Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht, warum der Demos in kretischen Bürgerstaaten archaischer und klassischer Zeit die hierarchische Steuerung durch die politischen Eliten akzeptierte, obwohl die prinzipielle Gleichheit aller Bürger wesentlicher Bestandteil der politischen Imagination war. Denn sämtliche kollektiv verbindlichen Entscheidungen wurden im kleinen Kreis der Oberbeamten und des Rates gewesener Oberbeamten getroffen; die Bürgerversammlung aber nahm – ohne jede Möglichkeit der Beratung und Veränderung – diese Vorlagen an und zeichnete als Urheber von Gesetzen und Dekreten verantwortlich. Dies war möglich durch ein außergewöhnlich hohes Maß der ethischen Homogenität der politischen Akteure. Zum einen wurde ein identitätsstiftender Zusammenhalt der Bürger durch die strikte politische Exklusion weiter Teile der Bevölkerung gewährleistet. Zum anderen regelten geschriebene wie ungeschriebene Gesetze zahlreiche Aspekte des öffentlichen und privaten Lebens; und eine rigide, von der Polis organisierte Paideia, ein Altersklassensystem und die Zusammenkunft der Bürger in Speisegenossenschaften reproduzierten hierarchische Strukturen und garantierten gesellschaftlichen Gehorsam gegenüber Autoritäten.
Abstract
This paper is concerned with the question why the demos in Cretan poleis during the Archaic and Classical periods accepted hierarchical governance by their elites in the decision-making process, although it was at the core of political imagination for all citizens to be equals: All collectively binding decisions were made within a small group consisting of the council of elders and the main magistrates, the kosmoi. The citizen assembly seems to have always confirmed these decisions – by majority vote. This remarkable procedure was made possible by an extraordinarily high degree of ethical homogeneity within the citizenry. Graded exclusion of large portions of the populace from political processes fostered a feeling of exclusivity and unity among the full citizens. Besides, a multitude of written and unwritten laws regulated a wide range of private and public issues. And a rigid, polis-controlled paideia, an age-class system and the obligatory participation of all citizens in syssitia reproduced structures of hierarchy and guaranteed socio-political obedience in the face of authorities.
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