Zusammenfassung
Zwischen 1979 und 2008 gab das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr (MGFA) das zehnbändige Reihenwerk »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg« heraus. Dieses Werk stellt einen frühen und bedeutenden Versuch dar, in der Bundesrepublik militärische Zeitgeschichte zu schreiben. Der Aufsatz untersucht die Konzeption des Reihenwerkes in den Aufbaujahren des MGFA zwischen 1957 und 1972. Ziel ist es, über die Entstehungsgeschichte des Forschungsprodukts weitergehende Erkenntnisse zur Organisation, zum Personalkörper und zum wissenschaftlichen Selbstverständnis des MGFA gewinnen. Damit soll auch ein Beitrag zur Geschichte der Ressortforschung im Bereich des Bundesministeriums der Verteidigung während einer wichtigen Phase des gesellschaftlichen Wandels in der Bundesrepublik geleistet werden.
Am 7. Mai 2008 lud das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr (MGFA) in den repräsentativen Veranstaltungsräumen der Bertelsmann Verlagsgruppe in Berlin Unter den Linden zur Präsentation des letzten Bandes seines Reihenwerkes »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg«.[1] Die Veranstaltung war bewusst in die zeitliche Nähe zum 65. Jahrestag der deutschen Kapitulation von 1945 gelegt. Vorgestellt wurde der Band durch den britischen Historiker Sir Ian Kershaw, die Festrede hielt der Weltkriegsteilnehmer und frühere Parteivorsitzende der SPD Jochen Vogel. Das Medienecho auf den Abschluss des zehnbändigen Reihenwerkes war positiv und bot auch Anlass für weitergehende Würdigungen des MGFA. Die »Neue Zürcher Zeitung« zitierte Kershaw, der das Werk als »eine unabdingbare Grundlage« für die historische Forschung zum Zweiten Weltkrieg und zum Nationalsozialismus charakterisiert hatte. Schon im April desselben Jahres hatte das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« die Publikation »eines der größten Projekte der deutschen Geschichtswissenschaft« genannt. Der Historiker Klaus-Dietmar Henke lobte das Projekt in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« als »eine der großen Leistungen der Geschichtswissenschaft unserer Zeit«. Diese spiegele den »ungemein fruchtbaren Methodenpluralismus und die Meinungsvielfalt in der Zeitgeschichtsforschung« wider und empfehle sich als »Visitenkarte einer Armee, die sich aus einer verhängnisvollen Militärtradition gelöst« habe.[2]
Nun darf man derartige Laudationes durchaus mit Skepsis lesen. Unstrittig ist aber, dass das Reihenwerk »Der Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg« allein vom Bearbeitungszeitraum, von der Arbeitsleistung und vom Umfang her eine gewichtige historische Publikation darstellt: Zwischen 1979 und 2008 waren zehn Bände mit einem Gesamtumfang von 12 442 Seiten und einem Kartenteil erschienen. Insgesamt waren darin fünf Beiträge von Autorinnen und 66 von Autoren vertreten. Seit 1990 werden die Bände sukzessive bei Oxford University Press in englischer Übersetzung publiziert.[3]
Nicht nur sein Umfang, die Zahl der Autorinnen und Autoren und die Dauer der Bearbeitung regen an, sich näher mit der Geschichte des Reihenwerkes zu befassen. Dieses war auch ein früher und bedeutender Versuch, in der Bundesrepublik militärische Zeitgeschichte zu schreiben, auf der Basis zunächst noch beschränkter Quellen, mit dem Anspruch auf ein gewandeltes wissenschaftliches Verständnis von Militärgeschichte und dabei auch immer im Rahmen des deutsch-deutschen Systemkonfliktes. Dazu kommt, dass es sich bei der forschenden Einrichtung eben nicht um eine Universität oder eine Akademie handelte und dass hier auch nicht ein Verlag das Projekt angestoßen hatte. Herausgeberin war eine dem Bundesministerium der Verteidigung (BMVg)[4] nachgeordnete, militärische Dienststelle. Die Geschichte des Reihenwerkes ist also immer auch eine Frühgeschichte des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes.[5]
Die Frühgeschichte des MGFA bietet Berührungspunkte zu der in den letzten Jahren forcierten Behördenforschung. Bei den bislang beforschten Ressorts ist die Fehlstelle des Bundesministeriums der Verteidigung auf den ersten Blick augenfällig.[6] Allerdings gilt das nur für die nach der aktuellen Forschungsmatrix untersuchten Ressorts. Tatsächlich verfügt das Verteidigungsressort mit seiner eigenen Forschungseinrichtung seit Jahrzehnten über eine nicht nur anlassbezogen organisierte, sondern auf Dauer gestellte Behördenforschung.[7] »Ressortforschung« ist hier also stets im doppelten Sinne zu verstehen: als Forschung des Ressorts und solche über dieses.
Im Folgenden soll nach den Entstehungszusammenhängen eines geschichtswissenschaftlichen Großprojektes gefragt werden, um darüber mehr über die Organisation selbst, ihren Personalkörper, ihren Auftrag und ihre Methoden zu erfahren. Unter Organisation werden dabei besondere Formen von sozialen Systemen verstanden, die sich hauptsächlich durch ihre Zwecksetzung, durch Mitgliedschaft und Hierarchien auszeichnen.[8] Der Zweck ist der Ausgangspunkt aller Beobachtungen zu Organisationen. Über seine Bestimmung reduziert die Organisation die ansonsten überwältigende Komplexität des Alltags. Zwecksetzung schafft auch Kriterien bei der Auswahl der Mitglieder[9] der Organisation und sie bestimmt die Mittel zur Erfüllung ihrer Aufgabe. Bezogen auf die wissenschaftliche Organisation MGFA wird hier die historische Grundlagenforschung und ihre Veröffentlichung – u. a. in Form von Reihenwerken – als der Zweck der Organisation vorgestellt werden. Dafür soll zunächst angenommen werden, dass sich die Grundlinien und die Kernprobleme bei der Lancierung des Reihenwerkes einerseits aus der internen Verfasstheit des MGFA ergaben, etwa der wissenschaftlichen Qualifikation und dem Geschichtsverständnis der Mitarbeiter, anderseits aber auch den externen Bedingungen, wie der zeit‑ und militärgeschichtlichen Quellenproblematik oder dem militärfachlichen, wissenschafts‑ oder möglicherweise auch erinnerungspolitischen Anspruch des Auftragsgebers.
Forschungsstand
Die dafür erforderliche Quellenbasis ist neben den Nachlässen und den Akten des Bestands BW 2 (BMVg: Generalinspekteur und Führungsstab der Streitkräfte) vor allem mit dem Bestand BW 7 (Militärgeschichtliches Forschungsamt) im Bundesarchiv gegeben und das Thema zumindest zu einzelnen Aspekten auch gut erforscht. Dazu zählt die Gründungs‑ und Organisationsgeschichte des MGFA.[10] Umfangreich und dabei inzwischen teilweise redundant ist die Literatur zu den streitkräfteinternen Debatten um das Wesen und den Zweck von Kriegs‑, Wehr‑ oder Militärgeschichtsschreibung zwischen 1956 und 1979. Diese werden in der historischen Forschung in der Regel als akademischer Emanzipationsdiskurs einer historisch-kritisch begründeten Militärgeschichtsschreibung verstanden – was sie auch waren. Tatsächlich standen aber für die historischen Akteure oftmals eher Fragen der historischen (Aus‑)Bildung des Offizierkorps der jungen Bundeswehr im Mittelpunkt.[11]
Lückenhaft hingegen ist die Forschung zum Personalkörper, wobei sich immerhin die wissenschaftlich prägenden Persönlichkeiten, darunter der erste Amtschef Hans Meier-Welcker und die Leitenden Historiker Andreas Hillgruber, Manfred Messerschmidt und Wilhelm Deist in kleineren Beiträgen gewürdigt finden.[12] Deutliche Lücken gibt es beim Quellenmaterial für eine kollektivbiografische Beforschung des Personals.[13] Anders als bei universitären Forschungsprojekten mit befristeten Stellen arbeiteten am MGFA vornehmlich Beamte und Offiziere, wobei Erstere seit jeher sehr lange Verweilzeiten und Letztere im Zuge der Professionalisierung des militärischen Personals immer längere aufwiesen. Auch die Forschungspraxis ist bis heute weitgehend unerforscht. So war am MGFA seit Mitte der 1960er Jahre bereits »Teamarbeit« implementiert, die Stellung eines Leitenden Historikers barg Konfliktpotenzial im Verhältnis zu den formalorganisationalen Erwartungen einer militärischen Dienststelle, wie überhaupt die hybride, zivil-militärische Struktur des Amtes einen nie versiegenden Quell großer und kleiner Konflikte, vielleicht aber auch einen fachlichen Mehrwert darstellte. Auch die wissenschaftlichen Produkte des MGFA sind mit Ausnahme der seit 1967 herausgegebenen Fachzeitschrift Militärgeschichtliche Mitteilungen (seit 2000: Militärgeschichtliche Zeitschrift) nicht ausgeleuchtet.[14] Vielfach kennzeichnet die Literatur zum MGFA die organisationale Binnenperspektive und mitunter auch sublime, wissenschaftliche Emanzipations‑ und Integrationsnarrative, was damit zusammenhängt, dass die Darstellungen fast ausnahmslos von aktiven Mitarbeitern oder Ehemaligen stammen. Es handelt sich also oftmals – in militärischer Metaphorik gesprochen – um wissenschaftliche Veteranenliteratur.
Militärgeschichtsschreibung als Ressortforschung
Wenn im Folgenden von Militärgeschichte gesprochen wird, wird die Definition des Historikers Rainer Wohlfeil aus dem Jahr 1967 zugrunde gelegt:
»Die Militärgeschichte ist [...] die Geschichte der bewaffneten Macht eines Staates, die in der Breite ihrer historischen Erscheinung behandelt wird. Sie fragt nach der bewaffneten Macht als Instrument und Mittel der Politik und befaßt sich mit dem Problem der Führung in Frieden und Krieg.«[15]
Diese Definition war allerdings erst das Ergebnis eines in den frühen 1960er Jahren am MGFA vorangetriebenen Prozesses der disziplinären Neuverortung, nicht aber ihr Ausgangspunkt. Mit der Verortung als historischer Teildisziplin anstatt als Bestandteil des Taktikunterrichts bzw. der Militärwissenschaft und dem Anschluss an das damals aufgehende gesellschaftsgeschichtliche Paradigma besitzt diese Definition im Prinzip auch heute noch Gültigkeit.
Seit jeher erklärungsbedürftig war die Qualifizierung der Arbeit des MGFA als »amtliche« Geschichtsschreibung. Problematische Vorgänger waren in dieser Beziehung die preußische Generalstabshistoriografie und die nationalsozialistisch konnotierte Wehrgeschichte. Als ihre Kennzeichen galten die Organisation in einer militärischen Dienststelle bzw. einer militärisch alimentierten, zivilen Forschungseinrichtung, privilegierter Quellenzugang, das Zurücktreten der einzelnen Forscher hinter der Organisation, wie sie sich teilweise in anonymer und kollektiver Autorschaft niederschlug, anwendungsorientierte militärische Erkenntnisinteressen und schließlich der Anspruch auf eine, durch die Organisation selbst oder die militärische Fachmannschaft begründete, besondere fachliche Autorität.[16] Von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des MGFA selbst wurde diese Zuschreibung in der Regel zurückgewiesen oder relativiert, um damit Distanz zu diesen älteren wissenschaftlichen Referenzrahmen zu signalisieren.[17] Im Weiteren soll durchaus von einer prinzipiellen Amtlichkeit der Arbeit des MGFA ausgegangen werden, allerdings einer, die sich allein aus der formalen Organisation ergab. Schon der erste Amtschef, Oberst i.G. Hans Meier-Welcker, hat 1962 in der ersten Monografie des Hauses klargestellt, dass die besondere Organisation des Amtes als »Arbeitsstätte« nichts daran ändere, dass »jede historisch-schöpferische Arbeit im Grunde individueller Art ist. Insofern liegt auch die Verantwortung für die Studien bei den Verfassern. Das sei in einem einschränkenden, aber mehr noch im positiven Sinne gesagt.«[18]
In der Praxis der wissenschaftlichen Arbeit des MGFA war relativ früh klar, dass die in Art. 5 (3) des Grundgesetzes festgeschriebene Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre maßgeblich war.[19] Diese neue, amtliche Militärgeschichtsschreibung entwickelte sich also als eine Form der außeruniversitären Ressortforschung des Bundes, bei der der Dienstherr in Gestalt des Ministeriums bzw. der Amtsleitung zwar Schwerpunkte der Forschung setzen und Einzelaufträge erteilen konnte. Allerdings konnten den Forschenden keine Vorgaben beim Theorie‑ und Methodenansatz sowie im Hinblick auf das zu erwartende Ergebnis gemacht werden.
Mit seinem Forschungsschwerpunkt stand das MGFA bei seiner Indienststellung 1957 in der frühen Bundesrepublik nicht allein. Mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigten sich damit nämlich zwei weitere, allerdings grundsätzlich anders organisierte und ausgerichtete Einrichtungen: die 1946 vom amerikanischen Heer aufgestellte Operational History (German) Section der Historical Division und das 1949/52 eingerichtete Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München. In der Historical Division verfassten ehemalige Offiziere und Generale der Wehrmacht und der Waffen-SS im Auftrag der US-Armee militärwissenschaftliche Studien. Diese waren zwar anwendungsorientiert, besonders dort, wo Erfahrungen aus dem Krieg gegen die Sowjetunion nun für die Alliierten nutzbar gemacht werden konnten. Gleichwohl bildeten die Studien natürlich einen unentbehrlichen Quellenkorpus für die beginnende Geschichtsschreibung am MGFA. Der deutsche Koordinator des amerikanischen Studienprogramms, Generaloberst a.D. Franz Halder, suchte 1957/58 die Abgabe der Studien an das MGFA zu hintertreiben, um sie einer von ihm befürchteten historisch-kritischen Überprüfung zu entziehen. Allerdings scheiterte er mit diesem Ansinnen, sodass das MGFA von Anfang an einen Großteil der Arbeiten der Historical Division heranziehen konnte.[20] Beim Institut für Zeitgeschichte nahmen in den Gründungsjahren ehemalige Angehörige des Oberkommandos des Heeres und der Organisation Gehlen Einfluss auf die wissenschaftliche Ausrichtung. Vermutungen, dass auf diesem Wege ein zweites militärgeschichtliches Institut aufgebaut werden sollte, erwiesen sich jedoch bald als grundlos. Auch wenn das IfZ in den 1960/70er Jahren einige relevante Werke der militärgeschichtlichen Grundlagenforschung veröffentlichte, lag sein Schwerpunkt in diesen Jahrzehnten doch klar auf der Geschichte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, und zwar jenseits ihrer militärischen Dimension.[21] Da sich bis 1969 in der Bundesrepublik auch kein Lehrstuhl für Militärgeschichte etablieren konnte, blieb das MGFA mit seinem Forschungsschwerpunkt institutionell allein auf weiter Flur. In den wissenschaftlichen Vergleich treten musste es freilich bald schon auf der zwischenstaatlichen Ebene. Mitte der 1960er Jahre waren nämlich in der Deutschen Demokratischen Republik auf deutlich breiterer institutioneller Basis die Arbeiten an dem schließlich sechsbändigen Reihenwerk »Deutschland im zweiten Weltkrieg« aufgenommen worden. Diese wissenschaftspolitische Systemkonkurrenz förderte auf der einen Seite im Bonner Verteidigungsministerium die Bereitschaft, sich für ein westdeutsches Reihenwerk stark zu machen.[22] Auf der anderen Seite kam diese Herausforderung auch den Entscheidungsträgern im MGFA gelegen: Sie verwiesen in Verhandlungen mit dem Ministerium auf den vermeintlichen Vorsprung des ostdeutschen Reihenwerkes, um so die eigene Arbeit zu befördern.[23] Die militärgeschichtliche Forschung des MGFA zum Zweiten Weltkrieg stand also von Beginn an unter dem Einfluss von zwei gegenläufigen Kräften: ihrer innerdisziplinären Marginalisierung und ihrer systempolitisch motivierten Forcierung. Das sollte sich bereits in der Aufbauphase der Organisation zeigen.
Die Aufbauphase des MGFA (1957–67)
Die organisatorischen Vorarbeiten für ein amtliches, militärgeschichtliches Institut gehen zurück auf das Amt Blank, die dem Bundeskanzleramt zugeordnete Dienststelle, die in den Jahren von 1950 bis 1955 damit beauftragt war, einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag vorzubereiten.[24] Dort bestand spätestens seit Dezember 1951 ein Referat »Kriegsgeschichte, Archivwesen«.[25] Bezeichnung und Aufgabenbereiche wechselten in den kommenden Jahren. Gleichwohl bildeten die Militärwissenschaften und das Bibliotheks‑ und Archivwesen die zentralen Arbeitsgebiete. Bis 1955 waren dort strategische Festlegungen getroffen worden: So stand nach Verhandlungen mit dem Bundesministerium des Innern fest, dass die Militäraktenbestände als eigene Abteilung in das 1952 gegründete Bundesarchiv eingehen sollten. Die deutschen Militäraktenbestände waren zwischen 1919 und 1936 schon einmal in einer dem Reichsministerium des Innern nachgeordneten Behörde zusammengefasst gewesen, dem Reichsarchiv. Davor und danach waren sie aber, teilweise nach Kontingenten und Teilstreitkräften aufgeteilt, in der Verfügung militärischer Behörden gewesen.[26] Außerdem sollte eine dem am 7. Juni 1955 gegründeten Bundesministerium für Verteidigung nachgeordnete Dienststelle die militärgeschichtliche Ressortforschung übernehmen. Zu diesem Zweck war der Forschungsstelle eine Dokumentenzentrale angegliedert – ein Kompromiss, den das BMVg dem Innenministerium abgerungen hatte. Oft übersehen, aber von weitreichender Bedeutung war die Entscheidung für eine nachgeordnete, zentrale militärische Dienststelle statt einer Forschungsabteilung innerhalb des Ministeriums selbst. Organisatorische Nachordnung schuf in diesem Fall räumliche Distanz und damit prinzipiell die Möglichkeit größerer, wissenschaftlicher Unabhängigkeit.[27] Neu und in bewusster Anlehnung an das teilstreitkraftübergreifende Organisationsprinzip der Bundeswehr entstand ein streitkräftegemeinsames Institut: Militärgeschichte sollte nicht länger als Spezialforschung von Heer, Marine oder Luftwaffe betrieben werden.[28]
Noch im Dezember 1956 nahm die Militärgeschichtliche Forschungsstelle in Langenau bei Ulm ihren Dienst auf.[29] Allerdings blieb dieser Standort nur eine Zwischenstation, die sich aus den Problemen bei der Suche nach einem für die angegliederte Dokumentenzentrale geeigneten Standort ergeben hatte. Am 1. Januar 1958 wurde die Forschungsstelle in Militärgeschichtliches Forschungsamt umbenannt. Das am Rande der Schwäbischen Alb gelegene Langenau war freilich akademische Permafrostregion, weswegen der am 15. September desselben Jahres begonnene Umzug in die Universitätsstadt Freiburg im Breisgau auch aus wissenschaftlichen Gründen sinnvoll war.[30]
Als prägende Figur der Gründungsjahre des MGFA gilt dessen erster Amtschef der Jahre 1957–64, Hans Meier-Welcker. Dieser war militärisch in der Reichswehr sozialisiert worden und hatte in der Wehrmacht die Generalstabsausbildung durchlaufen. Den gesamten Zweiten Weltkrieg hatte er in Polen, der Sowjetunion und Italien vornehmlich in Stabsverwendungen erlebt. Als Oberstleutnant i.G. und Chef des Stabes des XXXI. Armeekorps war Meier-Welcker im April 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten.[31]
Nach der Freilassung im Juni 1947 hatte Meier-Welcker in Tübingen Geschichte studiert und dort 1951 zur Praxis des Ämterkaufs im frühen Mittelalter promoviert. In dieser Zeit warb ihn das Amt Blank aus der Wissenschaft ab. Im April 1952 trat er seine Stelle als Referent für Militärwissenschaft an und wurde im Januar 1956 als Oberst i.G. in die Bundeswehr eingestellt. Rainer Wohlfeil hat schon 1993 darauf hingewiesen, dass Meier-Welcker einem recht konventionellen, historistischen Geschichtsverständnis verhaftet blieb.[32] Das ist richtig, es war aber für seine Funktion als Amtschef kein Hindernis. Sein Verdienst lag sicher in dem oben geschilderten Kampf für eine Emanzipation der Militärgeschichte als eines Bausteins der Historischen Bildung und der Inneren Führung zwischen 1952 und 1961, fiel also auch und vor allem in seine Zeit als Referent im Amt Blank. Dort waren schon wichtige Entscheidungen getroffen worden. Wofür Militärgeschichte in den Streitkräften notwendig war, hatte er also eindrücklich dargestellt; wo konkret sich nun aber die Militärgeschichte als Teildisziplin innerhalb der Geschichtswissenschaften verorten sollte, blieb bei Meier-Welcker unbestimmt. Das sollte Folgen für die Konzeption der Grundlagenforschung zum Zweiten Weltkrieg haben.
Das Ministerium legte als Aufträge des MGFA fest: die laufende militärgeschichtliche Grundlagenforschung und ihre Veröffentlichung; auf Einzelweisung zu erstellende Studien zu aktuellen Fragen; gutachterliche Stellungnahmen, vornehmlich für Dienststellen des Bundes; die Kooperation mit nationalen und internationalen Partnerinstituten; die Ausbildung der Geschichtslehrer an den Offizierschulen und der Führungsakademie der Bundeswehr und die Erstellung von Lehrmaterial; sowie die Beurteilung der militärgeschichtlichen Literatur.[33]
In den Anfangsjahren gliederte sich das Amt in fünf Abteilungen: Allgemeine Wehrgeschichte (I), Geschichte der Gesamtkriegführung (II), Heeres‑ und Landkriegsgeschichte (III), Luftwaffen‑ und Luftkriegsgeschichte (IV), Marine‑ und Seekriegsgeschichte (V). Dazu trat ein Dezernat für die Lehrerausbildung und die Lehrstoffbearbeitung, die Dokumentenzentrale, eine Fachbibliothek sowie eine Schriftleitung.[34]
Diese Organisation wies Besonderheiten auf. So war das MGFA eine militärische Dienststelle, ihr Leiter damit ein Soldat. Eine wissenschaftliche Leitungsfunktion war in dieser Gliederung nicht vorgesehen. Das musste sich als Manko erweisen, sobald das Institut Verbindungen zur universitären Wissenschaft aufbauen wollte. Die Themenpalette der Forschungsabteilungen war auf dem Papier tatsächlich umfassend. Was davon allerdings mit dem zur Verfügung stehenden Personal umgesetzt werden konnte, würde sich weisen. Hier bezeichnete die Gliederung bestenfalls Zuständigkeiten, aber keine Fähigkeiten. Die partielle Untergliederung in Forschungsabteilungen für einzelne Teilstreitkräfte (Abt. III–V) barg am Ende doch wieder die Gefahr von Spezialforschungen, wenigstens dann, wenn seitens der Amtsführung keine Impulse in Richtung auf teilstreitkräfteübergreifende Forschungsfragen ausgingen. Wichtige Pluspunkte waren die wissenschaftlichen Dienstleitungsbereiche Fachbibliothek und Schriftleitung. Anders als viele Universitätsinstitute war das MGFA damit organisatorisch früh auf die Kernaufgabe eingerichtet, die heute als Wissenstransfer bezeichnet wird. Es war in der Lage, die Produkte der eigenen Forschung mit einem Fachlektorat, den für die Militärgeschichte besonders wichtigen kartografischen Fähigkeiten und einer eigenen Herstellung bis zur Druckvorstufe zu bringen und auf dem Büchermarkt zu platzieren. Die Existenz eines Dezernats für die Ausbildung des militärgeschichtlichen Lehrpersonals der Bundeswehr wies darauf hin, dass Historische Bildung von Anfang ein zweiter Schwerpunkt neben der Grundlagenforschung war.[35]
Mit der Gründung übernahm das Amt die Erarbeitung von Studien, Gutachten und Auskünfte für das Ministerium und die Bundeswehr sowie für andere Behörden. In den ersten zehn Jahren des Bestehens standen viele davon im Zusammenhang mit dem Aufbau der Bundeswehr. So wurden historische Beispiele für aktuelle organisatorische Themen abgefragt, z. B. »Fragen der Spitzengliederung in Deutschland von 1900–1945« oder »Wie wurde die Vertretung des Reichswehrministers geregelt?«. Dazu kamen historische Beispiele zu aktuellen militärischen Problemen eines Krieges gegen die Sowjetunion, z. B. »Über Geleitverkehr in der Ostsee 1942«. Ein weiteres Themenfeld war der Komplex Militärgeschichte und Tradition (»Grundgedanken zur Erarbeitung des Traditionserlasses«). Andere Gutachten deuten auf Anfragen zu Kriegsverbrechen von Justizbehörden hin, wie etwa »Die Ereignisse auf der Insel Kefalonia (Griechenland) im Jahre 1943«.[36]
Die zweite Aufgabe des Hauses bildete ein von Meier-Welcker angestoßenes Projekt, das »Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648 bis 1939«.[37] In diesem wird auch das frühe Augenmerk des MGFA auf militärhistorische Wissensvermittlung offensichtlich. In diesem Projekt fanden die meisten der frühen Wissenschaftler zunächst Verwendung, bis das Reihenwerk zum Zweiten Weltkrieg bald immer mehr personelle Ressourcen von dort abzog.
In der Anfangsphase des MGFA stellten sich für diese Beforschung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges allerdings zwei zentrale Probleme, das eine war der Mangel an archivalischen Quellen und das andere die wissenschaftliche Qualifikation des Personals. Die Gründung der Dokumentenzentrale war eine Reaktion auf das erste Problem gewesen. Diese Stelle war eigentlich ein Relikt der schließlich nicht realisierten Überlegungen am Amt Blank, ein eigenes Ressortarchiv aufzubauen. Zwar waren diese Überlegungen bis 1954 ad acta gelegt worden. Die interministerielle Lösung, die Gründung einer Abteilung Militärarchiv im Bundesarchiv, sollte aber noch auf sich warten lassen. Die Dokumentenzentrale fungierte also zwischen 1954 und 1967 einmal als Zwischenarchiv des BMVg und der Bundeswehr selbst. Darüber hinaus sollten dort aber auch die durch den Zweiten Weltkrieg verstreuten deutschen Militäraktenbestände gesammelt und erschlossen werden.[38] Die Bestände zum Zweiten Weltkrieg selbst litten nicht allein an zufälliger, durch die Zeitläufte erfolgter Verstreuung, sondern an planmäßiger Erbeutung. Alle Siegermächte hatten nämlich umfangreiche Bestände von Wehrmacht und Waffen-SS erbeutet, um diese juristisch und militärisch auszuwerten.[39] Damit waren sie für die Forschung des MGFA nicht zugänglich. Die Voraussetzung für umfassende Grundlagenforschung mit dem Ziel eines Reihenwerkes zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges war allein aus diesem Grund bis Ende der 1960er Jahre noch gar nicht gegeben. Als 1967 das Militärarchiv in Freiburg eröffnet wurde und die Bestände der Dokumentenzentrale in dieses überführt werden konnten, verhieß dies einen wirklichen Anfang für die militärgeschichtliche Forschung. Es stellte auch eine Aufwertung des Wissenschaftsstandortes Freiburg dar.
Das zweite Problem in der Anfangsphase des MGFA war der Mangel an qualifiziertem Personal. 1959 arbeiteten in den fünf Abteilungen 25 wissenschaftliche Mitarbeiter, davon 16 Offiziere und neun Zivilisten (Beamte/Angestellte). 1964 hatte sich das Verhältnis bei gleicher Gesamtzahl auf 14 Offiziere und elf Zivilisten angeglichen. Zwei Jahre später waren es 13 Offiziere und 13 Zivilisten.[40] Auf den ersten Blick war damit eine zivil-militärische Parität erreicht, die freilich nicht vorschnell als ein Professionalisierungstrend verstanden werden sollte. Denn einmal blieb das MGFA bei der Gesamtzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – also einschließlich Stab, Lehrdezernat, Servicebereiche und Dokumentenzentrale – mit 62 Prozent militärischem Personal gegenüber 38 Prozent zivilem Personal ein militärischer Betrieb.[41] Vor allem aber waren die Leitungsdienstposten, von denen ja auch die wissenschaftliche Konzeptualisierungsleistung ausgehen musste, fest in militärischer Hand: Nur die Abteilung I (Allgemeine Wehrgeschichte) wurde von einem promovierten Historiker und Beamten der Besoldungsstufe A 14 geleitet, die anderen vier Abteilungen jeweils durch einen Stabsoffizier (A 14 bzw. A 16).[42]
Beim militärischen Personal der ersten Jahre stach der Amtschef Meier-Welcker als akademische Ausnahmepersönlichkeit sicher heraus. Tatsächlich verfügte die Masse der Offiziere aber über keine volle wissenschaftliche Qualifizierung, nur jeder vierte war im Jahr 1959 promoviert.[43] Eine Auswahl aus den militärischen Biografien macht die personelle Grundstruktur deutlich: Friedrich Forstmeier (1916–1984), der 1959 als Korvettenkapitän Leiter der Zentralen Dienste am MGFA war und später dort noch Abteilungsleiter und Amtschef werden sollte, hatte 1935 ein Studium in Frankfurt am Main begonnen, aber wegen des Krieges nicht abgeschlossen. 1939–45 diente er als Marineoffizier. Nach dem Krieg schloss er das Studium für das Lehramt ab, arbeitet zeitweise als Lehrer in Bonn und ab 1950 als Forschungsassistent für die Historical Division bzw. als Sprachlehrer für die US-Armee. 1957 trat er in die Bundesmarine ein. Seine Dissertation konnte Forstmeier erst 1970 abschließen.[44] Oberstleutnant i.G. Henning Eppendorff (1908–?) war 1959 Leiter der Abteilung III (Heeres‑ und Landkriegsgeschichte) und hatte den Krieg als Artillerie‑ und Stabsoffizier in Polen, Frankreich, Italien und der Sowjetunion mitgemacht. 1957 war er in die Bundeswehr eingestellt worden. Eine Ausbildung als Historiker hatte er nicht, als Stabsoffizier des Amtschefs hatte er aber einen wichtigen Anteil an der Organisation des Dienstbetriebes.[45] Eine für das Amt wichtige Figur war Dr. Hermann Heidegger (1920–2020), der 1959 als Major und Mitarbeiter von Eppendorff in der Abteilung III tätig war. Heidegger, (angenommener) Sohn des gleichnamigen Philosophen, war 1939 freiwillig in die Wehrmacht eingetreten und als Infanterieoffizier mehrfach verwundet worden. Im Zuge eines Heimataufenthalts konnte er ein Studium in Freiburg aufnehmen, das aber durch seine erneuten Militäreinsatz unterbrochen wurde. Als Oberleutnant geriet Heidegger 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1947 entlassen wurde. Nach der Entlassung nahm Heidegger in Freiburg ein Studium der Geschichte und des Staats‑ und Völkerrechts auf und promovierte 1953 bei Gerhard Ritter zur Sozialdemokratie im Kaiserreich. Er verließ später das MGFA und sollte vor allem als Referatsleiter im BMVg die Geschicke des Amtes in den 1970er Jahren von außen weiter mitbestimmen.[46] Die drei Biografien sind typisch für die militärische Gruppe, auch wenn sich bei Forstmeier und Heidegger historisches Vorinteresse und alternative Karrieren in der Wissenschaft andeuten. Kriegsgediente Wehrmachtoffiziere, die ab 1956 in die Bundeswehr eingestellt worden waren, dort aber keine Aussicht auf weitere militärische Verwendung hatten, bildeten die Mehrheit im militärischen Personalkörper am MGFA.
Dies wurde ein Problem, als sich das Amt ab Mitte der 1960er Jahre von einer Studienbehörde zu einem Anbieter wissenschaftlicher Grundlagenforschung entwickeln wollte. Ab diesem Moment lag die Amtsführung dem Ministerium mit Klagen in den Ohren. Im Oktober 1966 führte der Nachfolger Meier-Welckers, Oberst i.G. Wolfgang von Groote (1911–2000), das Problem in einer umfangreichen Denkschrift für die Personalabteilung aus: Er habe nach der Übernahme des Amtes den Eindruck gewonnen, dass viele der Offiziere »nur mangels anderweitiger Eignung und Verwendungsmöglichkeit diktatorisch zum ›Historiker‹ ernannt und hierher eingewiesen« worden seien. Dabei fiele erschwerend ins Gewicht, dass diese Offiziere nicht einmal über operative Fähigkeiten verfügten, um so wenigstens den Historikern als Fachberater zur Seite zu stehen. Damit seien sie bestenfalls »zu untergeordneten Zuarbeiten« zu verwenden. Schädliche Folgen zeitige außerdem die kurzfristige Versetzungspraxis, durch welche einmal eingearbeitete Kräfte dem MGFA wieder entzogen würden.[47] Das neu eingerichtete Format des jährlichen Tätigkeitsberichtes nahm Groote 1967 gleich zum Anlass für die Meldung, dass »der überwiegende Teil der Soldaten« zur Erfüllung ihrer wissenschaftlichen Aufgaben »nur bedingt befähigt« sei.[48]
Der Mangel an wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit war also bei den Offizieren eklatant. Doch auch die zivilen Mitarbeiter des ersten Jahrzehnts bildeten eine motley crew. Zunächst einmal verhieß eine Promotion in Geschichte ja noch keine Expertise im Orchideenfach Militärgeschichte. Auch die zivilen Historiker waren durch den Krieg gegangen, teilweise als Soldaten.[49] Bei der Aufstellung der Forschungsstelle 1957 waren fünf Historiker und eine Historikerin eingestellt worden.[50] Auch die Biografien dieses Personenkreises waren aus heutiger Sicht alles andere als konventionell. Da war der einzige zivile Abteilungsleiter, Gerhard Papke (1911–2002). Dieser hatte noch vor dem Krieg in München, Köln und Königsberg Geschichte, Germanistik und Zeitungswissenschaft studiert und 1939 zur Polenpolitik Bismarcks im Lichte der öffentlichen Meinung promoviert. Sein Königsberger Doktorvater, SS-Standartenführer Franz Alfred Six, der gerade in diesen Monaten an die Universität Berlin gewechselt und im Reichssicherheitshauptamt das Amt II (Gegnerforschung) übernommen hatte, wollte Papke für ein auslandswissenschaftliches Forschungsprojekt gewinnen. Dieses ließ sich aber aufgrund Papkes Einberufung zur Wehrmacht nicht realisieren.[51] Papke diente über die gesamte Kriegsdauer bei der Infanterie, geriet 1945 als Leutnant in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst 1950 entlassen wurde. Als Abteilungsleiter und Leiter des Projektes »Handbuch zur deutschen Militärgeschichte« wurde Papke eine treibende Kraft bei der Erneuerung der Militärgeschichte nach 1945. Eine solche war auch Rainer Wohlfeil (*1927). Dieser hatte als Gefreiter Kriegsdienst geleistet und nach dem Krieg Geschichte und Jura in Göttingen und Mainz studiert. Mit seiner Dissertation von 1955 über die Pfalz in der Kriegsverfassung des Deutschen Bundes zwischen 1815 und 1866 war Wohlfeil einer der wenigen frühen Mitarbeiter des MGFA, die überhaupt zu einem militärgeschichtlichen Thema promoviert hatten. Von 1969 an war er kurzzeitig Leitender Historiker am MGFA, um dann 1971 eine Professur an der Universität Hamburg zu übernehmen.
Karl Köhler (1911–1971) war der einzige Mitarbeiter, der aus dem akademischen Umfeld der Wehrgeschichte ans MGFA gelangt war. Er hatte bei Walter Elze in Berlin promoviert und hatte, mit kriegsbedingten Unterbrechungen, seit 1937 als Leutnant an der Kriegswissenschaftlichen Abteilung der Luftwaffe gearbeitet. Nach dem Krieg war Köhler journalistisch tätig und redigierte nach eigenen Aussagen bei der Illustrierten Kristall die Serien »Denn sie fuhren« und »Die Wüstenfüchse« des Publizisten und früheren NS-Pressechefs des Auswärtigen Amtes Paul Carell [d.i. Paul Karl Schmidt].[52] 1957 trat er ins MGFA ein. Anders als der wissenschaftlich breit aufgestellte Wohlfeil war Köhler ein ausgesprochener Luftwaffen-Spezialist, was seinem Fortkommen innerhalb des MGFA Grenzen setzte.
Ein ganz anderer Weg brachte Ernst Klink (1923–94) ans MGFA. Klink hatte sich 1941 als Schüler freiwillig zur Waffen-SS gemeldet und war 1943 schwer verwundet worden. Das Kriegsende erlebte er als Unterscharführer (Unteroffizier) in Berlin, wo er das Abitur nachholte. Nach einem Zwischenspiel als Lokaljournalist nahm er 1949 ein Studium der Geschichte, Germanistik und Anglistik in Tübingen auf. Ein Forschungssemester verbrachte Klink in Finnland. 1957 promovierte er bei Hans Rothfels zum finnisch-schwedischen Streit um die Ålandinseln zwischen 1917 und 1921.[53] Schon im kommenden Jahr war er am MGFA eingestellt. Dort entwickelte sich Klink, ohne dafür über eine militärische Vorbildung zu verfügen, zu einem Experten für die operativen Aspekte des Krieges gegen die Sowjetunion. Dabei vertrat er (vergeblich) ein Reihenwerk mit einem dezidiert operationsgeschichtlichen Zuschnitt. Das frühe MGFA war also – und dies ist ein Aspekt, der insgesamt für die Behördenforschung der frühen Bundesrepublik stärker in Rechnung zu stellen wäre – ein Amt der Kriegsversehrten. Das galt sowohl für die aktiven Offiziere wie für die zivilen Wissenschaftler. Die Festschrift zum zehnjährigen Bestehen bezifferte den Anteil an Schwerbeschädigten mit 26 Prozent.[54] Wie sehr diese Gründungskonstellation die Behörde prägte, zeigte noch 1983 der Hinweis des damaligen Amtschefs Oberst i.G. Othmar Hackl (1931–2013) zum Tode seines Vorgängers Meier-Welcker:
»Nicht alle wissenschaftlichen Mitarbeiter – von ihren Lebensschicksalen her nur zu begreiflich – konnten die von dem ersten Amtschef geforderten hohen wissenschaftlichen Qualifikationen nachweisen, manche Einbußen an Leistungsfähigkeit gingen auf schwere und schwerste Kriegsbeschädigungen zurück.«[55]
Waren die »Wehrmacht-Veteranen« am MGFA deshalb »fast unter sich«?[56] Wenn darunter eine Erfahrungsgemeinschaft zu verstehen ist, mag das allenfalls im weitesten Verständnis von gemeinsamer militärischer Kriegserfahrung als gleichzeitiger Anwesenheit im selben Zeitabschnitt zutreffen. Eine wissenschaftliche oder weltanschauliche Handlungsgemeinschaft sind die Veteranen am MGFA sicher nicht gewesen.[57] So lässt sich schon die vermeintliche Gemeinsamkeit soldatischer Erfahrung durchaus infrage stellen, stellt man die Unteroffiziere bzw. Subalternoffiziere wie Heidegger und Klink den Stabsoffizieren bzw. Generalstäblern wie Eppendorff und Meier-Welcker gegenüber. Schulen, vormilitärische Dienstzeiten in nationalsozialistischen Gliederungen, Kriegsgefangenschaft sowie Flucht oder Vertreibung müssen als eine ganz eigenständige Erfahrungsdimensionen zusätzlich in Rechnung gestellt werden. Auch waren die unterschiedlichen wissenschaftlichen Qualifikationen ja indirekt auch eine Folge des Krieges, denn dieser hatte mögliche wissenschaftliche Karrieren beendet oder verzögert. Die einen konnten ab 1957 gar keine geschichtswissenschaftliche Qualifikation vorweisen (Eppendorff), andere hatten bis dahin wenigstens universitäre Zwischenspiele gehabt (Forstmeier) und wieder andere waren als aufstrebende Jungakademiker ans Amt gekommen (Wohlfeil). In einer weiterführenden Diskussion könnten daher viele Erkenntnisse aus den Forschungen zu den westdeutschen Historikern nach 1945 gewinnbringend für die Gruppe ihrer akademischen Schüler nutzbar gemacht werden.[58]
Gemeinsam war fast allen, dass sie mehrere Jahre Soldat gewesen waren, dass sie den Krieg überlebt hatten, sich jetzt aber nur zehn Jahre später mit ihm beruflich wieder auseinandersetzen sollten. Als Alleinstellungsmerkmal einer wissenschaftlichen Berufsgruppe sollte man dieses psychologische Moment nicht unterschätzen. Gemeinsam war allen auch, dass ihnen eine Arbeitsstelle wie das MGFA komplett neu war und dass keiner von ihnen Erfahrung bei der Konzeption und Bearbeitung eines zeitgeschichtlichen Grundlagenwerkes mitbrachte.
Bis spätestens 1966 schien sich das Archivproblem zu lösen, das Personalproblem war erkannt und angemahnt. Aufgrund der mittelfristigen Festschreibung der militärischen Organisation gelang es aber bestenfalls, improvisierte Aushilfen zu entwickeln. Eine war der für 1958 nachgewiesene »Einweisungslehrgang« für zuversetzte Offiziere. Hier bot der Major und spätere Frankfurter Universitätsprofessor Werner Gembruch (1918–1988) ein ambitioniertes Propädeutikum zu den Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens.[59] Die zweite Aushilfe bestand darin, bei der Bearbeitung eines Themas einen Historiker mit einem Offizier (in der zeitgenössischen Terminologie: »Sachkenner«) zusammenzuspannen. Letzterer sollte militärische Expertise einbringen, während Ersterer für die Konzeption und historisch-kritische Durcharbeitung des Stoffes zuständig war. Dieses Arbeitsmodell ist später einmal als »Symbiose« bezeichnet worden. Tatsächlich haben sich die so eingesetzten Offiziere sicher nicht ohne Grund als bloße Hilfsarbeiter gesehen.[60] Die dritte Aushilfe bestand darin, die damals noch an den zivilen Universitäten, so also auch in Freiburg studierenden Offiziere als Praktikanten zu beschäftigen. Damit erhoffte sich die Amtsleitung kurzfristig eine qualifizierte Unterstützung bei Einzelprojekten, mittelfristig aber auch deren laufbahnmäßige Bindung an das Amt.[61]
Wo stand das Militärgeschichtliche Forschungsamt also nach seinem ersten Jahrzehnt? Was die Entwicklung der Teildisziplin angeht, hatte schon das zuständige Referat vor der Gründung des MGFA von sich aus einen Prozess der Emanzipation von älteren Wissenschaftskonzepten angestoßen. Ab 1957 wurde dieser Prozess durch programmatische Publikationen in der Fachpresse weiter vorangetrieben. Was für eine Militärgeschichte das MGFA schreiben wollte, war damit klar, und das Konzept wies in die Zukunft; die dafür erforderlichen personellen und materiellen Voraussetzungen fehlten aber noch. Bis 1968 bildeten das »Handbuch zur deutschen Militärgeschichte« und die auf Weisung des Ministeriums erstellten Einzelstudien weiterhin die Hauptarbeit. Die akademische Außenwirkung des Hauses war, mit Ausnahme einzelner Kontakte zur Universität Freiburg, praktisch nicht vorhanden – ganz zu schweigen von internationalen akademischen Verbindungen. Die geringe wissenschaftliche Sichtbarkeit war freilich auch die Folge der akademischen Isolation, unter der das MGFA lange litt. Trotz der geschilderten wissenschaftlichen Anpassungsbemühungen seitens des Amtes blieben die Militärgeschichte als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft aber auch Militär und Krieg als Gegenstände der historischen Forschungen weiterhin randständig bzw. standen unter ideologiekritischen Vorbehalten.[62] Doch sogar innerhalb der Bundeswehr selbst war das MGFA, wie es sein Leiter im Tätigkeitsbericht für das Ministerium einräumte, letztlich ein »Fremdkörper«.[63] Die inneren Verhältnisse lagen ebenfalls im Argen. In einem vertraulichen Schreiben beschrieb Wolfgang von Groote seine Wahrnehmung des Hauses anlässlich des Dienstantritts: »Unfrohe, düstere Atmosphäre; Intoleranz, Verbohrtheit, Taktlosigkeit; Stammes‑ und Cliquenfehden; zähflüssige Arbeit; geringe Produktivität auf teilweise recht uninteressanten Randgebieten.«[64]
Das Scheitern von Andreas Hillgruber als Leitender Historiker (1968/69)
Mit der Rückkehr der Weltkriegsakten, aber auch weil sich die Frage nach dem nationalsozialistischen Vernichtungskrieg in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre politisch immer drängender stellte, rückte das Projekt einer umfassenden militärgeschichtlichen Darstellung des Zweiten Weltkrieges in den Fokus des MGFA.[65] Das Ministerium war deshalb auf der Suche nach einem Wissenschaftler, der ein derartiges Projekt auf den Weg bringen konnte. Im Juli 1965 trat Wolfgang von Groote, der das MGFA im Oktober 1964 übernommen hatte, an den gerade in Marburg habilitierten Andreas Hillgruber heran, ob sich dieser »eine irgendwie geartete Zusammenarbeit« mit dem MGFA vorstellen könne. Hillgruber, der mit einer wegweisenden Arbeit zu Hitlers Strategie Aufmerksamkeit erregt hatte, schien grundsätzlich interessiert.[66] Allerdings blieb das Angebot zu unverbindlich, um Hillgruber die Hürden einer Umhabilitation nach Freiburg in Angriff nehmen zu lassen.[67] Von Groote angeregt ergriff das Ministerium die Initiative und plante für Hillgruber nun den Dienstposten eines Leitenden Historikers aus.[68] Damit nicht genug: Um seine wissenschaftliche Stellung in Freiburg zu stärken, forderte Hillgruber im Verlauf der weiteren Gespräche seinerseits eine Professur an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Dafür musste allerdings überhaupt erst ein Lehrstuhl für Neueste Geschichte mit Schwerpunkt Zeitgeschichte geschaffen werden. Das BMVg trat an das baden-württembergische Kultusministerium heran. Dieses erklärte sich dazu grundsätzlich bereit, forderte aber die Übernahme von Kosten. Vom Bundesministerium der Verteidigung initiiert und finanziert nahm der Freiburger Lehrstuhl im August 1968 seinen Betrieb auf. Bis zum 1. September hatte sich Hillgruber in Freiburg eine einzigartige Doppelstruktur, als Ordentlicher Professor an der Universität und als Leitender Historiker am MGFA, geschaffen.[69]
Als er seinen Dienst am MGFA antrat, war die Position des Leitenden Historikers immerhin formal definiert. Als Vertreter des Amtschefs war Hillgruber für alle wissenschaftlichen Fragen zuständig und immediat zum Minister. In allen sonstigen Fragen des Dienstbetriebes war er aber dem Amtschef unterstellt. Diese Situation hat dem machtbewussten Wissenschaftler von Anfang an wenig behagt.[70] In den kommenden Monaten musste er schnell feststellen, wie es sich mit der Personalsituation verhielt. Das betraf sowohl die Frage der wissenschaftlichen Qualifikation der Mitarbeiter als auch das chronische Ungleichgewicht bei den Leitungsstellen.[71] Für die Konzeption eines großangelegten Geschichtswerkes über den Zweiten Weltkrieg, das ihm zur Aufgabe gemacht worden war, sah er das Amt nicht ausreichend aufgestellt.[72] Schon im Mai des folgenden Jahres brach der Konflikt offen aus, als Hillgruber feststellen musste, dass er für die regelmäßige Verhandlung mit dem Ministerium um die Stärke‑ und Ausrüstungsnachweisung (STAN) nicht einbezogen wurde. Daraufhin beantragte Hillgruber am 1. Juni 1969 seine Entlassung.
Als dies innerhalb des Haues bekannt wurde, kam es zum Aufstand eines Teils der zivilen Mitarbeiter. Diese richteten eine Petition an 21 Bundestagsabgeordnete und forderten eine Intervention zugunsten Hillgrubers. Wenige Tage später erreichte die Causa Hillgruber mit einer Anfrage des Abgeordneten Karl Moersch (FDP) den Bundestag.[73] Jetzt intervenierte der Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Karl-Günther von Hase (CDU), stoppte die STAN-Verhandlungen und bat Hillgruber um seinen Verbleib im Amt und um Reformvorschläge. Hillgruber schlug jetzt vor, mit einigen von ihm ausgewählten, qualifizierten Institutsangehörigen auszuziehen, ein direkt dem Minister unterstelltes, wissenschaftliches Institut unter seiner Leitung zu gründen und den Auftrag des MGFA auf Historische Bildung und militärische Studien zu beschränken.[74] Dass eine derartige Maximalforderung seitens des Ministeriums nicht akzeptiert werden konnte, verwundert nicht. Andreas Hillgruber musste also zum Dezember 1969 auf eigenen Wunsch aus dem Dienstverhältnis entlassen werden – das dramatische Ende eines misslungenen Versuchs der Neuordnung des MGFA und eine Blamage für das Ministerium. Als normaler »Wechsel« an die Freiburger Universität ist Hillgrubers Abgang also ganz sicher nicht zu verstehen. Auch hat er am MGFA keinesfalls »kräftige Impulse« setzen können.[75] Es kann kein Zweifel bestehen, dass Hillgruber schon bald nach seinem Antritt als Leitender Historiker die strukturellen Mängel des Amtes erkannt hatte. Um die komfortable Rückfallposition der Freiburger Professur wissend, hat er in den Nachverhandlungen nur wenig Kompromissbereitschaft an den Tag gelegt.[76] Doch es scheint auch, als habe er sich mit der von ihm selbst verhandelten Doppelposition von Anfang an schlicht übernommen. Der Aufbau und die Ausübung der Professur im heißen Studentensommer von 1968 hat den als Konservativen und »Kommiss«-Freund angefeindeten Hillgruber für sich alleine schon extrem in Anspruch genommen.[77] Am MGFA ist er Episode geblieben. Ironischerweise hat er das Amt am Ende nicht durch sein Wirken, sondern durch sein Scheitern vorangebracht.
Der im Februar 1970 als Nachfolger Hillgrubers eingesetzte Rainer Wohlfeil führte die Geschäfte ein halbes Jahr, um dann das MGFA im Oktober Richtung Universität Hamburg zu verlassen. Auch sein Nachfolger war eine hausinterne Berufung: Manfred Messerschmidt (1926–2022). Dieser war 1944 als Reserveoffizieranwärter in die Wehrmacht eingetreten und bei Kriegsende in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten.[78] Nach einem Studium in Münster und Freiburg promovierte er 1954 bei Gerhard Ritter zu den Wandlungen des Deutschlandbildes in der englischen Geschichtsschreibung. Daran schloss sich 1959 bis 1962 ein Jurastudium an. Seit 1962 am MGFA, war Messerschmidt zunächst im Handbuch-Projekt eingesetzt. Am 16. Oktober 1970 trat mit Messerschmidt ein Leitender Historiker an, der wohl dieselbe Entschlossenheit bei der Reform des MGFA wie Hillgruber mitbrachte, dafür aber deutlich größere Steherqualitäten in den ressort‑ und hausinternen Auseinandersetzungen aufwies. Messerschmidt hatte die Funktion bis 1988 inne. Bei der nun einsetzenden Reform des Hauses erfuhr das MGFA auch mehr politischen Rückenwind durch die sozialliberale Regierung Brandt, der sich bei der Offizierausbildung, in Traditionsfragen und bei militärischen Aspekten der Erinnerungspolitik bemerkbar machte.[79]
Zur Anatomie des Personalkörpers
Für das Ministerium war die Causa Hillgruber ein Weckruf gewesen. Die gezielte Förderung der eigenen zivilen Mitarbeiter und die aktive Anwerbung von jungen Historikern nahmen nun Fahrt auf. Diese hatten oftmals einen Hintergrund als Reserveoffiziere oder hatten im Verlauf ihrer Offizierausbildung ein Geschichtsstudium abgeschlossen.[80] Das MGFA gewann dadurch nicht nur an (formaler) wissenschaftlicher Qualifikation, es war nun auch paritätischer besetzt und es wurde schlicht größer: Im Jahr 1974 arbeiteten dort 21 Offiziere und 18 Beamte im höheren Dienst. Dazu kamen elf studierende Offiziere und drei wissenschaftliche Angestellte.[81]
Die Formierung des Personalkörpers war damit um 1968 in eine neue Phase getreten. Dessen Besonderheit war von Anfang an die hybride, zivil-militärische Zusammensetzung gewesen, wie sie sich wohl nirgends außerhalb des Ressorts Verteidigung findet. Das enge Verhältnis von zwei Statusgruppen – Offizieren und Beamten – ermöglicht es nun, professionelle bzw. soziale Besonderheiten der einen Statusgruppe durch den unmittelbaren Blick auf eine Vergleichsgruppe präziser zu bestimmen. Keine Frage: Am MGFA gab es zivilen und es gab militärischen Habitus, vor allem aber gab es jeweils zeittypische Mischformen. Denn in der Gründerphase hatten sowohl die Zivilisten als auch die Soldaten eines gemeinsam, und das war das Erlebnis des Krieges. Nun muss aber im Hinblick auf generationelle Deutungen unterschieden werden zwischen dem Binnenkonflikt der Gründergeneration ab 1957 und den sich ein Jahrzehnt später aus der Generationsfolge ausbildenden Gruppenkonstellationen.[82] Die NS‑ und die Behördenforschung haben in der Vergangenheit immer stark auf den Nationalsozialismus und den Krieg als Katalysatoren von Karrieren abgezielt.[83] Die hier untersuchte Auswahl an Mitarbeitern zeigt aber eher, dass der Krieg einerseits bei den zivilen Mitarbeitern alternative, akademische Lebensplanungen vor allem beeinträchtigt oder sogar verhindert hat, und anderseits, dass die militärfreie Dekade von 1945 bis 1955 für die Soldaten ein Gelegenheitsfenster für die professionelle bzw. akademische Tertiärsozialisation öffnete.[84] Auch in dieser Hinsicht haben wir es beim MGFA mit einer kollektivbiografischen Problemgeschichte zu tun.
Neben die inneren Gegensätze der Gründergeneration trat dann mit den Verrentungen und den Neubesetzungen ab Ende der 1960er Jahre ein ganz anderer Gegensatz: »Mit dem Hineinwachsen der Nachkriegsgeneration in verantwortungsvolle Positionen«, so Othmar Hackl 1979, »wurde die Frage nach dem Warum und dem Wie dieses Krieges in einem umfassenden Sinn immer dringender gestellt« – das galt für die bundesdeutsche Gesellschaft insgesamt, aber natürlich auch für die Belegschaft des MGFA im Besonderen.[85] Generationelle Konflikte bestanden und wirkten in dieser Organisation nicht für sich selbst, sondern sie verschränkten sich mit Fragen nach der Bildung und der Ausbildung des Offizierkorps. Dies wurde immer deutlicher, je mehr der Primat der wissenschaftlichen Qualifikation durch die Arbeit am Reihenwerk zur Geltung kam. Die in der Reichswehr bzw. der Wehrmacht sozialisierten Offiziere konnten diese Qualifikation nämlich nicht vorweisen; nicht, weil sie der Statusgruppe der Offiziere angehörten, sondern weil ihnen in ihrer vom Krieg geprägten militärischen Laufbahn keine Gelegenheit gegeben worden war, dieses kulturelle Kapital zu erwerben. Das sah bei den lebensjüngeren, studierten Offizieren der Bundeswehr ab 1967 ganz anders aus. Im März 1970 konstatierte der für das MGFA zuständige Unterabteilungsleiter im Ministerium: »Die Arbeit des Amtes wird getragen von einem Offiziertyp, der sich bereits vom Einheitsoffizier alter Art gelöst hat.«[86]
Die generationelle und statusbezogene Dynamik am Militärgeschichtlichen Forschungsamt zum Ende der 1960er Jahre lässt sich in der mehrheitlichen Verwurzelung im konservativen Milieu und in dem in der Provinz angesiedelten Handlungsraum als ein Beispiel für das »Andere Achtundsechzig« (Christina von Hodenberg) verstehen.[87] Für die Behördenforschung verweist das Beispiel auf das Potenzial einer Forschungsperspektive, die sich nicht länger bloß »mit den Instrumenten aggregierter kollektivbiographischer Studien« zufrieden gibt.[88] Der Zugang über die Aufgaben und Produkte der Behörden scheint hier deshalb eine vielversprechende Ergänzung.
Die Konzeption des Reihenwerkes (1963–1979)
Hillgrubers wichtigste Aufgabe war es also gewesen, das Reihenwerk zum Zweiten Weltkrieg auf den Weg zu bringen. Dafür gab es allerdings zu dem Zeitpunkt schon Vorarbeiten.[89] Im Oktober 1962 hatte Meier-Welcker nämlich einen Arbeitsausschuss unter der Leitung von Oberst i.G. Hellmut Dittrich eingesetzt, der eine erste Konzeption ausarbeiten sollte.[90] Bevor sich der Ausschuss den inhaltlichen Fragen widmete, erörterte er die für ein solches Großforschungsprojekt erforderlichen Grundsätze kollaborativer Forschung. Der leitende Gedanke war dabei die Einführung von Teamarbeit, bei der die unterschiedlichen Qualifizierungsgrade Berücksichtigung finden sollten.[91] Dass Gruppenarbeit schon die Grundlage der Arbeit am Reichsarchiv gewesen war, war den Beteiligten wahrscheinlich nicht mehr gegenwärtig. Vielmehr deutete die Bezeichnung »Teamarbeit« darauf hin, dass in die Vorstellungen der Kommission jüngste Erfahrungen aus der Historical Division einflossen. Gruppenarbeit als Prinzip war kollaborativ, aber nicht kollektiv. Die individuelle Verantwortlichkeit der Forscher und ihr Recht auf namentliche Autorschaft blieben festgeschrieben.
Bei der Festlegung des Konzeptes diskutierte die Kommission zunächst Formate, die a priori nicht in Frage kamen: Dazu zählten die rein militärische Generalstabshistoriografie, die angelsächsischen Official Histories, bei denen der Kommission der rote Faden fehlte, das »sowjetamtliche« Reihenwerk zum Großen Vaterländischen Krieg wegen seiner ideologischen Bindung und Formate wie Arnold J. Toynbees Survey of International Affairs wegen der ungenügenden Berücksichtigung der militärgeschichtlichen Dimension. Stattdessen schlug die Dittrich-Kommission ein Projekt mit folgenden Leitideen vor: Ausgangspunkt musste ein historisches, kein militärfachliches Verständnis von Militär und Krieg sein. Der Fokus musste auf dem Deutschen Reich liegen, wobei die nationale Perspektive für einen globalen Konflikt von vorneherein als Problem anerkannt war. Eine streng chronologisch angelegte Operationsgeschichte wurde verworfen. Stattdessen sollte eine Reihe von Monografien ins Auge gefasst werden, die sich entlang von zwei grundlegenden Ordnungselementen, nämlich »Operationen« und »Historischen Gegenständen«, orientierte. Letztere bildeten eine Vielzahl von Themen ab, von Fragen der Spitzengliederung über die personelle Rüstung, Ersatzwesen, Militärgerichtsbarkeit, Logistik, nachrichtendienstliche Lagebilder, der Kriegseinsatz der NS-Parteiorganisationen bis zur deutschen Besatzungsherrschaft, Widerstand in Europa und Kriegsvölkerrecht. Außerdem waren zwei Bände zur Gesamtkriegführung als Problem der obersten deutsche Führung und zur globalen Dimension des Krieges angedacht.[92] Diese Konzeption zu dem Reihenwerk wurde im Juli 1963 vom Amtschef dem Generalinspekteur vorgelegt und von diesem gebilligt.[93]
Die Kommission hatte also bis Sommer 1963 namentliche Autorenschaft, Teamarbeit und ein Reihenwerk aus Monografien festgeschrieben. Die Anordnung nach Operationen und »Historischen Gegenständen« musste auf eine Verschränkung chronologischer und sachthematischer Ordnungsprinzipien hinauslaufen, die aber nicht weiter ausgeführt wurde. Der spezifische Charakter des Krieges blieb darin noch vage angedeutet. »Kriegsverbrechen« rangierten als Unterpunkt in einem von 18 historischen Gegenständen. Auch wenn die Konzeption schon Mitte 1963 beschlossen war, zog sich die Arbeitsaufnahme hin. Neben den geschilderten Problemen Personal und Archivalien mag auch der Wechsel des Amtschefs 1964 einer konsequenten Ausplanung des Konzepts abträglich gewesen sein.
Als Hillgruber 1968 ans Amt kam, entwarf dieser aber unverzüglich einen eigenen Plan, den er am 11. Oktober 1968, also nur gut zwei Monate nach Amtsantritt, ohne Diskussion mit dem Plenum der Wissenschaftler direkt dem Amtschef vorlegte. Bezugnehmend auf den Plan der Dittrich-Kommission betonte Hillgruber die Bedeutung des Projekts und die langfristige Festlegung der Ressourcen des MGFA. Anders als im Konzept von 1963 vorgesehen, wollte Hillgruber nun ein Reihenwerk, in dem die »Intentionen der obersten deutschen Führung (d. h. im wesentlichen: Hitler)« der rote Faden sein sollten. Ein solches Werk müsse die Verflechtung von Kriegführung und Politik aufzeigen, etwa durch Darstellung der Themen Kriegswirtschaft und Rüstung. Ein besonderes Augenmerk lag für Hillgruber auf der Darstellung des Krieges an der Ostfront mit seinen »rasseideologische[n] Vernichtungsaktionen«.[94] Umgesetzt werden sollte dies durch eine »sechsbändige, im wesentlichen chronologisch gehaltene Darstellung des Kriegsverlaufs [...] sowie Zusatzbände«. Letztere bestanden aus einem Atlas, einer Auswahlbibliografie, ein bis zwei Quelleneditionen und einer unstrukturierten Folge von Einzelthemen.
Sechs Autoren sollten je einen Zeitabschnitt bearbeiten und dabei nur die Perspektive der obersten deutschen Führung darstellen. Dabei sollten sie ggf. durch die im Konzept von 1963 definierten »Sachkenner« unterstützt werden. Veranschlagt waren für das Projekt sechs bis acht Jahre. Im April 1969 wurden die Arbeitsaufträge erteilt.[95]
Hillgrubers Konzept setzte sich fraglos über den alten Auftrag und die bis dahin geleisteten Vorarbeiten des MGFA hinweg und liest sich wie eine für die Gesamtdauer des Krieges erweiterte Fassung seiner Habilitation. Im Haus selbst war die Konzeption deshalb umstritten; das Fehlen der damals wohl profiliertesten Wissenschaftler des Hauses, Wilhelm Deist und Manfred Messerschmidt, in der Reihe der Autoren fällt sofort auf. Umstritten war vor allem Hillgrubers Umbau des Reihenwerkes in eine Art »militärischer Politikgeschichte«.[96] Es passt in dieses Bild, wenn Rainer Wohlfeil Hillgruber später gar eine »Aversion gegen den historischen Gegenstand Militär« attestierte.[97] Auffällig ist auch die starke Hitler-Zentriertheit.[98] Zukunftsweisend war dagegen Hillgrubers Konzeption in ihrem Verweis auf die Besonderheit des nationalsozialistischen Rasse‑ und Vernichtungskrieges und – damit verbunden – der Forderung nach einer herausgestellten Untersuchung des Krieges in Polen und der Sowjetunion.[99]
Die Amtszeit des nach dem Abgang Hillgrubers als Leitenden Historikers eingesetzten Rainer Wohlfeil von Februar bis Oktober 1970 war zu kurz, um eine eigene Konzeption auf den Weg zu bringen.[100] Manfred Messerschmidt begann unmittelbar nach seiner Ernennung mit der Neukonzeption des Reihenwerkes. Dazu berief er am 3. November 1970 eine große Konferenz der wissenschaftlichen Mitarbeiter ein.[101] Sein eingangs dargelegter Sachstand liest sich deshalb kurios, weil zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht mehr klar war, ob das Amt seit seiner Gründung je einen formalen Auftrag für ein Reihenwerk erhalten hatte. Im eigenen Haus lagen jedenfalls keine Akten vor und die von Messerschmidt telefonisch kontaktierten Vorgänger hatten dazu allenfalls noch anekdotische Erinnerungen. Für die weitere Diskussion wurde ein solcher Auftrag also zunächst einfach angenommen. Misslich war auch, dass bis zu diesem Zeitpunkt keine systematischen Erschließungsarbeiten für die Quellen organisiert worden waren – diese hätten ja längst ungeachtet der noch zu bestimmenden Konzeption angestoßen werden können. Dazu kam, dass gegenwärtig drei Monografien zum Zweiten Weltkrieg in Arbeit waren, die allerdings in keinem erkennbaren konzeptionellen Zusammenhang standen. Das Übel lag also, so Messerschmidt, darin, dass der Plan für ein Reihenwerk so lange »dahingedämmert« habe.[102] Die Konzeption der Dittrich-Kommission von 1963 war zwar bekannt, allerdings nicht, ob dazu je ein ministerieller Auftrag ergangen war. Hillgrubers Konzeption war zwar ebenfalls bekannt, allerdings sofort nach dessen Abgang von Wohlfeil wieder verworfen worden.[103]
Messerschmidts jetzt zur Diskussion gestellter Plan griff auf die Dittrich-Kommission zurück, insofern auch er die Anlage nach Kriegsschauplätzen und Querschnittthemen vorsah.[104] Dabei plante er aber eine umfassendere Ausrichtung, insofern als in den Bänden zu den Kriegsschauplätzen auch Fragen wie Besatzung, wirtschaftliche Ausbeutung, Propaganda, Kollaboration und Widerstand mit behandelt werden sollten. Die konkrete Ausplanung der einzelnen Bände sollte zunächst den zuständigen Hauptautoren überlassen bleiben. Die Reihe sollte zehn Bände umfassen und dabei – anders als bei Hillgruber – in einem Einleitungsband die Vorgeschichte des Krieges darstellen und einen resümierenden Schlussband beinhalten. Damit war Diskussionsstoff garantiert.
Messerschmidts Verzicht auf eine konkrete Abgrenzung des Stoffes führte sofort zur Forderung nach Einberufung einer Kommission, in der die Diskussionsgrundlage konkretisiert werden und ein »Roter Faden« entwickelt werden sollte. Bei der Grundsatzentscheidung Kriegsschauplätze versus chronologische Darstellung gab es weiterhin zwei Lager. Selbst die Zweckmäßigkeit eines großen Reihenwerkes wurde immer noch infrage gestellt. Ein Mitarbeiter warnte vor dem Stillstand, der so über einen längeren Zeitraum bei der Veröffentlichung von Einzelforschungen eintreten könne; ein anderer riet, zunächst Geschichten der Teilstreitkräfte zu verfassen, um dann darauf ein Reihenwerk aufzubauen. Ein dritter wies auf das Risiko hin, ohne vorherige Erschließung der Archivquellen überhaupt mit der Arbeit an einem Reihenwerk zu beginnen.
Für viele der strittigen Punkte gab es sowohl sachliche Gründe als auch hintergründige, amtspolitische oder weltanschauliche Motive. Die Kontroverse um die Gewichtung der militärischen und politischen Inhalte war einer der ältesten Streitpunkte, dabei aber inzwischen im Prinzip ein Rückzugsgefecht der Verfechter einer bloßen Operationsgeschichte.[105] Als Amtschef Herbert Schottelius im Verlauf der Diskussion unvermittelt vorschlug, das Reihenwerk als eine »Geschichte der deutschen politisch-militärischen Führungsentscheidung« zu schreiben, rief das sofort den Protest der Historikerfraktion um Messerschmidt hervor. Dies, so Papke, würde nicht weniger als den Rückfall in die überkommene Generalstabshistoriografie bedeuten.[106] Sowohl für die Ordnung nach Kriegsschauplätzen als auch für die Ordnung nach Kriegsjahren gab es gute Gründe; die erhöhten Anforderungen an die Erschließung des Stoffes für mehrere Fronten ließ die chronologische Lösung als arbeitsaufwändiger für die einzelnen Bearbeiter erscheinen. Die Ordnung nach Kriegsschauplätzen erlaubte mehr Planungssicherheit für einzelne Länderexperten, war aber über die Bände hinweg schwieriger abzugrenzen. Die Debatte machte auch deutlich, dass der Zweifel an den Fähigkeiten des Personals hinter mancher kritischen, dilatorischen oder obstruktiven Haltung steckte. So klagte Oberstleutnant Gerd Brausch (1917–1995): »[N]icht jeder ist ein Hillgruber. Das sind wir eben nicht. Wir können nicht alle Hillgrubers werden, nicht wahr?«[107]
Messerschmidts Position nach der Konferenz war ambivalent. Es bestand kein Zweifel, dass er »liefern« musste. Sein Einfluss innerhalb des Hauses war aber noch nicht gefestigt. Im Gegensatz zu Hillgruber war er eine Hausbesetzung, die mit den Strukturen und den Idiosynkrasien des Amtes vertraut war. Auch konnte er auf eine Gruppe von wissenschaftlichen Weggefährten bauen; Hillgruber dagegen war alleine gekommen und auch alleine wieder gegangen. Messerschmidts Vertrauen in die Leistungsfähigkeit mag darin begründet gewesen sein, dass er mit dem baldigen, altersbedingten Ausscheiden einiger Kollegen rechnen konnte und er möglicherweise seitens des Ministeriums bereits Zusagen für qualifizierte Neubesetzungen erhalten hatte.[108] Seine Herangehensweise, die Frage der weiteren Ausplanung der Bände im Kollegialprinzip zu regeln, war ihm allerdings sofort als Führungsschwäche ausgelegt worden. Stattdessen war im Kreis der Mitarbeiter die Forderung nach einer präziseren konzeptionellen Vorgabe laut geworden, die nun erst wieder durch eine Kommission erarbeitet werden sollte. Die schnelle Klärung eines Konzepts war also im ersten Anlauf gescheitert. Was Messerschmidt nun blieb, war, von den Kritikern schriftliche Stellungnahmen einzuholen und offene Fragen in einem Gremium zu besprechen.[109] Dazu zählten die Anordnung des Stoffes, die Frage nach einer vorgeschalteten Erschließung von Archivquellen und die Forderung nach einer reinen Operationsgeschichte.[110] Mit der Einteilung von Autorenteams für die einzelnen Bände rückte jetzt auch schon ein Problem in das Zentrum der Debatte, das das MGFA noch lange beschäftigen sollte: der nationalsozialistische Vernichtungskrieg in Mittelosteuropa und die Rolle der Wehrmacht dabei.[111] Bis Sommer 1972 war aber Klarheit über das Konzept erreicht: Dieses sah ein zehnbändiges Reihenwerk vor. Es löste die Frage der Stoffgliederung insofern, als ein Phasenmodell zugrunde gelegt wurde, das sich an der Abfolge von deutscher Initiative (1939–41), Globalisierung des Konfliktes (1941–43) und Verlust der Initiative (1943–45) orientierte. Die Chronologie wurde dadurch aufgebrochen, dass nun die früheren Ergänzungsbände als vollwertige Querschnittbände den Ereignisbänden zur Seite gestellt wurden. Schließlich stellten der Einleitungs‑ und der Schlussband eine Einordnung des Militärischen in die gesamtstrategische und die gesellschaftliche Ebene sicher.[112]
Schluss
Als der erste Band des Reihenwerkes schließlich 1979 erschien, war darin eine »Geschichte der Gesellschaft im Krieg« in Aussicht gestellt.[113] Ob diese Forderung bis zum Abschluss des Reihenwerkes 30 Jahre später tatsächlich eingelöst wurde, muss Gegenstand einer zukünftigen Untersuchung bleiben. In diesem Beitrag ging es zunächst darum, über die Entstehungszusammenhänge eines Großprojektes der historischen Grundlagenforschung Einsichten zum Personalkörper, zum Auftrag und zu den Methoden der forschenden Organisation selbst zu erlangen. Daraus können wiederum Forschungsperspektiven für die Organisationsgeschichte und die Behördenforschung der frühen Bundesrepublik abgeleitet werden.
Um was für einen Organisationstyp handelte es sich also? Das Militärgeschichtliche Forschungsamt war eine militärische Dienststelle im Bereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Untersuchung dieser Dienststelle sollte dazu beitragen, das in der Behördenforschung vielfach angemahnte Desiderat der nachgeordneten Bereiche anzugehen. Das MGFA war aber auch eine Ressortforschungseinrichtung an der Schnittstelle der Politikfelder Verteidigung und Wissenschaft; die Leistung für das Politikfeld Verteidigung war dabei stets nur mittelbar. Sie hatte eine politische Funktion und zielte dabei auch auf die Dimension der Organisation, welche die Organisationssoziologie als die »Schauseite« bezeichnet: Das BMVg ließ auch forschen, um nach außen zu zeigen, dass es das konnte und wollte.[114] Wissenschaftliche Leistungsfähigkeit und Freiheit waren gewollt, obwohl der Auftrag des MGFA nicht anwendungsorientiert oder prognostisch war, wie man das von militärischen Organisationen erwartet, sondern auf die Vergangenheit zielte.
Die Anfänge des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes von 1957 bis 1972 waren keine Erfolgsgeschichte. Das regt an, diese Behördengeschichte als Teil einer bundesrepublikanischen »Belastungsgeschichte«[115] zu verstehen. So wie die Diktatur und der Zivilisationsbruch von 1933–45 eine militärische Dimension gehabt hatten, so hatten nämlich auch die Bemühungen, anschließend ein demokratisches Gemeinwesen aufzubauen, eine militärische und eine geschichtswissenschaftliche. Zu diesem Zweck waren dem MGFA über seine gesamte Zeit drei Kernaufträge erteilt: militärhistorische Grundlagenforschung, Historische Bildung für die Bundeswehr und militärgeschichtliche Studien für das Ressort. Bei der Grundlagenforschung waren von Beginn an zwei Projekte in Planung: das hier nicht behandelte und bis heute in seiner fachwissenschaftlichen Bedeutung unterbewertete »Handbuch zur deutschen Militärgeschichte« und das Reihenwerk »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg«.[116] Letzteres wuchs ab Mitte der 1960er Jahre zum Leuchtturmprojekt des Amtes auf. Dies war das Produkt, über welches sich die Fortexistenz des Amtes nach der Hillgruber-Krise von 1969 entschieden hat. Ein erneuter Fehlstart unter Messerschmidt hätte zweifellos das Ende des Amtes in seiner damaligen Gestalt bedeutet. Das Reihenwerk ist auch aus diesem Grund ein eindrückliches Beispiel für den Versuch, nach 1945 in der Bundesrepublik Zeitgeschichte zu schreiben. Dabei konnte gezeigt werden, dass die Anfänge der Konzeptualisierung deutlich früher anzusetzen sind als bisher bekannt. Auch zeigt sich am Reihenwerk eine interessante, zwischenzeitliche Verschiebung der Konfliktlinie: Wenn diese im ersten Jahrzehnt zwischen historischer Grundlagenforschung und militärischer Anwendungserwartung verlaufen war, so stritt man am MGFA ab 1968 für oder gegen die Vereinnahmung der gerade selbst aus der Taufe gehobenen, neuen Militärgeschichte durch die klassische Politikgeschichte à la Hillgruber.
Was den Auftrag anging, so war der von außen, das heißt aus dem Ressort bzw. aus der Bundeswehr an das Amt herangetragene Anspruch auf militärfachliche Zuarbeit immer wiederkehrend, dabei aber tendenziell von schwindender Relevanz. Das erklärt sich einmal daraus, dass das Ministerium schon in der Frühphase ein genuines Interesse an der freien Forschung am MGFA hatte und dafür einstand.[117] Allerdings ist auch zu beobachten, dass sich die sich als historische Teildisziplin verstehende Militärgeschichte in Schüben entwickelte und emanzipierte. Die militärische Forderung nach Anwendungsorientierung eben dieser Forschung entwickelte sich dagegen qualitativ kaum weiter. Sie blieb sporadisch und letztlich auch militärfachlich immer recht schwach begründet.[118] Die utilitaristische Forderung verlor in den Folgejahren umso mehr an Bedeutung, je mehr sich das Reihenwerk als wissenschaftlich und politisch sichtbares Leitprojekt herausbildete. Ab Ende der 1960er Jahre hatte sich das MGFA selbst einen Kernauftrag erarbeitet, der an gesellschaftspolitischer Relevanz gewann und so die Unentbehrlichkeit der Organisation förderte. Hier ist also durchaus ein organisationstheoretisch interessanter Eigen-Sinn des nachgeordneten Bereichs zu erkennen.
Was das MGFA von vielen Behörden unterschied, war der Anspruch, dass hier nach 1945 die Methoden der eigenen Arbeit von innen heraus grundsätzlich hinterfragt und neu ausgerichtet wurden. Das MGFA hatte Vorläuferorganisationen, freilich nur solche, von denen es sich bewusst absetzte. Die institutionelle Selbstfindung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes verlief also im ersten Schritt negativ: Was man nicht sein wollte, war klar.[119] Was man werden wollte, war ein wissenschaftlicher und politischer Aushandlungsprozess, der sich nicht einfach bloß über die klassische »Stärke‑ und Ausrüstungsnachweisung« steuern ließ. Damit unterschied sich das MGFA wahrscheinlich deutlich von anderen Nachkriegsbehörden wie dem Deutschen Patentamt oder der Bundesanstalt für mechanische und chemische Materialprüfung.
Die Wahl der Methoden hing aber eben auch vom Personalkörper ab. Dessen wissenschaftliche Qualifikation war teilweise ungenügend. Begreift man dieses Defizit für die Behörde als systemgefährdend und anhaltend, dann erscheinen die vermeintlich weltanschaulich motivierten Auseinandersetzungen darüber, wie eine Militärgeschichte des Zweiten Weltkrieges zu schreiben sei, in einem ganz anderen Licht. Der Widerstand gegen eine Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einbeziehendes Konzept erklärt sich möglicherweise in Teilen aus der Einsicht, dass dies mit den dafür vorhandenen Forschern nicht zu leisten war. Dieses Defizit hat auch die frühe Einführung der Teamarbeit gefördert. Auf diese Weise sollten sich individuelle Leistungsunterschiede durch entsprechende Gruppierung wissenschaftlich nivellieren und institutionell kaschieren lassen. Gleichwohl war Gruppenarbeit nicht anonym-kollektiv angelegt, sondern als Kollaboration. Das barg auch Chancen für Austausch und Synergien. Auch hier müsste ein kritischer Blick in die weitere Arbeit am Reihenwerk ab 1979 zeigen, wo Kollaboration funktionierte und das MGFA damit wissenschaftlich fortschrittlich war.
Die organisationsgeschichtliche Relevanz des MGFA liegt schließlich darin begründet, dass dieses Amt ab den 1970er Jahren zu einer der größten Einrichtungen der außeruniversitären historischen Forschung in der Bundesrepublik aufwuchs. Die weitere Beschäftigung mit der Geschichte des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes kann also im besten Fall auch einen Beitrag zu einer Behördenforschung als Problemgeschichte leisten, die Organisationen im nachgeordneten Bereich als einen Faktor bei der politischen, wissenschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Neuorientierung in der Bundesrepublik der 1960/70er Jahre begreift, sich dabei aber der Fallen eines wissenschaftsgeschichtlichen und erinnerungspolitischen Fortschrittsnarrativs bewusst ist.
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