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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter June 11, 2022

Andreas Kubik, Theologische Kulturhermeneutik impliziter Religion. Ein praktisch-theologisches Paradigma der Spätmoderne, Berlin / Boston (Walter de Gruyter), 2018, 405 S., ISBN 978-3-11-057612-2, € 99,95 (Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs 23).

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Rezensierte Publikation:

Andreas Kubik, Theologische Kulturhermeneutik impliziter Religion. Ein praktisch-theologisches Paradigma der Spätmoderne, Berlin / Boston (Walter de Gruyter), 2018, 405 S., ISBN 978-3-11-057612-2, € 99,95 (Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs 23).


Theologie als Kulturhermeneutik – darauf weist Andreas Kubik in seiner Rostocker Habilitationsschrift hin (10) – ist ausweislich des Gründungseditorials von Richard Osmer und Wilhelm Gräb auch dem „International Journal of Practical Theology“ als Programm eingeschrieben.[1] Kubiks profunder Studie geht es „um die Klärung von [theoriegeschichtlichen] Hintergründen, das Aufzeigen von Implikationen [und] die Erhellung des eigentlichen theologischen Gewichts“ dieses Ansatzes (39), oder, anspruchsvoller formuliert: um den Entwurf „eine[r] Art ‚Theorie‘ einer Theologischen Kulturhermeneutik impliziter Religion“ (42).

In einer knappen „Einleitung“ (1–42) skizziert er souverän die Genese des Programmbegriffs „Theologische Kulturhermeneutik“ und unterscheidet drei Typen: eine „historische Kulturwissenschaft des Christentums“, die im Gefolge Ernst Troeltschs primär an der außerkirchlichen Wirkungsgeschichte christlicher Theologie und Praxis interessiert ist (etwa Chr. Albrecht), eine Strömung, die Dogmatik unter Inanspruchnahme Schleiermachers als Religionshermeneutik entfaltet (etwa J. Lauster) und eine, seines Erachtens dominante Strömung, die Phänomene zu verstehen sucht, „welche strukturell denen der Religion ähneln oder gleichkommen“, ohne dass dessen Subjekte dafür die Rede von Religion in Anspruch nehmen (7; vgl. zur „Ursprungsintention“ dieser Strömung 11). Es geht um die theologische Arbeit mit „implizite[r] Religion“ (7; vgl. zur Begriffsbestimmung mit Günter Thomas 34 f.). Diesen Typ sieht Kubik in der deutschsprachigen Praktischen Theologie der Gegenwart etwa durch Hans-Günther Heimbrock, Albrecht Grözinger und Wilhelm Gräb repräsentiert, deren Leitideen er eindrücklich zu profilieren versteht (13–31). Alle drei gehen darin einig, „Kultur“ als „autonom“ zu respektieren, ihr gegenüber auf „die Offenheit der Urteilsenthaltung“ zu drängen und „ein sensibles Erschließungsverhalten gegenüber dem, was an der autonomen Kultur theologisch relevant ist, sei dies nun phänomenologisch, ästhetisch oder hermeneutisch orientiert“, anzustreben (31).

Die Theologische Kulturhermeneutik impliziter Religion gilt Kubik somit einerseits als so elaboriert, dass sie als „ein eigener Ansatz“ Anerkennung finden kann (33). Andererseits aber sieht er sie nach wie vor auf grundlegende Kritik stoßen, die etwa einen (zu) weiten Religionsbegriff, ein Zu-kurz-Kommen von Theologie, eine Einverleibung des Fremden moniere (32–38). Kurzum: „Es ist immer noch nicht klar, was eigentlich genau getan wird, wenn Theologische Kulturhermeneutik betrieben wird, und ebenfalls ist noch nicht hinreichend deutlich, warum und inwiefern sie eine genuin theologische Aufgabe ist.“ (39)

Um Klarheit in das so diagnostizierte Dunkel zu bringen, widmet sich Kubik in fünf Teilstudien A-E (43–342), die das Herzstück seiner Arbeit ausmachen, ausgewählten geistigen Vätern der Theologischen Kulturhermeneutik und einigen ihrer Theoreme: Paul Drews und seiner Idee einer religiösen Volkskunde bzw. „empirischen Religionsforschung“ (Teil A, 43–83), Paul Tillichs theologischer „Hermeneutik der Kultur“ (39; Teil B, 84–185), Wilhelm Diltheys „kulturwissenschaftlich verfahrender Hermeneutik“ (Teil C, 187–225), dem Phänomenologie-Verständnis des späten Edmund Husserl (Teil D, 227–278) und dem Fremdheits-Theorem bei Georg Simmel und Julia Kristeva (Teil E, 279–342). Alle fünf Studien sind „klassisch textrekonstruktiv“ angelegt (41), der Bezug zur übergreifenden Gedankenlinie wird jeweils in einem kurzen „Ertrag“ hergestellt. Allein in Teil E verfährt Kubik anders – ab S. 312 bietet er „eine eigene phänomenologische Meditation über das ‚Fremde‘ der Theologischen Kulturhermeneutik“ und identifiziert als Pointe dessen einen „dreifachen Identitätskonflikt[...] im Verhältnis von Christentum und Kultur“ (41): einen jeweils persönlichen sowie einen kirchlichen Konflikt und auch eine Verunsicherung der Kultur in ihrem Umgang mit dem Christentum.

„Mit der Aufstellung dieses dreifachen Identitätskonfliktes ist das Projekt einer Theologischen Kulturhermeneutik in seine eigene Tiefe getrieben“ (341), denn sie hat zu erkennen und anzuerkennen, dass „bruchlos mit sich identisches christliches Leben [...] weder für das Individuum noch für die Kirche möglich“ ist (341; Kursivierung B.S.). Aus theologisch-kulturhermeneutischer Perspektive gilt es folglich deutlich zu machen, dass Individuen, die sich als ‚christlich‘ verstehen, ebenso wie die Kirche dem Identitätskonflikt nicht ausweichen können (es sei denn durch Absehung vom Christlichen oder durch Fundamentalismus der Individuen, durch „Reduktion“ ihres Anspruchs oder durch Profilschärfung der Kirche; vgl. 341 und 351). Sie müssen sich ihm vielmehr stellen, ihn „aushalten und produktiv [...] wenden“ (377).

In einem knappen „Schluss“ (343–378) skizziert Kubik, was diese unaufhebbare Konflikthaftigkeit für die Praktische Theologie mit sich bringt (42): „Die Grundmaxime wäre folgende: Man versucht nicht, den bleibenden Identitätskonflikt christlichen Daseinsvollzugs (des Individuums wie der Kirche) aufzuheben, er soll vielmehr in allen religiösen Handlungsfeldern zur Darstellung gebracht werden“ (350 f.), um so eine „gebrochene aufgeklärte Frömmigkeit“ zu ermöglichen (351). Das führt Kubik kursorisch an allen „Gegenstandsbereichen gelebter Religion“ – gegliedert in Anlehnung an Schleiermachers „Praktische Theologie“ (352 f.) – vor Augen. Für den Bereich der „feiernden Darstellung“ des Christlichen etwa fordert er, kulturelle „Elemente, welche in vermeintlicher Konkurrenz zum christlichen ‚Proprium‘ stehen“, in den Gottesdienst zu integrieren und in dessen Vollzug ihr „spannungsreiches“ Verhältnis zu den „Hauptelementen der Liturgie“ zu thematisieren, oder, kürzer gesagt: „hybride“ Veranstaltungsformate wie z. B. Literaturgottesdienste zu erproben (355).

Anhand solcher – m. E. zu sehr im Programmatischen verhaftet bleibenden – Exempla zeigt Kubik: Theologische Kulturhermeneutik ist dazu geeignet, „die ganze materiale Praktische Theologie“ (377) unter veränderten Gesichtspunkten zu erschließen. Und er gelangt mit seinem innovativ daherkommenden Ansatz zu einer traditionellen wissenschaftstheoretischen conclusio: Eine Praktische Theologie, die sich als theologische Kulturhermeneutik impliziter Religion versteht, erschöpft sich keineswegs in Wahrnehmung, sondern will den Menschen in der „angefochtene[n] religiöse[n] und kirchliche[n] Praxis selbst“ (377) zum Verstehen ihrer Praxis und zum Handeln verhelfen. Gerade als Theologische Kulturhermeneutik erweist sich Praktische Theologie (mit Schleiermacher) als technische, zweckgebundene Disziplin.

Andreas Kubik, der seit 2015 die Professur für Praktische Theologie und Religionspädagogik am Institut für Ev. Theologie der Universität Osnabrück wahrnimmt, hat eine gehaltvolle theoriegeschichtliche Rekonstruktion dessen vorgelegt, was er „Theologische Kulturhermeneutik impliziter Religion“ nennt. Zwar behauptet er anfangs, er verfolge „keine [...] programmatischen – und übrigens auch keine apologetischen – Interessen in Sachen Theologischer Kulturhermeneutik“ (39), doch am Ende erscheint sie durchaus als sein Programm. Geht man seinen gedanklichen Weg mit, steht der Gedankenreichtum ihrer Väter aus Theologie und Philosophie, die Komplexität der Aufgabe und durchaus auch „die Silhouette einer materialen Praktischen Theologie im Licht einer Theologischen Kulturhermeneutik“ (41) vor Augen. Die von ihm selbst „in einer typologisierten Form versammelt[en]“ Kritikpunkte (32) indes scheinen mir trotz der theoretischen Tiefenbohrungen nicht aufgehoben und, mehr noch, nicht aufhebbar zu sein: Theologische Kulturhermeneutik ist ihrerseits nicht bruchlos zu haben, sie muss die ihr eigenen Identitätskonflikte aushalten und produktiv wenden.

Online erschienen: 2022-06-11
Erschienen im Druck: 2022-07-31

© 2022 Bernd Schröder, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 19.3.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/ijpt-2022-0024/html
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