Abstract
At least 129 Gau economic advisers of the NSDAP worked at the intersection of politics and economics, wielding a considerable amount of power. At the regional level, they were able to have a say in the success and existence of corporations. The article examines this group’s organization and remit, as well as resources in power and capital. Along the lines of collective biographies, it covers the aspects of generation, origin, socioeconomic status, fluctuation, and entry into the Nazi party. While no homogenous type of Gau economic adviser or a pattern of action could be identified, the final part of the article outlines common aspects and presents five ideal types of Gau economic advisers.
1 Einleitung
„Wir Gauwirtschaftsberater, fast ausschließlich aus der Wirtschaft kommend,“ schreibt Hans Kehrl rückblickend, „sahen in der Verwirklichung eines ‚deutschen Sozialismus‘ das innenpolitische Hauptziel unserer Partei.“ Die meisten seien „jung und optimistisch“ gewesen, und es habe „ein gewisser Korpsgeist“ geherrscht. Mehr noch: „In den Jahren 1936 bis 1939 fühlten wir uns auch als innerparteiliche Opposition“. [1]
Kehrl, Textilfabrikant, einige Jahre Gauwirtschaftsberater in der Kurmark, danach in der Vierjahresplanbehörde tätig und schließlich im Wirtschafts- und im Rüstungsministerium einer der einflussreichsten Organisatoren der nationalsozialistischen Rüstungs- und Kriegswirtschaft, [2] zielte retrospektiv auf Legitimation und Idealisierung. Doch wo und inwieweit spiegelt seine Erinnerung auch historische Wirklichkeit wider? Gab es überhaupt eine kollektive Identität der Gauwirtschaftsberater? Wurzelten die Wirtschaftsberater alle in einem ähnlichen sozioökonomischen Milieu, teilten sie politische Zielvorstellungen und handelten sie gleichgerichtet? Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen. Darüber hinaus soll eine These aufgegriffen werden, die Henry Ashby Turner bereits vor über 30 Jahren formulierte. Demnach seien besonders kleine und mittlere industrielle Unternehmer anfällig für den Nationalsozialismus gewesen, und der NSDAP sei „ein tiefer Einbruch“ [3] in diese Schicht gelungen. Während Turners bekanntere erste These – die Großunternehmer hätten kaum zum Aufstieg der NSDAP beigetragen und sie finanziell allenfalls marginal unterstützt – mittlerweile durch zahlreiche Studien als bestätigt gelten kann, [4] ist seine zweite Behauptung in der Forschung bislang kaum diskutiert worden. [5] Immerhin ein Indiz für die vermutete, starke Affinität des industriellen Mittelstandes zum Nationalsozialismus könnte das Korps der Gauwirtschaftsberater liefern.
Dieser Beitrag verfolgt hauptsächlich eine akteursbezogene Perspektive und zielt am Ende auf eine kollektivbiographische Analyse, verknüpft mit individualbiographischen Fallbeispielen. Ferner möchte die Studie Bausteine zu einem besseren Verständnis der Mittelinstanzen und zum Herrschaftsalltag im NS-Staat liefern. Über die „Führer der Provinz“ [6] weiß man noch immer wenig, und die Personen, die in den NSDAP-Gauen und -Kreisen das alltägliche Leben entscheidend mitbestimmten, verblassen zumeist im Dunkel der Geschichte. Kollektivbiographische Untersuchungen sind nach wie vor rar. [7] Überhaupt sind die Regionen als politische und ökonomische Handlungs- beziehungsweise Herrschaftsebenen noch zu wenig beachtet worden. [8]
Die Quellenlage ist unbefriedigend. Generell sind bloß wenige Registraturen der mittleren Parteiebene greifbar. Eine umfassende Überlieferung eines Gauwirtschaftsberaters ist bislang lediglich für Westfalen-Süd bekannt. [9] Für biographische Angaben sind eine Fülle weit verstreuter Quellen heranzuziehen, angefangen von zeitgenössischen Lexika, Handbüchern und Zeitschriften [10] über Personenstandsunterlagen in Kommunalarchiven bis hin zu Akten und Mitgliederkarteien der NSDAP sowie den Spruchkammer- beziehungsweise Entnazifizierungsverfahren, die allerdings angesichts der damaligen Rechtfertigungsbemühungen und Persilscheine nur mit großer quellenkritischer Vorsicht ausgewertet werden können. Auf all diesen Quellen beruhen die quantifizierenden Angaben in diesem Aufsatz.
Aus der diffizilen Quellensituation folgen gravierende Forschungslücken. Sofern überhaupt neuere Darstellungen über NSDAP-Gaue oder -Gauleiter vorliegen, behandeln diese das Amt des Gauwirtschaftsberaters allenfalls am Rande. [11] Nur vereinzelt sind Gauwirtschaftsberater bislang biographisch porträtiert worden, zudem meist mit Schwerpunkt auf anderen Aspekten der Person. [12] Die wegweisende Pionierstudie von Gerhard Kratzsch [13] – im Übrigen die einzige Monographie, die überhaupt eines der bis zu 20 Gauämter ausleuchtet [14] – stützt sich hauptsächlich auf die Akten des Gauwirtschaftsberaters von Westfalen Süd, sodass sie, abgesehen von gelegentlichen Unschärfen, [15] naturgemäß an Grenzen stößt. So bleibt unklar, inwieweit die Verhältnisse in Westfalen-Süd auf die übrigen Gaue zu übertragen sind, und das biographische Profil anderer Gauwirtschaftsberater klammert Kratzsch aus. Dagegen bietet Frank Bajohr in seiner Arbeit über die „Arisierung“ in Hamburg ein Modell an: Als Gauwirtschaftsberater hätten junge, ideologisch fixierte, ehrgeizige und akademisch qualifizierte Aufsteiger aus dem Kleinbürgertum amtiert. [16] Bajohr betont jedoch, empirische Vergleichsstudien seien erforderlich, um zu prüfen, ob dieses Schema verallgemeinert werden könne.
Die Gesamtzahl der Gauwirtschaftsberater ist wegen der äußerst lückenhaften Quellenüberlieferung nicht exakt zu beziffern. 129 Personen, immerhin 80 Prozent mehr als bisher bekannt, [17] sind namentlich zu identifizieren, davon 19 in jenen Gebieten, die sich das Deutsche Reich nach 1937 angliederte. Übersichtslisten liegen für die Jahre 1931, 1933, 1934, 1940 und 1942 vor. [18] Diese bilden auch die Ausgangspunkte für die weiter unten folgende quantitative Analyse. [19]
2 Strukturen
2.1 Organisation
Bereits Ende der 1920er Jahre bemühten sich Parteigenossen in einigen Gauleitungen, meist in Industrieregionen, um Fragen der Wirtschaftspolitik, ohne dass sie indes ein formelles Amt innegehabt hätten. [20] Die Institutionalisierung von Gauwirtschaftsberatern resultierte aus dem starken Mitgliederwachstum und den Wahlerfolgen der NSDAP seit 1930. Nun stand die Partei vor der Herausforderung, fachliche Kompetenz erwerben und Regierungsfähigkeit beweisen zu müssen. Mit Beginn des Jahres 1931 entstand im Bereich des Reichsorganisationsleiters II eine neue „Wirtschaftspolitische Abteilung“, seit Juli 1932 als „Hauptabteilung IV“ firmierend. [21] An deren Spitze rückte Otto Wagener, ein mittelständischer Industrieller und Ex-Offizier, zeitweise auch Stabschef der SA. [22] Unverzüglich ergriff er die Initiative, in den Regionen ökonomische Expertise zu rekrutieren, und bat die Gauleiter, „wirtschaftspolitische Referenten“ zu benennen – im Einverständnis mit seiner Abteilung. [23] Diese kurz darauf „Gauwirtschaftsreferenten“, später „Gauwirtschaftsberater“ genannten Parteigenossen sollten einen Stab von Fachleuten heranziehen und als Unterbau Kreiswirtschaftsberater in den NSDAP-Kreisen [24] benennen.
Nur unter großen Mühen gelang es der Partei, versierte Kandidaten für das neue Amt des Gauwirtschaftsberaters zu finden: Anfang Mai 1931 gab es in fast der Hälfte der Gaue immer noch keine Wirtschaftsberater. [25] Da die Funktion ehrenamtlich war, blieb sie materiell unattraktiv. Zudem empfanden die Gauleiter die Gauwirtschaftsberater als Bedrohung ihrer Hegemonie vor Ort, als Einfallstor der NSDAP-Zentrale. Schließlich drohte ein Zielkonflikt, denn einerseits suchte die Partei nach Wirtschaftsexperten, andererseits äußerte sie sich unternehmerkritisch. „Auf keinen Fall“ wollte Wagener den Anschein erwecken, die NSDAP lasse sich „in erhöhtem Umfang von Unternehmern, Arbeitsgebern [sic] oder sonstigen leitenden Persönlichkeiten der Wirtschaft“ beraten. [26]
Die Gauwirtschaftsberater auf sich einzuschwören – über die Köpfe der Gauleiter hinweg – und ihnen Korpsgeist einzuimpfen, gelang Wagener nicht. Auch wenn er im internen Ränkespiel der NSDAP-Führung den Kürzeren zog und im Herbst 1932 aus dem Amt schied, die von ihm geschaffene Position des Gauwirtschaftsberaters überlebte ihn. Und noch ein Zweites überdauerte: Der – auch für andere Gauämter charakteristische – Dualismus zwischen der dienstlichdisziplinarischen Unterordnung der Gauwirtschaftsberater unter den Gauleiter und der fachlichen Anbindung an die NSDAP-Zentrale. [27] Seit Dezember 1932 waren die Gauwirtschaftsberater dort an eine neue „Kommission für Wirtschaftspolitik“ [28] beim „Stellvertreter des Führers“, Rudolf Heß, angebunden. Dieser Dualismus bot immer wieder Anlass zu Kompetenzstreit und Unsicherheit, öffnete durchsetzungsstarken Figuren aber zugleich Spielraum für Aktion und Intervention.
Die „Kommission für Wirtschaftspolitik“ wollte zwar Denkfabrik und Schulungszentrum sein, war realiter aber nichts als eine Wortschmiede. In der Partei nahm man sie kaum ernst. Mit dem Tod ihres Leiters Bernhard Köhler verlor sie im April 1939 ihren Kopf und wurde aufgelöst. Ihre Funktion ging direkt auf den Stab des „Stellvertreters des Führers“ über, [29] dann auf die Partei-Kanzlei, deren Leiter Martin Bormann in seiner Strategie, die Parteizentrale zu stärken, [30] auch die Gauwirtschaftsberater enger an sich zu binden suchte. Zudem wollte er sie aus Verflechtungen mit der Wirtschaft lösen und ideologisch aktivieren, das heißt wieder zu einem politischen Schwert der Partei machen. Dabei lebten alte sozialrevolutionäre Konzepte wieder auf: Bormann ließ 1941 einen „Bankenausschuss“ der Gauwirtschaftsberater bilden, der gegen die privaten Großbanken vorgehen sollte. [31] Im Zuge der Gründung von Gauwirtschaftskammern, einer neuen regionalen Dachorganisation für die Wirtschaft, setzte Bormann eine Trennung der Ämter in den Kammern und der Partei weitestgehend durch. [32] 1943 untersagte die Partei-Kanzlei dann den Gauwirtschaftsberatern auch Aufsichtsratsmandate, was aber nicht konsequent umgesetzt wurde. [33] Die Gauwirtschaftsberater sollten „völlig unabhängig von wirtschaftlichen Einflüssen“ sein, [34] stattdessen die weltanschauliche Erziehung vorantreiben und die Wirtschaftspolitik steuern. Noch in einem der letzten Durchhalteappelle im März 1945 zog Bormann die Gauwirtschaftsberater explizit als Beispiel dafür heran, dass die Hoheitsträger der Partei einen in erster Linie politischen Auftrag hätten. [35]
Im Sinne einer festeren Anbindung der Gauwirtschaftsberater an die Parteizentrale hatte der Reichsschatzmeister 1941 auch die Finanzierung der Dienststellen übernommen, und zwar mit zwei bis drei hauptamtlichen Sachbearbeitern, der entsprechenden Anzahl von Schreibkräften und den Sachkosten. [36] Ein Muster-Stellenplan für das Amt des Gauwirtschaftsberaters listete Anfang 1943 – auf dem Papier! – immerhin neun hauptamtliche Positionen auf, [37] wohingegen der Berater selbst jedoch weiterhin ehrenamtlich arbeiten sollte. [38] In der Regel verfügten die Ämter bereits Ende der dreißiger Jahre über zwei bis sechs [39] von der Partei bezahlte oder, wie noch zu schildern sein wird, über Dritte finanzierte Angestellte, was im Vergleich zu anderen Gauämtern nicht wenig war. Gelang es nicht, einen festen Stab aufzubauen, lag das an Indolenz und Interesselosigkeit der Gauwirtschaftsberater oder an der agrarischen Struktur ihrer Gaue, zum Beispiel in Schleswig-Holstein. [40]
2.2 Aufgaben und Tätigkeiten
Da den Gauwirtschaftsberatern anfangs nur geringe Finanzmittel – geschweige denn durchschlagende Machtmittel – zur Verfügung standen, blieb ihnen bis 1933 primär die Propaganda auf Veranstaltungen, durch Vorträge und Artikel. Dabei sollte die bisherige „liberalistische“ Wirtschaftsordnung als überholt entlarvt werden. [41] Ferner sollten die Gauwirtschaftsberater ökonomisch relevante Informationen beschaffen, bündeln und weiterleiten, mithin die Transaktionskosten für die NSDAP-Reichsleitung senken. Beispielsweise erstellten sie regelmäßig Monatsberichte. [42] Vor Ort knüpften sie Informationsnetze und schufen Kommunikationsforen, auch als Werkzeug politischer Indoktrination.
Einige Gauwirtschaftsberater publizierten sogar in größerem Stil. Heinrich Hunke gab seit 1931 in Berlin den Wirtschaftsdienst „Die deutsche Volkswirtschaft“ heraus, Josef Klein seit 1932 im Rheinland die „Braune Wirtschaftspost“. Werner Daitz (Mecklenburg) skizzierte ein Konzept zur Großraumwirtschaft, [43] und sein Münchener Kollege Alfred Pfaff schrieb über „Wege zur Brechung der Zinsknechtschaft“ [44] und anderes mehr. In solchen Veröffentlichungen beschworen die Gauwirtschaftsberater – oft schwammig – eine ideale, „gerechte“ Wirtschaft, in der partikulare Interessen überwunden beziehungsweise Kapital und Arbeit versöhnt waren, der Antagonismus von Unternehmern und Beschäftigten aufgelöst war und „Gemeinschaft“ herrschte. Häufig propagierten sie einen Mittelstandssozialismus, positionierten sich also im programmatischen Gezerre um die NSDAP-Wirtschaftspolitik [45] mit einer betont antikapitalistischen und besonders gegen Großkonzerne gerichteten Attitüde. Das prägte auch einen weiteren Kernpunkt ihrer Vorstellungen, nämlich den „ständischen“ Aufbau der Wirtschaft, damals ein breit diskutiertes Konzept. [46]
Doch weit ausholende praktische Initiativen wie etwa in Ostpreußen zur Verbesserung der ökonomischen Infrastruktur [47] blieben die Ausnahme. Überwiegend traten die Gauwirtschaftsberater bis zur „Machtergreifung“ nach außen wenig in Erscheinung und blieben in einigen Gauen regelrecht Phantome. Das Amt des Gauwirtschaftsberaters war häufig eine Leerstelle und nur selten ein Aktionszentrum. Das hing einerseits mit der unzulänglichen Ausstattung der Ämter zusammen, andererseits mit mangelnder Abkömmlichkeit, denn nur wenige Gauwirtschaftsberater waren zeitlich überhaupt imstande, sich so aktiv wie Pfaff einzusetzen, der sich – wohlhabend geworden – aus dem Geschäftsleben zurückgezogen hatte. Ein dritter Faktor war, dass es manchem schwer fiel, sich unterzuordnen. Obwohl sie selbst in aller Regel über ökonomische Sachkenntnis verfügten, sollten sie alte Parteigenossen, insbesondere die Gauleiter, „niemals“ über Wirtschaftsthemen belehren, denn die Erfahrung zeige, dass jemand, „der seit Jahren nationalsozialistisch denkt und arbeitet, geradezu mit geschlossenen Augen bei der Bearbeitung selbst der schwierigsten wirtschaftspolitischen Fragen das Richtige trifft“. [48] In einem solchen Kontext stieß fachliche Tätigkeit auf unüberwindliche Barrieren.
Mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten dehnten sich die Handlungsoptionen der Gauwirtschaftsberater immens aus. Statt nur zu reden und zu publizieren, konnten sie jetzt über das Schicksal von Unternehmen (mit-)entscheiden und in die Wirtschaft hineinregieren. Die bereits im Frühjahr 1933 einsetzenden Gleichschaltungen eröffneten den Gauwirtschaftsberatern das erste wirkliche Aktionsfeld. An exponierter Stelle trugen sie dazu bei, die alten Führungsspitzen von Arbeitgeberorganisationen abzulösen, teils unter verbalen Drohungen, teils mit offener Gewalt. Gauwirtschaftsberater schickten Kommissare in die Handels- und die Handwerkskammern – meist handelte es sich um Personen aus ihrem Stab – und lösten dann die alten Präsidien, teils auch die Geschäftsführungen endgültig ab, indem sie Neuwahlen durchsetzten und Einfluss auf die Wahllisten nahmen. „Wir lassen es uns keineswegs gefallen, dass man uns bei dieser Wahl wieder die Systembetreuer vorsetzt. Es ist auf die beteiligten Kreise ein entsprechender Druck auszuüben, ob sie wollen oder nicht.“ Nur „100%ige Nationalsozialisten“ sollten aufgestellt werden. [49] Rund einem Dutzend Gauwirtschaftsberatern gelang es, selbst an die Spitze von Handels- oder Handwerkskammern zu rücken und sich so eine effektive regionale Machtposition zu verschaffen. 1935 sanktionierte auch die Justiz weitgehende Ein griffe der Gauwirtschaftsberater in Industrieverbände, mit der Begründung, der Gauwirtschaftsberater trage und erhalte als Institution der NSDAP den Staat. [50]
Per Gesetz schaltete der NS-Staat die Gauwirtschaftsberater in seine dirigistischen Lenkungsmaßnahmen ein. [51] Sie waren beteiligt an der Verteilung von Devisen und öffentlichen Aufträgen, der Erschließung neuer Rohstoffvorkommen, an der Vermittlung von Krediten, an Preisüberwachung und Gewinnabschöpfung, Aufrüstungsmaßnahmen und der Lenkung von Arbeitskräften. In der Geschäftsstelle des Berliner Gauwirtschaftsberaters wurden nach eigenen Angaben Jahr für Jahr 3.000 bis 4.000 „schwierigste wirtschaftliche Fälle geprüft und erledigt“. [52] Typisch erscheint die Vergabe öffentlicher Aufträge: Eigentlich waren die sogenannten „Ausgleichsstellen“ den Wirtschaftskammern zugeordnet, aber in den Gremien saßen auch die Gauwirtschaftsberater – und ohne ihre Bescheinigung politischer Zuverlässigkeit besaßen interessierte Firmen kaum Chancen auf öffentliche Aufträge. [53] In Berlin ging es allein im Jahr 1936 um 224 Mio. Reichsmark. [54] Diese Unbedenklichkeitszeugnisse waren in den Händen der Gauwirtschaftsberater ein äußerst schlagkräftiges Herrschaftsinstrument.
Durch Infrastruktur- oder Industrieansiedlungsprojekte hofften viele Gauwirtschaftsberater, ihre Wirtschaftslandschaft zu modernisieren, wobei es noch eine Aufgabe weiterer Forschung wäre, zu ermitteln, welche Pläne und Konzepte tatsächlich realisiert wurden. Die Ansiedlung eines Siemens-Werkes in der strukturschwachen, kleinbäuerlich geprägten Rhön scheint jedenfalls maßgeblich dem Wirken von Gauwirtschaftsberater Kurt Hasslinger geschuldet gewesen zu sein, [55] und im Gau Trier legte der Wirtschaftsberater 1935 eine umfassende Denkschrift zur Verbesserung der ökonomischen Verhältnisse vor. [56] Kernpunkte dieser Initiativen waren die Ansiedlung neuer Industrien und der Ausbau der Verkehrswege. Einige Gauwirtschaftsberater forcierten den Strukturwandel auch überregional, indem sie Führungspositionen in staatlich gelenkten beziehungsweise initiierten Großunternehmen wie den Reichswerken Hermann Göring oder den Zellwolle-Aktiengesellschaften übernahmen. [57]
Neben und über alldem betonten die Gauwirtschaftsberater ihre Kernaufgabe, das nationalsozialistische Gedankengut zu vertreten, die Wirtschaft auf den NS-Staat auszurichten, anders: die Wirtschaft auf den Nationalsozialismus einzuschwören, im Sprachgebrauch der Zeit „Menschenführung“ zu betreiben, das „Gewissen der Wirtschaft“ [58] zu sein und „den jüdisch-liberalistischen Geist in der Wirtschaft“ [59] zu brechen. Kurz: Es ging um Ordnungspolitik, um den Primat der Politik und auch um soziale Kontrolle. Auf die etablierten Unternehmer blickten die Wirtschaftsberater oft mit Verachtung, denn ihnen fehle es „an der Bereitschaft zur Tat“ und deshalb sei „die Wirtschaft nicht fähig, von sich aus allein eine dem Willen des Führers und den großen Aufgaben der Zeit entsprechende Haltung einzunehmen.“ [60] Im Herbst 1937 resümierte der „Völkische Beobachter“ zutreffend, die Gauwirtschaftsberater seien aus dem „wirtschaftlichen und politischen Leben nicht mehr wegzudenken“, [61] im Frühjahr 1938 redeten viele von ihnen zur bevorstehenden Reichstagswahl und zum „Anschluss“ Österreichs. [62]
Ein kräftiger Hebel, um die Wirtschaftsstruktur der Gaue nachhaltig zu beeinflussen, waren wenig später die „Arisierungen“, in welche die Gauwirtschaftsberater zentral eingebunden waren, teils auf gesetzlicher Grundlage, teils auf Basis einer Selbstermächtigung via Partei und Gauleiter. Nur in Einzelfällen standen sie außerhalb des Prozesses [63] oder ließen sich durch andere regionale Wirtschaftsfunktionäre an den Rand drängen. [64] Ansonsten sieht die Regionalforschung in ihnen zu Recht meist Schlüsselfiguren. Sie verhandelten mit Kaufinteressenten, brachten auch selbst potenzielle Erwerber ins Spiel, setzten die jüdischen Unternehmer unter Druck und wirkten darauf hin, den Verkaufspreis herunterzuschrauben. Der Gauwirtschaftsberater in Süd-Westfalen meinte, im Unterschied zu staatlichen Institutionen habe bloß sein Amt „Initiative und Tatkraft“ aufbringen können, und fuhr zynisch fort: „Eine Parteidienststelle verfügt erfahrungsgemäß über die verschiedensten moralischen Machtmittel, die gerade in der Frage der Arisierung oft recht wirkungsvoll eingesetzt werden können.“ [65] Vor allem anderen entschieden die Gauwirtschaftsberater darüber, welches Unternehmern überhaupt veräußert oder aber liquidiert werden sollte. Letzteres überwog, [66] wobei ein Hauptargument für die Schließung „Übersetzung“ lautete, und damit beeinflussten die Gauwirtschaftsberater speziell im Einzelhandel und im Handwerk die ökonomischen Strukturen und den Wettbewerb nachhaltig. In Österreich erhoffte sich Walter Rafelsberger dadurch sogar eine schnellere Eingliederung in den großdeutschen Wirtschaftsraum. [67]
In Thüringen koordinierte Gauwirtschaftsberater Otto Eberhardt die „Arisierungen“ und sorgte als zentrale Instanz dafür, dass Geldabgaben der „arischen“ Käufer auf den Konten der NSDAP landeten, zum Zweck eines Pensionsfonds für alte Kämpfer. [68] Andere Gauwirtschaftsberater lenkten Geld direkt auf die eigenen Konten um. [69] Erstmals verfügten sie über Chancen zur massiven Selbst-bereicherung, und mindestens neun Gauwirtschaftsberater [70] nutzten dieses Potenzial skrupellos, auch in immensem Umfang: Christian Franke (Westfalen-Nord) brachte sich ohne großes Eigenkapital, aber mit Unterstützung von Gauleiter und Parteikanzlei in den Besitz einer profitablen Holzfabrik mit 800 Mitarbeitern [71] – er war im Verfahren gleichzeitig Begutachter und Käufer. Karl Eckardt (Hessen-Nassau) erpresste für sich die Position als Generaldirektor einer „arisierten“ Schuhfabrik und verdiente bis 1945 rund 2,4 Mio. Reichsmark. [72] Wenige lehnten jeden persönlichen Vorteil ab, [73] ohne indes zu verhindern, dass sich Parteigenossen massiv bereicherten.
Im Zweiten Weltkrieg verstärkten sich die Kompetenzen nochmals. Gauwirtschaftsberater entschieden mit über die Stilllegung von Unternehmen oder das Auskämmen von Arbeitskräften und beeinflussten maßgeblich die ökonomischen Perspektiven von Firmen über die Zuteilung von Devisen, Aufträgen und Rohstoffen sowie über das Festlegen von Preisen. Die Parteikanzlei suchte aus München den politischen Druck auf die Regionen zu verstärken und mahnte hinsichtlich der Mobilisierung von Arbeitskräften für die Front und die Rüstungsindustrie 1943 die „strengste Handhabung der Vorschriften“ durch die Gauwirtschaftsberater an. [74] Nur selten entzogen sich diese den konfliktträchtigen Auskämm- und Stilllegungsaktionen soweit es eben ging, [75] meist wirkten sie tatkräftig mit und rissen oft das Verfahren an sich. Anstatt aber den Plan der Freisetzung von Arbeitern nach stringenter Sachlogik umzusetzen, achteten die Gauwirtschaftsberater einerseits auf die politische und soziale Einstellung der betroffenen Unternehmer, brachten also ideologische Kriterien ein, und andererseits wollten sie die Wirtschaftsstruktur ihrer Region nicht dauerhaft schwächen. In Österreich zum Beispiel wehrte sich Wirtschaftsberater Bilgeri gegen Stilllegungen beziehungsweise Verlagerungen von Textilbetrieben. [76] All das bedeutete im Endergebnis ein hohes Maß an Willkür. Gleichwohl schworen die Gauwirtschaftsberater die Bevölkerung auf den totalen Krieg ein. Noch im Februar 1945 formulierten manche den Machtanspruch, „jederzeit einzugreifen, wenn es das Gemeinwohl“ (so wie sie es definierten!) erfordere. [77]
Die Gauwirtschaftsberater pochten nach wie vor auf politischen Prärogativen bei wirtschaftlichen Entscheidungen, aber es scheint den Zentralinstanzen der NSDAP nicht gelungen zu sein, sie auf ein konsequentes Handeln nach den Vorgaben von oben zu verpflichten. In ihren Entscheidungen besaßen sie große Ermessensspielräume; eine strategische Linie verfolgten sie trotz jährlicher Treffen und Schulungen [78] nicht oder nicht konsequent, aber genau das ist ein Kennzeichen totalitärer Herrschaftspraxis. Mal wurden Pressionen auf NS-Gegner ausgeübt, mal nicht; mal wurden kriegsunwichtige Tante-Emma-Läden geschlossen, mal nicht; mal wurden staatliche Aufträge vermittelt, mal nicht. Da die Existenz von Firmen mehr als je zuvor von ihren Stellungnahmen abhängen konnte, entwickelten sich die Gauwirtschaftsberater für die Unternehmer zu Appellationsinstanzen, quasi zu Ombudsleuten. [79] Sie fungierten bis zuletzt als Scharnier zwischen Partei, Behörden und Unternehmen.
2.3 Macht- und Kapitalressourcen
Den Gauwirtschaftsberatern standen also seit 1933 Wege offen, erheblichen Einfluss auf die Wirtschaft ihrer Gaue zu nehmen. Ihre Gutachten und Stellungnahmen waren oft ein Präjudiz für die Entscheidungen der Behörden. Andererseits gab es eine grundsätzliche Barriere: Sie handelten und entschieden nie allein, sondern immer in komplexen Aushandlungsprozessen, in einem Geflecht divergierender Interessen, vor allem mit staatlichen Behörden und Organisationen der Wirtschaft, also mit Arbeitsämtern, der Vierjahresplanbehörde, Bezirksausgleichsstellen für öffentliche Aufträge, Landräten und Oberbürgermeistern, Rüstungskommissionen und -kommandos, Kammern, Wirtschafts- und Fachgruppen usw. [80] Die Großindustrie hielt die Gauwirtschaftsberater per se auf Distanz, da sie ihre Ansprechpartner in Vierjahresplanbehörde und besonders den Organen des Rüstungsministeriums hatte. Insofern kristallisiert sich zwar kein einheitliches, homogenes Muster des Verhaltens von Gauwirtschaftsberatern heraus, aber es lassen sich fünf unterschiedliche Typen identifizieren (Abschnitt 4).
Wieviel Macht sie vor Ort tatsächlich besaßen und ausübten, hing von mehreren Faktoren ab. Zunächst sind Persönlichkeit und Selbstverständnis zu erwähnen: Ohne den Willen zur Macht, ohne Durchsetzungsstärke, Initiativkraft, Improvisationstalent und Abkömmlichkeit blieben Gauwirtschaftsberater immer Schatteninstanzen. Wollten sie Wirtschaftsregenten sein, musste aber weiteres hinzukommen, nämlich ein engmaschiges Netzwerk in der Region, speziell ein fester, vertrauensvoller Kontakt zum Gauleiter und anderen Hoheitsträgern sowie die Akkumulation von Ämtern, etwa als Präsident einer Kammer. Derart und mit diesen Charaktermerkmalen eröffneten sich gerade in den polykratischen Strukturen des NS-Systems Handlungsspielräume und Wege, Herrschaft effizient auszuüben und die staatliche Ordnung zu stabilisieren. [81] Gauwirtschaftsberater sind ein Beispiel dafür, wie systemische Effizienz trotz Polykratie entsteht, wie die gesellschaftlichen Subsysteme von Politik, Verwaltung und Wirtschaft quasi verschmelzen. Sie verfügten über das Potenzial, eine Koordinierungsfunktion auszuüben und die Wirtschaft für das Regime zu mobilisieren, weil sie ihre Macht auf drei Pfeiler stützen konnten: gesetzlich verankerte exekutive Befugnisse, [82] den ideologischen Auftrag der Partei und individuelle Selbstermächtigung. Ihre exklusive Fachkompetenz schützte sie meist vor lähmenden innerparteilichen Machtkämpfen und gab ihnen mehr Spielraum als anderen Gauamtsleitern. Wenn sie allerdings doch auf innerparteiliche Konkurrenten in der Region stießen, die über eigene Seilschaften verfügten, ergab sich ein teils langjähriger Kleinkrieg und ihre Position wurde geschwächt. [83] Ein „institutionelle[r] Nachrang“ [84] konnte auch daraus resultieren, dass sie an mächtigen etablierten Wirtschaftsorganisationen in der Region, den Kammern oder Fachgruppen, nicht vorbeikamen. Die Gauämter für Beamte und für Kommunalpolitik in Südwestdeutschland hat die Forschung als „machtpolitisch bedeutungslose Fachressorts“ [85] bezeichnet. Demgegenüber übten die Gauwirtschaftsberater im Durchschnitt ungleich stärkeren Einfluss aus, auch wenn sie über ihre engere Fachtätigkeit hinaus keineswegs zu den mächtigsten Nationalsozialisten im Gau gehörten und nur selten politische Weichen stellten.
Der anfängliche Ressourcenmangel endete für viele Gauwirtschaftsberater im Frühjahr 1933, als sie gut dotierte, aber wenig arbeitsaufwendige Ämter okkupierten. Mehr als zwei Drittel der 1934 amtierenden Gauwirtschaftsberater hatten ihre sozioökonomische Position signifikant und teils schlagartig verbessert. Nicht zuletzt gewannen sie Abkömmlichkeit. 41 Prozent erhielten eine hauptamtliche Funktion in öffentlich-rechtlichen Körperschaften oder Behörden, 14 Prozent rückten in den Vorstand eines größeren Unternehmens auf oder gründeten ein neues, und sieben Prozent fanden einen Broterwerb in der Partei. [86] Dieses Versorgungsposten-Muster findet sich auch auf anderen Funktionsebenen der NSDAP wieder. [87] In den Begriffen von Pierre Bourdieu: [88] Neben dem ökonomischen Kapital der Gauwirtschaftsberater erhöhte sich 1933/34 auch ihr soziales – im Sinne eines dauerhaften Geflechts von institutionellen Beziehungen zu anderen gesellschaftlichen Akteuren beziehungsweise der Zugehörigkeit zu Gruppen, die ihnen bislang verschlossen waren. Denn 44,1 Prozent der Gauwirtschaftsberater von 1934 standen als Präsident oder Vorstandsmitglied ehrenamtlich an der Spitze von Handels- oder Handwerkskammern, und 23,5 Prozent bekleideten ein Mandat im Reichstag oder in einem Landtag. [89] Soziales Kapital konnten sie später auch als Mitglied staatlicher oder halb-staatlicher Lenkungsorgane in der Wirtschaft vergrößern. Der Sitz in einem Parlament implizierte wiederum ökonomisches Kapital in Form ansehnlicher Diäten, im Fall des Reichstags pro Jahr über 6.000 Reichsmark. Materiell lukrativ waren auch Aufsichtsratspositionen oder die Selbstbereicherung im Zuge der „Arisierungen“.
Im Fokus der Gauwirtschaftsberater standen naturgemäß die Institutionen der Wirtschaft. Im Stichjahr 1932 hatte keiner der Gauwirtschaftsberater, aber in den Stichjahren 1934, 1940 und 1942 jeweils etwas mehr als die Hälfte von ihnen eine führende Position in Wirtschaftsorganisationen inne, [90] meist als Präsident einer Industrie- und Handelskammer. Damit erhielten sie, auch wenn der Reichswirtschaftsminister als Aufsichtsbehörde hinhaltenden Widerstand leistete, Zugriff auf personelle und finanzielle Ressourcen, die sie ohne Bedenken in die Parteiarbeit investierten. In Pommern etwa zahlte die Handelskammer – Präsident war Gauwirtschaftsberater Erwin Fengler – zeitweise monatlich 1.000 Reichsmark an die Geschäftsstelle des Gauwirtschaftsberaters und hatte das Personal auf den eigenen Etat übernommen. [91] Im Südwesten des Reiches übernahm Walther Reihle 1938 die Spitze des Württembergischen Sparkassen- und Giroverbandes, trat als solcher aber „nur sporadisch“ auf, weil ihn seine Parteifunktion „in erster Linie in Anspruch nahm“. [92]
Lediglich ihr inkorporiertes kulturelles Kapital, also Bildungsstand oder Kunstverständnis, mehrten die Gauwirtschaftsberater kaum. Was sie mehren konnten, war das objektivierte kulturelle Kapital, etwa durch den Erwerb bürgerlicher Villen mit entsprechender Kunstausstattung. Zusammengefasst: Das NS-Regime eröffnete den Gauwirtschaftsberatern ungeahnte Aufstiegshorizonte, verhieß Macht, Wohlstand und auch Prestige. Ob es sich dabei um echtes symbolisches Kapital [93] handelte, das allgemeine gesellschaftliche Bekanntheit, Autorität und Anerkennung beinhaltete, oder nur um scheinbares, das sich im Kern auf den Parteiapparat reduzierte, wäre im Einzelfall zu prüfen. Die Karrieren bestimmter Gauwirtschaftsberater nach 1945 oder die Einheirat in die Elite des regionalen Wirtschaftsbürgertums [94] sind Indizien, dass es gelingen konnte, auch echtes symbolisches Kapital zu akquirieren.
2.4 Fluktuation
Die schnellste Zirkulation unter den Gauwirtschaftsberatern gab es in der Anfangszeit, also 1932 und 1933 mit insgesamt 32 Amtswechseln. Schließlich waren von den 27 Gauwirtschaftsberatern, die Mitte des Jahres 1931 nachzuweisen sind, im Oktober 1934 nur noch fünf im Amt. Ausschlaggebend waren mangelhafte Qualifikationen oder fehlendes Interesse mancher Amtsträger, parteiinterne Rivalitäten beziehungsweise politische Differenzen ebenso wie der Wechsel auf lukrativere oder prestigeträchtigere Positionen in Wirtschaft, Verwaltung oder Partei; in einigen Fällen auch der Neuzuschnitt von Gauen.
Besonders die (Neu-)Ausrichtung der NS-Wirtschaftspolitik nach der Regierungsübernahme stellte die Gauwirtschaftsberater vor einschneidende Entscheidungen. Die NSDAP schränkte zwar Verfügungsrechte von Unternehmern vielfach ein, schaffte aber ihre Eigentumsrechte nicht grundsätzlich ab und legte sozialrevolutionäre Ideen von Ständestaat und Mittelstandssozialismus, für die so viele Gauwirtschaftsberater gekämpft hatten, ad acta. Hitler stellte sich Anfang Juli 1933 öffentlich gegen weitere Eingriffe in die Wirtschaftsorganisationen und distanzierte sich ausdrücklich vom Ständemodell. [95] Die NS-Führung benötigte Stabilität und Planungssicherheit, wenn sie den angestrebten Pakt mit der (Groß-)Industrie nicht gefährden wollte, ohne den ihre Herrschaft im Innern nicht gefestigt, die konjunkturelle Erholung nicht beschleunigt und – mittelfristig – eine ideologische Rassen- und Außenpolitik nicht umgesetzt werden konnte. Passten sich die Gauwirtschaftsberater nun opportunistisch dem geänderten Kurs an, um Macht zu behalten und von neuen Optionen zu profitieren, oder blieben sie Übergangsfiguren, will sagen: Gaben sie auf und verloren ihr Amt, weil sie starr an bisherigen Überzeugungen festhielten?
Vier Wege standen ihnen offen: Rückzug ins Private und Abstieg in die Namenlosigkeit, Karriere in der Partei, Karriere in der Wirtschaft oder Kontinuität im Parteiamt. Das am besten dokumentierte Beispiel für einen Absteiger unter den sozialrevolutionären Gauwirtschaftsberatern ist der Hüttendirektor Ernst Arnold im Gau Westfalen-Süd, dessen fortgesetzte Tiraden gegen die Konzernherren, „diese an der Macht befindlichen Schädlinge“, [96] und dessen Ruf nach einer zweiten Welle der Revolution einen der Angegriffenen auf den Plan riefen: Walter Borbet, Vorstandsvorsitzender des Bochumer Vereins für Gussstahlfabrikation im Vereinigte Stahlwerke-Konzern. Nach dessen Interventionen im Preußischen Innenministerium und bei der Partei verlor Arnold seinen Posten. Auch anderswo mussten Gauwirtschaftsberater gehen, wenn sie Konflikte schürten, die den Interessen der Gauleiter und/oder der Unternehmer zuwiderliefen. [97]
Konträre Fälle von Gauwirtschaftsberatern, die ihr Amt als Sprungbrett für eine fulminante Karriere im NS-Staat nutzten, sind ebenfalls anzutreffen. Paul Pleiger und Hans Kehrl managten schließlich an Schlüsselstellen die Kriegswirtschaft. Werner Daitz stieg 1933 zum Amtsleiter im Außenpolitischen Amt der NSDAP-Reichsleitung auf. Der Württemberger Karl Strölin wurde in Stuttgart Oberbürgermeister. Voraussetzung für solche Aufstiegswege war niemals allein das Amt als Gauwirtschaftsberater, sondern waren Kontakte in der Partei und rege publizistische Tätigkeiten. Man musste überregionales Profil gewinnen und sich für höhere Aufgaben empfehlen, aber dies gelang nur den wenigsten Gauwirtschaftsberatern. Die meisten blieben auf regionaler Ebene stecken, ob gewollt oder ungewollt. Immerhin garantierte ihnen das Amt in der Provinz, wie beschrieben, ökonomisches und soziales Kapital.
In den Jahren von 1934 bis 1940 pendelte sich die Fluktuation auf einem niedrigeren Niveau ein. Pro Jahr schied im Durchschnitt jeweils gut ein Zehntel der Gauwirtschaftsberater aus (insgesamt 24 Amtswechsel). Anschließend beschleunigte sich der Wandel wiederum mit insgesamt 15 Wechseln in der Zeit zwischen 1941 und 1943, wofür neben Bormanns Verbot der Doppeltätigkeit in Partei und Wirtschaftsorganisationen auch Todesfälle und Einberufungen zur Wehrmacht verantwortlich waren.
Bis auf Emeran Amon in Düsseldorf und Heinrich Bornemann in Dortmund entschieden sich die vom Verbot der Doppelfunktion betroffenen Gauwirtschaftsberater 1943/44 gegen das Parteiamt beziehungsweise für die Organisation der Wirtschaft. Das heißt, sie blieben hauptamtlicher Geschäftsführer einer Gauwirtschaftskammer oder konzentrierten sich, falls sie ehrenamtlicher Präsident waren, auf ihre unternehmerische Arbeit. Mangels aussagekräftiger Quellen sind hinsichtlich ihrer Motive nur Plausibilitätsüberlegungen möglich. Offenbar spielte wiederum soziales und ökonomisches Kapital eine Rolle: Das Amt des Kammerpräsidenten versprach mehr Prestige, die Tätigkeit als Unternehmer eröffnete bessere Verdienstmöglichkeiten und Zukunftschancen. Die kriegswirtschaftlichen Aufgaben des Gauwirtschaftsberaters dagegen verhießen zwar Macht, bedeuteten aber auch eine Fülle von Konflikten und kräftezehrenden Debatten, und in Anbetracht der drohenden Kriegsniederlage schien es manchem wohl auch geraten, sich parteipolitisch weniger stark zu exponieren als zuvor.
Der stabile Kern der Gauwirtschaftsberater bestand aus 18 Personen, die acht oder mehr Jahre im Amt blieben. Vier davon bekleideten das Amt von Anfang 1931 bis Ende 1945: Wilhelm Bösing (Rheinpfalz/Saar-Pfalz/Westmark), Rudolf Braun (Kurhessen), Paul Hoffmann (Essen) und Heinrich Hunke (Berlin). [98] Grundvoraussetzung für lange Amtszeiten war Anpassungs-, sogar Wandlungsfähigkeit: Die eigenen weltanschaulichen Grundüberzeugungen mussten sich der herrschenden Politik und den Interessen der Gauleiter unterordnen. In fast allen Fällen kam hinzu, dass sich die Ambitionen der langjährigen Gauwirtschaftsberater a priori und bewusst auf die Region beschränkten: Dort knüpften sie ein Netzwerk, das ihren Einfluss absicherte und von dem sie ganz persönlich zu profitieren wussten, und dort festigten sie das Vertrauensverhältnis zum Gauleiter. Verloren sie den Rückhalt beim Gauleiter, verloren sie in aller Regel auch ihr Amt. So hatte Maximilian Hettmer, der in Oberschlesien – wie die Gestapo schrieb – „als Konkursbetrüger größten Formats“ galt, [99] zwar mit Unterstützung seines Gauleiters Brückner das Amt des Präsidenten der Handelskammer Breslau okkupieren können, verlor dies aber ebenso wie sein Parteiamt, nachdem sein Protektor im Zuge des sogenannten Röhm-Putsches inhaftiert und aus der NSDAP ausgeschlossen worden war. Ähnliches ist für Georg Lenk in Sachsen belegt. [100]
Gründe für das Ausscheiden aus dem Amt des Gauwirtschaftsberaters.
Fälle absolut | Fälle in Prozent | |
---|---|---|
politische Differenzen und parteiinterne Rivalitäten | 13 | 27,1 |
Konzentration auf eine berufliche Position im öffentlichen Sektor (inklusive hauptamtlicher Funktion in Wirtschaftskammern) | 12 | 25,0 |
Tod, Krankheit, Alter | 8 | 16,7 |
Konzentration auf eine berufliche Position in privaten Unternehmen (teilweise verbunden mit einem Ehrenamt in Wirtschaftskammern) | 7 | 14,5 |
Konzentration auf eine andere Parteifunktion | 4 | 8,3 |
Kriminalität und Skandal | 3 | 6,3 |
Einziehung zur Wehrmacht | 1 | 2,1 |
feststellbare Fälle insgesamt | 48 | 100 |
Die Dunkelziffer ist hoch. Analysiert wurden für die Tabelle die in den Stichjahren 1931, 1934, 1940 und 1942 (siehe Anm. 18 und 19) im „Altreich“ amtierenden Gauwirtschaftsberater, die ihr Amt bereits vor dem Ende des „Dritten Reiches“ verloren.
Politische Differenzen beziehungsweise parteiinterne Rivalitäten sowie die Konzentration auf den Beruf waren neben Tod, Krankheit oder Alter die wichtigsten Gründe für ein Ausscheiden aus dem Amt. Drei typische Fälle: Ludwig Linhardt schied als Gauwirtschaftsberater in der Bayerischen Ostmark aus, weil er den Parteieinfluss auf die private Wirtschaft weniger weit ausdehnen wollte als Gauleiter Wächtler. [101] Heinz Behrens legte seine Funktion als Gauwirtschaftsberater in Schleswig-Holstein nieder, als er beruflich zur Energieversorgung Ostland GmbH in Riga wechselte, [102] und Landrat Nikolaus Simmer verzichtete 1935 auf sein Amt als Wirtschaftsberater im Gau Koblenz-Trier, nachdem ihn der Oberpräsident vor die Alternative gestellt hatte, sich auf eine seiner Funktionen zu beschränken. [103]
In einigen Fällen stürzte ein Gauwirtschaftsberater über einen Skandal, der selbst für die NSDAP und vor dem Hintergrund weitverbreiteter Korruption im „Dritten Reich“ [104] nicht mehr tragbar erschien bzw. von Parteirivalen ausgenutzt wurde. Georg Schaub hatte in Nürnberg als Präsident der dortigen Industrie- und Handelskammer Gelder für seine Firma abgezweigt. Als das bei einer Kassenprüfung aufflog, verlor er 1937 seine Ämter. [105] Veranlasst durch eine Denunziation hatte die Polizei in Sachsen festgestellt, dass Kurt Jainz mehrfach vorbestraft und überschuldet war und einen schlechten Leumund hatte. Obgleich der Gauleiter sich für ihn einsetzte, war er als Gauwirtschaftsberater nicht zu halten. [106] Wie sich Karl Eckardt in Hessen-Nassau skrupellos bereicherte (siehe oben), bot Anlass für parteiinterne Konkurrenten, ihn bei der Gauleitung in Misskredit zu bringen und 1942 als Gauwirtschaftsberater zu stürzen.
3 Kollektivbiographische Aspekte
3.1 Parteimitgliedschaft
Nur 14 Prozent der Gauwirtschaftsberater traten der NSDAP erst nach der „Machtergreifung“ bei. Anders gewendet: [107] 86 Prozent waren schon davor zur Partei gestoßen, ein Viertel als „alte Kämpfer“ bereits vor 1929, also zu einer Zeit, als die NSDAP weder Renommee noch Geld verhieß, und die öffentlichen Äußerungen der Gauwirtschaftsberater jener Zeit [108] signalisieren, dass sie die Parteimitgliedschaft weniger aus egoistischem Nutzenkalkül, sondern aus weltanschaulichen Gründen wählten: weil Rassismus, Antikapitalismus und Chauvinismus zu ihren Glaubensgewissheiten gehörten. Ohne Zweifel waren die Gauwirtschaftsberater ideologisch überzeugte Nationalsozialisten und in der Regel keine Opportunisten, die sich nur deshalb um ein Parteiamt bemühten, weil sie nach Einfluss und Reichtum gestrebt hätten. Ihre Mentalität war von den sogenannten „Kampfjahren“ geprägt, und das hieß, sie suchten nicht den Kompromiss, sondern wollten ihre Interessen knallhart durchsetzen.
Parteieintritt der Gauwirtschaftsberater in die NSDAP.
1931 amtierende Gauwi.-berater | 1934 amtierende Gauwi.-berater | 1940 amtierende Gauwi.-berater | 1942 amtierende Gauwi.-berater | Gesamt-zahl der Fälle in den vier Stichjahren | Anteil an allen Fällen | |
---|---|---|---|---|---|---|
Parteieintritt bis einschl. 1925 | 26,9 % | 21,2 % | 20,7 % | 14,7 % | 16 | 20,3 % |
Parteieintritt 1926- 1929 | 34,6 % | 18,2 % | 13,8 % | 14,7 % | 12 | 15,2 % |
Parteieintritt 1930 | 23,1 % | 6,1 % | 6,9 % | 8,8 % | 10 | 12,7 % |
Parteieintritt 1931 | 15,4 % | 30,3 % | 31,0 % | 32,4 % | 23 | 29,1 % |
Parteieintritt 1932 bis 30.1.1933 | 18,2 % | 6,9 % | 5,9 % | 7 | 8,9 % | |
Parteieintritt nach 30.1.1933 | 6,1 % | 20,7 % | 23,5 % | 11 | 13,9 % | |
Anzahl der feststellbaren Fälle | 26 | 33 | 29 | 34 | 79 | |
Anzahl der nicht zu ermittelnden Fälle | 1 | 1 | 2 | 1 | 4 |
Zu den Stichjahren siehe Anm. 18 und 19. Sollten Personen aus- und wieder eingetreten sein, ist jeweils der erste Parteieintritt berücksichtigt worden.
Bis zum Ende des „Dritten Reiches“ dominierten diese in der Wolle gefärbten Nationalsozialisten unter den Wirtschaftsberatern, obwohl sich das Gewicht der „Spätberufenen“ allmählich verstärkte. Letztere stellten im Zweiten Weltkrieg über ein Fünftel der Gauwirtschaftsberater, doch zahlenmäßig blieb diese Gruppe immer noch kleiner als jene der „alten Kämpfer“.
3.2 Generationen
Über Selbstbeschreibungen wie im einleitenden Zitat von Hans Kehrl hinaus kann der Generationenbegriff als analytische Kategorie zum besseren Verständnis der Gauwirtschaftsberater dienen. Anknüpfend an Überlegungen von Karl Mannheim aus den 1920er Jahren [109] hat die Forschung wiederholt versucht, geschichtsmächtige „Generationseinheiten“ aufzuspüren, also Gruppen, die einer Alters- und Erfahrungsgemeinschaft angehören, ähnlich denken, gleichgerichtet und kollektiv handeln. [110] Für die Zeit des Nationalsozialismus sind dabei besonders die nach 1900 geborenen Männer in den Blick geraten, die neben sachlicher Kälte eine betont militante Aversion gegen die bürgerliche Gesellschaft und die Demokratie charakterisierte. [111] Die Generationenforschung geht allgemein davon aus, dass jeweils im Alter zwischen ca. 16 und 25 Jahren Schlüsselerfahrungen liegen.
Die Gauwirtschaftsberater waren vergleichsweise junge, aber nicht sehr junge Männer. Ihr Durchschnittsalter lag anfänglich bei 39 Jahren, und die Spanne betrug gut 30 Jahre: Der jüngste – der diplomierte Landwirt Berengar Elsner von Gronow im Gau Weser-Ems– war erst 27 Jahre alt, der älteste – der Privatier Alfred Pfaff in München-Oberbayern – bereits 59. Im Verlauf des „Dritten Reichs“ stieg das Durchschnittsalter dann auf 45 Jahre an, blieb also in Relation zu Führungspersönlichkeiten der Wirtschaft, die im Schnitt deutlich über 50 Jahre alt waren, [112] immer noch ausgesprochen niedrig. Sowohl das Durchschnittsalter als auch sein Ansteigen entsprachen den Verhältnissen, wie sie reichsweit für die NSDAP-Kreisleiter, auch für die Gauleiter analysiert worden sind. [113] Die Mehrzahl, ab 1934 waren es rund zwei Drittel der Gauwirtschaftsberater, entstammte in allen Stichjahren der Frontgeneration, das heißt einer Alterskohorte, deren Geburt zwischen 1882 und 1900 lag und von der die Forschung annimmt, [114] sie sei der Welt des Kaiserreichs überdrüssig gewesen und habe nach einer neuen sozialen und politischen Ordnung gesucht. Weltkrieg und Revolution enttäuschten ihre Hoffnungen, und die Republik empfand diese Generation als Niedergang, ja sie fühlte sich existentiell bedroht und verklärte die Vergangenheit, insbesondere das Gemeinschaftserlebnis in den Schützengräben. Der Anteil jener Gauwirtschaftsberater, die im Ersten Weltkrieg militärische Erfahrungen gemacht hatten (61,8 Prozent), [115] entsprach in etwa dem Anteil der Frontgeneration.
Den überwiegenden Rest der Gauwirtschaftsberater stellte die nachfolgende, noch jüngere Alterskohorte, welche sich als „überflüssige“ oder „verlorene“ Generation betrachtete. [116] Zu jung für den Fronteinsatz, hatte sie den Krieg für ein Abenteuer ebenso wie für eine verpasste Chance gehalten, und die anschließenden Krisenjahre als permanente Desillusionierung wahrgenommen. Man teilte also Verlusterfahrungen der Frontkämpfergeneration und stellte sich an deren Seite, doch schreibt man der „überflüssigen Generation“ ein besonderes Maß an Kühle, Härte und Sachlichkeit zu. Sie sei, so der Zeitgenosse Sebastian Haffner, die „eigentliche Generation des Nazismus“ gewesen. [117]
Alter und Generationszugehörigkeit der Gauwirtschaftsberater.
1931 | 1934 | 1940 | 1942 | |
---|---|---|---|---|
Gründerzeitgeneration (geboren 1864-1881) | 18,5 % | 6,1 % | 3,2 % | 2,9 % |
Frontgeneration (geboren 1882-1900) | 55,6 % | 66,7 % | 64,5 % | 68,6 % |
überflüssige Generation (geboren 1901-1917) | 25,9 % | 27,3 % | 32,3 % | 28,6 % |
Durchschnittsalter in Jahren | 39 | 40 | 43 | 45 |
Summe der Fälle | 27 | 33 | 31 | 35 |
3.3 Sozioökonomischer Status
Rückblickend unterstrich der thüringische Gauleiter Sauckel, „wie außerordentlich selten wirklich nationalsozialistische Wirtschaftsfachleute“ vor 1933 gewesen seien und hob „seinen“ Gauwirtschaftsberater Otto Eberhardt, den Leiter eines Bergwerksbetriebes, davon ab. [118] In der Tat sprechen die Namen der 27 Gauwirtschaftsberater von 1931 nicht für eine besondere Affinität des Unternehmerlagers zum Nationalsozialismus. Nur gut ein Drittel dieser Gauwirtschaftsberater war selbstständig tätig und darunter führten lediglich vier als Eigentümer eine bedeutendere Firma. Hinzu kamen ein Gutsbesitzer und ein Landwirt, zwei Kleingewerbetreibende und zwei Freiberufler. Unter diesen insgesamt zehn Selbstständigen stammten nur zwei aus etablierten mittelständischen Unternehmerfamilien: Der Vater von Werner Daitz hatte sich als Kaufmann im Speditions- und Schifffahrtsgewerbe engagiert, und Ernst Arnolds Vater war Marmorfabrikant. Bis auf diese Ausnahmen gehörten die ersten Gauwirtschaftsberater nicht zum Milieu der arrivierten Honoratioren. Im „Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft“ von 1930/31 war beispielsweise niemand von ihnen verzeichnet, und niemand besaß eine herausgehobene Position in Handels- oder Handwerkskammern, [119] weil Prestige und Renommee dafür fehlten.
Die Gauwirtschaftsberater als „Vertreter des Monopolkapitals“ [120] hinzustellen, führt in die Irre. Neben den genannten gewichtigeren Unternehmern (14,8 Prozent) sind als größte Gruppen unter den frühen Gauwirtschaftsberatern zu identifizieren: hauptamtliche Parteifunktionäre beziehungsweise -journalisten (18,5 Prozent), gehobene Angestellte (14,8 Prozent), gehobene und mittlere Beamte (11,1 Prozent) sowie hohe Beamte (11,1 Prozent). [121] Arbeiter oder proletaroide Existenzen fehlten noch ganz beziehungsweise sind erst unter späteren Amtsträgern anzutreffen.
Sozioökonomischer Status der Gauwirtschaftsberater vor dem 30.1.1933.
1931 | 1934 | 1940 | 1942 | |
---|---|---|---|---|
Oberschicht und obere Mittelschicht Großunternehmer, Fabrikanten, Bankiers, Vorstände, Direktoren, Hauptgeschäftsführer, selbstständige akademische Freiberufler, Gutsbesitzer, hohe Beamte | 44,4 % | 50,0 % | 46,7 % | 41,2 % |
mittlere und untere Mittelschicht Einzelhändler und kleine Kaufleute, Handwerksmeister und Kleingewerbetreibende, gehobene und mittlere Angestellte und Beamte, Lehrer, Landwirte, Parteiangestellte | 55,6 % | 46,9 % | 46,7 % | 52,9 % |
darunter: gehobene Angestellte | 14,8 % | 28,1 % | 26,7 % | 24,2 % |
obere Unterschicht einfache Angestellte, prekäre Erwerbstätigkeit | 0 % | 3,1 % | 6,7 % | 5,9 % |
Anzahl der Personen | 27 | 32 | 30 | 34 |
davon selbstständig unternehmerisch tätig | 37,0 % | 37,5 % | 46,7 % | 44,1 % |
Analysiert wurden die in den Stichjahren 1931, 1934, 1940 und 1942 (siehe Anm. 18 und 19) im „Altreich“ amtierenden Gauwirtschaftsberater, insgesamt 80 feststellbare Fälle; bei drei Personen ließ sich keine Information ermitteln.
Erfahrungen in selbstständiger unternehmerischer Tätigkeit brachten in den ausgewählten Stichjahren zwischen 37 und 46,7 Prozent der Gauwirtschaftsberater mit, weniger als nach den einleitend zitierten Worten von Kehrl oder der These von Turner zu erwarten gewesen wäre, aber mehr als doppelt so viel wie durchschnittlich unter den NSDAP-Mitgliedern. [122] „Fast ausschließlich aus der Wirtschaft“ [123] kamen sie keinesfalls. Falls unternehmerische Fähigkeiten und Leistungen fehlten oder sie nur Theoretiker waren, dürften die Gauwirtschaftsberater wenig Akzeptanz in der regionalen Wirtschaft gefunden haben und auf viele Vorbehalte gestoßen sein.
Die Gauwirtschaftsberater entsprachen in keiner Weise dem sozialen Profil der NSDAP-Mitglieder. In der Partei stellten Angehörige der Unterschicht zum Beispiel einen Anteil von etwa 35 Prozent, Angehörige der Oberschicht von nur acht bis neun Prozent. [124] Demgegenüber blieb der sozioökonomische Status der Gauwirtschaftsberater relativ hoch (ähnlich wie die Gauleiter in aller Regel über eine sichere Berufsposition und über Aufstiegswillen verfügten). [125] Die Position war keine für SA-Schläger, Arbeitslose oder gescheiterte Existenzen am Rand der Gesellschaft. Lediglich drei Personen können, gemessen an ihrer Situation vor der „Machtergreifung“, äußerst prekären Verhältnissen zugerechnet werden: der arbeitslose, als Unternehmer fallierte Christian Franke, der kleine Angestellte Carlo Otte und der Vertreter Hermann Fromm, der den Offenbarungseid geleistet hatte. Überraschend viele, zwischen 41 und 50 Prozent, waren dagegen sogar in Oberschicht oder oberer Mittelschicht verankert. Partiell kam es hier zu einem Amalgam traditioneller Gesellschafts- und neuer Parteieliten. Besser situierte Männer unter den Gauwirtschaftsberatern nutzten der Partei in der „Kampfzeit“ auch ganz handfest durch ihre Spenden. Der Essener Kaufmann Paul Hoffmann rettete das regionale Parteiblatt, die „National-Zeitung“, [126] und Heinrich Bichmann akquirierte in Thüringen umfangreiche Geldmittel für die NSDAP. [127]
Der vergleichsweise hohe sozioökonomische Status der Gauwirtschaftsberater korrespondiert mit ihrer guten Ausbildung. Sie waren formal hoch qualifiziert und in starkem Maß akademisch geprägt. Unter den zuerst ins Amt berufenen Gauwirtschaftsberatern verfügten fast zwei Drittel über einen Hochschulabschluss, zwölf von ihnen hatten sogar promoviert, oft in wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen. Die Quote der Gauwirtschaftsberater mit akademischem Zeugnis sank danach zwar (und parallel stieg die Zahl derjenigen ohne Abitur), pendelte sich aber um 50 Prozent ein. Zwei Erklärungen für diese graduellen Verschiebungen bieten sich an: Zum einen boten freie Wirtschaft und öffentlicher Dienst den Akademikern in der Partei mit der anziehenden Konjunktur verheißungsvollere Beschäftigungs- und Karrierechancen als zuvor, zum anderen versorgte die NSDAP verdiente, aber formal schlecht ausgebildete Parteigenossen mit internen Ämtern. Aber nach wie vor stachen die Gauwirtschaftsberater mit ihrer Schul- und Hochschulbildung innerhalb der NSDAP und ihrer Funktionärsschicht weit heraus.
Bildungsprofil der Gauwirtschaftsberater.
1931 | 1934 | 1940 | 1942 | |
---|---|---|---|---|
Volksschule ohne weiterführende Schulbildung | 0 % | 9,4 % | 13,3 % | 9,4 % |
weiterführende Schule ohne Abitur | 26,1 % | 25,0 % | 30,0 % | 28,1 % |
weiterführende Schule mit Abitur ohne akad. Abschluss | 8,7 % | 15,6 % | 6,7 % | 15,6 % |
Akademischer Abschluss | 65,2 % | 50,0 % | 50,0 % | 46,9 % |
Promotion | 52,2 % | 40,6 % | 43,3 % | 37,5 % |
Anzahl der Fälle | 23 | 32 | 30 | 32 |
Analysiert wurden die in den Stichjahren 1931, 1934, 1940 und 1942 (siehe Anm. 18 und 19) im „Altreich“ amtierenden Gauwirtschaftsberater, insgesamt 74 feststellbare Fälle; bei neun Personen ließ sich keine Information ermitteln.
Zu betonen ist, dass es sich bei den Gauwirtschaftsberatern um nachgerade klassische Aufsteigerbiographien handelte. Mehr als der Hälfte gelang es bis zum Zusammenbruch der Weimarer Republik und trotz der ökonomischen Krisen, den sozialen Status des Vaters zu übertreffen. Zur Illustration: Heinrich Hunkes Vater war Zieglermeister, er selbst arbeitete als Dr. rer. nat. als wissenschaftlicher Referent im Reichswehrministerium; [128] Josef Klein stammte aus einer Familie von Landwirten, wogegen er promovierte und bis zum Leiter der Sozialabteilung der IG Farben emporstieg; [129] Clemens Kentrup hatte einen Stuckateur zum Vater und brachte es als promovierter Jurist bis zum Geschäftsführer einer Handwerkskammer, dann einer Versicherungsgesellschaft. [130] Der Rest hatte das soziale Niveau der Eltern zumindest erreicht, und bloß zwei Personen fielen erkennbar zurück: Der bereits genannte Christian Franke, Sohn eines Großbauern, scheiterte als Textilunternehmer und versuchte sich als Angestellter durchzuschlagen; [131] Berengar Elsner von Gronow, Sohn eines Oberregierungsrats, bot sich als freiberuflicher Wirtschaftsberater an und schlüpfte dann bei der NSDAP unter. [132]
Sozioökonomischer Status der Väter der Gauwirtschaftsberater.
1931 | 1934 | 1940 | 1942 | |
---|---|---|---|---|
Oberschicht und obere Mittelschicht Großunternehmer, Fabrikanten, Bankiers, Vorstände, Direktoren, Hauptgeschäftsführer, selbstständige Ärzte, Gutsbesitzer, hohe Beamte, hohe Offiziere | 45,8 % | 24,1 % | 24,1 % | 18,8 % |
darunter: Großunternehmer, Fabrikanten, Bankiers | 8,3 % | 10,3 % | 10,3 % | 9,4 % |
Mittlere und untere Mittelschicht Einzelhändler und kleine Kaufleute, Handwerksmeister und Kleingewerbetreibende, gehobene und mittlere Angestellte und Beamte, Lehrer, Pfarrer, Landwirte, Fabrikmeister, Reisende | 41,7 % | 58,6 % | 55,2 % | 62,5 % |
darunter a): selbstständige Einzelhändler und kleine Kaufleute | 8,3 % | 10,3 % | 10,3 % | 12,5 % |
darunter b): selbstständige Handwerker und Kleingewerbetreibende | 12,5 % | 10,3 % | 6,9 % | 9,4 % |
darunter c): gehobene oder mittlere Beamte, Lehrer | 4,2 % | 20,7 % | 27,6 % | 25,0 % |
obere Unterschicht einfache Arbeiter und Handwerker | 12,5 % | 17,2 % | 20,7 % | 18,8 % |
Anzahl der Personen | 24 | 29 | 29 | 32 |
davon selbstständig unternehmerisch tätig | 50,0 % | 51,7 % | 37,9 % | 34,4 % |
Analysiert wurden die Väter der in den Stichjahren 1931, 1934, 1940 und 1942 (siehe Anm. 18 und 19) im „Altreich“ amtierenden Gauwirtschaftsberater, insgesamt 73 feststellbare Fälle; bei zehn Personen ließ sich keine Information ermitteln. Die Berufsangaben in den Quellen sind häufig vage bzw. nicht sehr aussagekräftig. Eine Bezeichnung wie „Kaufmann“ verrät wenig über die tatsächlichen Lebensumstände. Insofern ist die Auswertung mit gewissen Unsicherheiten behaftet.
Nach 1934 sank die „unternehmerische Sozialisation“ der Gauwirtschaftsberater massiv, und gleichzeitig intensivierte sich der Trend leicht, dass Gauwirtschaftsberater aus der (oberen) Unterschicht stammten. Die sozioökonomische Herkunft der im Zweiten Weltkrieg amtierenden Gauwirtschaftsberater näherte sich den Verhältnissen unter anderen NSDAP-Funktionären an. [133] Unter den Gauwirtschaftsberatern waren nun der Typus des Selfmademan und jener des Parteikarrieristen stärker verbreitet als zuvor.
Gegenläufig zu diesem Prozess waren jedoch mehr Gauwirtschaftsberater als 1931 selbst unternehmerisch tätig: 46,7 Prozent beziehungsweise 44,1 Prozent, überwiegend jedoch als Kleingewerbetreibende. 1942 führten nur fünf Gauwirtschaftsberater als (Mit-)Eigentümer ein beachtliches, kapitalstarkes mittelständisches Unternehmen. [134] Anders gewendet: Die Schnittmenge zwischen Unternehmern und Gauwirtschaftsberatern blieb begrenzt und stagnierte schließlich. Im traditionellen Milieu der Honoratioren, der Wirtschaftsbürger und ihrer Interessenorganisationen wurden die allermeisten Gauwirtschaftsberater auch nach 1933 als Fremdkörper empfunden. Lediglich zwei sind, neben den für die Frühzeit erwähnten Daitz und Arnold, diesem Milieu zuzurechnen: der Kölner Bankier Kurt von Schröder und der Magdeburger Tabak- und Metallwaren- industrielle Martin Nathusius. [135] Das Wachstum des sozialen Kapitals aller übrigen stieß an Grenzen. Christian Franke (Westfalen-Nord) heiratete zwar in zweiter Ehe die Tochter eines arrivierten Mittelständlers, aber der Zugang zu Großindustrie und Großbürgertum blieb ihm fast vollständig verschlossen. Der Geldadel nahm die Gauwirtschaftsberater nicht als gesellschaftlich ebenbürtig wahr, und diese besaßen nicht dessen Habitus – was nicht ausschloss, dass sich hin und wieder persönliche Freundschaft oder zumindest widerstrebender Respekt entwickelte (unter Ruhrindustriellen etwa gegenüber Paul Pleiger). Und oft war auch der Großindustrielle auf den Gauwirtschaftsberater angewiesen, sodass deren soziales Interagieren eben nicht ausschließlich auf den mit Herrenwitzen gewürzten Bierabend im Kreis von Parteikameraden [136] beschränkt blieb.
3.4 Geographische Herkunft
Nicht nur die soziale, auch die geographische Herkunft der Gauwirtschaftsberater ist ein Indiz für die These von den Aufstiegsbiographien, denn zu knapp mehr als der Hälfte wirkten die Berater außerhalb jener Regionen, in denen sie geboren und in aller Regel auch aufgewachsen waren. Das unterschied sie etwa von den „Führern der Provinz“ in Baden und Württemberg. [137] Man suchte, ob freiwillig oder gezwungen, auswärts nach neuen, besseren Lebenschancen. Die geographische Mobilität sank bis 1940 zwar merklich, sodass die Sesshaften ein leichtes Übergewicht besaßen, aber der Anteil der Beweglichen verharrte auf hohem Niveau. Mit anderen Worten: Aus einer hochgradig mobilen, wenn man so will wurzellosen Gruppierung wurde eine nur mehr mobile.
Die geographische Herkunft war breit gestreut. Dennoch lassen sich einige Regionen identifizieren, die – auch gemessen an ihrer Bevölkerungsstärke – einen überproportionalen Anteil an Gauwirtschaftsberatern stellten: Sachsen (mit Anhalt), Westfalen (mit Lippe) und Baden/Württemberg, also stärker industrialisierte Gebiete, in denen sich die Wirtschaftskrise nach 1929 massiv bemerkbar machte. Industrieller Niedergang, Arbeitslosigkeit und ökonomische Depression scheinen zum mentalen Erfahrungsraum zahlreicher Gauwirtschaftsberater gehört zu haben. Hinzu kam auch eine gewisse Diasporaerfahrung, denn die genannten Regionen waren ja keine Hochburgen der NSDAP.
Wirkungs- und Geburtsort der Gauwirtschaftsberater.
1931 | 1934 | 1940 | 1942 | Gesamtzahl der Fälle in den vier Stichjahren | Gesamtzahl in Prozent | |
---|---|---|---|---|---|---|
bleibt als Gauwirtschaftsberater in der Geburtsregion | 37,0 % | 51,5 % | 54,8 % | 54,3 % | 40 Personen | 48,8 % |
wirkt als Gauwirtschaftsberater in einem anderen Land des Deutschen Reiches oder – im Fall Preußens – in einer anderen Provinz | 63,0 % | 48,5 % | 45,2 % | 45,7 % | 42 Personen | 51,2 % |
Summe | 100 % | 100 % | 100 % | 100 % | 82 Personen | 100 % |
Analysiert wurden die in den Stichjahren 1931, 1934, 1940 und 1942 (siehe Anm. 18 und 19) im „Altreich“ amtierenden Gauwirtschaftsberater; insgesamt 82 feststellbare Fälle; bei einer Person ließ sich keine Information ermitteln.
Herkunft der Gauwirtschaftsberater nach Geburtsregion.
Personen | Anteil in Prozent | |
---|---|---|
Sachsen (Kgr. und preuß. Provinz), Anhalt | 10 | 12,2 |
Westfalen, Lippe | 8 | 9,8 |
Baden, Württemberg | 7 | 8,5 |
Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen | 6 | 7,3 |
Schlesien | 6 | 7,3 |
Bayern, Franken | 6 | 7,3 |
Hannover, Oldenburg, Braunschweig | 5 | 6,1 |
Rheinland | 5 | 6,1 |
Hessen, Nassau | 5 | 6,1 |
Pfalz, Saarland | 5 | 6,1 |
West-, Ostpreußen, Danzig, Posen | 4 | 4,9 |
Thüringen | 4 | 4,9 |
Mecklenburg, Pommern | 3 | 3,7 |
Berlin | 3 | 3,7 |
Brandenburg | 2 | 2,4 |
Österreich-Ungarn | 2 | 2,4 |
sonstiges Ausland | 1 | 1,2 |
Summe | 82 | 100,0 |
Analysiert wurden die in den Stichjahren 1931, 1934, 1940 und 1942 (siehe Anm. 18 und 19) im „Altreich“ amtierenden Gauwirtschaftsberater, insgesamt 82 feststellbare Fälle; bei einer Person ließ sich keine Information ermitteln.
3.5 Konfession
Im Hinblick auf die konfessionelle Verortung ist ein ungewöhnlich starkes Übergewicht der evangelisch Getauften festzustellen, das über die Jahre hinweg stabil blieb. Ihr Anteil lag weit über dem vergleichbaren Bevölkerungsanteil (62,7 Prozent) [138] oder auch dem Anteil der Protestanten unter anderen NSDAP-Funktionären. [139] Ob sich der ausgeprägte Aufstiegsehrgeiz vieler Gauwirtschaftsberater und ihre verbreitete Arbeitsamkeit auf protestantische Prägungen zurückführen lassen, muss mangels Quellen dahingestellt bleiben.
Konfessionelle Zugehörigkeit der Gauwirtschaftsberater.
Personen | Anteil in Prozent | |
---|---|---|
ev. getauft | 56 | 82,4 |
kath. getauft | 12 | 17,6 |
Kirchenaustritt insgesamt | 20 | 28,6 |
Analysiert wurden die in den Stichjahren 1931, 1934, 1940 und 1942 (siehe Anm. 18 und 19) im „Altreich“ amtierenden Gauwirtschaftsberater, insgesamt 68 feststellbare Fälle bezüglich der Taufe und 70 bezüglich des Kirchenaustritts; bei 15 bzw. 13 Personen ließ sich keine Information ermitteln. Im Hinblick auf den Kirchenaustritt gibt es eine hohe Dunkelziffer.
Jedenfalls traten weniger Gauwirtschaftsberater aus der Kirche aus als man annehmen könnte: 28,6 Prozent.[140] Eine Bindung an ihr Herkunftsmilieu, kulturelle Traditionen beziehungsweise außerpolitische Verwurzelungen blieb offenkundig für viele virulent.
4 Ideal- und Realtypen
Die bisherige Analyse hat zwar einige gemeinsame Merkmale ergeben, die jeweils für eine signifikante Mehrheit der Gauwirtschaftsberater zutreffen:
Zugehörigkeit zur Frontgeneration, also zu einer relativ jungen Alterskohorte
Teilnahme am Ersten Weltkrieg
qualifizierte Ausbildung, oft mit akademischem Abschluss
soziale Herkunft aus der protestantischen Mittel- und Oberschicht
Distanz zum traditionellen Wirtschaftsbürgertum
ausgeprägte geographische und soziale Mobilität mit einem erkennbaren gesellschaftlichen Aufstieg
früher Parteibeitritt vor 1932, das heißt vor der eigentlichen Erfolgsphase der NSDAP
Ämter- und Machtakkumulation nach dem 30. Januar 1933
Das reicht jedoch nicht aus, ein trennscharfes Profil zu erstellen oder gar von einer kollektiven Identität zu sprechen. Den Gauwirtschaftsberater gab es nicht. Eher verdichten sich die unterschiedlichen Lebensläufe zu fünf „Idealtypen“ im Sinne von Max Weber, theoretischen Konstrukten und zugleich empirischen Rekonstruktionen, in denen Merkmale tatsächlich existierender Personen ausgewählt, verknüpft und zugespitzt werden. [141] Der „Idealtypus“ kommt als solcher in der Realität nicht vor, bietet aber Orientierungshilfen beziehungsweise Kriterien, an denen sich die Wirklichkeit messen lässt. Um im vorliegenden Fall Parallelen und Divergenzen erkennen zu können, sind Schlüsselvariablen kombiniert und ausgewertet worden (Generationszugehörigkeit, soziale Herkunft, ökonomische Kompetenzen, Datum des Parteibeitritts, Amtsdauer, beruflicher Erfolg vor 1933, ideologische Äußerungen, Aktivitätskreise und Initiativen nach 1933, Ämterakkumulation in Partei, Staat und Wirtschaft). Mit dieser Methode kristallisieren sich fünf Idealtypen von Gauwirtschaftsberatern heraus: Karrieristen, Provinzfürsten, Verwalter, Materialisten und Parteisoldaten. Reale Personen nähern sich diesen Kategorien unterschiedlich dicht an, und wegen des lückenhaften Wissens um einzelne Lebensläufe lässt sich auch nicht jeder Realtyp sinnvoll einem der Idealtypen zuordnen. Doch zweifellos fallen die meisten Gauwirtschaftsberater unter die Rubrik der Provinzfürsten und der Verwalter, und nur wenige zählten zu den Parteisoldaten oder den Materialisten. Gleichwohl zogen alle Nutzen aus ihrem Amt und waren Profiteure des Regimes, wenn auch in sehr unterschiedlicher Art. Die allermeisten steigerten ihr Einkommen erheblich. [142]
4.1 Der Karrierist
Der Karrierist stammt aus einfachen kleinbürgerlichen, gelegentlich proletarischen Verhältnissen, hat allerdings eine solide fachliche Ausbildung genossen und trotz der Verwerfungen der Weimarer Republik sein berufliches Können unter Beweis gestellt. Gleichwohl ist er ein prinzipieller Gegner des ökonomischen und politischen Systems. Der NSDAP tritt er spät bei, nachdem diese die ersten reichsweiten Wahlerfolge gefeiert hat. Ehrgeizig und fest von sich überzeugt strebt er an, zur Prominenz des NS-Staates aufzusteigen und nicht nur persönlich vorwärtszukommen, sondern hochfliegende Pläne zu verwirklichen, Wirtschaft und Politik umzugestalten. Dabei wird die Partei zum Sprungbrett für Macht und Einfluss weit über die Region hinaus, doch letztlich emanzipiert sich der Karrierist von ihr und das Amt des Gauwirtschaftsberaters rückt an den Rand. Stattdessen setzt der Karrierist auf Positionen in der Exekutive und den Wirtschaftsbehörden. Zuvor hatte er Netzwerke in der NSDAP geknüpft, die Nähe zum Gauleiter gesucht und durch öffentliche Initiativen auf sich aufmerksam gemacht. Mit einem ebenso großen Maß an Opportunismus wie Rücksichtslosigkeit ausgestattet, eignet er sich während der „Gleichschaltung“ einflussreiche Positionen in Unternehmen und Wirtschaftsorganisationen an. Er wird Multifunktionär, verharrt allerdings in der zweiten Reihe. Fachliche Kompetenz kann ihm nicht abgesprochen werden, aber Macht ist ihm letztlich wichtiger als Ideologie.
Heinrich Hunke [143] kommt diesem Idealtypus nahe. Ihm gelang zunächst ein sozialer Aufstieg. Der Vater war Zieglermeister, er selbst machte eine Ausbildung zum Volksschullehrer, studierte zudem noch Volkswirtschaft und promovierte 1927. Anschließend war er als Referent im Reichswehrministerium tätig. Schon 1923 der NSDAP beigetreten, gehörte er schließlich als Organisationsleiter und als Wirtschaftsberater (von 1931 an) zur Führungsspitze des Gaus Berlin. Außerdem gab er seit 1931 die Fachzeitschrift „Die Deutsche Volkswirtschaft“ heraus. Gauleiter Goebbels schätzte ihn („flottes, kluges Kerlchen, leistet viel Arbeit“ [144]) und holte ihn als hohen Beamten ins Propagandaministerium. Im „Dritten Reich“ nahm Hunke parallel zahlreiche weitere Funktionen wahr, unter anderem als Präsident des Werberates der Deutschen Wirtschaft, als Reichstagsabgeordneter und Honorarprofessor. Obwohl das Verhältnis zu Goebbels abgekühlt war, wurde Hunke 1944 noch Präsident der Berliner Gauwirtschaftskammer und Vorstandsmitglied der Deutschen Bank. [145] Offenkundig hielt er – gegen die Parteidirektiven – auch am Amt des Gauwirtschaftsberaters bis zuletzt fest. Als solcher hatte er die „Arisierungen“ im Gau Berlin gesteuert und dabei auch selbst eine Firma erworben. [146] Auch publizistisch blieb er eifrig tätig und versuchte auf vielen Wegen, Konzepte einer nationalsozialistisch gelenkten Wirtschaft theoretisch zu fundieren. [147] Nach Internierung und Entnazifizierung gelang ihm ein beruflicher Neuanfang im Niedersächsischen Finanzministerium (zuletzt Ministerialdirigent).
4.2 Der Provinzfürst
Ihm geht es nicht in erster Linie um persönliche Vorteile, sondern darum, einen „Dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus zu finden und diesen vor Ort zu verwirklichen. Deshalb ist er bereits in den 1920er Jahren Mitglied der Partei geworden, überzeugt davon, die marktwirtschaftliche Ordnung müsse reguliert, letztlich überwunden und der Primat der Politik durchgesetzt werden. Eine antikapitalistische, genauer: anti-großindustrielle Grundhaltung konserviert er, passt sich aber den Verhältnissen an und gibt ständestaatliche Ideen auf, als der politische Wind sich dreht. Er ist ein Pragmatiker der Macht par excellence. Seine Ambitionen sind nicht auf die nationale Ebene gerichtet, und Ausgangspunkt seines Wirkens ist ein Vertrauensverhältnis zum Gauleiter. Das Amt des Gauwirtschaftsberaters bleibt sein Aktionszentrum, und er klammert sich lange daran. Ämterakkumulation kommt ihm entgegen, weil er die Region ökonomisch weiterentwickeln will. So setzt er sich dafür ein, die Infrastruktur auszubauen, neue Betriebe anzusiedeln oder den Mittelstand zu stärken. Sein Selbstbewusstsein und seine Energie schöpft er auch daraus, dass er selbst akademisch hoch qualifiziert und bereits in der Weimarer Zeit erfolgreich unternehmerisch tätig war. Auch wenn er gern das Leitbild vom „ehrbaren Kaufmann“ zitiert, stehen Rassismus und Antisemitismus, das Führerprinzip und der Traum von nationaler Expansion außer Frage.
Rudolf Braun, [148] Sohn eines wohlhabenden Unternehmers, studierte nach einer Apothekerlehre Pharmazie und Chemie. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich als Freiwilliger. Ein Jahr nach der Promotion 1923 erwarb er im nordhessischen Melsungen die Uzara-Werke, ein kleines Unternehmen, das pharmazeutische Präparate produzierte und auch während der Weltwirtschaftskrise florierte. 1933/34 kaufte Braun die erheblich größere, aber sanierungsbedürftige Firma Evens & Pistor, die Krankenhaus- und Sanitäreinrichtungen herstellte und ihm dank der Umstellung auf Rüstungsgüter im Zweiten Weltkrieg beträchtliche Gewinne brachte. Der NSDAP trat Braun bereits 1929 bei. Seit das Amt des Gauwirtschaftsberaters im Gau Kurhessen geschaffen wurde, bekleidete er es. Mit der Gleichschaltung der Kammern besetzte er 1933 auch den Präsidentenstuhl der IHK Kassel (bis 1943). Hinzu kam im selben Jahr ein Reichstagsmandat. Persönlich eher anspruchslos und mit einem gewissen Idealismus hinsichtlich der „sozialistischen“ Seiten des NS-Parteiprogramms setzte Braun sich für die Weiterentwicklung der Wirtschaftsstruktur in Nordhessen ein, besonders für kleine und mittlere Unternehmen. Entsprechende Reden hielt er bereits vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Kapitalkräftige Firmen versuchte er im Land zu halten. Er bemühte sich, öffentliche Aufträge zu vermitteln oder Fachschulen zu gründen, und engagierte sich für den Autobahnbau. Zeitzeugen beschreiben ihn als impulsiv, oft grob und cholerisch, zugleich aber auch als arbeitseifrig und leistungsstark. Braun entwickelte sich zur zentralen Schaltstelle der nordhessischen Wirtschaft: Es habe „kaum eine Sparte des öffentlichen oder wirtschaftlichen Lebens“ gegeben, wo er nicht in Erscheinung getreten sei, [149] under habe „als Prominenter der Wirtschaft die unumschränkte Macht diktatorisch“ verkörpert. [150] Aktiv schaltete er sich auch in die „Arisierung“ ein, wobei er sich selbst offenbar nicht bereicherte. Im Krieg erweiterten sich seine Gestaltungsspielräume, weil er vom Speer-Ministerium zum Rüstungsobmann und Vorsitzenden des regionalen Rüstungskommandos ernannt wurde. Obgleich er bei Kriegsende die Verbrannte-Erde-Befehle torpedierte, war Braun ein Rad in der Maschinerie der Gewaltherrschaft. Dass er aber im Entnazifizierungsverfahren rund 100 ausführliche Entlastungszeugnisse vorlegen konnte, spricht gleichwohl für ein gewisses Ansehen, das er sich zumindest in Teilen der Wirtschaft erworben hatte. 1948 verließ er das Internierungslager und widmete sich, in die Mitläufer-Kategorie IV eingestuft, wieder seinen Firmen.
4.3 Der Verwalter
Mehr zufällig, häufig aus der Not der Gauleiter, geeignete Bewerber für das Amt des Gauwirtschaftsberaters zu finden, erhält der Verwalter quasi als Lückenfüller den Posten. NSDAP-Mitglied wird er erst nach 1930, findet dort aber keine echte Machtbasis und gehört nie zur engeren Gauclique. Anstatt nach außen oder in der Partei in Erscheinung zu treten, richtet er sein Hauptaugenmerk auf sein privates berufliches Fortkommen, wobei er den Rahmen der Gesetze des Unrechtsstaates nie sprengt. Der Verwalter funktioniert, und er will im NS-System reibungslos funktionieren. Das Amt des Gauwirtschaftsberaters bleibt eine Durchgangsstation. Er füllt es unscheinbar aus, ohne Initiative und ohne Engagement; er tut das Nötige, strebt aber nicht nach mehr. Grundlegende ökonomische Fähigkeiten bringt der Verwalter mit, und bereits in der Weimarer Republik hat er sich eine sichere berufliche Position erarbeitet und einen gesellschaftlichen Aufstieg erlebt. Wenn er dank der Partei Funktionen in Wirtschaftsorganisationen besetzt, nimmt er sie für wichtiger als sein Gauwirtschaftsberater-Amt.
Eugen Möllney [151] gelang ein sozialer Aufstieg aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Der Sohn eines Fuhrmanns und Specereihändlers studierte Chemie und promovierte 1914. Nachdem er im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, ging er als leitender Angestellter in die chemische Industrie und war am Ende Geschäftsführer einer Tochtergesellschaft der Th. Goldschmidt AG, und zwar der Orgacid GmbH in Ammendorf bei Halle, die chemische Kampfstoffe produzierte. Möllney trat der NSDAP erst nach der „Machtergreifung“ bei und übte das Amt des Gauwirtschaftsberaters im Gau Halle-Merseburg von Dezember 1935 bis Kriegsende aus, wohnte jedoch nicht am Sitz der Gauleitung und verfügte dort weder über Büro noch Stab. Aus einer Bekanntschaft mit Robert Ley, von Haus aus ebenfalls Chemiker, erwuchs kein Einfluss in der NSDAP. Eigene Angaben, wonach er vom Gauleiter nur fallweise beratend eingeschaltet wurde, zum Beispiel bei Fragen der Energieversorgung, und sich ansonsten ganz auf sein Wirken als Manager konzentrierte, konnten im Spruchkammerverfahren nicht widerlegt werden. Nur gelegentlich trat Möllney mit Presseartikeln in der Mitteldeutschen National-Zeitung hervor. Herausgehobene Positionen in den Organisationen der Wirtschaft besetzte er nie. Nach dreijähriger Internierung war Möllney in Nordrhein-Westfalen beratend für seinen alten Arbeitgeber Goldschmidt tätig.
4.4 Der Materialist
Vor 1933 macht er keine Karriere, eher sind berufliche Misserfolge zu verzeichnen. Spezifische theoretische Kompetenz in ökonomischer Richtung eignet sich der Materialist nie an, doch findet er früh zur NSDAP, und der Primat der Partei steht für ihn außer Frage, nicht zuletzt, weil er allein ihr sozialen Rang und Macht verdankt. Mit Hilfe der NSDAP okkupiert er im „Dritten Reich“ Aufsichtsratsmandate in Unternehmen und Vorstandspositionen in den Kammern der Wirtschaft. Weil das Amt des Gauwirtschaftsberaters Basis aller Handlungsoptionen ist, klammert er sich daran fest. Die Direktiven des NS-Staates setzt er rücksichtslos durch, und er nutzt sie besonders während der „Arisierungen“ ohne Skrupel und gedeckt durch den Gauleiter zu seinem eigenen Vorteil, wobei er auch den Rahmen des damals juristisch Erlaubten sprengt. Gierig und mit allen Mitteln will er sich bereichern und schlägt im Vergleich zu den anderen Idealtypen am meisten materiellen Profit aus dem NS-System – und um diesen Profit kreist sein Denken. Aktionsfeld bleibt ausschließlich der Gau.
Das Beispiel von Hermann Fromm [152] demonstriert, dass Gauwirtschaftsberater über vielfältige institutionelle Optionen verfügten, die sie mit dem nötigen Geschick (negativ: mit der nötigen Gerissenheit) in enormes ökonomisches Kapital ummünzen konnten. Fromm, Sohn eines Schiffszimmermanns, scheiterte während der Weimarer Zeit mehrfach als selbstständiger Kaufmann. 1931 leistete er den Offenbarungseid und schlug sich anschließend als Vertreter durch. 1926 Mitglied geworden, gehörte er zu den „alten Kämpfern“ der NSDAP. Dank enger Bekanntschaft ernannte ihn Gauleiter Röver 1932 zum Wirtschaftsberater im Gau Weser-Ems, was er bis Kriegsende blieb. Nur vier Jahre nach seinem Offenbarungseid konnte Fromm Grundstücke für 150.000 Reichsmark kaufen, 1938 eine jüdische Firma für eine halbe Million Reichsmark erwerben und 1942 schließlich eine Villa in Bremen für 350.000 Reichsmark in seinen Besitz nehmen. Dort residierte er fortan mit seiner Familie. Nachvollziehbar erscheint, dass Fromm von Zeugen im Spruchkammerverfahren als der „schamloseste Nutznießer des Naziregimes im Gau Weser-Ems“ bezeichnet wurde. [153] Dieser immens schnelle Aufstieg fußte in mehrfacher Hinsicht auf dem Parteiamt. Als Gauwirtschaftsberater war Fromm erstens prädestiniert dafür, lukrative Posten in Aufsichts- und Verwaltungsräten zu besetzen, so auch in der Bremer Landesbank, die ihm dann ein Darlehen von einer Viertelmillion Reichsmark gewährte. Zweitens stand er in permanentem Kontakt zu den führenden Industriellen der Region, und der Generaldirektor der Deschimag-Werft stellte ihm ebenfalls einen Kredit von 250.000 Reichsmark zur Verfügung – und versprach sich wahrscheinlich Gegenleistungen. Drittens: Fromm erfuhr als Gauwirtschaftsberater früh von jüdischen Firmen, die zum Verkauf standen und weit unter Marktwert zu haben waren. 1935 in Oldenburg und 1938 in Güstrow griff er bei zwei Bettfedernfabriken zu. Viertens halfen seine Parteinetzwerke, Aufträge vom Arbeitsdienst und vom Militär zu erhalten. Nach Internierung und Entnazifizierung verliert sich Fromms Spur.
4.5 Der Parteisoldat
Als Angehöriger der „verlorenen Generation“, um 1900 geboren, lebt der Parteisoldat früh im Dunstkreis rechtsextremer Gruppen und Gedanken. Der NSDAP gehört er als „alter Kämpfer“ an und ist Teil der Clique um den Gauleiter. Beruflich jedoch hat er nur geringen Erfolg und ihm fehlen unternehmerische Fähigkeiten. So verschreibt er sich ganz der Partei, wobei das Amt des Gauwirtschaftsberaters nur eines unter vielen ist, und für ihn keineswegs das zentrale. Aktionsbasis sind andere Parteifunktionen, aber auch Regierungsämter und Parlamentsmandate. Fanatisch überzeugt von der Weltanschauung der NSDAP, kämpft er auch in SA oder SS dafür oder nimmt Aufgaben in der Ausplünderung oder im Vernichtungsapparat der im Zweiten Weltkrieg eroberten Gebiete wahr. Brutal setzt er Gewalt ein. Im Grunde kreist sein Denken kaum um die Wirtschaft, sondern eher um Politik und Herrschaft. Der Parteisoldat definiert sich allein durch den Nationalsozialismus; gerade auf diesem Typus ruht die NS-Herrschaft.
Waldemar Magunia [154] meldete sich 1918 als erst Sechzehnjähriger zum Waffendienst und kämpfte nach Kriegsende in einem Freikorps. In den 1920er Jahren absolvierte er eine Ausbildung im Bäckerhandwerk, legte die Meisterprüfung ab und betrieb seit 1927 eine Bäckerei in Königsberg. Zur NSDAP fand er bereits 1921 in München. Stadtverordneter in Königsberg war er seit 1929, Landtagsabgeordneter seit 1932, Reichstagsabgeordneter seit 1933. Im Zuge der Gleichschaltung rückte er im April 1933 auch an die Spitze der Handwerkskammer für Ostpreußen auf. An seinem Amt als Gauwirtschaftsberater, das er seit 1932 bekleidete, hielt er fest, obwohl er als solcher kaum hervortrat, auch nicht im Verlauf der „Arisierungen“. Andere Positionen im Gau waren von größerer Bedeutung: Unter anderem führte Magunia als Gauobmann von 1937 bis 1941 die Deutsche Arbeitsfront, war der erste Führer der SA in Ostpreußen und wurde 1944 zum SA-Brigadeführer ernannt. Seit 1941 war Magunia im Gefolge von Gauleiter Koch vorwiegend in den von Deutschland besetzten Gebieten im Osten tätig, und zwar als Beauftragter des Chefs der Zivilverwaltung in Bialystok und dann als Generalkommissar in Kiew. Dort koordinierte er unter anderem die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. [155] In den 1950er Jahren tauchte er im Vorstand der Deutschen Reichspartei auf, und über seiner Todesanzeige stand, er habe im „Glauben an Deutschland“ gelebt. [156] Für Magunia traf zu, wie im Spruchkammerverfahren ein anderer Vertreter der Parteisoldaten charakterisiert wurde: ein „fanatischer Idealist“ mit „demagogische[r] Grundhaltung“, der das umsetzte, was der „Führer“ bzw. der Gauleiter vorgab. [157]
5 Ausblick und Fazit
Die Alliierten sahen in den Gauwirtschaftsberatern Mitverantwortliche für die Gewalttaten des NS-Regimes und hielten sie im Sinne des Urteils im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess für politische Leiter einer verbrecherischen Organisation. Fast alle Gauwirtschaftsberater fielen unter den automatischen Arrest und wurden interniert, sofern sie nicht untertauchten. Die Geschichte ihrer Entnazifizierung und ihres Schicksals in der bundesrepublikanischen Gesellschaft böte aufschlussreiche Wendungen, kann aber hier nicht behandelt werden. Ihr Versuch, im Verlauf der Entnazifizierung die eigene Funktion als Gauwirtschaftsberater zu bagatellisieren – sie seien „ohne praktische Bedeutung“ gewesen und hätten „völlig am Rande des politischen und wirtschaftlichen Geschehens“ gestanden [158] – widersprach den historischen Realitäten.
Ebenso wie der einleitend zitierte Zeitgenosse Kehrl gingen die Alliierten von einem fest umrissenen Typus des Gauwirtschaftsberaters aus. Tatsächlich hat die hier versuchte Analyse einige Charakteristika aufgezeigt, die zumindest für eine Mehrheit der Amtsträger zutrafen, vor allem ein hohes Bildungsniveau, gute berufliche Fähigkeiten, Engagement und Ehrgeiz, Leistungswillen und Zielstrebigkeit, Durchsetzungsstärke und Härte. Es handelte sich nicht um gescheiterte Existenzen oder perspektivlos Resignierte, sondern meist um eher jüngere, protestantische Männer aus Mittel- und Oberschicht mit Begabungen und Ambitionen – aber auch um entschiedene Gegner der parlamentarischen Demokratie, die stattdessen ihre Hoffnungen auf die extrem radikale Rechte setzten und der NSDAP nicht nur beitraten, sondern offen für sie und ihre Ideologie kämpften, und zwar vielfach schon zu einem Zeitpunkt, bevor die Erfolge der Partei absehbar waren. Vom Primat der Politik über die Wirtschaft waren sie überzeugt, und ökonomisch sprachen sie sich für staatliche Lenkung in Richtung auf einen Mittelstandssozialismus und gegen eine kapitalistische Marktwirtschaft aus.
Doch bei allen Momenten der Gemeinsamkeit überwiegen doch die Phänomene der Differenz. Ein wirklicher „Korpsgeist“, von dem Kehrl spricht, zeichnete sich zu keiner Zeit ab, schon allein, weil die Fluktuation relativ hoch war, und der Dualismus zwischen Gau- und Reichsleitung von Beginn an für Spannungen sorgte. Parteiintern blieb die Position der Gauwirtschaftsberater immer schwach. [159] Gemeinsame überregionale Initiativen ergriffen sie nie. Auch eine geschlossene Opposition gegen die Politik des NS-Staates, auf die Kehrl hindeutet, ist nicht zu erkennen. Wer opponierte und in Konflikt mit der herrschenden Linie geriet, verlor in aller Regel schnell sein Amt [160] oder flüchtete in Resignation, manchmal auch in regelrechte Schizophrenie zwischen dem Sich-An-die-Macht-Klammern und Parteiverachtung. [161] Und selbst dann leisteten sie kontinuierlich eine systemstabilisierende Arbeit.
Den Typus des Gauwirtschaftsberaters gab es also nicht. Die von Bajohr vermutete kleinbürgerlich-akademische Sozialisation ist zwar verbreitet, aber überwiegt nicht. Anhaltspunkte für Turners These von einer Nähe zwischen kleinen und mittleren industriellen Unternehmern sowie der NSDAP liefert die Geschichte der Gauwirtschaftsberater kaum. Repräsentanten dieses Milieus bildeten unter den Beratern lediglich eine kleine Minderheit. Mit den an dieser Stelle skizzierten fünf Idealtypen der Karrieristen, Provinzfürsten, Verwalter, Materialisten und Parteisoldaten kommt man der historischen Wirklichkeit näher. Weitere vergleichende Studien zu anderen Funktionsträgern in den Gauen müssten erweisen, ob sich solche Profile verallgemeinern lassen. [162]
About the author
Ralf Stremmel studierte Geschichtswissenschaften, Allg. Literaturwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften. Seit 2003 leitet er das Historische Archiv Krupp bei der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung in Essen. Außerdem ist er apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum.
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