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Publicly Available Published by De Gruyter Saur November 15, 2018

‘Fake news’ und die ganze Bandbreite des Informationsfeldes

15. ISKO-Tagung in Porto (PT) vom 9. bis 11. Juli 2018

  • Axel Ermert EMAIL logo and Monika Hagedorn-Saupe

Die seit 1990 inzwischen 15. Konferenz der „Internationalen Gesellschaft für Wissensorganisation“ (ISKO) wurde von der hispanischen Sektion (Portugal, Spanien) der ISKO ausgerichtet, war mit rund 200 Teilnehmern gut besucht und bot ein fast übervolles Programm, das sich in Buchform in einem 992-seitigen Proceedings-Band niederschlug (www.ergon-verlag.de). Es wurde breiter Raum gegeben, damit sich eine große Zahl von Teilnehmenden (natürlich gerade auch aus dem hispanischen Raum, Brasilien u. a.) mit ihren Themen und Projekten präsentieren und diese zur Diskussion stellen konnten. Der Tagungsband, ihnen entsprechend, ist entlang den Themen der Konferenz eingerichtet (und enthält die Beiträge in der alphabetischen Reihenfolge ihrer Titel):

  1. „Foundations and methods for knowledge organization“

  2. „Interoperability towards information access“

  3. „Societal challenges in knowledge organization“

  4. Posters

Den eröffnenden Keynote-Vortrag hielt Prof. David Bawden (City University London) zum Thema „Supporting truth and promoting understanding: Knowledge Organization and the curation of the infosphere“. „Fake news“ – nur in ihrer massenhaft auftretenden, zusammen geballten heutigen Form ein neues Phänomen – und fragwürdige Behauptungen, gerade auch über das Internet verbreitet, sind ein zentrales Problem für die gegenwärtige Informationslandschaft („infosphere“): wie verhalten sich die dokumentarischen, bibliothekarischen Bemühungen demgegenüber? Können die fundierten Techniken und Mittel der Wissensorganisation hier etwas beisteuern, um Falschinformationen entgegen zu wirken und zu sachangemessenem Verständnis von Phänomenen aller Art beizutragen? Bawden sieht hier keine schnellen, kurzen Lösungen. Wesentlich ist zunächst sich darüber klar zu sein, dass auch innerhalb der professionellen Community selbst das Problem noch nicht vollständig erkannt und umfassend analysiert ist. Nicht überraschend ist daher ein erster angedachter Schritt, sich durch eine umfassende Ontologie dieses Problemfeldes bessere Übersicht zu schaffen; verbesserte und mehr konkretisierte „Metadaten“ zu Informationen trügen in einem weiteren Schritt zur verbesserten Einschätzbarkeit und Quellen-Belegbarkeit bei; neu geschaffene IT-Tools würden anhand einer Vielzahl ausgewerteter Kriterien helfen, mit Hilfe automatischer Mittel bereits eine „Vor-Sortierung“ von Nachrichten hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit vorzunehmen; gut erarbeitete Klassifikationen, mit weiter thematischer Reichweite, würden helfen (weil sie ein großes, dahinter liegendes Begriffsnetz erschließen), die Zusammenhänge und weiterführenden Implikationen einzelner Informationseinheiten besser zu erkennen, und würden die natürliche Neugier von Nutzern aufs Gewinnen weiterer Information zu der im Moment gerade vorliegenden stimulieren. Und schließlich müsse die gesamte „Information Community“ – also alle, die mit dem Auffinden, Zusammenstellen, Weitergeben, Speichern, Ordnen und dem Wiederauffinden (Retrieval) von Informationen befasst sind – sich über den fundamentalen Umbruch im Klaren sein, der die heutige Informationslandschaft nach der Digitalisierung auszeichnet, und über die Bedingungen, unter denen Informationsproduktion und Informationsvermittlung heute stehen.

In den drei thematischen Sektionen wurde eine Vielzahl von Themen – nicht nur Wissensorganisation (KO) im engeren Sinne, sondern die Informationslandschaft insgesamt betreffend – angesprochen. Hier nur eine kleine Auswahl:

  1. Aus dem archivischen Bereich: Urkundenbeschreibung unter KO-Gesichtspunkten; archivische Ontologien

  2. Empirische Prüfung der Konzepte von „Exhaustivität“ und „Spezifizität“ bei der Inhaltserschließung (am Beispiel von KO-Konferenzbänden)

  3. Klassifikation von Fotografien in Archivwissenschaft, Bibliothekswissenschaft, Museologie

  4. Computergestützte Identifizierung und Prüfung von Begriffsrelationen in Thesauri (D. Soergel)

  5. Beitrag der Semiotik zur Wissensorganisation für Musikinformation

  6. „Big data“ im Bereich der Wissensorganisation; KO und „Social Media“

  7. Aus dem Bereich der Informationserstellung und -übermittlung: Studie über die vorhandenen oder fehlenden Vorgaben, die Zeitschriftenherausgeber an die formalen Elemente der zu veröffentlichenden Beiträge stellen: Aufbau und Umfang des Abstracts, Form der bibliografischen Angaben usw. Hier war der Zusammenhang mit anderen Organisationen (z. B. EASE) und Vorgaben im Informationsbereich besonders deutlich

  8. Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragen in KO: Das Kuhn-Paradigma, linguistische Fragen und ähnliche Herausforderungen

  9. Mehrschichtiges Indexierungsmodell, gebildet anhand der Gesichtspunkte der Kohlberg’schen und der Habermas’schen Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie (M. Kleineberg)

  10. Der vielschichtige Begriff der „Facette“ (M. Hudon)

  11. Die Vermittlung von Grundlagen und Methoden der Wissensorganisation in den Curricula verschiedener europäischer Informations-Hochschulen

  12. Dokument-Repräsentation durch Bilder

  13. Entstehung der Dokumentation in Brasilien 1900 bis 1924

  14. Wissensorganisation und die Entstehung systematischer Terminologiepraxis und -wis­senschaft in Kanada seit den 1960er Jahren (L. Bowker)

  15. Die Internationale Norm ISO 5127:2017 „Vocabulary of information and documentation“ (A. Ermert)

  16. Ein lateinamerikanisches Wörterbuch der Wissensorganisation, basierend auf dem Nachweis der Häufigkeit der Verwendung der Fachtermini in der Literatur

  17. Onomasiologie und die Rolle von Definitionen für „Domain analysis“

  18. Die Erschließung eines Wissensgebietes durch Bibliographie im Feld der Kunstgeschichte im 16. Jahrhundert

  19. Emanuele Tesauro (1592-1675) und sein Beitrag zur Wissensorganisation durch semantische Begriffsordnung auf Basis der Kategorien des Aristoteles (erstmalig 1654)

  20. Integration von Bibliotheken, Archiven, Museen und Kunstgalerien durch LOD

  21. PRESSoo-Modell und die Verarbeitung persischer Zeitschriften

  22. Gefährdet das massive Einströmen von E-Books in die Uni-Bibliotheken die ordnungsgemäße Vergabe von Schlagwörtern und Klassifikationsnotationen an sie?

  23. EuroVoc und UNBIS-Thesaurus

  24. Möglichkeiten der Überführung aus der ‚Universellen Dezimalklassifikation (DK/UDC)‘ zur neu entwickelten ‚Basic Concepts Classification (BCC)‘ und Verbindung von UDC und BCC mit der LOD Cloud (R. Szostak / R. Smiraglia); Überführung von MARC-Daten in Linked Open Data (LOD); VIAF und ‚OpenCitations‘

  25. Was erwarten Nutzer von Museumswebseiten von LOD?

  26. Techniken, durch die Wissensorganisation die Perioden, Namen, unterschiedlichen Entwicklungsstränge innerhalb der „Weltgeschichte“ so verbindet, dass sie für schulische und universitäre Kurse gut nutzbar dargestellt ist ? (R. Szostak)

  27. CIDOC CRM OWL

  28. Das französische Militärdokumentationssystem zur Voraussage gesundheitlicher Belastungen und Risiken von Militärangehörigen

  29. Methodologie intelligenter Suche nach verwaisten Werken (orphan works).

Einen besonderen Rang hatte das Panel am zweiten Konferenztag unter der Leitung von Hans-Peter Ohly (langjährig im IZ Sozialwissenschaften in Bonn, Präsident der ISKO 2010 bis 2014, Präsident von ISKO-DE 1998 bis 2009), das dem Denken und Wirken von Ingetraut Dahlberg (1927-2017) gewidmet war, einer der Pionierinnen der Informationswissenschaft auch in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg, Mitglied der DGD/DGI, Mitarbeiterin im seinerzeitigen DIN-Normenausschuss Klassifikation und 1989 Gründerin und bis 1997 Präsidentin der ISKO (zuvor der ‚GfKl Gesellschaft für Klassifikation‘, gegr. 1977). In sechs Abschnitten wurden Hauptgedanken und praktische Aktionen von Dahlberg durch je zwei Panellisten vorgestellt und kommentiert (u. a. M. Zeng, A. Ermert, R. Smiraglia, J. Pika, M. Kleineberg, B. Hjørland, C. Gnoli, R. Szostak, J. Tennis, R. San Segundo). Im Einzelnen:

  1. Dahlbergs Theorie des Begriffs als Einheit von sprachlicher Bezeichnung, von notwendigen Attributbestandteilen als durch Abstraktion gewonnener gedanklicher Wissenseinheit (mehr als nur ‚Denkeinheit‘) und als Baustein in einem stets zu bildenden Begriffssystem

  2. Grundlagen und Hauptmerkmale unterschiedlicher Klassifikationssysteme

  3. Dahlbergs Beitrag zur Theorie der Klassifikation und ihr grundlegendes Werk „Grundlagen universaler Wissensordnung“ (1974), in dem die sechs hauptsächlichen weltweit verbreiteten Klassifikationssysteme (UDC, DDC, BBC Bliss Bibliographic Classification, Ranganathans CC Colon Classification, LCC Library of Congress Classification, BBK Bibliothekarisch-bibliographische Klassifikation in der UdSSR) untersucht werden und eine Begründung für sorgfältig hierarchische, aber stark auf der Bildung von Facetten (gemäß dem Ansatz Ranganathans) aufbauende Klassifikationen erarbeitet wird

  4. Die von Dahlberg selbst 1977 fertig gestellte ICC („Information Coding Classification“), in der auf neuartige Weise nicht in Wissensgebieten, sondern in neun ontologischen Seinsschichten 99 jeweils in Dreierstufen aufeinander aufbauende Hauptklassen für die Weltgegebenheiten, von der anorganischen Materie bis zu Kultur- und Geistesleben, ausgearbeitet sind (insgesamt bislang etwa 6.500 Klassen)

  5. Dahlbergs Wirken als Gründerin und Leiterin von GFKl, ISKO, des INDEKS-Verlags und der Zeitschrift „International Classification“, heute „Knowledge Organization“

  6. Dahlbergs Bemühungen und Forderungen zur Institutionalisierung der Informationswissenschaft / Wissensorganisation in Instituten oder einer Akademie und ihrer Anbindung und festen Verankerung in der Wissenschaftswissenschaft.

Für die inneren Angelegenheiten der ISKO selbst wurde auf der Mitgliederversammlung die Verlegung des Vereinssitzes von Frankfurt am Main nach Toronto / Kanada und dortige formelle Vereinseintragung beschlossen. Als neuer Vorsitzender nach Joseph Tennis (USA) wurde Rick Szostak (Kanada) gewählt. Die Tagung mit ihrer großen Bandbreite an Einzelthemen glich also in gewisser Weise dem früher in Deutschland im „Dokumentartag“ lange bewährten Format. Sie gab – neben den „Kernthemen“ der Wissensorganisation (Thesaurus, Klassifikation, Begriffsordnung, Retrieval von Information in verschiedensten Formen), die durchaus nur einen Teil bestritten – den unterschiedlichsten Akteuren in einem weit differenzierten, aber dadurch mancherorts vielleicht auch in der Gefahr der Zersplitterung stehenden Feld die Möglichkeit, den Stand und die ganze Bandbreite zu zeigen, was bei ihnen und heute generell „Wissensorganisation“ heißt. ISKO-Tagungen finden immer alternierend national (2019 also wieder im deutschsprachigen Raum) und international (2020 möglicherweise in Kanada) statt.

About the authors

Axel Ermert
Prof. Monika Hagedorn-Saupe
Published Online: 2018-11-15
Published in Print: 2018-11-06

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 2.10.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/iwp-2018-0044/html
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