischen Republik bewirkt hatte. In emotionaler Sprache berichtet Niederberger, wie „das traurige Ereignis [...] und das barbarische Verfahren der Franken gegen dieses kleine Hirtenland Unterwalden am meisten [...] Mitleiden [...] auf sich gezogen“ habe; 564 Häuser seien angezündet worden und insgesamt 73 Opfer zu beklagen, darunter Ratsherr Joseph Buocher, drei Priester, sieben Kapuziner, 18 Frauen und ein Kind.[31] Große Politik beschäftigte auch den Chronisten von Liebstedt (Thüringen) über ein Jahrhundert zuvor. Neben der Erwähnung der eben erst abgewehrten Belagerung von Wien durch die Türken blickte er 1685 nach Nordwesten:

„Der Graf Montmuth hat rebellirt in England, und sich wider den neuen König [Jakob II.], so die kathol. Religion angenommen, gesetzet, etliche 1000 Calvinisten an sich gezogen und glücklich gesieget, nunmehr aber gefangen und dekolliret worden.“

Entwaffnend lapidar wirkt dagegen die Einschätzung des Gersauer Landammannes von 1784, dass sich in der außergewöhnlich kurzen Zeitspanne zwischen zwei Turmreparaturen „[s]eit Ao 1774 [...] nichts sonderbahr Neües zugetragen“ habe.[32] Aus alltagshistorischer Perspektive reflektieren Turmkugeleinlagen auch den lokalen Take-off neuer Lebensmittel (Kolonialwaren tauchen in der Rosdorfer Preisliste erstmals 1811 auf) und die Wahrnehmung des technologischen Fortschritts. Die schubweise Zunahme der Mobilität in der Moderne repräsentieren Wegmarken wie die Eisenbahn im 19. oder Raumfahrt im 20. Jahrhundert. Erstere ließ in der Einschätzung des Dornbirner Berichterstatters von 1857 alles näher rücken, so „daß z. B. Handelsgüter von Triest nach Hamburg u[nd] umgekehrt innerhalb vier Tagen spedirt werden können, während zuvor so viele Monate erforderlich waren.“ Im sächsischen Roßwein wiederum wurde vom Stadtverordneten Reinhold Andreas 1959 neben dem Besuch von Chruschtschow in den USA und dem zehnten Jahrestag der DDR-Gründung auch der Test einer Mondrakete thematisiert.[33]

Seit den Anfängen stellen viele Turmkugeldokumente den Weltenlauf in einen methaphysischen bzw. providentiellen Zusammenhang. Gottesanrufungen und Segnungswünsche sind daher weitere Leitmotive. Zeitgenössische Probleme, Herausforderungen und Katastrophen konnten als Himmelsstrafen für irdische Missstände erscheinen. Der Stadtbrand von 1613 galt laut einer in St. Marien, Osnabrück, gefundenen Kupfertafel von 1617 „als ein gerechtes Urteil Gottes“.[34] Im luzernischen Sursee kam gar wiederholt Weltuntergangsstimmung auf. „Auf 1857 den 13. Juni ward vorhergesagt & mitunter ängstlich befürchtet, der Halleysche Comet werde mit der Erde so nahe zusammen treffen, dass dadurch der Erdball in Flammen aufgehen und in Trümmer zerfallen werde” (zeitnahe Einlage in der Hl. Kreuzkapelle); „die Möglichkeit eines 3. Weltkrieges ist nicht ausgeschlossen! Er würde aber den Untergang der Zivilisation bedeuten, angesichts der fürchterlichen [...] Atomwaffen, die heute zur Verfügung stehen!” (Schrift für das Kapuzinerkloster von 1971).[35] Zwei kurz nach dem Dreißigjährigen bzw. Zweiten Weltkrieg in Thüringen verfasste Quellen veranschaulichen die epochenübergreifende Relevanz entsprechender Interpretationen:

„Würdet Jedermenniglichen im gantzen Heil. Röm. Reich … aus gnugsamer betrübter Erfahrung, Mehr als zu viel bekannt seyn, Was gestalt der Gerechte Gott, aus seinem gerechten Zorn undt Eyfer, Wegen unßerer begangenen schwehren Sünden, Unßer geliebtes Vatterland Teutscher Nation von ao 1618 bieß ao 1648 alß 30. Jahrlang, mit Krieg und BlutVergießen, Thewrung, Pestilenz vndt andern Plagen vndt Straffen mehr [überzogen], Also, das in solchem wehrendem Kriege, vndt höchstkümmerlichen leufften, Viel Vornehme Länder, Städte, Schlosser, Flecken, Dörffer vndt Höffe, gänzlichen Verderben ruiniret, vndt Eingeäschert worden, wordurch den Vieler orthen, gar Eine geringe Ahnzahl beedes ahn Menschen vndt Viehe vbrig verblieben.”[36] (Walldorf 1651)

„In den vergangenen 20 Jahren ist die Erde von den schwersten Erschütterungen geschüttelt worden. In unserem Vaterland baute der Nationalsozialismus das „Dritte Reich“. Es hätte etwas werden können zum Segen der Völker. Aber in einem maßlosen Stolz wandten sich seine Führer von dem Wege Gottes ab und versuchten das Evangelium, das uns in der Reformation anvertraute kostbarste Gut, aus unserem Volk zu entfernen. Vor allem sollte ihm die Jugend entfremdet werden.”[37] (Steinbach-Hallenberg 1954)

Bis heute schlagen für religiöse, moralische und politische Bedrohungen des christlichen Abendlandes naturgemäß sensibilisierte Vertreter des Klerus in ihren Dokumenten gern warnende Töne an. Angesichts der für alle unsicheren Zukunft schließen aber nicht nur ihre Texte mit Bitten um göttliche Gunst.[38] Schreiber aus allen Schichten und Jahrhunderten ersuchen um überirdische Hilfe, bitten um Verschonung vor Naturgewalten, empfehlen die eben vollendeten Bauprojekte himmlischem Schutz und hoffen auf das weitere/künftige Wohlergehen ihrer Gemeinden:

„Der liebe Got well Thüre wenden / Und uns fiel guter Jare senden / Der liebe Got werde gelobt allzyt / Der Thüre nimpt und wohlfeill gibt.“ (Landschreiber Peter Rengly, St. Stephan, Hasle in Luzern, 1677)

„Gott schütze seine Kirche! / Und wir wollen die Hände falten und beten: / So hebe nun an und segne das Haus deines Knechts, daß es ewiglich vor dir sei; denn du Herr, hast’s gerodet, und mit deinem Segen wird deines Knechtes Haus gesegnet werden ewiglich. / (2. Sam. 7, 19) / Thränitz [Thüringen], den 3.10.1951 / Dr. Karl-Ferdinand Lohe / Pfarrassistent.“[39]

Demselben Zweck, der Mobilisierung metaphysischer Ressourcen, dienten begleitende Einlagen wie Johannes-Evangelien (Leubnitz/Sachsen 1536, Altdorf/Uri 1607, Wolfurt/Vorarlberg 1728, Innerthal/Schwyz 1882), Katechismen (St. Kilian, Korbach/Hessen 1581), oder die bereits mehrfach erwähnten Reliquien in katholischen Gegenden. Nur vereinzelt finden sich pointiert fortschrittsgläubige und/oder antikirchliche Stimmen. Eine 1784 anlässlich der Anbringung eines Blitzableiters wahrscheinlich von Ludwig Christian Lichtenberg verfasste Schrift für den Turmknopf von St. Margarethe, Gotha, bilanziert in geradezu enthusiastischer Zuversicht:

„Unsere Tage füllten den glücklichsten Zeitraum des 18. Jahrhunderts. Kaiser, Könige, Fürsten steigen von ihrer gefürchteten Höhe menschenfreundlich herab, verachten Pracht und Schimmer, werden Väter, ihres Volks. Die Religion zerreißt das Pfaffengewand und tritt in ihrer Göttlichkeit hervor. Aufklärung geht mit Riesenschritten vorwärts. Glaubenshass [und] Gewissenszwang sinken dahin, Menschenliebe und Freiheit im Denken gewinnen die Oberhand; Künste und Wissenschaften blühen, und tief dringen unsere Blicke in die Werkstatt der Natur.“[40]

Etwas vorsichtiger und ergebnisoffener formulierte man in Allerstedt 1927: „Was wird an Errungenschaften da sein, wenn wieder einmal diese letzten Nachrichten gelesen werden! Wird man vielleicht lächeln über das, worüber wir noch staunen?“[41]

Mittlerweile ist uns schon fast der ganze Reigen bekannter Verfasser begegnet: In erster Linie sind es Weltgeistliche oder Pfarrei-/Gemeindeschreiber, dann – in tendenziell abnehmender Frequenz – Mitglieder verschiedener Dorf-/Stadt-/Regionalbehörden (Räte, Kirchenpfleger), Baufachleute, Mönche, Grundherren/Hausbesitzer, Gelehrte und Ortshistoriker, also direkt mit dem jeweiligen Gebäude in Bezug stehende Individuen (zuweilen auch ein Gremium in corpore) und – mit nur ganz wenigen Ausnahmen – Männer, selbst heute noch.[42] Mancherorts wurden bei derselben Gelegenheit gleich mehrere Texte aus diesem Autorenkreis eingelegt, z.B. eine Kombination von Pfarrer und Gemeinderat, Prediger und Handwerker usw. Gelegentlich können heimlich zugefügte Ergänzungen darunter sein, die der Nachwelt einen weiteren Namen, eine andere Perspektive bzw. Informationen zu einem Konflikt übermitteln sollen. Im zürcherischen Eglisau verewigte sich der 1594 mit der Einlage des vom Pfarrer verfassten Dokumentes betraute Sigrist Heinrich Wirtt noch rasch mit einer Randnotiz zu seiner Person; zur Zeit der Genfer Wirren 1771 hinterließen zwei Spengler aus der sozialen Gruppe der natifs ein gegen aufklärerische Ideen Rousseaus und die besser gestellten bourgeois gerichtetes Schreiben; in Osterode konnte sich der Pastor 1839 einen den knausrigen Bürgermeister kritisierenden Nachtrag nicht verkneifen (in seinem eigenen Bericht erwähnt der Magistrat die finanziellen Querelen mit keinem Wort); und im Knauf der Stadtkirche Aarau verstauten Bauarbeiter 1841, 1919 und 1965 Kupferstücke mit ihren Namen außerhalb der „offiziellen“ Dokumentenhülse.[43]

Zum besseren Verständnis des Gesamtphänomens lohnt es sich, die Abläufe genauer zu untersuchen. Neubauten beginnen in der Regel mit einer Grundsteinlegung. Auch dort werden bei Aufnahme der Arbeiten durch Honoratioren Projektinformationen hinterlegt (Abb. 5), gewissermaßen als alpha der irdischen Fundierung zum omega der himmelwärts gerichteten Knopfaufsetzung, einem „Ritual der Vollendung“.[44] Treten in der Folge bauliche Schäden oder Abnützungserscheinungen am Turm auf, sind Finanzierungsquellen zu finden, Baukommissionen zu bilden und geeignete Fachleute zu identifizieren. Da die Wind und Wetter besonders ausgesetzte Kugel meist mit ausgebessert, neu vergoldet oder gar ersetzt werden muss[45], kommt es nach der Eingerüstung zu ihrer Abnahme. Fördert die Öffnung unter mehr oder weniger großer Anteilnahme der Ortsöffentlichkeit Inhalte zu Tage, gilt es diese zu erfassen, alte Schriften zu entziffern, geeigneten Verfassern neue Dokumente in Auftrag zu geben und allenfalls Beilagen auszuwählen.[46] Beim Rathaus von Römhild in Thüringen war dies jeweils 1720 (41 Jahre nach der ersten erhaltenen Einlage von 1679), 1741 (21), 1817 (76), 1889 (72), 1928 (39) und 1994 (66) der Fall, also im Schnitt alle 52 Jahre.[47] Enttäuschte Erwartungen gab es dagegen 1705 in Arth (Schwyz):

„[...] hat man vermeint, in dem Knopff Schreiben zu finden, die unß berichten werden, wie Lang und vil Jahr diser Turm gestanden [...] und wer [zu] der selben Zeit den Kirchgang Arth geRegiert, und waß für wohlfeille [oder] düre Zeit gewesen. Haben aber nichts finden können, welches unnß bedurt.“[48]

Im thurgauischen Dorf Birwinken entschied man im Jahre 1999, die aufgefundenen Materialien zu kopieren, alle Abschriften der Gemeindekanzlei zu übergeben und die Originale zusammen mit den aktuellen Ergänzungen wieder in die Kugel zu geben. Letzteres geschah im Rahmen einer kleinen, von Pfarrer Frank Sachweh, einigen Kirchenvorstehern – darunter Dorothe Glauser (der damaligen Präsidentin und späteren Herausgeberin der Quellenedition) – und Bauarbeitern besuchten Zeremonie wenige Wochen später (Abb. 6).[49] In St. Stephan, Berg am Laim (München), standen 2006 auch religiöse Elemente auf dem Programm, darunter eine Segnung des Turmkreuzes durch Pfarrer McNeil auf dem Gerüst, eine gemeinsame Rezitation des Vater Unser/Te Deum sowie Glockengeläut.[50] Andernorts weiten sich die Aufsatzfeierlichkeiten zu eigentlichen Volksfesten mit lokalspezifischen Komponenten und Handwerksbräuchen. Ein vormodernes Paradebeispiel liefert das uns schon bekannte Rosdorf bei Göttingen. 1749 verlangte „der Schieferdecker [...], daß er mit Knopf und Fahne mit Musik vorher durch die Gemeine“ ziehen dürfe.

„Darauf ist ihm bei dessen Aufsteckung auf sein Begehr ein Paar neue Schuh und neue Strümpfe gegeben, welches er, oben auf dem Knopfe sitzend, angezogen, vorgebend, daß ihm solches als ein gebräuchliches Akzidens zukömme.“

Den Tag selbst markierte ein Umzug, gefolgt von Ansprachen und fleißigem Zutrinken. Chronist Pastor Leschen war speziell vom Aufheben um die Arbeiter und ihren gefährlichen Verrenkungen auf dem Turm nicht sehr angetan.[51]

 
          Abb. 5. Bei der in den 1760er Jahren neu erbauten reformierten Kirche von Wädenswil (Zürich) lassen sich Grund- bzw. Ecksteininschrift (auf der Tafel am unteren Rand) und Turmkugel – Alpha und Omega eines Bauprojektes – außergewöhnlicherweise auf einen Blick erfassen.

Abb. 5. Bei der in den 1760er Jahren neu erbauten reformierten Kirche von Wädenswil (Zürich) lassen sich Grund- bzw. Ecksteininschrift (auf der Tafel am unteren Rand) und Turmkugel – Alpha und Omega eines Bauprojektes – außergewöhnlicherweise auf einen Blick erfassen.

 
          Abb. 6. Die informelle Vorbereitung der Wieder-/Neueinlage von Dokumenten in Birwinken (Thurgau) 1999. Foto reproduziert mit freundlicher Genehmigung der evangelischen Kirchgemeinde.

Abb. 6. Die informelle Vorbereitung der Wieder-/Neueinlage von Dokumenten in Birwinken (Thurgau) 1999. Foto reproduziert mit freundlicher Genehmigung der evangelischen Kirchgemeinde.

III. Definitorische, methodische und diachronische Aspekte

Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass Turmkugeleinlagen einen großen, medial-thematisch differenzierten und räumlich begrenzten Bestand bilden. Vor einer systematischen Auswertung der verlockenden Informationsflut sind aber Grundfragen zu klären: Was genau sind die genrespezifischen Merkmale, welche methodischen Hürden stellen sich und gibt es Veränderungen über die longue durée? Aus erkenntnistheoretischer Sicht gibt es nach dem linguistic turn bekanntlich keine unproblematischen Quellen mehr. Vom Glauben an eine objektiv richtige Interpretation historischer Dokumente und der Möglichkeit, die wahre Geschichte daraus zu gewinnen, hat sich die Disziplin verabschiedet. Bewusst tradierte Darstellungen vergangener Zeiten bedürfen besonders kritischer Prüfung, sorgfältiger Kontextualisierung und der Gegenüberstellung mit anderen Repräsentationen.[52] Die folgenden Ausführungen zu den Aspekten Repräsentativität, Originalität, Authenzitität, Funktionalität, (Dis-)kontinuität und Spezifität sind unter dieser Prämisse zu verstehen.

Haben Turmkugeldokumente einen individuellen oder kollektiven Charakter? Da sie mehrheitlich von Einzelautoren stammen, scheint Ersteres naheliegend. Die oben berührten Geheimzugaben deuten ebenso darauf hin, dass sich nicht alle Zeitgenossen durch die offiziellen Texte repräsentiert fühlten. Auf der anderen Seite schreiben meist (teilweise mehrere) Vertreter einer Personengruppe im Kontext eines von kirchlichen und weltlichen Gremien beschlossenen und finanzierten Projektes; sie holen thematisch weit aus, versuchen einen abgerundeten Eindruck der Lokalität zu vermitteln, nennen andere Amtsträger und liefern Statistiken zu Bevölkerungszahlen und Preisen. Zum Teil wenigstens wird ein neuer Text öffentlich verlesen (so explizit in Walldorf 1651[53]), Gott um Schutz der ganzen Gemeinschaft gebeten, die Knopfaufsetzung als Volksfest inszeniert und konservationsbedürftiges Kugelmaterial kommunalen Stellen zur Aufbewahrung anvertraut. In jüngster Zeit ist, wie in Winkel (Sachsen-Anhalt) 2016, gar ein crowd-sourcing der zu übermittelnden Nachrichten belegt.[54] Immer wieder ist von einem „Brauch“ die Rede, von einer alten Tradition, die es weiter zu führen gelte; einer Verpflichtung gegenüber den vorgängigen und zukünftigen Bewohnern einer Ortschaft.[55] Man wird der Gattung also mehr als bloß subjektive Qualität zubilligen können.

Ebenso vielschichtig ist die Frage, unter welchen Umständen wir es mit Originalen zu tun haben. Verliert ein Pergamentsbrief, der mit hoher Sicherheit einmal in eine Kugel platziert, dann aber in ein „normales“ Archiv transferiert wurde, seine eigentliche Bestimmung? Wie steht es mit durch Experten fachmännisch restaurierten und neu verpackten Quellen, wie den aus dem 18. Jahrhundert stammenden Materialien, die seit 2014 wieder auf der Turmspitze der Heiliggeist Kirche weit über der Stadt Bern ruhen; sind dies noch dieselben Nachrichten?[56] Größere Unsicherheiten wecken die vielen, in verschiedenen Perioden zu unterschiedlichen Zwecken angefertigten Kopien: Birwinken gab 1999 wie erwähnt Lichtpausen für die Gemeindekanzlei in Auftrag, retournierte die früheren Einlagen aber an ihren Höhenstandort. Hier existiert zudem ein weiteres Sediment in Form von schon im 19. Jahrhundert durch Ammann Etter erstellten – und nun im Staatsarchiv aufbewahrten – Transkriptionen; können letztere aufgrund ihrer größeren Proximität zu den ersten Einlagen eine höhere Dignität beanspruchen?[57] Umgekehrt gibt es vielerorts Faksimiles bzw. Aufnahmen, die zu bestimmten Zeitpunkten an Stelle von beschädigten Materialien in die Knöpfe kamen: In Grossdietwil wurde schon 1701 eine Abschrift eines Dokuments von 1650 eingelegt, in Rosdorf geschah 1749 dasselbe mit einem Bericht von 1699; und 1971 glaubte man im bündernischen Untervaz nach Konsultation von Fachleuten, dass „das Niederlegen von Schriften an diesem unzugänglichen Ort ein veralteter Brauch sei“ und ein feuersicherer Raum im Pfarrhaus zweckmäßiger wäre. So „wurde beschlossen, die im Knopf aufgefundenen Originale zu archivieren und die Photokopien auf dem Turm zu deponieren.“[58] Kann man, um eine Extremposition zu formulieren, nur im Moment der ersten Einlage und Öffnung wirklich von Originalen sprechen, weil jede nachfolgende Manipulation, Behandlung und Kopie den Charakter der Quellen verändert?

Weitere Fragen kreisen um die (relative) Authentizität der Informationen. Abgesehen von den grundsätzlichen theoretischen Komplikationen, die jede Kommunikation über räumliche und zeitliche Distanzen mit sich bringt[59], ergibt sich auch hier ein differenziertes Bild. Einerseits handelt es sich bei Turmkugeleinlagen um bewusste Tradition, um explizit zur Instruktion der Nachwelt ausgewählte Fakten, Wertungen und Materialien. Es besteht viel Platz für idiosynkratische Interpretationen, Auslassungen, Insinuationen, Anpassertum, Panikmache und Schönfärberei (denken wir an die Diskrepanz zwischen besorgten Klerikern und enthusiastischen Aufklärern). Wichtig auch: die Seltenheit weiblicher Stimmen.[60] Andererseits sind multiperspektivische, nicht nur von Eliten gelieferte Einschätzungen erhalten, aus denen sich ein plastischerer Eindruck der Verhältnisse gewinnen lässt. Weil alle Autoren von einer längeren Sperrfrist ausgingen, in manchen Fällen bis nach ihrem Ableben, fiel die bei sonstigen öffentlichen Verlautbarungen gebotene Vorsicht weniger ins Gewicht. Es konnte freier formuliert werden; das Potenzial für Eigenkritik oder Enthüllungen war gegeben. Die unter einem gewissen Zeitdruck geschriebenen Dokumente haben zudem oft einen „unmittelbaren und ungeschminkten Charakter“, etwa in Innerthal (Schwyz), wo der Pfarrer 1882 – allerdings in einem gebildeten Lesern vorbehaltenen lateinischen Text – seinen Vorgänger der Wirtstätigkeit und Trunkenheit bezichtigte; oder in St. Johannis, Riga, wo ein anonymer Chronist 1588 die Religionspolitik des Rates sowie die Machenschaften einiger Mitglieder kritisierte.[61] Heimliche Ergänzungen – wie beim Rathaus Sursee 1891, als Spengler Jost Mayer der regierenden Elite vorwarf, das Korporationsgut zu verschleudern – können ebenfalls kontrastierende bzw. korrigierende Wirkung entfalten.[62] Für alle an „Geschichte von unten“ interessierten Forscher versprechen die bisher kaum ausgewerteten Turmkugeleinlagen jedenfalls faszinierende Einblicke.

Anspruchsvoll ist weiter die Bestimmung und Abwägung der für die Zeitgenossen relevanten Funktionen. In der Literatur werden vor allem menschliche Mitteilungsbedürfnisse, der Wunsch auf individuelle/kollektive memoria, ein Drang zu Selbsthistorisierung bzw. self-fashioning, die sichere Lagerung wichtiger Inhalte und die Schutzerbittung genannt.[63] Angesichts der heterogenen Epochen, Kontexte und Beteiligten wird sich eine einzige, allgemein gültige Antwort schwerlich finden lassen. Wir haben schon gesehen, dass Einzelpersonen ihre Namen und Verdienste gerne prominent vermerkten, sei es als offizielle Berichterstatter oder durch Randglossen und Nachträge. Am offensten tat dies der ehemalige Kirchenvorsteher Vollmer 1839 in Osterode, als er in einer Beilage seine Ehefrau und die drei Söhne explizit mit dem Zweck erwähnte, „sein Andenken für die Zukunft zu sichern“.[64] Auch das Protektionsmotiv kann stark sein, besonders in von Krieg oder Naturkatastrophen betroffenen Gebieten, gelegentlich mit apotropäischen Intentionen. Neben entsprechenden Aussagen ist vor allem an die Beilagen von Reliquien, Gebeten, Evangeliumstexten etc. zu denken (vgl. Abb. 4). Mit Bezug auf eine mitgegebene Lithographie formulierte etwa ein Innerthaler Geistlicher 1882:

„H. Agatha beschütze uns und / diesen Thurm mit dem schönen / Kreuze und der schönen Kugel / vor dem Blitz und Feuersgefahr / Beschütze / diese Kirche und den Thurm auch / vor schädlichen Ungewittern / vor Ausbrüchen gewaltiger / Naturelemente, besonders vor / dem gefährlichen Kirchbach / dessen Correction bereits beschlossen … beschütze auch deinen erge- / benen wenngleich unwürdigen Die- / ner.“[65]

Trotz des nur schwer zugänglichen Aufbewahrungsorts scheint dagegen wenig einsichtig, wieso wichtige Dokumente und Objekte ausgerechnet einem Wind und Wetter ausgesetzten Behälter – anstelle einer mit mehreren Schlössern versehenen Archivtruhe – anvertraut werden sollten. In den bisher bekannten Fällen treten zwei Hauptzwecke in den Vordergrund:

  • die Selbstdarstellung eines lokalen Personenkreises anlässlich der ersten Kugelaufsetzung bzw. für den Zeitraum seit ihrer letzten Öffnung einerseits[66];

  • die Einrichtung bzw. Aufrechterhaltung einer Kommunikationslinie zwischen früheren und späteren Generationen von Ortsansässigen andererseits.

Durch alle Jahrhunderte hinweg wird das Bestreben unterstrichen, direkt zur Nachwelt zu sprechen: Beim Dresdner Jägerhof wollte man 1673 „der werthen Posteritaet [Mitteilungen] zu(o) guten Andencken“ geben; ebenso sollte 1751 die Deskription für die Meißner Albrechtsburg „zur Nachricht künfftiger Zeiten in den Knopff“ eingeleget werden; als Pfarrer von St. Johannes, Hammelburg (Bayern), wandte sich Vitus Ernst Seuffert 1855 sehr direkt an die „liebe[n] Enkel und späte[n] Nachkommen“, denen er vor seinen Ausführungen „den herzlichsten Gruß von uns Euren Vor­aeltern und Vorfahren“ übersandte; und 1927 formulierte Lehrer Kirchhof mit einem gewissen Pathos: „So ziehe denn, liebes Schriftstück [...] hinauf zur luftigen, schwindelnden Höhe des Turmes! Und verkünde in späteren, künftigen Jahren Was Allerstedt an Freud und auch an Leid hat erfahren!“ Alle Autoren durften mit gutem Grund auf das Interesse und die Empathie der Adressaten hoffen. Als die Pfarrgenossen von St. Martin, Dornbirn (Vorarlberg), 1936 einen solchen Bericht entdeckten, lasen sie „in Ehrfurcht und Ergriffenheit [...], was unsere biederen Vorfahren uns im Jahre 1857 schriftlich [...] hinterlegt hatten.“[67] In diesen Quellen lässt sich kein fundamentaler Wendepunkt im Zeitverständnis erkennen. Während Beschleunigungsfaktoren wie Industrialisierung, Urbanisierung und steigende Mobilität in der sogenannten Sattelzeit um 1800 das Auseinandertreten von Erfahrungs- und Erwartungshorizont und somit das Entstehen radikal neuer Zukunftsvorstellungen beförderten[68], scheint die andauernde örtliche Verankerung bei Kugeldokumenten ein epochenübergreifendes Gefühl der Verbundenheit zu bewahren. Alle Autoren sind sich der Möglichkeit fundamental anderer Zeitumstände bei der nächsten Öffnung bewusst, jedoch in einem fortbestehenden gemeinsamen Rahmen. In gewisser Weise kommt es bei jeder Aufdatierung zu einer Verschmelzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, weil die jeweiligen Berichte im Rückgriff auf vorgängige Modelle für nachfolgende Leser abgefasst werden.[69]

Dominieren bei diesem Quellenbestand also die Kontinuitäten? Im Überblick von den Anfängen bis zur heutigen Praxis scheinen sie zunächst tatsächlich markant, so bezüglich der Kernthemen von Bau- bzw. Reparaturanlässen, bemerkenswerten Ereignissen und Orts- bzw. Preisinformationen; dem hervorgehobenen Personenkreis von beteiligten Fachleuten und Amtsträgern; der häufigen Beigabe bedeutungstragender Objekte (besonders Münzen); sowie der auf das Gebiet des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches beschränkten Verbreitung. Substanzielle Veränderungen finden sich dagegen in der fortschreitenden Differenzierung des Medienspektrums (von gravierten Metallplatten und Pergamentmanuskripten des Mittelalters via Papier-/Druckschriften der Neuzeit bis zu den digitalen Datenträgern der Gegenwart); den im Zuge historischer Staatsbildungs- und Expansionsprozesse um regional-territoriale, kontinentale und schließlich überseeische Dimensionen erweiterten Gesichtsfeldern; der reformationsbedingten Ausbildung konfessioneller Varianten (was die Beigabe von Reliquien und das Ersuchen um Fürbitten betrifft); dem im Laufe der Jahrhunderte tendenziell zunehmenden Volumen der Einlagen sowie der für die Moderne typischen persönlichen Reflexionen, etwa zu konkurrierenden Gesellschaftsordnungen (monarchische und republikanische Modelle im 19. Jahrundert/kapitalistische und kommunistische Systeme im Kalten Krieg). Trotz gewisser Säkularisierungstendenzen in Ton und Inhalt der Nachrichten kann von einer völligen Erosion der metaphysischen Dimensionen dagegen keine Rede sein.[70]

Zusammenfassend können wir für Turmkugeleinlagen im Vergleich zu anderen Formen bewusster Tradierung die folgenden – und in dieser Kombination exklusiven – distinktiven Merkmale festhalten:

  • personell das epochenübergreifende Teamwork ihrer Zusammenstellung (im Gegensatz etwa zu Ego-Dokumenten) und die Konzentration auf ein bestimmtes ortsansässiges Publikum der Zukunft (also gerade nicht, wie bei einer Gedenktafel, alle jemals darauf blickenden Betrachter);

  • inhaltlich die Leitthemen Gebäude, Gesellschaft, Geschichte und Gottesanrufung, wodurch (im Gegensatz zu bloß Einzelaspekte aus bestimmten Perspektiven erhellenden Denkmälern) ein simultaner Zugang zu Teil- wie vergleichenden Gesamtbildern möglich wird;

  • funktional die Selbstdarstellung einer Personengruppe einerseits und die Sicherung diachroner Kommunikationslinien andererseits, nicht selten in Kombination mit einem Schutz- oder Interzessionsmotiv;

  • medial die umfassende Verzahnung von schriftlicher, visueller, materieller und – jüngst – digitaler Kommunikation (anders als bei auf einzelne Informationsträger beschränkten Repräsentationen wie Porträtgemälden);

  • räumlich die Aufbewahrung auf liminalen Turmspitzen und die hauptsächlich im Gebiet des ehemaligen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation nachgewiesene Verbreitung;

  • zeitlich die nur punktuelle – nach dem Prinzip der „absichtlichen Zufälligkeit“ [71] nicht genau vorhersehbare, aber im Durchschnitt alle ein bis zwei Generationen erfolgende – Zugänglichkeit und Ergänzbarkeit von lokal als wichtig eingestuften Informationen und Objekten (wogegen z.B. Epitaphien permanent einsehbar bleiben, Zeitkapseln auf einen späteren Fundkontext ausgerichtet sind und Grundsteine, Altäre, Heiligenstatuen oder Hohlräume in Wänden vergleichbare Einlagen im Prinzip für immer verhüllen[72]). Anders als bei Universalchroniken beschränken sich Aufdatierungen zudem auf die Periode seit der letzten Öffnung, wodurch epochenspezifische Prozesse wie technologische, konfessionelle und weltanschauliche Entwicklungen besser in den Blick kommen.

IV. Konzeptionelle und historiographische Perspektiven

Abgesehen von der offensichtlichen Attraktivität von Turmkugelarchiven für Disziplinen wie Orts-, Regional-, Mikrogeschichte und history from below, Numismatik sowie Studien zur Materialkultur versprechen sie dank ihres weiten zeitlichen und regionalen Spektrums vergleichende Erkenntnisse für weitere Felder. Die Selbstzeugnisforschung zum Beispiel erhielte Zugang zu tausenden von Eigendarstellungen und Vergangenheitsperzeptionen aus den unterschiedlichsten Lokalitäten. Auf Grund ihres oft seriellen Charakters dürften Kugelfunde die jeweiligen Verfasser zudem zu thematischen und historischen Reflexionen inspiriert haben, die sie von sich aus kaum angestellt hätten.[73] Interessant sind bewusst vorgenommene Überlieferungen gewiss auch für die jüngst intensivierte Historiographie zu Entstehung und Entwicklung des Archivwesens, insbesondere weil es sich nicht um offiziell-institutionalisierte kirchliche/staatliche Sammlungen oder persönliche Nachlässe, sondern um „Höhenarchive“ einer Ortsgemeinschaft handelt.[74] Kommunikationstheoretisch könnte man die überlieferten Berichte als in einem bestimmten Rhythmus generierte „Beobachtungen“ der Weltenläufe betrachten, also als weitere Indizien des frühneuzeitlichen Übergangs von reinen face-to-face Interaktionen zu einer differenziert-kritischen Öffentlichkeit jenseits der sonst im Vordergrund stehenden gedruckten Pamphlete und Periodika für ein gebildetes Publikum.[75] Ferner wäre an die oben bereits angesprochene langfristige Evolution von Zeit- und Zukunftsvorstellungen zu denken.

Besonderen Ertrag verspricht der Bestand schließlich für das weite Feld der memory studies. Turmkugeleinlagen stehen an einer konzeptionellen Schnittstelle zwischen Maurice Halbwachs’ kollektivem Gedächtnis, Pierre Noras lieux de mémoire und Victor Turners Liminalität. Laut Halbwachs ist „das individuelle Gedächtnis [...] immer in sozialen Gruppen [wie hier etwa Kirchengemeinden] verankert und damit kollektiv bestimmt, während das kollektive Gedächntis gleichzeitig immer des Individuums [in unserem Kontext: der einzelnen Anwohner] als Trägers bedürfe“; ebenso seien die Erinnerungen einer Gruppe „immer an bestimmte materielle räumliche Gegebenheiten gebunden“.[76] Insbesondere Noras Erinnerungsorte (die auch Ereignisse oder Objekte umfassen können) dienen Gemeinschaften, in denen traditionelle soziale Techniken der Vergangenheitsmobilisierung durch nachbar- und verwandtschaftliche Überlieferung zurücktreten, als Anknüpfungspunkte für gemeinsame Rekollektionen.[77] Nicht nur in der Vormoderne konstituierten öffentliche Gebäude wie Pfarrkirchen und Rathäuser besonders geeignete memory sites, also räumliche Referenzpunkte, wo „identities were made, social relations performed and agency asserted.“[78] In diesen Zusammenhängen prägen Turmkugelarchive lokale Erinnerungskulturen durch drei eng miteinander verwobene Prozesse:

  • Selektion: sowohl bezüglich der bei Ersteinlagen vorgenommenen Auswahl von Autoren und Themen wie den jeweiligen Rezeptions- bzw. Ergänzungsschwerpunkten der Nachwelt wird ein zwar multiperspektivisches aber immer partielles Bild gezeichnet;

  • Repräsentation: die zeitspezifischen Schichten der Kugelfüllung sind weder hermetisch voneinander abgeschlossen (wie in Gesteinsformationen oder im Modell eines sedimentären Kommunikationssystems) noch genuin interaktiv (wie in einem Online-Chatroom), sondern linear nach vorne gerichtete und explizit zur Strukturierung von Folgewahrnehmungen gedachte Selbstdarstellungen;

  • Taktierung: der von Turm zu Turm variierende Rhythmus der Kugelöffnung bzw. -aufstockung generiert ortsspezifische Periodisierungen von (meist) latenter und (punktuell) aktualisier- bzw. aufdatierbarer Erinnerungssubstanz.

Wenn wir nun – wie Jan Assmann – von einer Unterteilung des kollektiven in die zwei komplementären Bestandteile des (aktiveren, gegenwartsnahen) kommunikativen und (ferneren, tiefer gespeicherten) kulturellen Gedächtnisses ausgehen[79], sowie die Bedeutung physischer Anknüpfungspunkte mit bedenken, könnte man die jeweiligen Kugeleinlagen als Relaisstationen diachroner Erinnerungsketten verstehen. Turmkugelarchive wären somit liminale, im Grenzbereich zwischen Himmel und Erde situierte „Generationenorte“ und zwar in dem Sinne, dass ihre Nachrichten im Schnitt alle paar Jahrzehnte von einer Generation als Signale einer früheren wahrgenommen und für die nächste um weitere memory boosters ergänzt werden. In Erweiterung des von Aleida Assmann für Familien eingeführten Begriffes, bezieht sich das Bestimmungswort „Generationen-“ hier auf breitere, aber ebenso an bestimmten Orten verwurzelte Personengruppen von sukzessiven Besitzern, Verwaltern oder Nutzern eines Gebäudes.[80] Durch ihre schriftlichen und materiellen Gedächtnisstützen kann sich eine lokale Erinnerungskultur bilden, die weder – wie bei Nora – auf moderne gesellschaftliche Bedürfnisse reflektierende Ereignisse/Individuen/Epochen fokussiert noch – wie bei Jan Assmann – einen über Anwesenheitskommunikation konstituierten Gedächtnishorizont von höchstens 100 Jahren erreicht, sondern durch Neuimpulse periodische Aktualisierung erfährt. Zumindest potentiell ist damit eine ungebrochene, wenn auch fallspezifisch getaktete Traditionslinie von der ursprünglichen Errichtung eines Gebäudes über serielle Aufdatierungen bis zu seinem Abbruch, ja dem Ende der Zeiten denkbar. Der Bereich des quasimythischen kulturellen Gedächtnisses rückt dementsprechend weiter zurück. Das dürfte auch die anhaltende Faszination und Weiterführung des Brauches mit erklären, weil die jeweils aktuellen Anwohner zu einer größeren, chronologisch weit zurück reichenden community gehören und die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft nur ungern unterbrechen möchten. Angesichts ihrer substanziellen Zahl und räumlichen Verbreitung bilden Turmkugelarchive ferner wichtige – wenn auch latente, nur im Rhythmus eines extrem verlangsamten Leuchtturmzeichens aufblitzende – Komponenten der „Gedächtnislandschaften“ ganzer Ortschaften und Regionen.[81]

So treten Vergangenheit, Teile des kollektiven Gedächtnisses, Gegenwartsinteressen und Zukunftsvorstellungen in ein spezifisches Verhältnis. Die jeweilige Konstellation resultiert aus Auswahlprozessen von Informationen und Objekten, Vergegenwärtigungsmethoden – etwa das Herumzeigen und Vorlesen von Kugelfunden[82] – und konstituierenden Riten wie den Knopföffnungen und -aufsetzungen.[83] Bei jedem Reparaturanlass alimentieren „bodengestützte“ Repositorien (pfarreiliche Holztruhen, städtische Aktenschränke, persönliche Erinnerungen, kulturelle Traditionen usw.) das möglichst himmelnah platzierte Turmkugelarchiv höherer Ordnung mit einem epochenspezifischen Beitrag zum diachron expandierenden kommunikativen Gedächtnis einer Ortsgemeinschaft. Alle Einlagen harren dort ihrer wiederholten Offenlegung vor dem Publikum der Nachwelt und – ursprünglich/letztlich – dem Urteil Gottes. Wie Edmund Burke in einer besonders bewegten Zeit betonte, sei Gesellschaftsbildung generell als langfristig-kollaborativer Prozess zu deuten:

[Society] is a partnership in all science, a partnership in all art, a partnership in every virtue and in all perfection. As the ends of such a partnership cannot be obtained in many generations, it becomes a partnership not only between those who are living, but between those who are living, those who are dead, and those who are to be born.[84]

V. Bilanz

Aufgrund der hier vorgestellten Überlegungen lassen sich folgende Schlussthesen zur Verifizierung durch die zukünftige Forschung formulieren:

  • Bei Turmkugeleinlagen handelt es sich um eine bisher kaum als solche wahrgenommene und in ihrer Dichte wohl einzigartige Hinterlassenschaft des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.

  • Unter den vier Leitthemen Gebäude, Gesellschaft, Geschichte und Gottesanrufung dienen die abgelegten Schriftstücke und Objekte sowohl der Selbstdarstellung eines Personenkreises wie der Errichtung bzw. Aufrechterhaltung einer diachronen Kommunikationslinie zwischen Anwohnern verschiedener Epochen.

  • Mit Blick auf andere Formen bewusster Tradition erscheint die Kombination von mehreren Medien, ausgedehnter Schutzfrist und absichtlicher Zufälligkeit der Ergänzung als distinktiv für den Bestand.

  • In Anlehnung an einschlägige Konzepte der memory studies lassen sich Turmkugelarchive als liminale – in der Übergangszone zwischen Himmel und Erde situierte – Generationenorte verstehen, worin Nachrichten zur Vergangenheit nicht einfach sedimentär abgelegt, sondern durch Selektions-, Repräsentations- sowie Taktierungsprozesse zu latent verfügbaren Datenspeichern aufbereitet, anlässlich von im Abstand mehrerer Jahrzehnte erfolgender Öffnungen – gleichsam serieller Impulse – frisch ins lokale Bewusstsein gerufen sowie durch Anschlusseinlagen für die Nachwelt nutzbar gehalten werden. Solche Relaisstationen erlauben es, das kommunikative Gedächtnis der jeweils ortsansässigen Gruppe noch in ferner Zukunft potenziell bis zum Zeitpunkt der Turmerrichtung zurück zu verlängern.

Am ehemaligen Reichsgebiet interessierte Forscher verfügen damit über umfangreiche, noch kaum ausgewertete und teilweise gar in situ befindliche Informationen zur Erhellung orts-, kultur- und insbesondere gedächtnisgeschichtlicher Fragen in synchroner wie diachroner Perspektive. Die systematische Erfassung und Bearbeitung von Hunderten, wenn nicht Tausenden von Standorten wäre mit Vorteil überrregional anzulegen und böte einen idealen Anlass zur Zusammenarbeit zwischen den historischen Wissenschaften und einem breiteren Publikum. Der jahrhundertealte Brauch der Turmkugeleinlagen dürfte eine beschränkte Periode intensivierter Aufmerksamkeit verkraften und bald wieder in seine gewohnten Rhythmen zurück finden.

Zusammenfassung

Dieser Aufsatz untersucht den weitverbreiteten Brauch, Chroniken und Objekte in die Turmkugeln (bzw. -knäufe/-knöpfe) bedeutender sakraler und profaner Gebäude wie Pfarrkirchen, Kapellen, Ratshäuser und Schlösser zu legen. Hoch über städtischen und ländlichen Siedlungen, in einer liminalen Position zwischen Himmel und Erde, lagern diese Archive als latente Ressourcen der lokalen Gedächtniskultur. Neu entdeckt und ergänzt in einem Rhythmus „absichtlicher Zufälligkeit“, typischerweise im Abstand von ein bis zwei Generationen (oft unter großer örtlicher Anteilnahme), bieten sie faszinierende Einblicke in die Selbstdarstellung vergangener Gesellschaften und die von ihren Vertretern zur Übermittlung an die Nachwelt ausgewählten Informationen. Gestützt auf eine Datenbank von ins Mittelalter zurückreichenden Einlagen aus (bisher) fast 900 Standorten, untersucht diese erste überregional angelegte Studie die zeitliche Verteilung, das Profil der Schreibenden, Aspekte der Medien- und Materialkultur, die prominentesten Kommunikationsthemen – insbesondere Gebäude, Gesellschaft, Geschichte und Gottesanrufung – sowie epochenübergreifende (Dis-)kontinuitäten. Mit Bezug auf Fallstudien aus Deutschland und der Schweiz sowie Erkenntnisse aus der Gedächtnisforschung kreisen weitere Überlegungen um Fragen der Begrifflichkeit, methodische Herausforderungen und Funktionen, dies auch in Abgrenzung zu vergleichbaren Traditionsmedien wie Denkmälern oder Grundsteinen. Mit Blick auf ihre distinktive Prägung lokaler Erinnerungskulturen durch Prozesse der Selektion, Repräsentation und Taktierung wird abschließend vorgeschlagen, Turmkugelarchive als „Generationenorte“ zu konzeptualisieren, die eine zeitliche Ausdehnung des kommunikativen Gedächtnisses ermöglichen. Auch wenn das architektonische Stilelement in weiten Teilen Europas Verwendung findet, scheint das Phänomen serieller Einlagen aus noch nicht restlos geklärten Gründen auf (katholische wie protestantische) Gebiete des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation beschränkt.

Widmung

Für Kommentare zu früheren Versionen dieses Textes bedankt sich der Autor bei Ulrich Rasche, Peter Ziegler, Anne-Chantal Zimmermann und den anonymen Gutachtern der Historischen Zeitschrift; für freundlich erteilte Auskünfte bei Pfarreivertreterinnen und Pfarreivertretern von Birwinken, Buochs, Gersau, Osterode, Rosdorf und Wädenswil.

Published Online: 2021-06-01
Published in Print: 2021-06-01

© 2021 Walter de Gruyter, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Downloaded on 19.3.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/hzhz-2021-0014/html
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