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BY 4.0 license Open Access Published by Akademie Verlag August 9, 2019

Digitale Mediävistik und der deutschsprachige Raum

  • Roman Bleier EMAIL logo , Franz Fischer , Torsten Hiltmann , Gabriel Viehhauser and Georg Vogeler
From the journal Das Mittelalter

Die mediävistische Forschung entwickelte schon sehr früh digitale Hilfsmittel und Methoden.[1] Die grundlegende Interdisziplinarität und Methodenvielfalt in der Mediävistik mag ein für die Geisteswissenschaften vergleichsweise hohes Maß an Methodenbewußtsein und eine Affinität zur Formalisierung von Arbeitsweisen begünstigt haben. Beides sind unabdingbare Voraussetzungen einer digital betriebenen geisteswissenschaftlichen Forschung. Tatsächlich war einer der Gründungsväter dessen, was heute gemeinhin als ‚Digital Humanities‘ bezeichnet wird, ein Mediävist. Der Jesuitenpater Roberto Busa erbat in den 1940er Jahren von Thomas J. Watson, dem Gründer des damals führenden Herstellers von elektronischen Büromaschinen IBM, eine Rechenanlage, mit der er eine Konkordanz des Gesamtwerks von Thomas von Aquin zu erstellen gedachte. Nur auf dieser Basis ließe sich die tatsächliche Bedeutung der Worte des großen mittelalterlichen Denkers ermessen.[2]

Seither ist die Verwendung computergestützter Methoden zur Beantwortung mediävistischer Fragestellungen weit vorangeschritten. Auf wissenschaftlichen Veranstaltungen wurde (und wird) ihr spezifischer Nutzen diskutiert und in verstreuten Publikationen reflektiert. So erschienen in der seit 1966 publizierten Zeitschrift ‚Computers and the Humanities‘ immer wieder Beiträge mit mediävistischer Fragestellung und Ausrichtung.[3] Im deutschsprachigen Raum wurden ab 1971 fünf Symposien zum maschinellen Verarbeiten altdeutscher Texte abgehalten,[4] während zeitgleich auf der sechsten mediävistischen Konferenz in Kalamazoo, aus der später der Medieval Congress hervorgehen sollte, die ersten einschlägigen Beiträge auftauchten, wie auch eine eigene Sektion mit dem Titel “The Medievalist and the Computer”.[5] Im Jahre 1975 riefen die École française de Rome und das Istituto per la Storia Medievale dell’Università di Pisa die mediävistischen Fachwissenschaftler zu einer großen Konferenz zusammen, um gemeinsam den Stand der Dinge zu dokumentierten.[6] 1979 folgte in Frankreich dann auch eine eigene Zeitschrift, ‚Médiéviste et l’ordinateur‘, die bis 2009 vom IRHT herausgegeben wurde.[7] Während über die 80er und 90er Jahre nur wenig zu vermelden ist,[8] nahm die Entwicklung spätestens seit der Jahrtausendwende erneut an Fahrt auf, um seitdem nicht mehr abzureißen. Im Jahr 2000 diskutierten italienische Mediävisten die Kombination von Computer und Mittelalterforschung.[9] Die deutschsprachige Mediävistik folgte ein Jahr darauf, als sie in Bamberg zur Tagung ‚Mediävistik und Neue Medien‘ zusammenkam.[10] Mit der Gründung des ‚Digital Medievalist‘ im Jahre 2003 wurde der internationale Diskurs dann in einer offenen internationalen Forschungsgemeinschaft zusammengeführt, die sich der Anwendung, Förderung und Vermittlung digitaler Methoden und Werkzeuge verschrieben hat. Ihr fachlicher Austausch erfolgt seit jeher über das Internet, über Mailinglisten und Social-Media-Kanäle, aber auch über eigens organisierte Veranstaltungen im Rahmen der großen internationalen mediävistischen Fachkonferenzen in Kalamazoo und in Leeds. Hinzu kommt die Herausgabe einer der ersten Fachzeitschriften in der Mediävistik, die die wissenschaftliche Qualität ihrer Artikel mit einem Peer-Review-Verfahren sichert und sie unter einer Open-Access-Lizenz online veröffentlicht.[11]

Alle diese Aktivitäten belegen, dass die Themen ‚Digitalisierung‘ und ‚Digitalität‘ die Mediävistik nicht erst jüngst aus einer modischen Stimmung oder aus politischem Opportunismus beschäftigen, sondern seit Jahrzehnten ein beständiger Begleiter und Motor der Mittelalterforschung sind. Andersherum haben, wie sich bereits am Beispiel Busas ablesen lässt, mediävistische Forschungsprojekte etwa aus den Philologien, der Paläographie oder Kodikologie oftmals entscheidende Impulse zur Etablierung der Digital Humanities als eigenständiger Disziplin gegeben.

Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Mediävistik sind anhand der rasant steigenden Verfügbarkeit von Quellen und Forschungsergebnissen deutlich spürbar. In stetig wachsendem Umfang kann auf Primärquellen in Form von hochauflösenden Scans und digitalen Editionen zugegriffen werden. Viele Initiativen dazu lassen sich im deutschsprachigen Raum verorten. So digitalisierte etwa die Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln als erste Bibliothek weltweit im Jahre 2000 ihren kompletten mittelalterlichen Handschriftenbestand, um ihn der Forschung und der interessierten Öffentlichkeit im Internet frei zugänglich zu machen.[12] Die Zahl der Einträge zu mediävistischen Online-Editionen in den Katalogen von Patrick Sahle und Greta Franzini[13] nimmt stetig zu: Projekte wie ‚Welscher Gast digital‘,[14] ‚Lyrik des deutschen Mittelalters‘,[15] ‚Die Augsburger Baumeisterbücher‘,[16] die in diesem Sammelband vorgestellten Editionsvorhaben (s. u.) sowie viele andere mehr spiegeln den derzeitigen Stand der Kunst wider und verdeutlichen den interdisziplinären Anspruch sowie die methodische Vielfalt der gegenwärtigen editorischen Praxis im Digitalen – von der umfassenden Dokumentation der zugrunde liegenden Textträger sowie deren Einbindung in die unterschiedlichen Präsentationsformen, über die grammatikalische und semantische Erschließung unterschiedlicher Textschichten, bis hin zur Verknüpfung der Editionstexte mit externen Wissensressourcen wie etwa digitalen Wörterbüchern, Textkorpora oder Bibliographien.

Die Anwendung digitaler Hilfsmittel und Methoden erleichtert, beschleunigt und verbessert zudem nicht nur Prozesse und Analyseverfahren der mediävistischen Forschung. Sie kann auch einen Wechsel der Perspektive auf ihre Quellen und Gegenstände und damit einen Wandel der Fragestellungen selbst bewirken. Es gilt daher, sowohl den Nutzen als auch die Auswirkungen digitaler Forschungspraktiken auf unser Verständnis vom Mittelalter zu beleuchten. Und das umso dringlicher, als Digitalität in allen Bereichen der Mediävistik an Bedeutung gewinnt und gänzlich neue Felder eröffnet: So hält die Multimodalität des digitalen Mediums Einzug in die Editionswissenschaften, indem sie audiovisuelle Repräsentationsformen von Texten schafft.[17] Verfahren des maschinellen Lernens finden in Handschriftenkunde und Paläographie Anwendung, um mittelalterliche Handschriften automatisiert zu erkennen und zu transkribieren,[18] während die Techniken des Semantic Web genutzt werden, um mittelalterliche Wappendarstellungen zu erfassen und für kulturhistorische Fragen auswertbar zu machen.[19] Die Computerlinguistik erstellt Werkzeuge zur grammatischen Analyse mittelalterlicher Volkssprachen und des mittelalterlichen Lateins[20] und in der Literaturwissenschaft werden mittelhochdeutsche und lateinische Metrik und Stil automatisiert vermessen.[21] In der Geschichtswissenschaft wiederum werden umfangreiche Corpora erstellt, um mit digitalen Methoden die Entwicklung bestimmter Begriffe und Konzepte über längere Zeiten hinweg analysieren zu können.[22] Netzwerkanalysen und geographische Informationssysteme wiederum dienen nicht nur der Visualisierung von politischen Allianzen und der Reproduktion historischer Atlanten; in ihrer Kombination können sie zugleich zu einem tieferen Verständnis mittelalterlicher Konflikte beitragen.[23] Welche Potentiale schließlich die digitalen Corpora liturgischer Gesänge oder Glasmalereien noch haben werden, die in der Kunstgeschichte und Musikwissenschaft erstellt werden, ist noch nicht absehbar. Aber erste statistische Analysen versprechen neue Einblicke.[24]

Dieser historische und methodische Abriss zeigt, dass die Mediävistik eine ständige Begleiterin und Akteurin bei der Entwicklung und Anwendung von computergestützten Methoden in den Geisteswissenschaften war und damit wesentlich dazu beitrug, dass sich die ‚Digital Humanities‘ (oder ‚Digitale Geisteswissenschaften‘) als eine eigenständige Disziplin etablieren konnten. So finden sich Mediävisten und Mediävistinnen auf den deutschen, österreichischen und Schweizer Lehrstühlen für Digital Humanities und sind prominente Mitglieder der nationalen und internationalen Fachverbände.[25] Mediävistische Themen und Hilfswissenschaften sind fest in den verschiedenen DH-Studiengängen verankert und werden in einschlägigen Fachzeitschriften, Hand- und Lehrbüchern sowie auf Fachkonferenzen der Digital Humanities verhandelt. Erst jüngst ist eine englischsprachige Zusammenschau digitaler Mittelalterforschung im Speculum-Sonderband ‚The Digital Middle Ages‘ erschienen.[26] Eine Übersicht und eine Gesamtdarstellung zur Geschichte und Gegenwart der digitalen Mediävistik im deutschsprachigen Raum steht hingegen noch aus.[27]

Vor diesem Hintergrund möchte das vorliegende Themenheft ‚Digitale Mediävistik‘ eine reflektierte Bestandsaufnahme von mediävistischen Forschungsarbeiten bieten, die derzeit im deutschsprachigen Raum unter Zuhilfenahme digitaler Methoden vorangetrieben werden. Der Band umfasst dabei zwei Arten von Beiträgen: Zum einen vollwertige Aufsätze, die tendenziell stärker methodisch ausgerichtet sind und als aktuelle Beispiele für zentrale Forschungsmethoden der digitalen Mediävistik gelten können, zum anderen Kurzbeiträge, die insbesondere auf die Vorstellung von relevanten Projekten und Datensammlungen aus dem deutschsprachigen Raum abzielen.

Für einen ersten Überblick sollen diese Beiträge und die jeweils behandelten Methoden im Folgenden kurz vorgestellt werden. Dabei kann zunächst grob zwischen der Erstellung und Verfügbarmachung von Ressourcen bzw. Quellen auf der einen und deren Analyse auf der anderen Seite unterschieden werden; wie die Beiträge deutlich machen, bedingen sich beide Seiten einander, und die Übergänge von der Datenerfassung zur Interpretation erscheinen oftmals fließend.

Im Bereich der Quellenerschließung kommt digitalen Editionen zweifellos eine zentrale Bedeutung zu. Die digitale Editorik ist ein seit langem etablierter Fachbereich innerhalb der digitalen Mediävistik, der auf eine über vierzigjährige Entwicklungszeit und einen ebenso lang geführten wissenschaftlichen Diskurs zurückblicken kann.[28] Mediävistische Projekte wie der Electronic Beowulf[29] und das Canterbury Tales Project[30] mit der Veröffentlichung der digitalen Edition von Geoffrey Chaucer’s Prolog zum ‚Wife of Bath‘ im Jahre 1996 (seinerzeit noch auf CD-ROM)[31] gehören dabei zu den internationalen Pionierleistungen, die auch maßgeblichen Einfluß auf die Entwicklung des gesamten Forschungsfeldes hatten. Trotz einer allgemeinen Konsolidierung digitaler Editorik und vielfältiger Fortschritte bleiben Fragen nach der Standardisierung und Modellierung von Daten (in TEI-XML oder etwa als Graph) und den ihnen jeweils adäquaten Präsentationsformen fester Bestandteil einer anhaltenden Methodendiskussion bei der Überwindung des Buchparadigmas hin zu vernetzten, verteilten und datengetriebenen Wissensressourcen.

Mehrere Beiträge dieses Sammelbandes beschäftigen sich mit digitalen Editionen und zeigen die thematische und methodische Breite des Themas. Nadine Arndt und Lydia Wegener reflektieren am Beispiel einer in Entstehung befindlichen Edition von spätmittelalterlichen mystischen Mosaiktraktaten den Umgang mit vielfältigen und komplexen Überlieferungsituationen im digitalen Medium. Gerade im Fall der unfesten Mosaiktraktate mit ihrer prekären Textualität erweist sich die digitale Edition als jenes Medium, das den Besonderheiten der mittelalterlichen Überlieferung in besonderem Maße gerecht werden kann. Die Dynamik des Digitalen erlaubt es, die Texte als immer neu aktualisierte Diskursformationen zu fassen und mit einem von Autorlabels (etwa der Klassifizierung der Mosaiktraktate als ‚pseudo-eckhartisch‘) unverstellten Blick neu zu betrachten. Die technische Umsetzung kann dabei an Standards in der Datenmodellierung (TEI und DTA-Basisformat) und der Datenerhebung (Arbeitsumgebung ediarum) anknüpfen.

Christian Griesinger und Michael Stolz zeigen an Beispielen digitaler Editionen mittelalterlicher deutscher Texte, wie sich das Verständnis des Edierens im digitalen Zeitalter verändert. Die Autoren beschreiben Editionen als vielfältig vernetzte Gebilde, zunächst innerhalb der eigentlichen Edition, von der Verknüpfung der einzelnen Teile untereinander, bis hin zu deren Eingliederung in größere Textkorpora und ihrer Verknüpfung mit externen Ressourcen. Dabei kommt der Erschließung des Textes mit Techniken der Indizierung, der Lemmatisierung, des Part of Speech Tagging (POS-Tagging) und der Annotation gesteigerte Bedeutung zu, aber auch den Herausforderungen der Langzeitarchivierung und der Standardisierung. Aufgrund ihrer Komplexität sind Editionen nicht mehr als Einzelunternehmen zu denken, sondern verlangen nach neuen Formen interdisziplinären und kollaborativen Arbeitens.

Der Einsatz von Natural Language Processing (NLP) und die Vernetzung von Daten digitaler Editionen im Sinne von Linked Open Data (LOD) wird von Christian Steiner und Robert Klugseder erörtert und anhand der digitalen Edition der ‚Libri ordinarii‘ der Kirchenprovinz Salzburg in einem musikhistorischen Kontext besprochen. Mit Hilfe von Techniken des Semantic Web und der Korpusanalyse wird es möglich, die ‚Libri ordinarii‘ als Zeugen liturgischer Formen automatisch zu vergleichen und sowohl Gemeinsamkeiten als auch die Eigenständigkeit der einzelnen Teilkorpora herauszuarbeiten, die in der Edition miteinander verbunden sind.

Das Semantic Web als Technik zur Vernetzung strukturierter Daten wird zunehmend auch für die Lexikographie und Lexikologie wichtig. Der Frage, welche Vorteile die Anbindung von Lexika an das Semantic Web für die Mediävistik bietet und welche Hürden und Probleme dabei auftreten, geht der Beitrag von Peter Hinkelmanns nach. Er beschreibt dies anhand der Neuausrichtung der ‚Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank‘ (MHDBDB), die von einer relationalen Datenbank in ein graph-basiertes Datenmodell überführt und damit zur anschlussfähigen Linked Open Data-Ressource umgearbeitet wird. Nicht zuletzt aus Gründen der Nachhaltigkeit und der Interoperabilität werden dabei Anknüpfungspunkte an standardisierte Normdaten, lexikographische Datenformate und Ontologien gesucht (etwa an Wikidata, das Lexical Markup Framework [LMF] und die Ontologie OntoLex) und deren Praktikabilität im Kontext der Begriffsdatenbank kritisch diskutiert.

Ebenfalls dem Gebiet der Bereitstellung von Textressourcen ist der Beitrag von Roland Mittmann und Ralf Plate zuzurechnen. Sie beleuchten die korpuslinguistischen Aspekte des ‚Referenzkorpus Altdeutsch‘, einer Textdatenbank, die auf althochdeutschen und altsächsischen Texten der TITUS-Datenbank und dem Textkorpusrepositorium ANNIS basiert. Dabei erläutern sie sowohl grundlegende Vorteile der linguistischen Detailannotation als auch das Potential für Lehre und Selbststudium.

Auch der Beitrag von Tobias Hodel und Michael Nadig zeigt, dass die Vermittlung von fachspezifischem Wissen durch E-Learning-Plattformen in der Mediävistik ein Thema von wachsender Wichtigkeit für die akademische Ausbildung ist: Die von den Autoren vorgestellte Plattform ‚Ad fontes‘ bietet seit nahezu zwei Jahrzehnten die Möglichkeit, hilfswissenschaftliches Fachwissen online zu erwerben. Die Autoren kontextualisieren in ihrem Beitrag mediävistische E-Learning-Bestrebungen und besprechen die jüngste Überarbeitung des ‚Ad fontes‘-Portals. In methodischer Hinsicht wird dabei insbesondere diskutiert, welche Rolle der Einsatz von Crowdsourcing und internationale Kollaborationen für das Erstellen von Unterrichtsmaterialien spielen.

Grundlegend für Editorik und Lexikographie sowie für sämtliche weiteren Bemühungen der Mediävistik ist die Erschließung von Handschriften und Quellen. Torsten Schaßan und Timo Steyer betrachten in ihrem Beitrag die gegenwärtige Praxis und Anforderungen für die Erfassung und Veröffentlichung von Daten über mittelalterliche Handschriften am Beispiel der Handschriftendatenbank der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Besonderes Augenmerk wird von den Autoren darauf gelegt, dass die Handschriftendaten standardgerecht modelliert und über APIs auch maschinenlesbar frei zugänglich sind. Sie besprechen zusätzlich die besonderen Herausforderungen heterogener Datensammlungen.

Ihr Beitrag kann deshalb auch als Kommentar zu einigen der Ressourcen gelesen werden, die am Ende dieses Heftes kurz vorgestellt werden. Der Handschriftendigitalisierung haben sich ‚eCodices‘ und ‚Fragmentarium‘ gewidmet: ‚eCodices – Virtuelle Handschriftenbibliothek der Schweiz‘ digitalisiert mittelalterliche (und zum Teil auch neuzeitliche) Handschriften der Schweiz und publiziert sie online. Das Projekt ‚Fragmentarium‘ baut ein Netzwerk zur Erforschung von Handschriftenfragmenten rund um eine Webanwendung auf. Ein Zwitter zwischen Quellendigitalisierung und Quellenerschließung ist ‚Monasterium.net‘, das weltweit größte Portal zu mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Urkunden in ganz Europa. Als reines Nachweisinstrument bietet der ‚Index Librorum Civitatum‘ ein digitales Verzeichnis der Stadtbücher des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz stellt mit den ‚Deutschen Inschriften Online‘ digitale Editionen von Inschriften und mit dem ‚Corpus Vitrearum Medii Aevi‘ eine wissenschaftliche tief erschlossene Bilddatenbank zur Verfügung.

Die Kurzvorstellung der Aktivitäten bei den ‚Monumenta Germaniae Historica‘ (MGH) skizziert den Plan, zukünftig digitale und Hybrideditionen in das Programm mit aufzunehmen, und zeigt damit, dass digitale Editionsformen als maßgebliche Referenzwerke zunehmend Raum einnehmen. Eine digitale Edition erstellt auch das von Mario Klarer, Aaron Tratter und Hubert Alisande vorgestellte Projekt der Universität Innsbruck, in dem das ‚Ambraser Heldenbuch‘ transkribiert und digital zur Verfügung gestellt wird. Welches Potential in der Kombination von Quellendigitalisierung und digitaler Texterschließung liegt, zeigt zudem der Kurzbeitrag über das Projekt ‚READ‘, das sich der computerunterstützten Handschriftenerkennung widmet, indem es sich auf Handschriftendigitalisate und eine Mindestmenge bereits vorliegender Transkriptionen stützt. Bärbel Kröger und Christian Popp schließlich stellen die ‚Germania Sacra‘ vor, ein Online-Portal mit digitalem Personenregister und einer ‚Datenbank der Klöster und Stifte im Alten Reich‘ sowie den digitalisierten Ausgaben der zugrundeliegenden Publikationen.

Während in den bisher beschriebenen Beiträgen vor allem die Verfügbarmachung von Ressourcen bzw. die Erschließung von Quellen im Zentrum standen oder zumindest den Ausgangspunkt bildeten, legen die übrigen Beiträgen den Fokus vor allem auf die Auswertung. Gleich zwei Beiträge des Bandes geben Einblick in ein Forschungsfeld, welches im Rahmen der Digital Humanities besonders durch die Analyse von sozialen Medien an Bekanntheit gewonnen hat: Die aus der Soziologie importierte Netzwerkanalyse zielt darauf ab, Verbindungen zwischen verschiedenen Entitäten, z. B. Personen, Ereignissen, Orten und Zeiten, zu erfassen und für die Auswertung in Form von Netzwerken zu visualisieren. Forschungsdaten werden mithin als Graphen mit Knoten (Entitäten) und Kanten (Relationen) modelliert. Andreas Kuczeras Beitrag zeigt anhand von Daten der ‚Regesta Imperii‘ an zwei ausgewählten Beispielen das Potenzial von Graphdatenbanken zur Durchführung solcher Netzwerkanalysen. Im ersten Beispiel wird dabei anhand der Netzwerkdarstellung der Verbindungen zwischen Graf Robert II. von Flandern und Herzog Heinrich von Niederlothringen grundlegend in den Aufbau von Graphdatenbanken eingeführt. Im zweiten Beispiel analysiert Kuczera mit Hilfe der Graphdatenbank die raum-zeitliche Verteilung der unter Kaiser Friedrich III. ausgestellten Urkunden, um die These einer Einteilung seiner Herrschaft in drei Phasen zu überprüfen, die durch eine mehr oder weniger starke Öffnung seines Hofs gekennzeichnet seien. So zeigt sich etwa, dass in der zweiten Phase, die in der Forschung unter dem Stichwort der ‚Provinzialisierung‘ geführt wird, zwar tatsächlich eine Konzentration der Ausstellungsorte der Urkunden auf Wiener Neustadt stattfindet, diese jedoch keinen Einfluss auf die räumliche Verteilung der Urkundenempfänger hat.

Ein ganz anderer Anwendungsfall von Netzwerkanalyse wird im Beitrag von Nora Ketschik und Manuel Braun beschrieben. Die Autoren wenden die soziale Netzwerkanalyse auf literarische Texte, und zwar genauer auf Akteure in mittelhochdeutschen Artusromanen, an. Ausgangspunkt ist dabei die in der traditionellen Forschung immer wieder behauptete Nähe dieser Romane zur einfachen Märchenform, die anhand einer empirisch gestützten Beschreibung der Figurenkonstellationen untersucht werden soll. Dabei zeigt sich, welches Potential quantitative Analysen wie die Auszählungen von Figurenhäufigkeiten bis hin zu komplexen Netzwerkmaßen für die Präzisierung von qualitativen literaturwissenschaftlichen Annahmen haben können.

Ein Distant Reading mittelhochdeutscher Literatur anderer Art bietet der Beitrag von Friedrich Michael Dimpel, Katharina Zeppezauer-Wachauer und Daniel Schlager: Sie greifen auf stilometrische Verfahren zurück, die bereits seit den 1960er Jahren in den digitalen Geisteswissenschaften zur Autorschaftsattribution zum Einsatz kommen, um einen in der traditionellen Altgermanistik einschlägigen Fall umstrittener Autorschaft zu überprüfen – nämlich die Frage, ob Konrad von Würzburg der Autor des Märe ‚Die Halbe Birne‘ ist. Dazu müssen zunächst gängige stilometrische Verfahren umfangreich weiterentwickelt werden, um den für eine quantitative Auswertung relativ kurzen Text überhaupt erst mit statistischen Verfahren analysieren zu können. Zum einen werden hierzu die Ressourcen der ‚Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank‘ herangezogen, zum anderen umfangreiche Klassifikations-Tests zur Optimierung des Verfahrens vorgenommen. Die Studie liefert daher neben ihrer geisteswissenschaftlichen These einen gewichtigen Beitrag zur Methodenentwicklung.

Distant Reading im weiteren Sinn ist auch Thema in der Studie von Peter Bell und Leonardo Impett, wobei es in ihrem Beitrag allerdings nicht um das Auffinden von Strukturen in größeren Textkorpora, sondern um visuelle Muster in großen Bildbeständen geht. Am Beispiel von Figurenposen in Verkündigungs-Szenen und der Taufe Christi beschreiben die Autoren die Möglichkeiten und das Potential von ‚Computer Vision‘ für die kunsthistorische Forschung. Die Technik ermöglicht es, die Posen automatisch zu klassifizieren und damit die unterschiedlichen Ausgestaltungen der Szenen anhand der Figuren und ihrer Posen zu sortieren. Durch eine solche Sortierung kann beispielsweise gezeigt werden, dass Verkündigungs-Szenen eine weit höhere Variabilität aufweisen als Darstellungen der Taufe Christi.

Eine weitere, in den digitalen Geisteswissenschaften durchaus gängige Technik, mit der eine große Menge an Informationen überblickt und in Beziehung gebracht werden können, stellen Geographische Informationssysteme (GIS) dar. Wie der Beitrag von Pierre Fütterer zeigt, bieten diese die Möglichkeit, historisch-räumliche Zusammenhänge zu modellieren und auf thematischen Karten flexibel und dynamisch sowie auch unter Berücksichtigung zeitlicher Dimensionen darzustellen. Fütterer demonstriert dies anhand der Rolle von Verkehrswegen und Siedlungsräumen bei der Konsolidierung ottonischer Herrschaft. Unter Verwendung historisch-geografischer und archäologischer Quellen, die über die großen Ressourcen MGH und ‚Regesta Imperii‘ teilweise auch online zugänglich sind, werden Herrschaftsmittelpunkte ermittelt und die Siedlungsdichte im ostsächsischen und thüringischen Raum des 10. und frühen 11. Jahrhundert bestimmt. Fütterer weist dabei aber auch auf die Notwendigkeit einer kritischen Bewertung der Quellengrundlage hin, die bei der Anwendung digitaler Methoden unbedingt zu berücksichtigen sei, genauso wie die kritische Überprüfung der hier eingesetzten Methoden selbst. Denn diese seien kein Ersatz für den klassischen Erkenntnisprozess, sondern nur ein weiteres Hilfsmittel, das diesen unterstützen solle.

Mit dieser breiten Zusammenschau ganz unterschiedlicher digitaler Methoden und Techniken hoffen die Herausgeber dieses Bandes, die Vielfalt wie die besonderen Potentiale der digitalen Mediävistik sichtbar und nachvollziehbar gemacht zu haben. Dabei zeigt sich, dass in Musikgeschichte, Kunstgeschichte, Literatur- und Sprachwissenschaft wie in der Geschichtswissenschaft teils immer wieder auf die gleichen Methoden zurückgegriffen wird und die hier jeweils vorgestellten Werkzeuge und Verfahren sehr wohl auch über die Grenzen der einzelnen mediävistischen Teilfächer hinweg Anwendung finden konnten. Damit ist eine Besonderheit digitaler Methoden beschrieben, die gerade auch für ein so interdisziplinäres Themenfeld wie die Mediävistik von größtem Nutzen ist: Sie sind prinzipiell disziplinenübergreifend und können damit umso mehr dazu beitragen, den Austausch zwischen den einzelnen hier versammelten Disziplinen voranzutreiben. Wie gesehen, konnten die Techniken des Semantic Web sowohl in den Hilfswissenschaften Verwendung finden als auch in der Musikgeschichte oder der historischen Lexikographie. Auf die Netzwerkanalyse wiederum haben sowohl die Geschichtswissenschaft wie die literaturhistorische Forschung zurückgegriffen. Und die digitale Edition für die Bereitstellung und spätere Auswertung mittelalterlicher Texte findet selbstredend bei allen textbasiert arbeitenden mediävistischen Fächern breites Interesse. Diese und andere Methoden gilt es in Zukunft weiterzuentwickeln und auszubauen, um schließlich auch die Vielzahl von Digitalisaten, digitalen Editionen und Informationssammlungen auswerten zu können, wie sie hier gerade auch in den Kurzbeiträgen vorgestellt wurden. Denn erst aus dem Zusammenspiel von digital verfügbaren Quellen bzw. Daten und der Bandbreite an Möglichkeiten ihrer Visualisierung, Analyse und Vernetzung ergeben sich jene herausragenden Potenziale, wie sie für die Digital Humanities gern veranschlagt werden und von denen die mediävistische Forschung in besonderer Weise profitieren kann. Dabei, und das ist den Herausgebern dieses Bandes wichtig abschließend noch einmal zu betonen, geht es nicht darum, bestehende Methoden zu ersetzen, sondern diese um weitere Möglichkeiten und Ansätze zu ergänzen und zu erweitern. Wir hoffen, dass der vorliegende Band hierzu einen Beitrag leisten kann.

Online erschienen: 2019-08-09
Erschienen im Druck: 2019-07-11

© 2019 Roman Bleier et al., publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 19.3.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/mial-2019-0001/html
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