Rezensierte Publikation:
Běťáková, Marta Eva; Blažek, Václav. Lexicon of Baltic Mythology. Translated by Hana Běťáková, Marta Eva Běťáková and Václav Blažek. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2021 (= Empirie und Theorie der Sprachwissenschaft; 7), 290 pp.
Beim Lexicon of Baltic Mythology handelt es sich um die aktualisierte Übersetzung („an updated translation“, p. 7) eines Lexikons ins Englische, das ursprünglich 2012 auf Tschechisch erschien.[1] Inwieweit und in welcher Hinsicht die englischsprachige Ausgabe gegenüber der tschechischen aktualisiert wurde, lassen Běťáková und Blažek in ihrem Vorwort zur englischsprachigen Fassung offen. Ein Blick in das Literaturverzeichnis lässt allerdings vermuten, dass in die englische Fassung die einschlägige internationale Forschung nach 2012 eingeflossen ist. Zudem wird im Literaturverzeichnis auch die detaillierte Rezension der Originalausgabe durch Rimantas Balsys[2] (2015) aufgeführt, sodass davon auszugehen ist, dass die Verfasser*innen die Hinweise und Anregungen des Rezensenten aufgegriffen haben. Die englische Übersetzung wurde von Hana Běťáková und den beiden Autor*innen selbst angefertigt und 2021 im Universitätsverlag Winter veröffentlicht. Die vorliegende Rezension widmet sich ausschließlich der englischsprachigen Fassung des Werkes.
Das Lexikon besteht aus einem Vorwort (pp. 7–20), einer Danksagung (pp. 21–22), den alphabetisch geordneten Haupteinträgen (pp. 23-242), zwei Anhängen (pp. 243–254; einmal handelt es sich um eine Liste der altpreußischen Gottheiten und zum anderen um einen Auszug aus dem Werk von Stryjkowski, der die mythische Geschichte von Vilnius betrifft), den Literatur- und Quellenverzeichnissen (pp. 255–290) und einer Liste zur Aufschlüsselung von Abkürzungen für Sprachen (p. 290).
Der Terminus „baltic“ wird im Lexikon nicht geopolitisch (bezogen auf Litauen, Lettland und Estland), sondern linguistisch, d. h. nach Sprachverwandtschaft, definiert (p. 8), und umfasst folglich Litauer, Letten und Altpreußen. Gleichzeitig suggeriert der Titel des Lexikons, dass wir es im Falle von „Baltic Mythology“ mit einem gemeinsamen, homogenen Feld „baltischer Mythologie“ zu tun hätten, was allerdings nicht unumstritten sein kann. Auch wenn die altpreußische, litauische und die lettische Mythologie zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweisen, insbesondere aufgrund des über viele Jahrhunderte praktizierten Heidentums, ist dies eine stark vereinfachende Sicht auf die fragliche Region, welche auch nur für die urbaltische Periode zutrifft. Es stellt sich außerdem die Frage, warum die Verfasser*innen sich ausschließlich für „Mythologie“ entschieden haben und „Religion“ (zumindest im Titel) beiseiteließen, obwohl naheliegend ist, dass das Zusammenspiel zwischen Mythologie und Religion für das Verständnis einer Kultur zentral ist: „All ancient ethnic culture evolved under the influence of religion and mythology; a considerable part of ancient culture was directly sacral, expressing people‘s religious attitudes, their mythical perception of the world and world view“ (Vėlius 1996, p. 11)[3]. Beresnevičius (2014, p. 17)[4] geht einen Schritt weiter und behauptet, dass bspw. für die litauische Kultur vom 19. und Anfang des 20. Jhs. ein Synkretismus von alten heidnischen Bräuchen und Christentum charakteristisch sei. Unabhängig von zahlreichen diskutablen Aspekten behandelt die litauische Forschung die Fragen rund um die baltische Mythologie stets in Zusammenhang mit Religion; stellvertretend für die zahlreichen Werke s. bspw. die Senovės lietuvių mitologija ir religija von Pranė Dundulienė, die 2021 bereits in dritter Auflage erschien (übrigens werden auch die beiden ersten Auflagen nicht im rezensierten Lexikon verzeichnet). Ob die Ausklammerung der Religion im Titel des Lexikons mit einer bestimmten Absicht von Běťáková und Blažek vorgenommen wurde, lässt sich nicht beurteilen.
Bezogen auf den Forschungsstand im Bereich der „baltischen Mythologie“ stellen Běťáková und Blažek fest, dass es im tschechischen wissenschaftlichen Diskurs nur wenige Arbeiten zu diesem einst populären Thema gäbe, sodass das vorliegende Lexikon das erste seiner Art in der tschechischen Baltistik sei (p. 7). Die Verfasser*innen verwenden zahlreiche Primärquellen, um die Lemmata mit Belegen bzw. Beispielen auszustatten. Einerseits handelt es sich bei den Quellen um Chroniken und offizielle Dokumente, andererseits um baltische Volkslieder (s. Quellenverzeichnis pp. 271–290), was zweifellos eine solide Basis verspricht. Allerdings wird nicht näher erläutert, welches sprachliche, geografische und chronologische Spektrum diese Quellen umfassen und wie diese kategorisiert wurden. Nur am Rande problematisieren Běťáková und Blažek, welchen Quellen welche historische und wissenschaftliche Bedeutung zukommt und wie zuverlässig sie sind (vgl. die Auseinandersetzung zu Narbutt und Jucevičius auf p. 18).
Im Vorwort zum Lexikon findet sich eine Karte der baltischen Stämme und Provinzen auf das Jahr 1200, und zwar in Anlehnug an die englischsprachige Ausgabe von Gimbutas (1963). Als Bildquelle wird im Lexikon jedoch eine Seite der englischsprachigen Wikipedia angeführt (p. 10). Wikipedia als wissenschaftliche Quelle erachte ich als problematisch und bin der Meinung, dass solche Quellen in ein so seriöses und anspruchsvolles Werk, wie es das vorliegende Lexikon sein will, nicht aufgenommen werden sollten. Obwohl im weiteren Text auf das wissenschaftliche Verdienst von Sergei Starostin im Bereich der Glottochronologie eingegangen wird (p. 12), fehlen im Literaturverzeichnis die entsprechenden Publikationen von ihm gänzlich. Der phasenweise leicht umgangssprachliche Stil bzw. das für das Vorwort gewählte sprachliche Register wirkt etwas befremdlich; z. B: „on the say-so of other nations“, p. 13; „The missionaries were, however, only successful with individuals“, p. 15; „He worked on the book till the end of his – unfortunately short – life“, p. 19; Auslassungspunkte nach „in our encyclopaedia...“, p. 19. Dennoch bleibt natürlich verständlich, was die Verfasser*innen meinen.
Der Beitrag zu ait(i)varas (kleingeschrieben) und seinen Namensvarianten aičvaras, eit(i)varas und aitas eröffnet das Lexikon. Die Varianten zu verzeichnen, ist zweifellos wichtig, da es sich um eine relevante Information handelt; etwas unpraktisch ist allerdings, dass dann des Weiteren kein Lemma eit(i)varas unter E eingetragen wurde, das auf ait(i)varas verweisen würde. Dasselbe Problem betrifft alle Einträge mit Namensvarianten. Es wäre zudem wünschenswert gewesen, dass die Verfasser*innen konsequent erläutert hätten, warum überhaupt bei manchen Gottheiten verschiedene Namen existieren und womit diese Vielfalt zu begründen wäre. So wird bspw. bei der Beschreibung der Gottheit Medeina (p. 130) nicht darauf eingegangen, dass ein weiterer Name der Gottheit Žvorūna lautet und ein Epitheton darstellt (s. ausführlicher den Beitrag von Beresnevičius 2014, p. 18). Stattdessen haben die Autor*innen des Lexikons aus dem Epitheton einen eigenen Haupteintrag *Žvėruna (p. 241–242) gemacht, was an sich in Ordnung wäre, wenn sie die Möglichkeit einer Verbindung zwischen den beiden Namen Žvorūna und Medeina ebenfalls thematisieren würden. Ungeachtet dessen, wie problematisch manche Etymologien oder Verbindungen im Einzelnen sein können, sollte ein Lexikon der Vollständigkeit halber auch diskutable Punkte verzeichnen. Da das Lexikon offensichtlich nur eine Auswahl aus den Gottheiten und mythologischen Figuren des baltischen Pantheons bringt (denn etliche bekannte mythologische Figuren tauchen in ihm nicht auf, wie bspw. Lauksargis), wäre eine Erläuterung hilfreich gewesen, nach welchen Kriterien die Auswahl der mythologischen Figuren vorgenommen wurde.
Die in den Fußnoten angeführten Belege werden von den Verfasser*innen ins Englische übersetzt, was zweifellos eine große Hilfe für die internationale Leserschaft ist. Für Expert*innen sind manche angeführten Belege zwar spannend, allerdings nicht immer hilfreich, da an einigen Stellen intransparent bleibt, welche Quelle zitiert wird (stellvertretend für solche Fälle s. die Fußnoten 3 und 4, p. 24, oder die Fußnote 62, p. 77) oder auf welcher Seite der angeführte Beleg im Original zu finden ist (stellvertretend für solche Fälle s. die Fußnoten 60 und 61, p. 77). Anderenorts werden die Quellen und Belege wiederum korrekt und objektiv nachvollziehbar angeführt, so z. B. beim Lemma Perkūnas (pp. 149–156). Manche litauischen Einträge werden mit Betonungszeichen versehen: z. B. *Kelių dievas p. 98, užkalbėtojas p. 203, vaidila p. 203, būrėjas, būrėja p. 51, beim Großteil der Einträge passiert das jedoch nicht. Zudem wird ein Teil der Lemmata im Lexikon mal klein, mal großgeschrieben. Deshalb ist nur schwer zu erraten, welches System dahinterstecken soll.
Das Lexikon stellt in erster Linie ein etymologisches Wörterbuch dar, denn beinahe alle Einträge sind mit Informationen zur Herkunft oder Verwandtschaft der verzeichneten Lemmata versehen bzw. beschränken sich ausschließlich auf diese Information, wie z. B. bei Briežu māte (p. 47), Gabikis (p. 78), Nelabais (p. 142), pareģis, pareģuonis (p. 146), Sergėtoja (p. 174). Ausführlicher sind im Lexikon nur die bekanntesten zentralen Gottheiten des litauischen und lettischen Pantheons wie Perkūnas, Majas kungs etc. beschrieben, was mit Blick auf die einschlägige Forschung nicht verwunderlich ist. Bei einem Lexikon, das beansprucht, einen Einblick in die mythologische Welt baltischer Kulturen zu gewähren, würde man jedoch auch ausführlichere Einträge zu weniger bekannten Gottheiten erwarten. Insbesondere hätte man dann auch ausführlicher auf die konkrete Rolle und Bedeutung einzelner Gottheiten oder mythischer Kreaturen für die baltischen Kulturen eingehen können.
Die Idee, ein kompaktes Lexikon rund um Mythologien aus der baltischen Region zusammenzustellen, ist an sich sehr lobenswert, da ein solches Nachschlagewerk in englischer Sprache in der Baltistik bis dato noch fehlt. Umso erfreulicher ist es, dass gerade die fremdsprachliche Baltistik sich einer solchen Herausforderung gestellt und somit wichtige Impulse für Forschung im Baltikum geliefert hat. Trotz der oben dargelegten Kritikpunkte handelt es sich um eine wichtige Vorarbeit in diesem Bereich, zumal das Literaturverzeichnis des Lexikons eine umfangreiche internationale Bibliografie darstellt.
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