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Publicly Available Published by De Gruyter April 18, 2020

Zum Erwerb des Deutschen als Zweitsprache durch zugewanderte Kinder im Grundschulalter: Entwicklungsstand im Bereich der Verbstellung nach zwölf Kontaktmonaten

On the acquisition of German verb order by immigrant children of primary school age: stages of development after twelve months of exposure
  • Giulio Pagonis

    ist Leiter der Abteilung „Deutsch als Zweitsprache“ am Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: kindlicher Zweitspracherwerb, Sprachstandsfeststellung, Sprachdidaktik.

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    and Monika Karas-Bauer

    war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Langzeitstudie zum Erwerb des Deutschen als Zweitsprache durch Seiteneinsteiger (Erwerbsbeginn 6–8 Jahre)“. Derzeit ist sie Mitarbeiterin im Sprachförderprojekt „Deutsch für den Schulstart“ am Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Zweitspracherwerb, Sprachförderung mehrsprachiger Kinder.

Zusammenfassung

In dem Beitrag wird die Verbstellungskompetenz von zwölf neu zugewanderten Grundschulkindern nach einem Jahr Kontakt zum Deutschen dokumentiert. Die Ergebnisse belegen zielsprachliche Kompetenz bei Hauptsätzen mit einfachem und komplexem Prädikat. Auch die Verbzweitstellung ist, anders als die Verbendstellung in Nebensätzen, für die meisten Kinder belegbar. Damit wird die Annahme implikativer Erwerbsabfolgen bestätigt, gleichzeitig relativieren die hier vorgestellten Daten frühere Befunde zur Erwerbsgeschwindigkeit.

Abstract

The article examines the acquisition of word order of twelve immigrant children after one year of exposure to German. The evidence suggests that children attain native-like proficiency in the use of main clauses with simple and complex predicates. While V2-word order is mastered by most children, they struggle with verb-final clauses / verb-final positions in embedded clauses. The data confirm the implicational nature of acquisitional sequence, while putting into perspective earlier findings on pace of acquisition.

1 Einleitung

Im vorliegenden Beitrag werden mündliche Sprachdaten von zwölf zugewanderten Schülerinnen und Schülern mit Fluchthintergrund vorgestellt, die im Schuljahr 2015/16 ohne Vorkenntnisse des Deutschen in eine baden-württembergische Vorbereitungsklasse eingeschult wurden (Seiteneinsteiger/innen).[1] Das Augenmerk wird auf ihre nach einem Schuljahr erreichte Wortstellungskompetenz im Deutschen als Zweitsprache gerichtet. Das Interesse gilt der Erwerbsgeschwindigkeit, insofern betrachtet wird, welche Wortstellungskompetenz von diesen Kindern nach einem Jahr der Beschulung in einer Vorbereitungsklasse erreicht wird.

Neben dem Erwerbsendzustand und dem Erwerbsweg stellt die Erwerbsgeschwindigkeit die dritte Perspektive dar, aus der Sprachlernprozesse generell betrachtet werden können. Es geht dabei also nicht um die Frage, welche Sprachkompetenz Lerner/innen nach zehn oder 15 Jahren Kontakt zur Sprache schließlich erreichen (Endzustand des Erwerbsverlaufs), und auch nicht um die für didaktische Anschlussfragen zentrale Abfolge, in der Lerner/innen ein Merkmal der Zielsprache schrittweise erwerben (Erwerbsweg, vgl. z. B. Kaltenbacher 2009; Müller 2015), sondern um den zeitlichen Rahmen, innerhalb dessen es Lerner/innen gelingt, bestimmte Strukturen der Zielsprache zu erwerben. Obwohl nur selten in der Spracherwerbsforschung untersucht, dürfte der Aspekt der Erwerbsgeschwindigkeit aus schulpolitischer Perspektive von zentraler Bedeutung sein, da sich die Erwartungen an das spracherwerblich Leistbare und damit auch die curricularen Planungen des Schulunterrichts vor und nach der Integration in die Regelklasse (z. B. nach einem Schuljahr) an empirischen Erkenntnissen zum Spracherwerb unter Realbedingungen messen lassen müssen.

Trotz der bildungspolitischen Aktualität der Thematik zu Seiteneinsteigern und Seiteneinsteigerinnen liegen derzeit nur vereinzelt empirische, longitudinal angelegte Studien vor, die, wie in der hier vorliegenden Arbeit, Informationen zur Geschwindigkeit des Verbstellungerwerbs bei Kindern im Alter zwischen sechs und zehn Jahren liefern (einen interessanten Überblick liefert Czinglar 2018). Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang neben Czinglar (2014) vor allem Haberzettl (2005, 2006) und die dort gewonnenen Einblicke in den Einfluss des erstsprachlichen Wissens auf den Erwerb der deutschen Verbstellung (Türkisch vs. Russisch) sowie Pagonis (2009) zum Erwerb des Deutschen als Zweitsprache durch zwei Lernerinnen mit Russisch als Erstsprache.

Die in diesem Beitrag vorgestellten Daten stammen, ebenso wie in Haberzettl (2005) und Pagonis (2009), von Kindern, die nach dem sechsten Lebensjahr mit dem Erwerb des Deutschen als Zweitsprache beginnen. Ihre besondere Relevanz gewinnt die vorliegende Studie durch die vergleichsweise große Probandengruppe (zwölf Probandinnen und Probanden) sowie den Einbezug von Erstsprachen, die für die Gruppe der neu zugewanderten Kinder nach Deutschland aktuell relevant sind (Arabisch, Dari, Tigrinya). Es wird darum gehen zu prüfen, inwieweit die in Haberzettl (2005) und Pagonis (2009) dokumentierten Erwerbsstände nach einem Kontaktjahr auch von den hier untersuchten Lerner/innen trotz unterschiedlicher Migrationserfahrungen, Beschulungsbedingungen und abweichender Erstsprachen erreicht werden. Als Ausgangspunkt und Vergleichsgrundlage für die Einschätzung der Erwerbsgeschwindigkeit der hier dokumentierten zwölf Kinder soll deshalb zunächst skizziert werden, welche Kompetenzstände im Bereich Verbstellung in Haberzettl (2005) und Pagonis (2009) beschrieben werden.

2 Theoretische Verortung

In Haberzettl (2005) wird der Verbstellungserwerb zweier türkischer und zweier russischer Kinder (Erwerbsbeginn 6 und 8 Jahre) longitudinal untersucht. Die türkischen Kinder (Me, Ne) wurden nach der Einschulung nach dem sogenannten Bayerischen Modell unterrichtet, d. h. in einer Klasse, „in der nur türkische Kinder unterrichtet werden, und dies zunächst nur in einigen Stunden von deutschen Lehrkräften auf Deutsch“ (Haberzettl 2006: 210). Die russischen Kinder (An, Eu) besuchten hingegen zunächst eine sogenannte Übergangsklasse, die speziell für Kinder ohne Deutschkenntnisse eingerichtet wurde. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass sich die türkischsprachigen von den russischsprachigen Lerner/innen hinsichtlich der Aneignung der Verbstellungsregeln des Deutschen unterscheiden, insofern die beiden Gruppen unterschiedliche Erwerbswege einschlagen. Diese Unterschiede werden in Haberzettl (2005) mit der unterschiedlichen Beschaffenheit der jeweiligen Muttersprachen erklärt. Bei Kindern mit Türkisch als Muttersprache, einer SOV-Sprache, erweist sich die Orientierung an den erstsprachlichen Strukturen als Königsweg. Die Kinder bauen die Strukturpositionen der verbalen Elemente (also die Satzklammer) von rechts nach links auf, sie beginnen also mit einer OV-Hypothese (z. B. Katze Maus essen, vgl. Haberzettl 2005: 105), was sich nach Haberzettl (2005) günstig auf den Erwerb der Verbklammer sowie der Verbendstellung im Nebensatz auswirkt: Sobald die Kinder überhaupt damit beginnen, Äußerungen mit komplexen Prädikaten (Partikelverben, Modal- und Perfektkonstruktionen) oder Nebensätze zu produzieren, weisen diese sofort eine zielsprachliche Struktur auf (deshalb Königsweg). Der Einfluss des Russischen, einer VO-Sprache, scheint die korrekte, satzfinale Platzierung von infiniten Verbteilen, Verbpartikeln sowie finiten Verben in Nebensatzstrukturen hingegen zu erschweren (Holzweg): Russischsprachige Lerner/innen produzieren über eine längere Erwerbsphase hinweg zielsprachenabweichende Strukturen mit Adjazenzstellung (Die Katze möchte essen Maus, vgl. Haberzettl 2005: 132), mit Verbdrittstellung (Und jetzt der Papa steh auf dem Stuhl mit Fiß, vgl. Haberzettl 2005: 121) sowie mit SV-Stellung in Nebensätzen (Er will, dass Mama kauft Bonbons, vgl. Haberzettl 2005: 124), bevor sie schließlich die zielsprachlichen Strukturen zu gebrauchen beginnen (vgl. Haberzettl 2005: 135).

Während es bei Haberzettl (2005) also vorrangig um Analysen zum Erwerbsweg geht, zeigt sich mit Blick auf die Erwerbsgeschwindigkeit interessanterweise, dass die russischen Kinder trotz des eingeschlagenen Holzweges früher eine zielsprachliche Kompetenz erreichen als die türkischsprachigen Kinder. Die russischsprachigen Kinder produzieren zunächst Hauptsätze mit SV-Abfolge und einfachem Vollverb. Nach einer Phase der Bildung abweichender Wortstellungsmuster (s. o.) erreichen sie aber bereits nach einem Kontaktjahr eine weitgehend zielsprachliche Verbstellungskompetenz. Die türkischen Lerner/innen benötigen hingegen trotz des Königswegs deutlich mehr Zeit für das Erreichen einer zielsprachlichen Verbstellung. Sie bilden SV-Sätze sowie Sätze mit trennbaren Verben und Modal- und Perfektkonstruktionen[2] erst ab dem zweiten Kontaktjahr, Nebensatz- und Inversionsstrukturen ab dem zweiten oder sogar dem dritten Erwerbsjahr (Haberzettl 2005: 78) – allerdings geht hier, anders als bei den russischsprachigen Kindern, keine Phase abweichender Äußerungsstrukturen voraus, in denen Adjazenzstellungen oder SV-Abfolgen in Nebensätzen gebildet würden.

In Pagonis (2009) wird der Erwerbsverlauf zweier Schwestern mit russischer Erstsprache über 18 Monate hinweg dokumentiert. Das Hauptinteresse gilt dabei der Frage, inwieweit sich Erwerbswege und Erwerbsgeschwindigkeiten der beiden Lernerinnen vor dem Hintergrund des divergierenden Erwerbsalters (8 vs. 14 Jahre zu Erwerbsbeginn) unterscheiden. In diesem Zusammenhang werden in Pagonis (2009) zum Ende des Beobachtungszeitraums (also nach 18 Kontaktmonaten) deutliche Unterschiede in der Verbstellungskompetenz nachgewiesen (zu den Unterschieden und zu möglichen Ursachen für diese Erwerbsunterschiede vgl. Pagonis 2009: 297). Aber auch schon nach zwölf Kontaktmonaten zeigen sich Unterschiede im Erwerbsstand der beiden Schwestern: NAS ist zu Erwerbsbeginn acht Jahre alt, als sie mit ihrer Familie nach Deutschland einreist und ohne Deutschkenntnisse in die zweite Regelklasse einer Kölner Grundschule eingeschult wird. Nach zwölf Kontaktmonaten hat NAS die Verbzweitstellung des Deutschen produktiv erworben, Inversionsabfolgen werden produktiv und variabel gebildet, anfängliche Verbdrittstellungen, die aus dem rigiden Festhalten an einer SV-Strategie resultierten (Jetzt sie geht schreiben, vgl. Pagonis 2009: 288), sind nach dem ersten Kontaktjahr also gänzlich überwunden. Nach etwa 13 Kontaktmonaten gehen zudem abweichende Adjazenzstellungen bei Modal- und Perfektkonstruktionen so weit zurück, dass von einer vollzogenen Restrukturierung des lernergrammatischen Wortstellungsmusters mit Blick auf die Etablierung des rechten Satzklammerteils und damit der Distanzstellungen gesprochen werden kann. Außerdem bildet NAS ab dem 13. Kontaktmonat keine abweichenden Verbstellungen in eingeleiteten Nebensätzen mehr, auch in diesem Bereich wird also nach dem ersten Kontaktjahr eine zielsprachliche Kompetenz erreicht.

Ihre ältere Schwester DAS ist zum Zeitpunkt der Einreise und der Einschulung in die neunte Regelklasse eines Gymnasiums bereits 14 Jahre alt. Anders als bei ihrer jüngeren Schwester weisen DAS spontansprachliche Äußerungen nach zwölf Kontaktmonaten eine SV-Stellung auf, die bei einleitender Verwendung von temporalen oder lokalen Adverbialen konsequent zu Verbdrittstellungen führt (In New York ich war für ein Tage, vgl. Pagonis 2009: 274). Zwar treten ab dem sechsten Kontaktmonat vereinzelt Inversionsstrukturen auf, zum Ende des ersten Kontaktjahres unterlässt DAS aber immer noch in etwa einem Drittel aller obligatorischen Kontexte die Inversion und produziert Verbdrittstellungen. Noch deutlicher ist die Diskrepanz zum Kompetenzniveau ihrer Schwester im Bereich der Verbendstellung in Nebensätzen erkennbar. Hier bildet DAS eingeleitete Nebensätze im zwölften Kontaktmonat noch immer in 70 Prozent aller Fälle mit Hauptsatzabfolgen (Also ich habe ihm gesagt, dass ich kann diese Wörter nicht so schreiben, vgl. Pagonis 2009: 281); den rechten Satzklammerteil besetzt DAS hingegen nach einem Kontaktjahr wie ihre Schwester zielsprachlich in Modal- und Perfektkonstruktionen (s. dazu auch die Befunde in Czinglar 2014).

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die wesentlichen und typologisch markanten Merkmale der deutschen Verbstellung nach zwölf Kontaktmonaten nur von NAS erworben worden sind, während bei DAS der Erwerb der V2-Position und vor allem der Asymmetrie von Haupt- und Nebensatzstellung nach einem Kontaktjahr noch nicht abgeschlossen ist. Die russischen Kinder in Haberzettl (2005), die in einem ähnlichen Alter wie NAS mit dem Erwerb des Deutschen beginnen, haben nach einem Kontaktjahr analog zu NAS ebenfalls eine zielsprachliche Verbstellungskompetenz erreicht (Distanzstellung, Verbzweit- und weitgehend auch Verbendstellung in Nebensätzen), während die gleichaltrigen türkischen Kinder während des ersten Kontaktjahres kaum damit beginnen, komplexe Äußerungen zu produzieren, die Nebensatzstellungen, Inversionsabfolgen oder Distanzstellungen (Modal- und Perfektkonstruktionen) erfordern würden, d. h. dass in den Sprachdaten der ersten zwölf Monate keine obligatorischen Kontexte für diese Strukturen nachgewiesen werden können.

Tab. 1

Kompetenzstände zur Verbstellung des Deutschen als Zweitsprache nach ca. einem Kontaktjahr

Haberzettl (2005)

(Erstsprache variiert)
Pagonis (2009)

(Alter variiert)
Satzklammer

V2-Position (Inversion)

Asymmetrie Haupt-/Nebensatz
L1 Russisch,

Erwerbsbeginn 6–8 Jahre

erworben

erworben

weitgehend erworben
L1 Russisch,

Erwerbsbeginn 8 Jahre

erworben

erworben

erworben
Satzklammer

V2-Position (Inversion)

Asymmetrie Haupt-/Nebensatz
L1 Türkisch,

Erwerbsbeginn 6–8 Jahre

nicht nachweisbar (s. aber Fußnote 3)

nicht nachweisbar

nicht nachweisbar
L1 Russisch,

Erwerbsbeginn 14 Jahre

erworben

nicht erworben

nicht erworben

Tabelle 1 fasst die bisher skizzierten Ergebnisse zusammen. Es zeigt sich: Sowohl das Alter zu Erwerbsbeginn (hier: 68 vs. 14 Jahre) als auch die Erstsprache (hier: Russisch vs. Türkisch) üben möglicherweise einen regelhaften Einfluss auf die Geschwindigkeit aus, mit der die Verbstellungsmuster des Deutschen erworben werden – wobei beachtet werden muss, dass der in Haberzettl (2005) dokumentierte Geschwindigkeitsvorteil der russischen Lerner/innen denkbarerweise auch mit Faktoren zusammenhängen könnte, die außerhalb des Lerners liegen, wie zum Beispiel die Qualität und Quantität des Sprachkontaktes. Mit der im folgenden Kapitel vorgestellten Erwerbsstudie soll nun der Frage nachgegangen werden, welche Kompetenzstände nach zwölf Kontaktmonaten von zwölf Lerner/innen erreicht werden,

  1. deren Alter zu Erwerbsbeginn im Durchschnitt acht Jahre beträgt (Obergrenze der Alterskohorte in Haberzettl 2005 und Alter der jüngeren Lernerin aus Pagonis 2009);

  2. deren Erstsprachen Arabisch (VO-Stellung) bzw. Dari und Tigrinya (beides OV-Stellung, vgl. Zeldes/Kanbar 2014; Adli 2014) Grundwortstellungsmuster aufweisen, die entweder dem Russischen (VO) oder dem Türkischen (OV) entsprechen.

Von den bisher skizzierten Befunden zur Erwerbsgeschwindigkeit ausgehend, ist zu erwarten, dass das frühe Erwerbsalter den zwölf Seiteneinsteiger/innen einen raschen Erwerbsfortschritt garantiert. Mit Blick auf den Einfluss der Erstsprachen kann ausgehend von Haberzettl (2005) nur gesagt werden, dass eine OV-Erstsprache (hier: Dari und Tigrinya) zwar einen Königsweg im Erwerb der deutschen Verbstellung sicherstellt. Allerdings mündet dieser Erwerbsvorteil gegenüber Lerner/innen mit VO-Erstsprachen nicht zwangsläufig in eine hohe Erwerbsgeschwindigkeit. Diese scheint von der Ausprägung weiterer Einflussfaktoren, wie etwa dem Zugang zur Zielsprache, abhängig zu sein.

3 Anlage der Studie

In der vorliegenden Erwerbsstudie zur Verbstellung im Deutschen als Zweitsprache wurden zwölf Zuwandererkinder aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Eritrea untersucht, deren Deutscherwerb im Alter zwischen 6;0[3] bis 10;5 Jahren mit der Einschulung in eine Vorbereitungsklasse begann. Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über relevante Hintergrunddaten zu den Kindern. Die Daten wurden über umfassende Interviews mit den Kindern und ihren Eltern gewonnen, die in den jeweiligen Erstsprachen geführt wurden.

Tab. 2

Überblick über Probandinnen und Probanden

Kürzel Geschlecht Alter zu Erwerbsbeginn beschult seit Herkunftsland, Erstsprache
TAN M 8;5 Dez. 2015 Syrien, Arabisch
COM M 10;5 Dez. 2015 Syrien, Arabisch
MAS W 8;3 Dez. 2015 Syrien, Arabisch
TAM W 6;1 Dez. 2015 Syrien, Arabisch
AAS W 9;0 Dez. 2015 Syrien, Arabisch
AAH M 9;4 Mai 2016 Irak, Arabisch
ASU M 7;4 Mai 2016 Irak, Arabisch
HAB W 9;2 Mai 2016 Afghanistan, Dari
HLE W 6;0 Mai 2016 Afghanistan, Dari
MOS W 6;2 Mai 2016 Afghanistan, Dari
MIS W 9;2 Mai 2016 Afghanistan, Dari
MAN M 7;9 Mai 2016 Eritrea, Tigrinya[4]

Tabelle 2 ist zu entnehmen, dass die Einschulung in die Grundschule zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgte (Dezember 2015 bzw. Mai 2016). Insgesamt war die Fluktuation innerhalb der Vorbereitungsklasse groß: Während im Laufe des einjährigen Untersuchungszeitraums (von April 2016 bis Juli 2017) neue Schüler/innen ohne Vorkenntnisse im Deutschen in den Klassenverbund aufgenommen wurden (z. B. AAH, ASU), wurden sprachlich stärkere Schüler/innen aus der Vorbereitungsklasse in Regelklassen eingegliedert (z. B. AAS, TAM). Hinzu kommt, dass einige der Familien im Laufe des Schuljahres das Recht auf eine eigene Wohnung erhielten, was dazu führte, dass die betroffenen Kinder die Vorbereitungsklasse umzugsbedingt verlassen mussten. Trotz dieser Fluktuation konnte die Datenerhebung mit allen Kindern weitergeführt werden.

Erhebung und Aufbereitung der Sprachdaten

Die Datenerhebung begann im April 2016 und umfasste sowohl sprachliche Daten als auch Hintergrundinformationen, die sich vor allem auf die Sprachbiografie der Kinder beziehen. Um den Erwerbsprozess der Kinder in dem untersuchten Zeitraum valide erfassen zu können, wurden Einzeltestungen in vierwöchigen Abständen durchgeführt. Somit liegen pro Kind Daten zu maximal 13 Zeitpunkten vor, die den Erwerbsprozess über einen Zeitraum von etwa einem Jahr dokumentieren. Die Erhebungen fanden in der Regel in einem gesonderten Klassenraum statt und dauerten pro Kind jeweils 25 bis 45 Minuten. Es kamen unterschiedliche Verfahren der Sprachstandsfeststellung zum Einsatz, die die mündliche Sprachkompetenz in zentralen syntaktischen, morphologischen und lexikalischen Bereichen des Deutschen erfassen. Da sich der vorliegende Beitrag auf die Beschreibung der Erwerbsstände im Bereich der Wortstellung nach zwölf Kontaktmonaten beschränkt, wird im Folgenden nur auf diejenigen Verfahren eingegangen, die zum zwölften Kontaktmonat zur Erhebung der Wortstellungskompetenz eingesetzt worden sind: zum einen die von Grießhaber entwickelte Profilanalyse (Grießhaber 2010), zum anderen das für DaZ-Kinder normierte und standardisierte Verfahren Linguistische Sprachstandserhebung – Deutsch als Zweitsprache, kurz LiSe-DaZ (Schulz/Tracy 2011).

Die mit der Profilanalyse ausgewerteten Sprachdaten umfassen Versprachlichungen zweier Bildergeschichten sowie Äußerungen, die im Rahmen eines freien Gesprächs über alltagsrelevante Inhalte erhoben wurden. Die Sprachdaten wurden zunächst nach CHAT-Konventionen (vgl. MacWhinney 2019) mit CLAN (Computerised Language Analysis) transkribiert; anschließend wurden die Lerneräußerungen einer der fünf Profilstufen zugeordnet (0=Bruchstücke, 1=Finitum, 2=Separation, 3=Inversion, 4=Verbendstellung).

Aus der LiSe-DaZ-Testung werden nur die Ergebnisse der Subtests Satzklammer und Subjekt-Verb-Kongruenz betrachtet. Auch wenn Lise-DaZ lediglich für mehrsprachige Kinder bis zu einem Alter zu Erwerbsbeginn von vier Jahren normiert ist, wurde das Verfahren trotz der höheren Erwerbsalter im Rahmen der Datenerhebung eingesetzt, da es den Vorteil bietet, unterschiedliche Verbstellungstypen standardisiert zu elizitieren. Zudem erlaubt das Verfahren, die ermittelten Sprachkompetenzen mit denen jüngerer DaZ-Lerner/innen zu vergleichen, was trotz fehlender Normierung aufschlussreich für die Frage des Alterseinflusses ist. Der Abgleich mit einer zuvor definierten Alters- und Kontaktdauer-Norm, die dem Profil der hier erhobenen Seiteneinsteiger/innen entspricht, ist hingegen nicht möglich.

4 Ergebnisse

Die folgende Tabelle stellt den Entwicklungsstand der hier untersuchten Kinder nach einem Kontaktjahr im Überblick dar. In der Tabelle werden die mit beiden Verfahren (Profilanalyse und LiSe-DaZ) ermittelten Erwerbsstufen gegenübergestellt, um einen Abgleich der Ergebnisse aus beiden Testverfahren zu erleichtern. Die Gegenüberstellung zeigt, dass beide Testverfahren ein übereinstimmendes Kompetenzbild der Kinder wiedergeben. Diskrepanzen in der Stufenzuordnung (siehe z. B. COM: Stufe 1 (FIN) vs. ESS III) lassen sich dadurch erklären, dass Lise-DaZ darauf verzichtet, zwischen Sätzen mit einfachen und komplexen Prädikaten sowie Sätzen mit adverbialer Vorfeldbesetzung zu differenzieren (beides Zuordnung zu Stufe ESS III), während in der Profilanalyse eine solche Differenzierung vorgenommen wird (Stufe 1: Finitum vs. Stufe 2: Separation vs. Stufe 3: Inversion).

Tab. 3

Überblick über den Entwicklungsstand beim Erwerb von Verbstellung und Finitheit

Kürzel Erstsprache Profilanalyse(Grießhaber 2010) LiSe-DaZ (Schulz/Tracy 2011)
Satzklammer Subjekt-Verb-Kongruenz
TAN Arabisch Stufe 3 (INV)[5] ESS III 71 %
COM [6] Arabisch Stufe 1 (FIN) ESS III
MAS Arabisch Stufe 2 (SEP)[7] ESS III 40 %
TAM Arabisch Stufe 4 (NS) ESS IV 83 %
AAS Arabisch Stufe 3 (INV) ESS III 92 %
AAH Arabisch Stufe 3 (INV) ESS III 94 %
ASU Arabisch Stufe 3 (INV) ESS III 93 %
HAB Dari Stufe 3 (INV) ESS III 95 %
HLE Dari Stufe 3 (INV) ESS III 89 %
MOS Dari Stufe 3 (INV) ESS III 80 %
MIS Dari Stufe 3 (INV) ESS III 93 %
MAN Tigrinya Stufe 2 (SEP) ESS III 96 %

Die Kinder weisen in Bezug auf das Alter zum Testzeitpunkt ein hohes Maß an Variation auf (6;11–11;4). Auch hinsichtlich der Erstsprachen liegt Heterogenität vor: Sieben Kinder sprechen Arabisch (VO-Stellung), vier Kinder Dari (OV), ein Kind hat Tigrinya (OV) als Erstsprache. Angesichts dieser Vielfalt und des in Haberzettl (2005) dokumentierten Einflusses der herkunftssprachlichen Verbstellung überrascht das hohe Maß an Einheitlichkeit in den Erhebungsergebnissen: Unter den oben geschilderten Beschulungsbedingungen sind elf der zwölf Kinder nach einem Kontaktjahr offenbar in der Lage, einfache Hauptsätze zielsprachlich zu produzieren und Äußerungen mit der für die deutsche Wortstellung charakteristischen Klammerstruktur zu bilden. So wird zumeist der linke Satzklammerteil mit finiten Vollverben bzw. mit Auxiliaren und Modalverben besetzt, der rechte Teil mit Infinitiven, Verbpartikeln und Partizipien:

  1. Er hat den Karotte in Hand behalten. (AAS)

  2. Und die Schule muss mir ein Mensakarte geben. (HAB)

Neun der zwölf Kinder produzieren in obligatorischen Kontexten zudem Inversionsstrukturen und realisieren bei Vorfeldbesetzung durch temporale Adverbiale zielsprachliche Verbzweitstellungen:

  1. Heute geht sie nicht in die Schule. (HAB)

  2. Dann war das so spät. (MIS)

  3. Und dort sollen wir unsere Füße so machen. (HLE)

Allerdings variiert hier das Maß an Zielsprachlichkeit zwischen den Kindern erheblich, insofern das Verhältnis von zielsprachenkonformen und -abweichenden Äußerungen divergiert: So realisiert zum Beispiel HAB die Umkehr der Verb-Subjekt-Abfolge in Hauptsätzen in allen obligatorischen Kontexten, während AAH dies nur in einem Drittel der obligatorischen Kontexte gelingt.

Die übrigen Kinder produzieren entweder keine längeren zusammenhängenden Textpassagen, welche den Gebrauch kohäsionsstiftender Mittel und damit eine inversive Wortstellung erfordern würden (COM), oder sie produzieren SV-Abfolgen mit dem Verb an dritter Stelle (MAN, MAS):

  1. Dann wir haben so Fußball gespielt. (MAN)

Der Erwerb der V2-Position (Inversion) wird in der Erwerbsforschung als besonders herausfordernd eingeschätzt (s. die Lernerin DAS in Pagonis 2009), da davon ausgegangen wird, dass lernergrammatische Restrukturierungen der kanonischen SV-Grundordnung dann besonders aufwendig sind, wenn sie mit strukturellen Veränderungen innerhalb des Äußerungsaufbaus einhergehen. Nach Pienemann (1989) ist beim Erwerb der V2-Struktur des Deutschen genau dies notwendig: die Bewegung der Subjektposition ins Mittelfeld – anders als etwa bei der satzperipheren Modifikation des Äußerungsaufbaus beim Erwerb der Position für den rechten Satzklammerteil, die nach Pienemann deshalb auch schon früher im Zweitspracherwerb vollzogen wird. Die hier vorgestellten Daten bestätigen diese implikative Abfolge prinzipiell, insofern nach einem Kontaktjahr kein Kind über die Inversionsstruktur verfügt, ohne auch die Satzklammer produktiv erworben zu haben, wohingegen drei Kinder (TAN, MAS und MAN) die Satzklammer erworben haben und zeitgleich in Inversionskontexten SV-Abfolgen bilden.

Anders als V2- und Distanzstellung scheint der Erwerb der Asymmetrie zwischen Haupt- und Nebensatzabfolge nach zwölf Kontaktmonaten lediglich bei einem Kind (TAM) abgeschlossen zu sein. In obligatorischen Kontexten werden von den übrigen Probandinnen und Probanden stattdessen Hauptsatzstellungen produziert:

  1. Ah ich weiß, dass wir gehen zu Bücher [...]. (MOS)

Die Daten lassen somit darauf schließen, dass die Asymmetrie von Haupt- und Nebensatzstellung als letzter Schritt auf dem Weg zur Zielsprachlichkeit im Bereich der Grundwortstellung gemeistert wird. Dies könnte darin begründet sein, dass im Deutschen koordinierte und subordinierte Konjunktionen sowie Adverbien trotz funktionaler Ähnlichkeit unterschiedliche Verbstellungen nach sich ziehen. Zudem erfordern nicht alle Subjunktionen eine satzfinale Stellung des finiten Verbs, was zusätzlich die Bewältigung der Erwerbsaufgabe erschweren könnte.

Es lässt sich festhalten, dass die hier skizzierten Lernerdaten den in der Literatur diskutierten implikativen Entwicklungsverlauf beim Verbstellungserwerb im Wesentlichen bestätigen (Grießhaber 2010; Schulz/Tracy 2011), nach welchem der Erwerb einer höheren Stufe die Beherrschung der darunterliegenden Stufen miteinschließt (Inversion impliziert Distanzstellung, Nebensatzstellung impliziert Verbpositionen im Hauptsatz).

Betrachtet man die elizitierten Äußerungen des LiSe-DaZ-Verfahrens hinsichtlich der Subjekt-Verb-Kongruenz, einem Merkmal, das im Erst- und im frühen Zweitspracherwerb schon relativ früh und in zeitlicher Nähe zum Erwerb der V2-Stellung des Deutschen gemeistert wird, so wird deutlich, dass neun der zwölf Kinder nach zwölf Kontaktmonaten einen Korrektheitswert von mindestens 80 Prozent erreicht haben. Lediglich drei Kinder (TAN, COM, MAS) weisen Schwierigkeiten mit der zielsprachlichen Finitheitsmarkierung auf. Diese drei Kinder gehören interessanterweise zu jenen insgesamt vier Kindern, deren Leistungen auch in Bezug auf die syntaktische Komplexität unterhalb des Gruppendurchschnitts liegen. Betrachtet man zudem die lexikalische Vielfalt der produktiv gebrauchten Verben in der Sprachproduktionsaufgabe von Lise-DaZ, so zeigt sich, dass die erwähnten drei Kinder über einen relativ zur Gesamtgruppe wenig ausdifferenzierten Wortschatz verfügen. Dieser Abgleich der Ergebnisse zur Wortstellungskompetenz mit den Befunden zum Wortschatzumfang und zur Subjekt-Verb-Kongruenz ist mit der in Grießhaber (2010) postulierten Annahme vereinbar, dass die Wortstellungskompetenz prognostische Relevanz für weitere Kompetenzbereiche hat.

Bei der Betrachtung der Testergebnisse darf allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass eine stufenbezogene Darstellung des kindlichen Sprachstandes die Gefahr birgt, dass qualitative Unterschiede zwischen einzelnen Kindern, die rechnerisch der gleichen Erwerbsstufe zugeordnet werden, nicht abgebildet werden. So zeigen beispielsweise die spontansprachlichen Daten von TAN, dass einfache Hauptsätze mit kanonischer Abfolge nicht mit Konnektoren verbunden werden. Lediglich in zwei Fällen besetzt TAN das Vorfeld durch andere Satzglieder als dem Subjekt, was dann zu abweichenden Verbstellungsmustern führt:

  1. Das ich kann auch. (TAN)

Obwohl die Sprachdaten von TAN also keine Belege für Inversionsstellung in deklarativen Hauptsätzen liefern, erreicht das Kind nach der Auswertungssystematik dennoch Profilstufe 3 (Inversion), und zwar aufgrund der Verwendung von zielsprachlichen Frage- und Imperativsätzen (z. B. Sprechst du?, Ist da [Name des Kindes]?, Warte!). Wenn in weiteren Erwerbsstudien eine ähnliche zeitliche Dissoziation zwischen dem zielsprachlichen Auftreten unterschiedlicher Typen von V2-Verbstellungen nachgewiesen wird (vgl. hierzu Jabnoun 2006: 147), so wären Stufenmodelle und Auswertungskriterien entsprechend zu differenzieren, um fehlgeleitete Einordnungen der Verbstellungskompetenz zu vermeiden.

5 Diskussion

In dem vorliegenden Beitrag wurde der Frage nachgegangen, welche Verbstellungskompetenz von zwölf Seiteneinsteiger/innen (Erwerbsbeginn zwischen 6 und 10 Jahren) nach einem Kontaktjahr zum Deutschen als Zweitsprache erreicht wird. Die zentralen Befunde, die sich übereinstimmend aus den beiden eingesetzten Erhebungsverfahren (Profilanalyse und LiSe-DaZ) ableiten lassen, können wie folgt zusammengefasst werden:

  1. Anders als die Ergebnisse von Haberzettl (2005) erwarten lassen könnten, lassen sich bei den hier untersuchten Kindern nach einem Kontaktjahr keine strukturellen Einflüsse der Erstsprachen (OV oder VO) auf die Verbstellungskompetenz nachweisen. Auch wenn L1-Einflüsse auf den Erwerbsweg in früheren Erwerbsphasen vorhanden gewesen sein dürften, sind diese nach einem Kontaktjahr also offenbar nicht mehr relevant:[8] Mit einer Ausnahme verfügen alle Kinder über die Satzklammer, acht von zwölf Kindern haben zudem eine abstrakte Verbzweitposition in Aussagesätzen etabliert, wobei über den zwölften Kontaktmonat hinaus vereinzelt Abweichungen von der V2-Struktur nachweisbar bleiben. Die Verbendstellung in Nebensätzen wird hingegen (mit Ausnahme von TAM) von keinem der untersuchten Kinder zielsprachlich produziert; stattdessen sind nach einem Kontaktjahr für alle Kinder überwiegend SV-Abfolgen in Nebensatzkontexten nachweisbar (z. B. Ah ich weiß, dass wir gehen zu Bücher [...]).[9]

  2. Damit bestätigen die Sprachdaten aller Kinder die Annahme einer implikativen Erwerbsabfolge, zumindest insofern die Erwerbsreihenfolge Klammer- vor Inversionsstruktur sowie Verbzweit- vor Verbendstellung bei allen Kindern Bestätigung findet.

  3. Mit Blick auf die Finitheitsmarkierung am Verb zeigen die hier diskutierten Daten ein widersprüchliches Bild. Einerseits ist der von Clahsen (1982) postulierte korrelative Zusammenhang zwischen Beherrschung der Verbzweitposition und der Finitheitsmarkierung auch bei diesen jungen Lerner/innen belegbar: Die beiden Kinder mit den niedrigsten Korrektheitswerten bei der Subjekt-Verb-Kongruenz (COM und MAS) gehören gleichzeitig auch zu den drei Kindern, die noch keine Verbzweitposition erworben haben. Andererseits liegen zahlreiche Belege für Verbdrittstellungen mit finitem Verb vor: Dann sie hatte eine Karotte; Dann wir haben acht zu eins gewonnen (MAN), was gegen den angenommenen Zusammenhang spricht (vgl. hierzu auch Jabnoun 2006 und Haberzettl 2005).

  4. Hinsichtlich der Rolle des Alters zu Erwerbsbeginn wird insgesamt die Beobachtung bestätigt, dass im frühen Erwerb des Deutschen als Zweitsprache (hier zwischen 6 und 10 Jahren) bereits nach einem Kontaktjahr Kompetenzstände nachgewiesen werden können, die von jugendlichen und erwachsenen Lerner/innen des Deutschen als Zweitsprache entweder deutlich später (Czinglar 2018: 168) oder aufgrund von Fossilierungserscheinungen nie erreicht werden (Klein/Perdue 1997).

  5. Dieser robuste Altersvorteil wird bei den türkischsprachigen Kindern in Haberzettl (2005) offensichtlich durch den Einfluss weiterer, externer Faktoren ausgehebelt, zumindest mit Blick auf die Erwerbsgeschwindigkeit. Denn während die hier untersuchten dari- und tigrinyasprachigen Kinder nach einem Kontaktjahr eine weitgehend stabile, abstrakte V2-Position erworben haben, weist Haberzettl (2005) für die türkischen Kinder (trotz Königswegs) auch noch nach einem Kontaktjahr eine Dominanz abweichender V3-Stellungen nach, obwohl beide Lernergruppen über Erstsprachen mit gleichem Grundverbstellungsmuster verfügen.

  6. Der Grund für diese Unterschiede in der Erwerbsgeschwindigkeit könnte in unterschiedlich ausgeprägten Erwerbsbedingungen liegen: Im Vergleich zu den türkischen Kindern in Haberzettl (2005), die nach dem sogenannten Bayerischen Modell unterrichtet wurden (s. o.), wurden die hier untersuchten Kinder durchgängig auf Deutsch unterrichtet.

  7. Das gleiche Argument könnte auch den zweiten auffälligen Unterschied zu den oben zitierten Erwerbsstudien erklären: Obwohl sechs der sieben hier untersuchten arabischsprachigen Kinder die Verbzweitstellung nach einem Kontaktjahr produktiv gebrauchen, bleiben sie, bei gleicher erstsprachlicher Verbstellung, hinter der Kompetenz der gleichaltrigen russischsprachigen Kinder in Haberzettl (2005) und Pagonis (2009) zurück, insofern ihre Korrektheitswerte in Inversionskontexten niedriger ausfallen und mindestens ein arabischsprachiges Kinder selbst Satzklammer und Verbzweitstellung nicht sicher beherrscht. Auf die Ursache für diesen Geschwindigkeitsvorteil der russischen Lerner/innen in Haberzettl (2005) deutet der Hinweis auf die günstiger ausgeprägten Inputbedingungen hin: „Im Gegensatz dazu haben [die russischsprachigen Kinder] umfassenden Kontakt zu deutschsprachigen Lehrkräften und Schul- bzw. Spielkameraden“ (Haberzettl 2006: 210). Diese Situation weicht erheblich von den außerschulischen Lebensbedingungen der hier untersuchten arabischsprachigen Kinder ab: Soziale Kontakte zu deutschen Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern waren im Flüchtlingsheim kaum vorhanden (s. hierzu auch die Diskussion in Czinglar 2018).

Dieser Abgleich mit Haberzettl (2005) und Pagonis (2009) und die Tatsache, dass sich alle hier untersuchten Kinder (mit OV- und VO-Erstsprachen) im ersten Kontaktjahr etwa gleich weit entwickelt haben, legt also nahe, dass die Inputsituation stärker als der Einfluss des erstsprachlichen Wissens eine entscheidende Rolle für den Erwerbsprozess spielt – zumindest mit Blick auf die Erwerbsgeschwindigkeit und bei Lerner/innen in diesem Erwerbsalter. Ein frühes Erwerbsalter scheint dabei offenbar eine notwendige, aber gewiss keine hinreichende Bedingung für einen raschen Erwerb der Verbstellung des Deutschen zu sein. Damit der Altersvorteil sich tatsächlich auswirkt, bedarf es geeigneter Rahmenbedingungen, zu denen unter anderem der Zugang zu zielsprachlichem Input zählt. Dieser kaum überraschende Befund kann mit Blick auf Seiteneinsteiger/innen in die dringende Forderung nach einem dezidiert sprachförderlichen Beschulungskontext übersetzt werden. Geht man prinzipiell von der Annahme aus, dass die erwerbsverzögernden Folgen des Mangels an sprachlichem Input (etwa im familiären Umfeld) durch eine geeignete, sprachstandssensitive Sprachdidaktik kompensiert werden können, so wird die Dringlichkeit evident, dass verstärkt DaZ-Expertise in den Unterrichtskontext einfließen muss. Lehr- und Förderkräfte, die gezielt und flexibel Diagnose- und Fördermaßnahmen planen und umsetzen können, würden zur Sprachförderlichkeit eines Lernumfeldes beitragen, das sich unter anderem auch positiv auf die Erwerbsgeschwindigkeit und somit auf die Bildungsteilhabe neu zugewanderter Kinder mit Deutsch als Zweitsprache auswirken würde.

Über die Autoren

Giulio Pagonis

ist Leiter der Abteilung „Deutsch als Zweitsprache“ am Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: kindlicher Zweitspracherwerb, Sprachstandsfeststellung, Sprachdidaktik.

Monika Karas-Bauer

war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Langzeitstudie zum Erwerb des Deutschen als Zweitsprache durch Seiteneinsteiger (Erwerbsbeginn 6–8 Jahre)“. Derzeit ist sie Mitarbeiterin im Sprachförderprojekt „Deutsch für den Schulstart“ am Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Zweitspracherwerb, Sprachförderung mehrsprachiger Kinder.

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Online erschienen: 2020-04-18
Erschienen im Druck: 2020-07-07

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 11.12.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/infodaf-2020-0061/html
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