Zusammenfassung
Auf Grundlage sozialempirisch erhobener Primärdaten – gewonnen aus den militärischen Personalakten – werden in dieser Dokumentation anhand von Schaubildern, Diagrammen und Tabellen sozialstatistische Befunde für die Spitzen der Luftwaffen und Marinen beider deutscher Staaten der Forschung zur Verfügung gestellt. Je nach Erkenntnisinteresse und Fragestellung können die vorliegenden Daten als Bezugswerte einer umfassenden Deutung zugeführt werden. Um sie in ihren militärgeschichtlichen Kontext einzuordnen, wird das historiografische Konzept des »Primats der sozialen Herkunft« skizziert, die zugrundliegenden Quellen und die Methode vorgestellt, das Erkenntnispotenzial der Daten angedeutet und abschließend weiterführende Perspektiven für die Militärgeschichtsschreibung aufgezeigt. Verbunden ist die Dokumentation mit der Forderung, deutsches Militär im 19. und 20. Jahrhundert nicht mehr ausschließlich aus einer sozialdeterministischen Perspektive zu betrachten, sondern es vielmehr als Profession zu begreifen.
In der öffentlichen Wahrnehmung wie auch in Wissenschaft und Politik werden heute berufliche und somit soziale Aufstiegschancen in Abhängigkeit von der jeweiligen sozialen, aber auch ethnischen oder regionalen Herkunft gesehen.[1] Eine Schlüsselfunktion für »Platzierung und Auslese« fällt dabei der Selektionsfunktion des Bildungssystems zu.[2] Die Ressource Bildung und das mit ihr allokierte Leistungsprinzip wiederum sind eng verknüpft mit den Merkmalen sozialer Herkunft.[3] In den ersten Nachkriegsjahrzehnten diente die Erforschung der Merkmale sozialer Herkunft dem besseren Verständnis sowie einer vergleichenden Einordnung der Teileliten moderner westlicher Gesellschaften. Im Fokus sozialwissenschaftlicher Forschung stand zudem die Frage, inwiefern sich die jeweilige Funktionselite in den pluralistischen Machtkosmos der bundesdeutschen Demokratie einfügte.[4] Eine sich hieran anlehnende, dritte Perspektive boten zeitgleich sowohl eine an der Zeitgeschichte deutschen Militärs interessierte Sozialwissenschaft als auch eine sozialgeschichtlich orientierte Militärgeschichtsschreibung. Mit Blick auf die deutsche militärische Elite im späten 19. und 20. Jahrhundert verstanden beide soziale Herkunft als eine prägende Kraft politischen Denkens.[5]
Wie war es aber um die Merkmale sozialer Herkunft ost- und westdeutscher Militäreliten bestellt? Welche belastbaren Informationen, die sich die Militärgeschichtsschreibung nutzbar machen könnte, liegen vor? Auch wenn die ersten bundesdeutschen Untersuchungen der frühen 1960er Jahre sowie die bekannten Mannheimer Elitestudien zur Bonner Republik (1968, 1972 und 1981) diesen Zusammenhängen mit sozialempirischen Methoden nachgingen,[6] ist die erhobene Datenlage gerade mit Blick auf die militärische Führung dünn.[7] Für die Nationale Volksarmee der DDR (NVA) und ihrer Vorläufer hingegen liegen aufgrund des Aktenzuganges seit 1990 ausreichende Daten vor, sie nehmen jedoch eher das gesamte Offizierkorps in den Blick und verzichten weitgehend auf eine konkrete sozialempirische Analyse der Generale und Admirale der NVA.[8] Anders als in den Sozialwissenschaften ist für die historische Forschung die Quantifizierung als numerische Erfassung von Lebenswirklichkeiten keine übliche Praxis, auch wenn der empirische Umgang mit Massendaten seit den 1960er Jahren über die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Eingang in die Geschichtswissenschaften gefunden hat.[9] Seit kurzem hat auch innerhalb der zeitgeschichtlichen Forschung eine Hinwendung zur datengestützten Forschung stattgefunden.[10]
Für entsprechende Fragestellungen in der Militärgeschichtsschreibung wurde die quantifizierende Methode erstmals durch Karl Demeters Studie über das deutsche Offizierkorps in einer auf die Darstellung von Häufigkeiten und Verteilungen reduzierten Form genutzt.[11] Erst seit den 1970er Jahren wurde die Quantifizierung im Sinne einer Kliometrie in einem weiteren Rahmen diskutiert,[12] wenngleich zunächst methodisch nicht immer kohärent angewandt,[13] bis der sozialwissenschaftlich arbeitende Militärhistoriker Reinhard Stumpf im Jahr 1982 die erste grundlegend sozialgeschichtlich orientierte Studie zur deutschen Militärgeschichte vorlegte.[14] In der Folge nutzten jedoch nur wenige militärgeschichtlich orientierte Arbeiten dieses Instrument umfänglich.[15] In den letzten Jahren griffen (Militär-)Historikerinnen und Historiker zwar wieder vermehrt,[16] jedoch in einer auf die Darstellung von Verteilungen reduzierten Form auf diesen Ansatz zurück.[17]
Die vorliegende Dokumentation präsentiert neue, sozialempirisch erhobene, softwaregestützte (SPSS, Excel) Befunde zur sozialen Herkunft ost- und westdeutscher Militärelite im Kalten Krieg. Während die 2021 erschienene Studie »Deutsche Generale 1945–1990« des Historikers Thorsten Loch die Generale des Heeres und der Landstreitkräfte einschließlich der Grenztruppen unter anderem mit Blick auf ihre soziale Herkunft untersuchte,[18] schließen sich in dieser Dokumentation ebendiese Befunde zu den Generalen und Admiralen der Luftwaffen und Marinen ergänzend an.[19] Die verbindende Frage lautet: Wie stellt sich die soziale Herkunft dieser Gruppen dar und lassen sich Einzelvariablen isolieren, die den Aufstieg in Spitzenverwendungen begünstigten?
In der Zusammenschau entsteht das umfassende Bild sozialer Herkunft nahezu aller Spitzenoffiziere der drei Teilstreitkräfte und Teile beider Armeen zwischen 1955 und 1990 und somit einer relevanten, staatlichen Führungsgruppe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auf Grundlage der erhobenen Primärdaten werden Anhand von Schaubildern, Diagrammen und Tabellen die sozialstatistischen Befunde für die Spitzen der Luftwaffen und Marinen hier der Forschung zur Verfügung gestellt. Je nach Erkenntnisinteresse und Fragestellung können die vorliegenden Daten als Bezugswerte einer umfassenden Deutung zugeführt werden. Um die hier zu dokumentierenden Befunde in ihren militärgeschichtlichen Kontext einzuordnen, wird in der folgenden Einleitung der historiographische Kontext des »Primats der sozialen Herkunft« skizziert, die ihnen zugrundliegenden Quellen und die Methode vorgestellt, das Erkenntnispotenzial der Daten angedeutet und abschließend weiterführende Perspektiven für die Militärgeschichtsschreibung aufgezeigt.
Primat der sozialen Herkunft?
Mit dem Aufstieg der vergleichenden Sozialgeschichtsschreibung und der mit ihr einhergehenden teleologisch ausgerichteten Modernisierungstheorie gilt die soziale Herkunft deutscher Offiziere als »ein wesentlicher Indikator, um den Einfluss des modernen Bürgertums gegenüber einer zentral ausgerichteten konservativ-monarchistischen, politischen Führungsgruppe zu Beginn der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu ermitteln«.[20] In Bezug auf die These, das Deutsche Kaiserreich habe den Übergang von einer »vordemokratischen« in eine »demokratische« Ordnung blockiert, wurde durch Historiker der Vorwurf einer sozialprotektionistischen Rekrutierung des Offizierkorps im Allgemeinen und ihrer Militärelite im Besonderen erhoben. Vor allem die adlige Generalität wurde als ein Wächter der sozialen und politischen Verhältnisse, als ein innenpolitischer Akteur der Verhinderung politischer Modernisierung identifiziert und als Instrument antidemokratischer Herrschaftssicherung beschrieben.[21] Mit Blick auf die Bedeutung, die der sozialen Herkunft damit beigemessen wurde, prägte der Historiker Marc Stoneman mit kritischem Unterton hierfür den Begriff »Primat der sozialen Herkunft«,[22] der einen Zusammenhang zwischen der politischen Ausrichtung der Militärelite und ihrer sozialen Herkunft konstruierte. Dieser Vorwurf wurde in erster Linie durch Detlef Bald auf die Situation der Bundeswehr nach 1955 übertragen. Daran anschließend erhebt er die Frage, ob und inwiefern die soziale Zusammensetzung dieser überwiegend aus der Reichswehr und Wehrmacht hervorgegangenen Soldaten Ausdruck der Nachkriegsdemokratie sei und inwiefern sich in ihr reaktionäre oder nationalsozialistische Machtpolitik perpetuiere.[23] Im innerdeutschen Systemkampf wurde die Frage der personellen Kontinuität und die mit ihr verbundene Frage sozialer Herkunft durch die DDR in ihren propagandistischen Braunbüchern wiederholt aufgegriffen.[24]
Während in der Bundesrepublik die Frage nach der sozialen Herkunft in erster Linie Gegenstand der Sozialgeschichtsschreibung war, war sie in der Parteidiktatur der DDR Instrument zur Messung der politischen Zuverlässigkeit der Offiziere und Generale. Als Erbe einer nomothetischen Weltsicht des 19. Jahrhunderts spiegelte nach sozialistischer Ideologie die soziale Herkunft den Klassencharakter einer Gesellschaft innerhalb einer gesetzmäßig und somit notwendig verlaufenden historischen Entwicklung wider. Träger dieser als linear angenommenen Entwicklung war das »Proletariat«, dem die Rolle des revolutionären Subjektes zugedacht war. Diese Überzeugung gründete ideengeschichtlich in der Anwendung dialektischer und materialistischer Anschauung auf die Entwicklung der Menschheitsgeschichte und somit auf dem Modell von Basis und Überbau, wonach das »Sein« das »Bewusstsein« bestimmte. Bestätigt wurde dieses »Gesetz« durch die im Russischen Bürgerkrieg (1917–1922) gegen die qualitativ überlegenen »bürgerlichen« Armeen gemachten Erfahrungen, wonach das richtige »Sein« – gegründet auf der »proletarischen« Herkunft – ein Höchstmaß an Bewusstsein und somit militärischer Leistungsfähigkeit garantierte.[25] Die soziale Herkunft – im sozialistischen Sinne verstanden als das »Sein« – determiniert somit in besonderer Weise das politische »Bewusstsein«. Daher analysierte die NVA nicht nur die eigene, sondern auch immer die soziale Zusammensetzung des bundesdeutschen Offizierkorps.[26] Die Beobachtung, dass der »imperialistische« Klassenfeind seiner sozialen Herkunft nach »bürgerlich« war, unterstrich dabei – im Zirkelschluss – die Richtigkeit der eigenen Annahme zur Bedeutung der sozialen Herkunft. Die Frage der sozialen Herkunft war in der DDR aber nicht nur ideengeschichtlich an die Ideologie gekoppelt, sondern knüpfte im Falle der Kaderrekrutierung der Generalität unmittelbar an machtpolitische Strategien der eigenen Herrschaftslegitimierung und -sicherung an.[27]
Quellen und Methode
Bei den hier zu präsentierenden Dokumenten handelt es sich nicht um klassische Quellen des Historikers, also nicht um tradiertes amtliches oder persönliches Schriftgut aus den Archiven und privaten Nachlässen. Vielmehr sind es sozialstatistische Befunde, kurz: strukturierte Zahlen. Sie gründen auf historischen Informationen militärischer Personalakten, die mit Hilfe sozialempirischer Instrumentarien in statistisch verwertbares Zahlen- und Datenmaterial überführt wurden. Anders betrachtet, sind diese Quellen nicht auf uns überkommen, sondern durch den Historiker selbst geschaffen, aus anderen Quellen heraus destilliert.[28] Die Quellengrundlage bildeten die im Bundesarchiv überlieferten Personalakten der Bestände Pers 1 (Personalakten von Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit der Bundeswehr) sowie Pers 14 (Personalakten von Generalen und Offizieren der NVA), die in anonymisierter Form ausgewertet wurden.[29] Das Konstrukt der sozialen Herkunft wurde nach den in der Forschung üblichen Variablen der primären sowie sekundären Herkunft ermittelt. Die Variablen und ihre Kodierung entsprachen in ihrem Design denen der Untersuchungen über die Heeresgeneralität und sind somit grundsätzlich mit diesen vergleichbar.[30]
Insgesamt liegt dieser Dokumentation die Auswertung der Personalakten von 195 Spitzenoffizieren der Bundesluftwaffe und der Bundesmarine sowie 85 Generalen und Admiralen der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung (LSK/LV) bzw. der Volksmarine der NVA (VM) zugrunde. Wie auch in der Analyse der Generale des Heeres und der Landstreitkräfte handelt es sich um eine Vollerhebung, auch wenn es diesbezüglich für Ost und West mangels offen abgleichbarer Listen keine Sicherheit der letzten Zahl geben kann.[31] Mit Blick auf die Vergleichbarkeit der Aussagen versteht die vorliegende Dokumentation unter der bundesdeutschen Militärelite erst die Ränge ab Generalmajor bzw. Konteradmiral (Zweisterneebene), wohingegen für die NVA alle Generale ab dem Rang Generalmajor (Einsternebene) erfasst wurden. Das Vorhandensein von Vergleichsgruppen für die Militärelite der Teilstreitkräfte der Bundeswehr (der jeweilige Generalstabslehrgang) ermöglichte über die binär codierte Variable »Erreichen der Spitzendienstgrade« die Berechnung eines Zusammenhangs zwischen einzelnen Variablen der sozialen Herkunft und dem Erreichen der entsprechenden Enddienstgrade.[32] Für die Bundesmarine ist dies aufgrund einer nicht klar abgrenzbaren Vergleichsgruppe schwer, für die NVA nicht machbar.
Die Gruppe der Spitzengenerale der Bundesluftwaffe umfasste 131 Mann. Ihr Anteil an der Spitzengeneralität der Bundeswehr lag bei 29 Prozent. Die Gruppe der Militärelite der Bundesmarine umfasste zwischen 1955 und 1990 64 Personen, die in die Spitzenränge vom Konteradmiral an aufwärts vorstießen.[33] Der Anteil der Spitzenadmirale lag bundeswehrweit bei 14 Prozent (Abb. 1.1). Die Spreizung ihrer Geburtsjahrzehnte lag zwischen den 1890er und 1930er Jahren (Abb. 1.3 und 1.4). Die Gruppe der Generale der LSK/LV umfasste 48 Personen, die der Volksmarine hingegen 37 Admirale.[34] Damit machte der Anteil der Luftwaffengenerale der NVA knapp 15 Prozent, der der Admirale annähernd elf Prozent aller Generale der NVA aus (Abb. 8.1). Ihre Altersspreizung verlief zwischen 1900 und den 1940er Jahren (Abb. 8.3 und 8.4). Alle untersuchten Personen waren Männer. Frauen war es zwar möglich, innerhalb der NVA Offizier zu werden, zum General oder Admiral wurde jedoch keine Frau ernannt.
Erkenntnispotenzial
Die Heeresgeneralität, so eine Erkenntnis der Heeresgenerals-Studie (Thorsten Loch), war geprägt von einer in der Gesamtschau überwiegend reichsweiten Herkunft, städtischer Prägung, evangelischen Glaubens und eindeutiger Bildungsnähe. Die Generale der Landstreitkräfte (DDR) waren entweder ländlich oder aber großstädtisch geprägt. Sie rekrutierten sich überwiegend aus dem ehemaligen Preußen und Sachsen, grundsätzlich aber aus dem Territorium der DDR. Traf dies auch auf die Spitze der Marinen und Luftwaffen beider deutschen Staaten zu? Die Daten der Dokumentation, insbesondere die Abbildungen 2, 3, 6 und 7 sowie 9, 10, und 12 zeigen, dass die zusammenfassende Charakterisierung für Heer und Landstreitkräfte in Deckung mit den erhobenen Daten der Luftwaffengenerale und Admirale aus Ost und West gebracht werden kann. Dieser Umstand aber verweist im Hinblick auf die soziale Herkunft auf übergeordnete, wenigstens aber gesamtstreitkraftbezogene und nicht teilstreitkraftspezifische Bedingungen der Rekrutierung militärischer Elite im Kalten Krieg.
Andererseits weichen die Daten im Detail für die Luftwaffen und Marinen durchaus von den Befunden von Heer und Landstreitkräften ab. Für die Bundeswehr sticht die unterschiedliche Verteilung der Konfessionen ins Auge. Die Verteilung der beiden großen Konfessionen im Reich betrug für das Geburtsjahr 1925 beispielsweise etwa 64 zu 32 Prozent zugunsten der Protestanten. Während das Heer eine Verteilung von 76 Prozent Protestanten zu 21 Prozent Katholiken aufwies und somit den Reichsschnitt zugunsten der Protestanten übertraf, waren die Admirale hingegen zu über 90 Prozent evangelisch (Abb. 7.2), die Luftwaffengenerale jedoch zu etwa 29 Prozent katholisch (Abb. 7.1). Die Luftwaffe war damit die Teilstreitkraft, die der konfessionellen Verteilung im Reich am ehesten entsprach, die Marine wich am deutlichsten von ihr ab. Ein hoher Anteil an Protestanten im Marineoffizierkorps wurde schon für ältere deutsche Armeen beobachtet[35] und mit der besonderen Rolle des Deutschen Kaisers für die Marine und die evangelische Kirche in Verbindung gebracht,[36] wie überhaupt die Überrepräsentation der Protestanten in den Streitkräften mit »ethisch-religiösen Wertvorstellungen« zu erklären versucht wurde.[37] Erklären lässt sich dieses Phänomen jedoch weniger aus einer besonderen Loyalitätsbeziehung gegenüber Dynastie oder Staat als vielmehr aus der Variable der regionalen Herkunft. So stammt ein knappes Drittel der späteren Admirale der Bundesmarine aus den ehemaligen preußischen Provinzen Schleswig-Holstein, Mecklenburg sowie Hannover, deren evangelischer Bevölkerungsanteil deutlich über dem Reichsdurchschnitt lag (Abb. 2.2.).[38] In gleicher Weise lässt sich auch der höhere Anteil an Katholiken bei der Bundesluftwaffe erklären. Die späteren Generale der Bundesluftwaffe stammten zu gut 18 Prozent aus den katholisch geprägten preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen, zusätzliche knapp sieben Prozent stammten aus dem teilweise katholischen Schlesien, aber auch zu gut neun Prozent aus Ostpreußen (Abb. 2.1).[39] Vor allem die Herkunft aus dem Rheinland sowie Ostpreußen überrascht und übertrifft im Verhältnis die vergleichbaren Zahlen bei Heer und Marine. Eine mögliche Erklärung hierfür ist in der staatlich und militärisch geförderten Flugbegeisterung der Weimarer Republik und des Dritten Reiches zu suchen.[40] Während mit der Erlangung der Flughoheit im Jahre 1923 gerade in den Ballungsräumen des Ruhrgebiets aber auch Schlesiens zahlreiche Flughäfen und Flugschulen entstanden, repräsentierte das ostpreußische Rossitten neben der Rhön den Ort (paramilitärischer) Segelfliegerei der 1920er und 1930er Jahre.[41] Die konfessionelle Verteilung in Heer, Luftwaffe und Marine der Bundesrepublik hängt somit offenbar mit der provinziellen Herkunft ihrer Angehörigen zusammen. Diese aber bestimmte aufgrund ihrer infrastrukturellen räumlichen Nähe zur See bzw. Nähe zu Flugzentren des Deutschen Reiches die hier zu beobachtende landsmännische Rekrutierungsstruktur der Admirale und Luftwaffengenerale der Bundeswehr. Da Flugzentren bzw. Flughäfen oftmals in der Nähe von Ballungszentren gebaut wurden, erklärt sich hieraus ebenfalls der mit dem Heer und der Marine verglichen leicht höhere Anteil an einer großstädtischen Herkunft der späteren Luftwaffengeneralität der Bundeswehr (Abb. 3.1 und 3.3).
Insgesamt stammen die Spitzengenerale der Luftwaffe der Bundesrepublik Deutschland aus dem gesamten Reichsgebiet, mit Schwerpunkten in den Flugzentren des Reiches wie dem Ballungsraum Ruhrgebiet, sie sind wesentlich städtisch geprägt, entsprechen in ihrer konfessionellen Zusammensetzung am ehesten der des Gesamtdurchschnitts im Reich, stammen von einem bildungs- und staatsnahen Vater ab und verfügen nahezu alle über ein Abitur. Auch die Herkunftsorte der Spitzenadmirale der Bundesrepublik verteilen sich gleichmäßig über das Bundesgebiet und weisen mit den küstennahen Provinzen einen Schwerpunkt auf. Auch sie sind städtisch geprägt, sind aufgrund ihrer regionalen Herkunft weit überdurchschnittlich evangelischen Glaubens, stammen im höchsten Maße aus einem bildungs- und staatsnahen Haushalt und verfügen weit überwiegend über ein Abitur.
Während sich die Herkunft aus einem staats- und bildungsnahen Haushalt mit dem Passieren der für den Offiziersberuf obligaten »Bildungsschranke Abitur« und somit der Selektionsfunktion von Bildung erklären lässt, resultiert die konfessionelle Herkunft überwiegend aus der regionalen und urbanen Herkunft, die sich ihrerseits aus der realen Anschauung einer küstengebundenen maritimen Welt sowie der »Airmindedness« in bestimmten Flugzentren des Reiches erklären lässt. Beide übten offenbar eine entsprechende Faszination auf die überwiegend in den 1920er und 1930er Jahren geborenen Spitzenoffiziere von Bundesluftwaffe und Bundesmarine aus.[42]
Mit Blick auf vereinzelt ausgewertete Karrieredaten lässt sich für die Spitzengenerale der Luftwaffe festhalten, dass sie sich zwar zur Hälfte etwa aus der Gruppe der Flieger rekrutierten und sich hier überwiegend den Jet-Piloten zuordnen lassen. Ein Blick in die Vergleichsgruppe (die Luftwaffengeneralstabsoffiziere, die »lediglich« in die Ränge der Obersten i.G. und Brigadegenerale aufgestiegen waren) zeigt jedoch, dass kein Zusammenhang zwischen dem Merkmal »Flieger« und dem Aufstieg in die Spitzenränge der Luftwaffe besteht. Und doch wurde die höchste Verwendung in der Luftwaffe, die des Inspekteurs, bis 1990 nur von Strahlflugzeugführern besetzt. Lediglich ein Inspekteur der Luftwaffe war kein Jet-Pilot, sondern stammte aus der Flugabwehrtruppe. Der erste Inspekteur der Luftwaffe, General Johannes Steinhoff, verfügte Anfang der 1960er Jahre, dass ein Großteil an Generalstabsoffizieren der Luftwaffe aus dem Reservoir an Düsenflugzeugpiloten und Raketenabwehroffizieren besetzt werden sollte, da gerade aufgrund der Starfighter-Krise in erster Linie Personal mit technischem und nicht militärischem Verständnis benötigt würde.[43] Zusätzlich forderte die Luftwaffe einen größeren Teil an technischer Ausbildung mit graduierten Abschlüssen.[44] Insgesamt bestand die Spitzengeneralität der Luftwaffe bis 1990 zu knapp 60 Prozent aus Piloten.
Mit Blick auf die Führung der Bundesmarine lässt sich festhalten, dass sich die Spitzenadmirale zunächst – wie schon in der Kriegs- und Reichsmarine – nicht aus dem Kreis der Admiralstabsoffiziere, sondern aus der Gruppe der besonders befähigten Schiffsführer rekrutierten, deren Werdegang von entsprechenden Verwendungen an Bord von Schiffen gekennzeichnet war. Erst in den 1970er Jahren fand eine Anpassung des Werdegangs in der Marine statt, nun verlief der Weg in die Spitzenverwendungen zur See über die Admiralstabsausbildung und die entsprechenden Seeverwendungen.
Mit Blick auf die regionale Herkunft der Generale von LSK/LV sowie der VM stammen auch sie wie die Generale der Landstreitkräfte sowie der Grenztruppen überwiegend aus dem Territorium der DDR (Abb. 9.1 und 9.2), mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Sachsen. Während die Spitzen der Luftstreitkräfte ähnlich wie die Landstreitkräfte durch eine ländliche und großstädtische Herkunft geprägt sind (Abb. 10.1), weicht die Spitze der Volksmarine durch eine klare Dichotomie und einen herausragenden Anteil an Großstädtern hiervon ab (Abb. 10.3). Betrachtet man das Herkommen des Vaters, entsprechen sie der Verteilung in den Landstreitkräften und stammen überwiegend aus einem bildungsfernen, einfachen Haushalt (Abb. 11.1, 11.2, 12.1 sowie 12.2), verfügten aber anders als die Generale der Landstreitkräfte (knapp 13 %) mit fast 22 Prozent (VM) und annähernd 30 Prozent (LSK/LV) über deutlich höhere Anteile an Abiturienten in ihren Reihen (Abb. 8.2). Inwiefern dies mit den nautischen und fliegerischen Anforderungen an das jeweilige Tätigkeitsfeld zu erklären ist, muss an dieser Stelle offen bleiben.
Die soziale Herkunft der Admirale und Generale besaß für die SED-Führung eine große Relevanz. Der Beruf des Vaters bildete dabei das zentrale Merkmal, das die soziale Herkunft bestimmte. Man erhoffte sich bei der Rekrutierung von Personen aus Lohnarbeiterhaushalten eine erhöhte Loyalität zu DDR und SED.[45] Die Auswirkungen der Kaderpolitik lassen sich auch an den hier vorliegenden Daten deutlich ablesen: Fast vier Fünftel der Väter der Generale und Admirale waren als Lohnarbeiter in einfachen oder handwerklichen Berufen tätig. Gut acht Prozent arbeiteten in der Landwirtschaft – vermutlich auch hier als Lohnarbeiter – und deutlich über vier Prozent als Angestellte. Die Beamten und Freiberufler waren mit jeweils knapp vier Prozent vertreten. Der Anteil von NVA-Offizieren aus Arbeiterhaushalten begann allerdings von 80 Prozent im Jahr 1968 an stetig abzunehmen. Ende der 1970er Jahre lag er nur noch bei 67 Prozent und 1989 war er unter 60 Prozent gefallen. Demgegenüber nahm besonders der Wert für die Freien Berufe bzw. »Intelligenz« stetig von knapp unter zwei Prozent 1968 und gut acht Prozent Ende der 1970er Jahre auf 21 Prozent im Jahr 1989 zu.[46] Auf die Generalität, deren jüngster Angehöriger noch in den 1940er Jahren geboren worden war, hatten diese Veränderungen im Offizierkorps jedoch nur noch bedingt Auswirkungen.
Für das gesamte Offizierkorps der NVA ist eine massive Durchdringung mit Parteimitgliedern und Kandidaten festzustellen. Ende des Jahres 1953 waren, ohne Berücksichtigung der Politoffiziere, knapp 78 Prozent der Marineoffiziere und gut 68 Prozent der Luftwaffenoffiziere Mitglieder oder Kandidaten der SED. Bei den Landstreitkräften betrug der Anteil knapp 66 Prozent.[47] Im Offizierkorps der NVA stieg der Anteil von SED-Mitgliedern und Kandidaten von knapp 80 Prozent im Jahr 1956 auf über 98 Prozent im Jahr 1970 an und blieb dann auf einem ähnlich hohen Niveau. Alle Admirale und Generale wurden im Laufe ihrer Dienstzeit Mitglieder der SED. Die SED-Mitgliedschaft untergrub dabei das reguläre bürokratische Dienst- bzw. Vorgesetztenverhältnis, da selbst hochrangige Militärangehörige als Parteimitglieder auch immer der Rechenschaftspflicht der SED unterlagen.[48]
Perspektiven
Die Befunde zur sozialen Herkunft deutscher Luftwaffengenerale und Admirale im Kalten Krieg ordnen sich gemeinsam mit den Erkenntnissen der Heeresstudie ein in die geschichtswissenschaftliche Frage nach den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Besetzung von Schlüsselpositionen,[49] der elitesoziologischen Perspektive von Rekrutierung und Zirkulation von Elite[50] und stellen Annahmen von parteipolitisch geprägter Personalpolitik, einflussreichen Seilschaften und sozialprotektionistischer Personalauswahl auf den Prüfstand. Deuten lassen sich diese Befunde jedoch weniger anhand des in die Teleologie der Modernisierungsgeschichtsschreibung eingebetteten »Primats sozialer Herkunft« als aus einer sozial- und bildungswissenschaftlichen Perspektive, in der Bildung als ein zentraler Faktor sozialer Platzierung und Auslese verstanden wird, der seinerseits eng mit dem Leistungsprinzip aber auch mit förderlichem »kulturellen Kapital« verbunden ist.
In letzter Konsequenz weisen die präsentierten Befunde mit Blick auf die sozialempirisch untersuchte Militärelite der Bundesrepublik den »Primat der sozialen Herkunft« als tragfähiges Analyseinstrument für die Voraussetzungen und Bedingungen der Rekrutierung und Zirkulation militärischer Elite zurück. Um individuelle oder gruppenbezogene Werdegänge bewerten zu können, sind in erster Linie sequentielle Untersuchungen komplexer Karrierestrukturen notwendig[51] und erst in zweiter Linie Aspekte der sozialen Herkunft. Mit Blick auf Letztere eröffnen sich bildungsgeschichtliche und bildungssoziologische Perspektiven, die über gesellschaftlich regulierte Zugänge auf den Arbeitsmarkt und somit über soziale Lebenschancen Auskunft erteilen.[52] Aus ihr unmittelbar auf politische Mentalitäten rückzuschließen wäre eine zu grobe Vereinfachung historischer Komplexität. Greifbar wird dies anhand der vorgenommenen statistischen Berechnungen, wonach Variablen der sozialen Herkunft der Heeresgeneralität mit wenigen Ausnahmen keine statistischen (kreuztabulierten) Zusammenhänge mit dem Aufstieg in die höchsten Ränge verzeichnen.[53] Gleiches gilt für die Variablen sozialer Herkunft der Elite von Bundesmarine und Bundesluftwaffe. Insgesamt – so legen es die Daten nahe – zeigt sich in der Spitzengeneralität der Bundeswehr kein Zusammenhang zwischen ihrer sozialen Herkunft und dem Erreichen eines Spitzendienstgrades.[54] In beiden Armeen spiegelt die soziale Herkunft vielmehr grundlegende politische und gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen sowie die damit einhergehende Bevorzugung bzw. Benachteiligung bestimmter sozialer Gruppen. In der sozialen Herkunft bundesdeutscher Militärelite spiegelt sich das bürgerliche Leistungsprinzip und die damit verbundene Bildungsschranke, die bildungsferne Schichten zwar nicht ausschloss, aber doch benachteiligte. In der sozialen Herkunft ostdeutscher Militärelite spiegelt sich ein ideologisches, klassenpolitisches Kaderverständnis, das nach politisch erwünschten Kreisen selektierte und nicht genehme Gruppen ausschloss. Insofern bestätigen die hier vorliegenden Daten für die Elite deutscher Luftwaffen und Marinen die für das Heer und die Landstreitkräfte erhobenen Befunde. Anschließend an die dort formulierte Forderung, deutsches Militär im 19. und 20. Jahrhundert nicht mehr ausschließlich aus einer sozialdeterministischen Perspektive zu betrachten, sondern es vielmehr als Profession zu begreifen, mögen die hier präsentierten Untersuchungen zur sozialen Herkunft deutscher Luftwaffengenerale und Admirale im Kalten Krieg einen Anstoß dazu zu liefern, vergleichbare sozialempirische Studien auf ältere Formationen auszudehnen.[55]














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