Zusammenfassung
Mittels einer Expertenbefragung wurden Informationen zum Vorfeld von Wiederaufnahmeanträgen erhoben. Hierfür wurden erstmals beide gesetzlich vorgesehenen Antragsteller:innen von Wiederaufnahmeanträgen – 10 Strafverteidiger:innen sowie 11 Staatsanwält:innen – zu ihren Erfahrungen mit Wiederaufnahmeanträgen befragt.Es ließen sich drei unterschiedliche Problemkonstellationen identifizieren: a) mögliche Verurteilung von Unschuldigen, b) möglicher Freispruch von Schuldigen, c) mögliche fehlerhafte Rechtsfolgen (Anträge zugunsten von Verurteilten), bei denen die Täterschaft des Verurteilten nicht in Frage steht. Strafverteidiger:innen bezogen sich ausschließlich auf die Konstellation a); Staatsanwält:innen berichteten überwiegend über Erfahrungen mit Konstellation c), in dieser Befragtengruppe fanden sich aber Erfahrungen mit allen drei Konstellationen.Nach den Ergebnissen der vorliegenden Befragungen streben Staatsanwält:nnen nach Rechtskraft eines Urteils in der Regel keine weiteren Ermittlungen an, sondern werden mit Wiederaufnahmeanträgen dann aktiv, wenn ein eindeutiger Wiederaufnahmegrund (z. B. unerkannte Doppelverfolgung, fehlerhafte Gesamtstrafenbildung) bereits vorliegt. Von der Mehrzahl der Strafverteidiger:innen wurden fehlerhafte Sachverständigengutachten und eine unkritische Würdigung der Gutachten durch die Gerichte als häufige Fehlerquelle angegeben; als weitere häufige Fehlerquelle wurden falsche Zeugenaussagen genannt. Solchen Wiederaufnahmeanträgen müssen oft Ermittlungen vorausgehen, um neue Beweismittel bzw. Tatsachen zu finden oder zu schaffen.Der Zugang zu Wiederaufnahmeverfahren für Verurteilte ist nach den Ergebnissen der Befragung aktuell insbesondere durch Probleme der Finanzierung (sowohl der anwaltlichen Tätigkeit als auch von Ermittlungstätigkeiten inklusive neuer Sachverständigengutachten) und dem Umstand, dass nur wenige Strafverteidiger:innen über spezialisiertes Wissen zum Wiederaufnahmerecht verfügen, erschwert.Die Regelungen der §§ 359, 362 StPO wurden von den meisten Befragten in beiden Expertengruppen nicht prinzipiell kritisiert, sondern als zweckmäßig erachtet. Von Seiten der Strafverteidiger:innen wurde jedoch eine restriktive Handhabung und Rechtsprechung beklagt. Ferner wurden Reformen außerhalb des Wiederaufnahmerechts vorgeschlagen, die den Nachweis einer Fehlverurteilung erleichtern, wie eine audio(visuelle) Protokollierung der Hauptverhandlung.
Abstract
Information on the initiation of motions for retrial was collected by means of an expert survey. For the first time, both possible groups of applicants for retrial – 10 defense lawyers and 11 state prosecutors – were interviewed regarding their experiences with motions for retrial. Three different constellations were identified in the context of retrials a) potential convictions of innocent persons, b) potential acquittals of guilty persons, c) motions in favor of the convicted in which potential erroneous legal consequences, but not the actual perpetration, are challenged. Defense lawyers referred exclusively to constellation a); state prosecutors were predominantly involved with constellation c), although they reported experiences with all three constellations.According to the results of the present survey, state prosecutors usually do not seek further investigations after a judgment has become final and only get involved in a motion for retrial when a clear reason for retrial (e.g. double prosecution, erroneous aggregated sentences) presents itself.The majority of defense lawyers named incorrect expert opinions and an uncritical appraisal of expert opinions in court as a frequent source of error; false witness testimonies were also cited. Motions of retrial focusing on these errors often require preceding investigations in order to find new evidence.Based on the information provided by the experts, access to retrial for the convicted is currently impeded in particular by problems with financing (both of lawyers and renewed investigations, such as new expert opinions) and the fact that only few criminal defense lawyers possess the necessary specialized knowledge regarding retrial law.Most experts across both groups did not criticize the regulations put forth in §§ 359, 362 StPO. However, defense lawyers criticized the restrictive jurisdiction. Furthermore, reforms beyond retrial law were proposed to facilitate the substantiation of wrongful convictions, such as audio(visual) recordings of court hearings.
1 Einleitung
Wiederaufnahmeverfahren und etwaigen zugrunde liegenden Fehlern ist in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit zugekommen, nachdem es im Anschluss an die einflussreichen Arbeiten von Peters (1970, 1972, 1974) jahrzehntelang kaum empirische Forschung hierzu gegeben hatte, während international inzwischen teilweise ausführliche Analysen zu Fehlurteilen vorliegen (u. a. Gross & Shaffer, 2012; West & Meterko, 2015).
Die Untersuchung von Peters (1970, 1972, 1974) umfasste bundesweit 1.115 zulässige und begründete Wiederaufnahmeverfahren aus den Jahren 1951 bis 1964. In etwa einem Viertel der analysierten Fälle wurde ein fehlerhafter Sachverständigenbeweis, in einem Fünftel der Fälle eine unerkannte Schuldunfähigkeit und in fast einem Sechstel der Fälle falsche Zeugenaussagen als Hauptfehlerquellen für die vorliegenden Fehlurteile identifiziert. Auch in den Analysen Kiwits (1965) wurde deutlich, dass 38 % der erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahren, die zu einem Freispruch der Angeklagten führten, in einer nachgewiesenen Unzurechnungsfähigkeit (Schuldunfähigkeit) begründet waren (zusammenfassend Dunkel, 2018).
In jüngerer Zeit wertete Dunkel (2018) 48 sowohl erfolgreiche als auch nicht erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren in Hamburg aus. Die 18 von der Staatsanwaltschaft gestellten Wiederaufnahmeanträge in dieser Stichprobe waren zu 89 % erfolgreich. Unter den 16 erfolgreichen Wiederaufnahmeanträgen waren 13 Anträge zugunsten des Verurteilten gestellt worden und führten zu einem Freispruch, einer milderen Strafe oder einer Einstellung. Drei Anträge zuungunsten eines Betroffenen führten im Wiederaufnahmeverfahren zu einer anderen bzw. höheren Strafe. Für Wiederaufnahmeanträge, die durch Verurteilte bzw. ihre Rechtsanwält:innen gestellt wurden, ergab sich lediglich eine Erfolgsquote von 20 %. Ein Großteil der durch die Verurteilten gestellten Wiederaufnahmeanträge scheiterte an dem Formerfordernis gemäß § 366 Abs. 2 StPO. Insgesamt wird deutlich, dass in Dunkels (2018) Stichprobe die Staatsanwaltschaft für die Mehrzahl der erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahren zugunsten von Verurteilten verantwortlich war (13 erfolgreiche Fälle versus 6 erfolgreiche Fälle). In Bezug auf erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren in dieser Stichprobe wurde in 48 % der Fälle eine unerkannte Schuldunfähigkeit, in 32 % der Fälle ein fehlender oder falsch erhobener Sachbeweis und in 8 % der Fälle eine Doppelverurteilung als Fehlerquelle identifiziert. Fehlerhafte Zeugenaussagen spielten in keinem dieser Fälle eine Rolle. Darüber hinaus bezogen sich mehr als die Hälfte der gestellten Wiederaufnahmeanträge auf Strafbefehlsverfahren (Dunkel, 2018).
Leuschner et al. (2019) analysierten 29 ausschließlich erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren nach Inhaftierung mit insgesamt 31 Betroffenen aus dem Zeitraum von 1990 bis 2016. In 17 Fällen waren falsche Zeugenaussagen ausschlaggebend für das Wiederaufnahmeverfahren, in neun Fällen die unerkannte Schuldunfähigkeit der Betroffenen, im Hinblick auf fünf Betroffene ein falsches Geständnis und für 12 Betroffene ein fehlerhafter Sachverständigenbeweis (mehrere Fehlerquellen pro Fall/Betroffenen möglich; Leuschner et al., 2019).
Untersuchungen von Böhme (2018) sowie Arnemann (2019) beleuchten die Thematik mittels qualitativer Experteninterviews. Arnemann (2019) interviewte 13 Strafverteidiger mit praktischen Erfahrungen in Wiederaufnahmeverfahren. Die in den Interviews benannten Gründe für Fehlurteile umfassten eine unzureichende Arbeit der Justiz, Unzulänglichkeiten im Ermittlungsverfahren und falsche anwaltliche Beratung, u. a. durch mangelnde Kenntnisse in Komplementärwissenschaften, welche sich jedoch auch auf die anderen professionellen Verfahrensbeteiligten erstreckten. Die befragten Strafverteidiger kritisierten unter anderem, dass in der Praxis der Wiederaufnahme die im Zulässigkeitsverfahren gesetzten Hürden zu hoch seien und teilweise bereits eine Begründetheitsprüfung beinhalten würden. Außerdem seien die Prüfungsdauer eines Wiederaufnahmeantrags und die unterschiedlichen Auffassungen im Hinblick auf die Novität von Tatsachen bzw. Beweismitteln problematisch. Darüber hinaus wurde eine wiederaufnahmefeindliche Tendenz in der Praxis kritisiert. Als konkrete Reformvorschläge wurden unter anderem eine umfassende Dokumentation von Zeugenaussagen im Rahmen von polizeilichen Vernehmungen sowie Hauptverhandlungen, die Anerkennung des Zweifelgrundsatzes im Aditionsverfahren, die Normierung einer Hinweispflicht hinsichtlich leicht zu beseitigender Mängel des Wiederaufnahmeantrags, eine Herabsetzung der Zulässigkeitsschwelle im Rahmen des § 359 Nr. 5 StPO durch Veränderung des Überzeugungsmaßstabs sowie die Einführung einer Legaldefinition des Begriffs Novität und eine gesetzliche Normierung des zulässigen Umfangs einer Geeignetheitsprüfung benannt (Arnemann, 2019).
Böhme (2018) führte leitfadengestützte Interviews mit 10 Strafrichtern an Rechtsmittelgerichten durch. Die Interviews fokussierten auf die zentralen Fehlerquellen sowie Möglichkeiten ihrer Behebung sowie auf Reformansätze im Hinblick auf das Wiederaufnahmeverfahren. Auf der Sachverhaltsebene wurden Zeitdruck, die Schwächen des Personalbeweises – insbesondere im Hinblick auf falsche Zeugenaussagen, falsche Geständnisse oder keine bzw. problematische Einlassungen des Angeklagten – und Ermittlungsfehler als zentrale Fehlerquellen benannt. Auf Rechtsebene wurde die richterliche Überzeugungsbildung als besonders fehleranfällig kritisiert und die Häufigkeit von Strafzumessungsfehlern als problematisch angeführt. Einige der befragten Strafrichter sahen darüber hinaus eine hohe Fehlurteilsgefahr im Rahmen von Absprachen und Strafbefehlsverfahren. Um diese Fehlerquellen zu vermeiden, sollten laut Böhme (2018) die Rahmenbedingungen, insbesondere in Bezug auf das Ermittlungsverfahren und die zur Verfügung stehenden Zeitkontingente verbessert werden. Darüber hinaus sei die Etablierung einer Fehlerkultur und eines ausgeprägteren Fehlerbewusstseins von Nöten.
Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, mittels einer Expertenbefragung Informationen zum Vorfeld von Wiederaufnahmeanträgen zu erheben und damit auch Fälle zu berücksichtigen, bei denen ein Wiederaufnahmeantrag erwogen, aber schließlich nicht gestellt wird. Relevante Fragen sind dabei der Zugang zum Rechtsinstitut der Wiederaufnahme und mögliche Hürden, Möglichkeiten und Grenzen eine etwaige falsche Verurteilung zu überprüfen und ggf. nachzuweisen, Kriterien für das Stellen oder Nichtstellen eines Wiederaufnahmeantrags und Vorschläge zur Verbesserung der Situation, falls eine solche als notwendig erachtet wird. In der vorliegenden Expertenbefragung werden erstmals beide gesetzlich vorgesehenen möglichen Antragsteller:innen von Wiederaufnahmeanträgen – Strafverteidiger:innen sowie Staatsanwält:innen – befragt. Eine beidseitige Beleuchtung des Wiederaufnahmeverfahrens und dessen Initiierung wurde für wichtig erachtet, um ein möglichst vollständiges Bild der Problematiken und des Zugangs zu erhalten.
2 Methoden
Um ausreichende Erfahrungen der interviewten Experten[1] zu gewährleisten, galt für sämtliche Interviewteilnehmer das Einschlusskriterium von mindestens einem selbst gestellten Wiederaufnahmeantrag. Da sich die Expertenbefragung insbesondere auf das Vorfeld von Wiederaufnahmeanträgen fokussierte, war dabei nicht ausschlaggebend, ob der oder die gestellten Wiederaufnahmeanträge letztlich erfolgreich waren oder nicht.
2.1 Stichprobenbeschreibung
2.1.1 Strafverteidiger
Mittels einer Internetrecherche zu Wiederaufnahmeverfahren wurden zunächst Strafverteidiger ausfindig gemacht, von denen anhand von Presseberichten bekannt war, dass sie bereits mindestens ein Wiederaufnahmeverfahren betrieben hatten. Darüber hinaus waren den Autorinnen über eine intensive Vorbeschäftigung mit diesem Thema einige mit Wiederaufnahmeverfahren befasste Strafverteidiger bekannt. Auf diese Weise wurden zunächst insgesamt 12 Strafverteidiger als mögliche Interviewpartner kontaktiert. Sieben dieser Strafverteidiger erklärten sich zur Teilnahme an der Studie bereit. Im Rahmen der Interviews und kollegialer Kontakte wurden darüber hinaus Hinweise auf drei weitere Strafverteidiger, die ebenfalls über Erfahrungen mit Wiederaufnahmeverfahren verfügten, bekannt. Diese Strafverteidiger wurden ebenso kontaktiert und alle drei erklärten sich zu einer Teilnahme an der hiesigen Studie bereit. Insgesamt waren somit von den 15 kontaktierten Strafverteidigern 10 zu einem Interview bereit – davon neun Männer und eine Frau.
2.1.2 Staatsanwälte
Insgesamt wurden 49 der 115 Staatsanwaltschaften in Deutschland aus neun Bundesländern mit der Bitte um Unterstützung des Forschungsvorhabens kontaktiert. Dabei wurden alle Staatsanwaltschaften aus Berlin, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt sowie Schleswig-Holstein angeschrieben. Außerdem wurde die Mehrzahl der Staatsanwaltschaften in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen kontaktiert. Die Kontaktaufnahme erfolgte schrittweise, da eine Stichprobengröße von 10 Staatsanwälten angestrebt wurde. Nachdem die angestrebte Stichprobengröße erreicht war, wurde die weitere Kontaktaufnahme eingestellt. Elf Staatsanwaltschaften übersandten Kontaktdaten von jeweils einem identifizierten Staatsanwalt, der bereits mindestens einen Wiederaufnahmeantrag gestellt und sich zur Teilnahme an einem Interview bereit erklärt hatte. Siebzehn Staatsanwaltschaften meldeten zurück, dass sie das Forschungsvorhaben zwar unterstützten, jedoch keine Ansprechpartner in ihrer Behörde hätten identifizieren können bzw. sich niemand zur Teilnahme bereit erklärt habe, der als potentieller Interviewpartner in Frage komme. Drei Staatsanwaltschaften sagten aus Zeitgründen ihre Teilnahme am hiesigen Forschungsvorhaben ab und zwei weitere Staatsanwaltschaften teilten mit, dass sie zunächst noch die Erlaubnis des Justizministeriums ihres Landes abwarteten. Sechzehn Staatsanwaltschaften reagierten nicht auf die Anfrage. Zusammenfassend nahmen 11 Staatsanwälte von 11 Staatsanwaltschaften aus sechs Bundesländern – davon 5 Frauen und 6 Männer – an der Interviewstudie teil.
2.2 Durchführung der Interviews
Die Interviews wurden durch zwei der Autorinnen geführt. Vorab wurden zwei semi-strukturierte Interviewleitfäden entwickelt (s. Anhang), um zu gewährleisten, dass alle für wichtig erachteten Themenbereiche in den Interviews abgedeckt werden.
Im Rahmen der Interviews mit Strafverteidigern beinhalteten diese Themenbereiche die individuellen Erfahrungen mit und den Erfolg von Wiederaufnahmeanträgen und -verfahren, die Gestaltung des Kontakts zu Betroffenen sowie die Kriterien für das Stellen eines Wiederaufnahmeantrags, die Vorbereitung und Formulierung eines Antrags auf Wiederaufnahme – insbesondere im Hinblick auf die angeführten Wiederaufnahmegründe und die Finanzierung von Wiederaufnahmeverfahren. Außerdem wurden die Strafverteidiger nach Ratschlägen für Betroffene sowie Reformvorschlägen in Bezug auf das Wiederaufnahmeverfahren gefragt.
Für die Interviews mit Staatsanwälten beinhalteten die festgelegten Themenbereiche ebenfalls die individuellen Erfahrungen mit und den Erfolg der gestellten Wiederaufnahmeanträge, den Kontakt zu den betreffenden Verfahren, den Entscheidungsprozess im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags sowie die angeführten Wiederaufnahmegründe und mögliche Reformvorschläge im Hinblick auf das Wiederaufnahmeverfahren. Darüber hinaus wurden die Staatsanwälte nach neuen Ermittlungstätigkeiten im Vorfeld von Wiederaufnahmeanträgen, dem Arbeitsumfang von Wiederaufnahmeverfahren sowie der Einstellung der Justiz zu Wiederaufnahmeverfahren gefragt. Die Themenbereiche wurden sowohl für Wiederaufnahmeanträge zugunsten Verurteilter als auch für Wiederaufnahmeanträge zuungunsten des Verurteilten oder Freigesprochenen erfragt.
Je nach Interviewsituation ermöglichte der entwickelte Interviewleitaden in gewissen Grenzen individuelle Anpassungen der Gesprächsführung. Am Ende der Interviews wurde allen Teilnehmern darüber hinaus die Möglichkeit gegeben, Informationen hinzuzufügen, die sie persönlich für relevant oder wichtig erachteten.
Die durchgeführten Interviews mit Strafverteidigern hatten eine durchschnittliche Länge von 75,05 Minuten, wobei die einzelne Länge der Interviews zwischen 45 Minuten und 140 Minuten variierte. Sieben der Interviews fanden in den Räumlichkeiten der jeweiligen Kanzlei statt, zwei Interviews erfolgten online mittels einer Videokonferenz und ein Interview wurde telefonisch geführt.
Die Interviews mit den Vertretern der Staatsanwaltschaft waren mit einer Länge von durchschnittlich 25,45 Minuten vergleichsweise kürzer und variierten zwischen 18 Minuten und 35 Minuten. Zehn der Interviews wurden telefonisch durchgeführt, während ein Interview in der Behörde des betreffenden Staatsanwalts geführt wurde. Die unterschiedlichen Interview-Modalitäten sind auf die Verschärfung der Pandemiesituation zurückzuführen, da die Interviews mit Staatsanwälten zeitlich versetzt zu den Interviews mit Strafverteidigern erfolgten.
2.3 Verarbeitung und Analyse der gewonnen Daten
Die geführten Interviews wurden mittels eines Audioaufnahmegeräts aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Die im Rahmen der Interviews gewonnenen Daten wurden per Stichprobe separat mittels einer inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse (Kuckartz, 2018) ausgewertet. Die Kategorien und jeweiligen Subkategorien wurden zunächst in Anlehnung an die angewendeten Interviewleitfäden formuliert und im weiteren Verlauf auf Basis der Interviews weiterentwickelt. Für die Codierung der Interviews wurde das Programm MAXQDA Plus 2020 20.0.2 (VERBI Software, 2019) verwendet. Die Entwicklung des Codesystems wurde pro Stichprobe jeweils gemeinsam durch zwei Autorinnen vorgenommen. Die Codierung der Interviews erfolgte jeweils unabhängig durch die beiden Autorinnen, die bereits an der Entwicklung des jeweiligen Codesystems beteiligt waren. Unterschiedliche Codierungen konnten allesamt im Rahmen von anschließenden Gesprächen und Erläuterungen aufgelöst werden. In den folgenden Abschnitten werden die Ergebnisse dieser qualitativen Datenauswertung vorgestellt und diskutiert.
3 Ergebnisse
3.1 Interviews mit Strafverteidigern
3.1.1 Eigene Erfahrungen mit Wiederaufnahmeanträgen
Alle Experten wurden nach ihren Erfahrungen mit Wiederaufnahmeverfahren sowie nach einer Schätzung der Anzahl ihrer gestellten und erfolgreichen Wiederaufnahmeanträge befragt (s. Tabelle 1). Aus der Auflistung wird deutlich, dass sowohl die Anzahl gestellter Anträge als auch die Erfolgsquoten auseinandergehen. Die Mehrheit der Experten gab jedoch an, dass Wiederaufnahmeverfahren lediglich einen geringen Teil ihrer beruflichen Tätigkeit ausmachten (E1, E2, E5, E6, E7, E9). Während einige Experten in diesem Zuge bereits angaben, gute bzw. positive Erfahrungen mit Wiederaufnahmeverfahren gemacht zu haben (E9, E3), sprach E1 von einer »Kette von Misserfolgen«.
Die Strafverteidiger wurden im Rahmen der Interviews nicht explizit nach den Fallkonstellationen, in denen sie Wiederaufnahmeanträge gestellt haben, gefragt. Dennoch wurde von einigen Fallbeispielen berichtet, die an dieser Stelle nicht umfassend ausgewertet werden können. Es soll jedoch zumindest erwähnt werden, dass es sich bei den dort geschilderten Fällen überwiegend um Sexualdelikte (v. a. Vergewaltigung, Missbrauch von Kindern) sowie Tötungsdelikte (v. a. Mord) gehandelt hat. Außerdem wurden Diebstahl, Nötigung, Brandstiftung und Fahren ohne Fahrerlaubnis angeführt.
Anzahl erhaltener Anfragen sowie Anzahl gestellter Wiederaufnahmeanträge und deren Erfolgsquote
Anzahl Anfragen | Anzahl gestellte Wiederaufnahmeanträge | Erfolgreiche Wiederaufnahmeanträge | ||
absolut | in % | |||
E1 | mehrere/Woche | 5–10 | 1 | ca. 10–20 % |
E2 | 1/Woche | 3 | 1 (1 noch offen) | ca. 50 % |
E3 | 2–3/Woche | 10 oder 12 | 4-5 | ca. 33–50 % |
E4 | ein paar/Woche | Ca. 10 | weitaus überwiegende Mehrheit | deutlich > 50 % |
E5 | ca. 1/Woche (seit 2, 3 Jahren weniger) | unzählige, ca. 40 oder 50 | 1 | ca. 2–2,5 % |
E6 | 5–10/Jahr (mind. 100) | max. 3 (10–20 geprüft) | 1 | ca. 33 % |
E7 | insg. ca. 50 | 3 (weitere 12 geprüft) | 3 | 100 % |
E8 | insg. ca. 600 | 2/Jahr, insg. etwa 50-60 | ca. 10–15 % | ca. 10–15 % |
E9 | 1/Monat | 8 | 4 (3 noch offen) | ca. 80 % |
E10 | viele | einige | eher wenige | keine Angabe |
3.1.2 Kontaktaufnahme
Die Frage, wie die Experten mit Fällen in Kontakt kommen, in denen sie einen Wiederaufnahmeantrag stellen, ergab, dass sich überwiegend die Verurteilten selbst in schriftlicher Form, z. T. bereits aus der Haft, meldeten (E1, E2, E3, E5, E6, E7, E8, E9, E10). Den Experten zufolge gehe es den Betroffenen dabei jedoch häufig nicht (nur) darum, aus der Haft entlassen zu werden, sondern vielmehr um Rehabilitation (E7) bzw. Gerechtigkeit (E2, E9, E10). Auf der anderen Seite wurde auch von Fällen berichtet, in denen Anfragende lediglich einen neuen Versuch unternehmen wollten, freizukommen oder ein besseres Ergebnis zu erzielen, obwohl sie schuldig seien (E5).
Kriterien Fallübernahme
Alle Experten in dieser Befragung berichteten, (sehr) viele Anfragen hinsichtlich potentieller Wiederaufnahmefälle zu erhalten, wovon jedoch nur die wenigsten angenommen würden (s. Tabelle 1). Ein Experte gab beispielsweise an, in 35 Jahren Tätigkeit etwa 600 Anfragen erhalten zu haben, von denen letztlich mindestens 90 % abgelehnt worden seien. Dabei nehme die Auswahl geeigneter Fälle bereits einige Zeit in Anspruch. So wurde bspw. berichtet, man müsse zu diesem Zwecke viel lesen, um sich einen Eindruck zu verschaffen (E4). Ein Experte schilderte, in der Regel ein einstündiges Vorgespräch mit allen potentiellen Mandant:innen zu führen (E6).
Auf die Frage, anhand welcher Kriterien entschieden wird, ob ein Fall übernommen wird, wurde häufig auf die Erfolgsaussichten Bezug genommen (E1, E2, E3, E4, E6, E8, E9, E10). Einigen Experten zufolge sehe man in vielen Fällen bereits relativ früh, dass keine Aussicht auf Erfolg bestehe (E2, E9). Dabei spiele eine entscheidende Rolle, dass es oft keinen Wiederaufnahmegrund (E2), insbesondere keine Nova gebe (E7, E4). Ein weiteres, von fast allen Experten genanntes Kriterium, ist die Bezahlungder anwaltlichen Tätigkeit im Wiederaufnahmeverfahren (E1, E2, E5, E6, E8, E9, E10). Dabei ist es für manche Experten eine Voraussetzung, angemessen bezahlt zu werden (E8, E9, E2), während andere angaben, man müsse sich von Anfang an überlegen, ob man einen Fall pro bono übernehmen wolle (E1). Dabei spiele dann insbesondere eine Rolle, ob ein Fall alsinteressant erachtet werde (E1). Auch von anderen Experten wurde berichtet, es sei relevant, ob ein Fall für sie interessant sei (E2, E3, E6, E8). Entscheidend sei darüber hinaus auch der persönliche Eindruck, der beim Vortrag des Falles entstehe, wobei es insbesondere auf eine sachliche und fundierte Schilderung ankomme (E3, E5, E6, E7, E8). Aussortiert würden hingegen Personen mit querulatorischen Tendenzen oder solche, bei denen der Eindruck entstehe, die Betroffenen bräuchten eher einen Arzt als einen Rechtsanwalt (E6, E8). Aspekte wie Sympathie oder persönliche Passung wurden vereinzelt als mitentscheidend für oder gegen eine Fallübernahme angeführt (E3, E7, E9).
Die Frage, inwieweit die Unschuldsannahme für die Übernahme eines potentiellen Wiederaufnahmefalls von Relevanz ist, wurde von den Experten unterschiedlich beantwortet. Einige Experten sahen es vor dem Hintergrund der mit Wiederaufnahmeverfahren verbundenen Arbeit und Frustration als Voraussetzung, dass sie eine:n Verurteilte:n für unschuldig hielten (E3, E4, E5, E7, E10); andernfalls könne die Mühe keinen Erfolg haben (E3, E5). Ein anderer Experte gab hingegen an, die Frage der Unschuld spiele für ihn lediglich in dem Sinne eine Rolle, als dass er sich frage, welchen Nutzen ein Wiederaufnahmeantrag haben könne – ob ein:e Verurteilte:r unschuldig sei, spiele darüberhinausgehend aufgrund des Anspruchs auf ein faires Verfahren keine Rolle (E8). Auch E9 gab an, die Entscheidung nicht davon abhängig zu machen, ob er jemanden für unschuldig halte. Ein anderer Experte schilderte, sich die Frage nach der Unschuld generell nicht zu stellen (E6).
3.1.3 Finanzierung
Die Angaben der Experten machen deutlich, dass die Finanzierung von Wiederaufnahmeverfahren ein Problem darstellt. So bezeichnete E2 die Tätigkeit im Rahmen von Wiederaufnahmeverfahren bspw. als »brotlose Kunst«, da die Betroffenen häufig nichts bezahlen könnten. Auch andere Experten sprachen von einem Missverhältnis von Arbeitsaufwand und Einspielergebnis und führten aus, man wisse vorab, dass man mit diesen Fällen nicht reich werde und sie nicht wegen des Geldes bearbeite (E3, E4).
In Bezug auf eine mögliche Beiordnung als Pflichtverteidiger, auch bereits für die Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags, wurde von den Experten übereinstimmend angeführt, diese Möglichkeit entweder generell nicht oder nur sehr selten zu beantragen. Aus den angeführten Erläuterungen ergeben sich dabei im Wesentlichen zwei Aspekte: Zum einen wurde die Befürchtung geäußert, es sei ohne Aussicht auf Erfolg, im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags einen Beiordnungsantrag zu stellen, da dieser leicht abgetan werden könne und eine geringe Bereitschaft bzw. restriktive Handhabung zu erwarten sei (E1, E2, E3, E9). Eine Pflichtverteidigerbeiordnung sei allenfalls erst dann zu erzielen, wenn der Wiederaufnahmeantrag bereits fertig formuliert sei (E1, E2, E4). E4 und E9 gaben zudem zu bedenken, dass das Wiederaufnahmegericht durch das Stellen eines solchen Antrages bereits eine Art Prognose über die Chancen des Wiederaufnahmeanliegens treffen müsste und dann die Einschätzung womöglich nicht noch einmal revidieren würde, wenn der eigentliche Wiederaufnahmeantrag gestellt werde. Es sei daher ratsam, erst an das Gericht heranzutreten, wenn alle Beweise beisammen seien.
Zum anderen wurde deutlich, dass die Höhe der nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz vorgesehenen Gebühren als nicht adäquat für die Tätigkeit im Rahmen von Wiederaufnahmeverfahren erachtet wird (E5, E6, E7, E8, E9, E10). Da Wiederaufnahmeverfahren in der Regel sehr umfangreich und arbeitsaufwendig seien, sei es den Experten zufolge nicht möglich auf Pflichtverteidigerbasis (kostendeckend) zu arbeiten oder ein Wiederaufnahmeverfahren zum Erfolg zu führen. E7 und E10 führten beispielhaft aus, wenn man die von der Staatskasse vorgesehenen Gebühren zugrunde lege, läge der Honorarsatz in einem anspruchsvollen Wiederaufnahmeverfahren bei unter einem Euro pro Stunde. Zusammenfassend waren die Experten überwiegend der Meinung, die Pflichtverteidigung lohne sich in diesem Kontext nicht. Vereinzelt wurde diese sogar als »absurd« (E8) oder »Schande für das Rechtssystem« (E6) bezeichnet.
Einige Experten gaben an, Wiederaufnahmefälle in der Regel pro bono zu bearbeiten (E3, E5, E7) oder zumindest in vereinzelten Fällen unentgeltlich gearbeitet zu haben (E1, E8). Auch E2 schilderte, Fälle in der Vergangenheit pro bono gemacht zu haben, das zukünftig aber nicht mehr machen zu wollen, da die Arbeit dafür zu zeitaufwendig sei. Andere Experten berichteten von einer Vergütungsvereinbarung auf Basis eines Erfolgshonorars, bspw. über Schadensersatzansprüche oder Entschädigungszahlungen (E1, E4, E6, E7). In seltenen Fällen scheint auch eine Vergütung über eine Verwertung des Falles in der Presse zu erfolgen (E1), was von E6 jedoch kritisch gesehen wurde. Ein Problem sei auch die Finanzierung von Sachverständigengutachten (E2, E8). E2 gab an, dass er dies durch Spenden habe finanzieren können. E8 berichtete hingegen, es setze viel »Vitamin B« voraus, damit ein Sachverständiger sich einen Fall auch mal für eine geringe Pauschale anschaue.
Während die Experten, die angaben, Wiederaufnahmefälle manchmal oder in der Regel pro bono zu bearbeiten, eher berichteten, lediglich manchmal – je nach Leistungsfähigkeit der Mandant:innen – in Form von kleinen Honoraren bezahlt zu werden (E1, E3, E5, E7), gaben andere Experten an, generell eine Honorarvereinbarung zu treffen (E6, E9, E10), da es kaum möglich sei, diese Fälle ohne vernünftige Bezahlung zu bearbeiten (E9, E10). Das Honorar scheint dabei überwiegend von Familienangehörigen oder sonstigen Personen aus dem Umfeld der Betroffenen bezahlt zu werden (E5, E6, E8, E9). E4 führte aus, es sei schön, wenn Mandant:innen etwas zahlen könnten, v. a. wenn Sachverständigengutachten finanziert werden müssten. In seltenen Fällen könne man mit Wiederaufnahmefällen jedoch auch »fünfstellige Summen« verdienen (E3).
3.1.4 Vorbereitung und Vorgehen
Die Experten wurden auch danach gefragt, wie sie bei der Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrages in der Regel vorgehen. Diesbezüglich wurde berichtet, die ersten Schritte bestünden in der Urteils- und Aktenlektüre (E1, E2, E3, E4, E5, E6, E9) sowie in einem Gespräch mit dem:der Mandant:in (E1, E4, E6, E9). Im Rahmen der in der Regel sehr aufwendigen Urteils- und Aktenlektüre gehe es dabei darum, argumentative Brüche bzw. Schwachstellen (E3, E8) oder neue, im Urteil unberücksichtigte, Aspekte ausfindig zu machen (E5). Im Weiteren seien dann eigene Recherchen oder Ermittlungen, wie bspw. die Befragung von Zeugen, anzustellen, um Beweise zusammenzutragen (E1, E4, E6, E7, E9). Häufig spielten auch Sachverständigengutachten eine Rolle (E1, E2, E3, E4, E8). E3 zufolge stünden Sachverständigengutachten selten auf ganz sicherem Grund – auch dann nicht, wenn scheinbar exakte Ergebnisse geliefert würden, wie bei DNA-Analysen.
Eigene Ermittlungstätigkeit
Dem Experten E6 zufolge sei die Arbeit im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags mit der eines Kriminalbeamten zu vergleichen, da es darum gehe, Beweise zusammenzusuchen; dabei verfolge man 100 Spuren, von denen 90 im Sande verliefen. Die Möglichkeiten, als Strafverteidiger eigene Ermittlungen anzustellen, seien den Experten zufolge jedoch sehr begrenzt (E2, E7, E10), da den Anwälten, anders als bspw. in den USA, die Ermittlungsrechte fehlten (E7). Zwar bestehe die Möglichkeit, Privatdetektive einzusetzen, das habe jedoch noch nie etwas erbracht (E7, E10). Auch E2 benannte diese Möglichkeit, wobei er dies nie selbst genutzt habe. Die Mehrzahl der Experten gab jedoch an, im Rahmen ihrer Befugnisse viele Gespräche mit Menschen zu führen und potentielle Zeugen zu befragen (E1, E3, E4, E5, E7, E8, E9, E10). E8 berichtete darüber hinaus von einem Fall, in dem er eine Ortsbesichtigung durchgeführt und auf diese Weise festgestellt habe, dass eine Feststellung im Urteil nicht zutreffend gewesen sei.
Wie oben bereits angeführt wurde, gaben viele Experten auch an, im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags Sachverständige zu beauftragen. Dabei würden entweder eigene Gutachtenaufträge an Sachverständige vergeben (E1, E2, E4, E5, E6, E9) oder bereits vorhandene Gutachten methodenkritisch überprüft (E8, E3). Beispielhaft wurden graphologische, rechtsmedizinische Gutachten oder DNA-Analysen angeführt. In Bezug auf psychologische oder psychiatrische Begutachtungen der Nebenkläger:in führte E4 an, dies könne durch eine fehlende Kooperationsbereitschaft erschwert werden. Falls im Ausgangsverfahren bereits ein Gutachten vorgelegen habe, müsse zudem berücksichtigt werden, dass das neue Gutachten von Sachverständigen mit anderer Fachkenntnis oder überlegenen Fachkenntnissen erstellt werde (E2). E6 berichtete zudem, einmal an eine frühere Gutachterin herangetreten zu sein, da es auch einen Wiederaufnahmegrund darstelle, wenn sich ein:e Gutachter:in vom Gutachten distanzierte, von ihr jedoch keine Unterstützung erfahren zu haben.
Eine weitere, von vielen Experten genutzte Möglichkeit sei es, neben der Anforderung der Haupt- und Beiakten eines Ausgangsverfahrens, auch regelmäßig den Zugriff auf asservierte Beweismittel zu beantragen (E1, E2, E3, E8, E9, E10). E8 benannte diese Anträge jedoch als »zwecklos«, da viele Asservate nach Rechtskraft nicht mehr vorhanden seien. Auch weitere Experten berichteten, die Erfahrung gemacht oder von anderen Kolleg:innen gehört zu haben, dass Asservate bereits vernichtet gewesen seien (E2, E6, E9, E10). Wenn die Asservate noch vorhanden seien, sei es hingegen in der Regel kein Problem, dass die Beweise zugänglich gemacht würden (E1, E2, E9, E10). E9 berichtete, er habe alle Beweismittel immer erhalten; es habe bspw. auch funktioniert, dass eine DNA-Probe direkt an einen Sachverständigen übersandt worden sei. E3 gab hingegen zu bedenken, dass der Angeklagte hier – anders als in den USA – keinen Anspruch darauf habe, dass bestimmte Beweismittel, die bei der Kriminalpolizei oder der Staatsanwaltschaft verwahrt würden, neu untersucht würden. Beispielhaft führte er an, sein Antrag, ein Schamhaar zur DNA-Untersuchung freizugeben und das Ergebnis mit der DNA-Datenbank des Bundeskriminalamtes zu vergleichen, sei von der Staatsanwaltschaft mit der Begründung abgelehnt worden, man habe den Täter ja bereits.
Zusammenarbeit zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft
Im Kontext von möglicher Unterstützung im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags äußerte E3: »alle Leute finden einen Justizirrtum schrecklich. Aber bei dessen Aufklärung wirken die Wenigsten mit, aber man findet doch immer wieder Menschen, [...] die auch bereit sind, zu helfen.« Beispielhaft berichtete er davon, sich einmal an das Bundesministerium für Verteidigung gewandt zu haben und dort auf offene Ohren gestoßen zu sein. Auch E8 gab an, Unterstützung durch persönliche Kontakte zu Sachverständigen oder auch durch das Landeskriminalamt erfahren zu haben. So habe ihm das LKA bspw. unaufgefordert ein Gutachten zugeschickt, das bereits vorgelegen habe, aber nie zur Hauptakte gelangt sei.
Auf die Frage, ob die Experten sich im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags schon einmal mit der Bitte um Unterstützung an die Staatsanwaltschaft gewandt hätten, gaben E2, E8 und E10 an, dies ein paar Mal gemacht zu haben, jedoch ausschließlich ablehnende Reaktionen erfahren zu haben. Die Mehrheit der Experten berichtete hingegen, die Staatsanwaltschaft nie um Unterstützung gebeten zu haben (E1, E5, E6, E7, E9). Häufig wurde dies damit begründet, dass nicht erwartet werde, damit Erfolg haben zu können (E1, E5, E7). So formulierte E5, es bräuchte wohl »eine lebende Leiche«, mit der man bei der Staatsanwaltschaft vorstellig werde, damit eine solche Anfrage Erfolg hätte. E1 gab zudem an, er sehe die Staatsanwaltschaft im Strafverfahren als Gegner der Verteidigung, wobei die Tätigkeit der beiden Parteien kontradiktorisch verlaufe. Er erwarte nicht, dass sich die Staatsanwaltschaft an der Tätigkeit des ermittelnden Rechtsanwalts beteilige. Ein anderer Experte sah hingegen mehr Aussicht auf Erfolg, wenn man die Staatsanwaltschaft um Unterstützung bitte; zumindest wenn bereits erste Beweismittel vorlägen (E9). Er würde im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags in der Regel aber dennoch nicht an die Staatsanwaltschaft herantreten, da er möglichst viele neue Fakten vorliegen haben wolle, bevor er an Dritte herantrete; in der Hoffnung, dass er Unterstützung erfahre, wenn »genug auf dem Tisch liegt«. Dabei seien die Wiederaufnahmeanträge, die er gestellt habe, dann auch von der Staatsanwaltschaft unterstützt worden. Auch E3 berichtete neben der Erfahrung einer ablehnenden Haltung der Staatsanwaltschaft (vgl. Antrag auf Untersuchung eines Schamhaars, s. 4.1) auch Unterstützung erlebt zu haben. So habe man bei der Staatsanwaltschaft auch schon getan, was man für ihn habe tun können, oder sogar den Entschluss getroffen, selbst den Wiederaufnahmeantrag zu stellen.
Sonstige Tätigkeiten im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags
Vereinzelt wurde von Experten in dieser Befragung auch angeführt, sich im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags an die Öffentlichkeit (Presse) gewandt zu haben, um Unterstützung für ihr Wiederaufnahmebegehren zu erlangen (E7, E9, E10). Während E10 damit Aufmerksamkeit für seinen Mandanten habe erzielen können, berichteten E7 und E9 von einem fehlenden Interesse bzw. einer fehlenden Bereitschaft der Presse, über den Fall zu berichten.
Positivere Erfahrungen seien von den Experten hingegen mit der Anstrengung eines zivilrechtlichen Verfahrens als Vorbereitung für ein Wiederaufnahmeverfahren gemacht worden (E5, E6, E7, E10). E5 berichtete beispielsweise davon, eine erfolgreiche Wiederaufnahme geführt zu haben, nachdem ein Zivilverfahren (Schadenersatzklage) erbracht habe, dass ein Gutachten grob fahrlässig falsch erstattet worden sei. Das sei E5 zufolge der »Königsweg«. Auch E1 bezeichnete es als Glücksfall, wenn parallel zur strafrechtlichen Verurteilung zivil- oder verwaltungsgerichtliche Verfahren liefen, in denen dieselbe Thematik behandelt werde. Dadurch sei es insbesondere möglich, die Gutachtenerstattung zu reproduzieren und neuzugestalten. Zudem biete das Zivilrecht viele Möglichkeiten, die es im Strafrecht nicht gebe, wie bspw. Prozesskostenhilfe (E10). E7 gab an, mehrfach auch aus taktischen Gründen Zivilverfahren angestrengt zu haben. Andere Experten hatten zwar selbst keine diesbezüglichen Erfahrungen gemacht, berichteten jedoch von Kolleg:innen, die versucht hätten, den Einstieg in ein Wiederaufnahmeverfahren über ein zivilgerichtliches Verfahren zu finden (E2, E8).
Zeitliche Gestaltung und Aufwand
Die Befragung der Experten ergab übereinstimmend, dass Wiederaufnahmeverfahren mit einem enormen Arbeitsaufwand verbunden seien (E1, E2, E3, E4, E5, E6, E7, E9). Ein Wiederaufnahmeverfahren sei demnach (deutlich) arbeitsintensiver als eine normale Hauptverhandlung oder eine Revision (E1, E5). Das wurde beispielsweise mit umfangreichem Aktenmaterial (E3, E6), der Notwendigkeit umfassender Recherchen (E3, E7), Sisyphos-Arbeit (E6) oder damit, in diesen Fällen ordentlicher bzw. gründlicher arbeiten zu müssen (E1, E6), begründet. E3 zufolge benötigten gut begründete Wiederaufnahmen ca. 300 bis 400 Stunden Arbeit; in einem Fall seien es jedoch auch 1.600 Stunden gewesen. Andere Experten berichteten von Fällen, in denen sie mehrere Jahre mit mehreren hundert Stunden Arbeit tätig gewesen seien (E2, E4, E6). Weniger aufwendige Verfahren könnten jedoch auch schneller bearbeitet werden (E2).
Aus den Antworten der Experten wird deutlich, dass Wiederaufnahmeverfahren in der Regel nicht nur arbeitsaufwendig sind, sondern auch eine lange Verfahrensdauer mit sich bringen. Viele Experten gaben an, über mehrere Jahre mit einzelnen Fällen beschäftigt gewesen zu sein (E2, E4, E6, E7, E9, E10). Wie viel Zeit von der Mandatserteilung bis zum Stellen des Wiederaufnahmeantrags vergehe, hänge dabei nicht nur vom Delikt und dem Aktenumfang ab, sondern vor allem auch davon, ob im Vorfeld des Wiederaufnahmeantrags Ermittlungen durchgeführt, Gutachten beauftragt oder Zivilverfahren geführt werden müssten (E4, E6, E7, E9).
3.1.5 Fehlerquellen und Wiederaufnahmegründe
Die Frage, ob spezifische Fehlerquellen identifiziert werden könnten, wenn ein Urteil für falsch erachtet werde, wurde von einigen Experten bejaht (E2, E8, E7, E10). In manchen Fällen sehe man aber auch lediglich, dass das Ergebnis nicht stimmen könne (E8). Der Experte E5 führte an, ausschließlich aus dem Urteil könne man Fehler selten erkennen; dafür bräuchte man das Hauptverhandlungsprotokoll, was es häufig nicht gebe.
Ursachen für Fehlurteile (Fehlerquellen)
In Bezug auf mögliche Ursachen für falsche Verurteilungen wurde von den Experten eine Vielzahl unterschiedlicher Fehlerquellen angeführt, auf die hier eingegangen werden soll. Eine Fehlerquelle, die häufig benannt wurde, sind (falsche) Zeugenaussagen (E3, E4, E7, E6, E8). Das betreffe vor allem den Bereich von Sexualstraftaten, da es sich dabei oftmals um sogenannte Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen handle und eine Verurteilung nicht selten nur auf einer einzigen Zeugenaussage basiere (E4, E6, E7). Insbesondere komme es auch im Zusammenhang mit familiengerichtlichen Verfahren zu Missbrauchsanschuldigungen (E3, E7) und damit einhergehenden instruierten Falschaussagen (E3). Zwei Experten berichteten im Kontext falscher Zeugenaussagen auch von Fällen, in denen das vermeintliche Opfer im Nachhinein selbst eingeräumt habe, gelogen zu haben (E6, E8), obwohl ein Gutachter zuvor zu dem Ergebnis gekommen sei, dass die Aussage glaubhaft sei (E6). Ein weiterer Experte berichtete, er habe den Fehler erlebt, dass ein Landgericht den Hauptverhandlungsinhalt verfälscht habe, indem die Aussagen von zwei entscheidenden Zeug:innen im Urteil nicht wiedergegeben worden seien (E4).
Generell wurden von den Experten auch Sachverständigengutachten als häufige Fehlerquelle benannt (E1, E3, E4, E5, E6, E8). Insbesondere wurden in diesem Zusammenhang fehlerhafte (aussage-)psychologische Gutachten benannt, die »abenteuerlich verfasst« seien oder im Rahmen derer die Begutachtung schlecht gelaufen sei (E1, E4, E6). E1 bezeichnete ein fehlerhaftes Sachverständigengutachten einer:s Aussagepsycholog:in als Paradebeispiel, mit dem er sehr viel zu tun habe. E3 zufolge könnten jedoch nicht nur psychologische Sachverständigengutachten einen Schwachpunkt darstellen, sondern vielmehr Gutachten in allen Wissensgebieten; selbst in solchen, in denen scheinbar exakte Ergebnisse geliefert würden, wie es bspw. bei DNA-Analysen der Fall sei. Der Experte berichtete in diesem Kontext von einem Fall, in dem ein Institut für Rechtsmedizin zwei DNA-Spuren, die für die Verurteilung von großer Bedeutung gewesen seien, eindeutig falsch bewertet habe. Ein anderer Experte berichtete von einem Fasergutachten, in dem das Ergebnis aufgrund einer einseitigen Untersuchung präformiert gewesen sei (E8). E5 führte zudem an, dass die Subjektivität der Gutachter:innen ein Problem darstelle; demnach wüssten Richter:innen in diversen Fällen schon, was bei einem Gutachten herauskomme, wenn er oder sie nur den Namen der:des Sachverständigen lese. Darüber hinaus würden auch im Bereich der Schuldfähigkeitsbegutachtung massive Fehler gemacht (E6).
Auch die Bewertung von Sachverständigengutachten durch Richter:innen wurde als potentielle Fehlerquelle benannt (E3, E4, E8). Die Ausbildung von Strafjurist:innen sehe eine Befassung mit kriminaltechnischen, -biologischen oder -psychologischen Aspekten nicht zwingend vor. Gutachten aus diesen Bereichen würden daher sehr oft einfach durchgewinkt (E8). E8 bezeichnete es als absurd, dass Richter:innen sich bei fehlender Sachkunde eine:n Sachverständige:n holen müssten, gleichzeitig aber als eine Art Obergutachter die Methodik und Befundbewertung überprüfen sollten. E4 zufolge komme es dabei insbesondere im Bereich psychologischer Sachverständigengutachten auch zu Kompetenzüberschätzungen durch Richter:innen. Ein anderer Experte berichtete von nicht nachvollziehbaren Entscheidungen durch Gerichte, trotz methodischer Bedenken an einigen Sachverständigengutachten festzuhalten und anderen Sachverständigengutachten nicht glauben zu wollen (E3). Auch E5 benannte die subjektive Beweiswürdigung der Gerichte als potentielle Fehlerquelle; ihm zufolge werde der Zweifel im Strafverfahren viel zu oft und zu leicht beiseite gewischt.
Eine weitere Ursache für Fehlurteile bestehe in falschen Geständnissen (E3, E8). Ein Geständnis in Bezug auf zwei Vergewaltigungstaten, das eindeutig falsch gewesen sei, sei aufgrund intensiver Befragung durch einen Polizeibeamten, der die gesamte Akte gekannt habe, zustande gekommen (E3). In einem anderen Fall habe ein Mandant einen Mord gestanden, um zu verdecken, dass er einen Liebhaber gehabt habe (E8). Insgesamt habe E8 im Rahmen seiner Tätigkeit sechs falsche Geständnisse im Bereich von Tötungsdelikten erlebt.
Auch falsche Personenidentifikationen, bspw. durch mangelhaft durchgeführte Gegenüberstellungen, wurden als Fehlerquelle benannt (E1).
Als weiterer Aspekt wurde von den Experten eine Art Tunnelblick bzw. Prägung durch das Ermittlungsverfahren angeführt (E1, E3, E4, E7, E8, E9). Ein Problem sei dabei, dass sich Behörden zu schnell auf einen mutmaßlichen Täter festlegten und dann nicht mehr neutral, sondern nur noch in eine bestimmte Richtung ermittelten. Teilweise kämen entlastende Fakten auch gar nicht beim Gericht an, sondern endeten in Spurenakten (E9). Auch E8 berichtete von einem Fall, in dem ein entlastendes Gutachten nie zur Hauptakte gelangt sei, nachdem ein Geständnis abgelegt worden sei. Dieses Problem unvollständigen Aktenmaterials oder gar verschwundener Beweismittel wurde auch von anderen Experten angesprochen (E2, E3, E5). Die Hauptverhandlung werde den Experten zufolge im Allgemeinen stark durch das Ermittlungsverfahren geprägt. Wenn im Ermittlungsverfahren ein Fehler passiere, reproduziere sich dieser häufig bis ins Urteil (E1). Die Eröffnung des Hauptverfahrens setze zudem bereits eine Verurteilungsprognose voraus. Dieses einmal gebildete Vorverständnis präge die Hauptverhandlung und führe oftmals zu einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung (E3, E4). E7 berichtete darüber hinaus, dass Fehlurteile in manchen Fällen auch auf Vorurteilen gegen den Angeklagten basierten; wobei eine Aversion gegen den Angeklagten durch Gründe ausgelöst werde, die mit dem unmittelbaren Fall eigentlich nichts zu tun hätten.
Im Zuge möglicher Fehlerquellen gab E4 darüber hinaus an, die Wahrscheinlichkeit für Fehlurteile sei im Bereich der Sexualdelikte erhöht, da hier sehr früh eine Festlegung auf die Opferrolle stattfinde. Dabei komme es zu einer Überprotektion des Opfers, die sich dadurch äußere, dass man dem Opfer nicht noch zusätzlich etwas antun wolle, indem man bspw. ohne Not die Beweisaufnahme ausdehne oder abseitige Fragen zulasse. Auch die Mitwirkung von Opferschutzvereinen an der Entstehung der Aussage sei als problematisch zu bewerten, insbesondere wenn keine Dokumentation vorliege.
Zum Verhältnis von Fehlerquellen und Wiederaufnahmegründen
Aus den Angaben der Experten geht hervor, dass die Ursachen für ein Fehlurteil nicht unbedingt mittels der gesetzlichen Wiederaufnahmegründe (vgl. § 359 StPO) geltend gemacht werden können (E2, E5, E6, E9, E10). E2 führte bspw. aus, dass die Fehler, die zu falschen Urteilen führten, in der Regel nicht die Fehler seien, die zu einer erfolgreichen Wiederaufnahme führten. Es gebe zwar auch Fälle, in denen der Wiederaufnahmegrund tatsächlich im Ursprungsverfahren liege, wie bspw. die falsche Urkunde im Fall Mollath[2], dies sei aber selten. Eine Wiederaufnahme bekomme man vielmehr, weil man bspw. neue Tatsachen oder Beweismittel vorlegen könne (s. Besondere Bedeutung des § 359 Nr. 5 StPO). Auch E6 berichtete, dass er regelmäßig Urteile sehe, die »Bockmist« seien, die man wiederaufnahmerechtlich jedoch nicht gefasst bekomme. Ein falsches Urteil berechtige noch lange nicht zur Wiederaufnahme (E2, E6, E9). Es sei verfassungsrechtlich auch nicht geboten, jedes Fehlurteil aufzuheben (E6). Der § 359 StPO sei nach den Regularien der Rechtsprechung so eng begrenzt, dass man sehr gute Gründe brauche, um eine Wiederaufnahme mit Erfolg zu gewinnen (E10); mit Ausnahme der Rechtsbeugung durch den Richter (§ 359 Nr. 3 StPO) könnten Rechtsfehler bspw. grundsätzlich keine Wiederaufnahme begründen. E9 gab an, dass es manchmal eine Option sei, einen Wiederaufnahmegrund heranzuziehen, der eigentlich kein so großes Gewicht habe, um nochmal eine Überprüfung des gesamten Urteils zu erreichen. Der Wiederaufnahmegrund fungiere in diesem Fall als Türöffner, um eine Wiederholung der Hauptverhandlung zu erreichen und das Gericht zu einer neuen Beweiswürdigung zu zwingen.
Einige Experten gaben auch an, dass sich die Ursachen für ein Fehlurteil mittels der Wiederaufnahmegründe aus dem § 359 StPO geltend machen ließen, bezogen sich in ihren Antworten jedoch explizit auf den § 359 Nr. 5 StPO (E1, E3, E4, E8), auf den im Folgenden näher einzugehen ist.
Besondere Bedeutung des § 359 Nr. 5 StPO
Wie bereits angeführt, gaben einige Experten an, Ursachen für ein Fehlurteil ließen sich in der Regel mit dem § 359 Nr. 5 StPO, d. h. über das Vorliegen neuer Tatsachen oder Beweismittel, geltend machen (E1, E3, E4, E8). E1 führte aus, dass sich dabei jedoch immer die Frage stelle, ob das neue Faktum den Kernbereich des Urteils betreffe und zum Umdenken zwinge oder nur eine Randerscheinung sei. Diesbezüglich gebe es einen großen Beurteilungsspielraum für das überprüfende Gericht. E9 zufolge könne der § 359 Nr. 5 StPO auch als Türöffner fungieren, wenn die Ursache für das Fehlurteil selbst nicht durch einen der Wiederaufnahmegründe geltend gemacht werden könne und man dennoch eine neue Bewertung erzielen wolle.
Auch weitere Experten gaben an, dass es sich bei dem § 359 Nr. 5 StPO um den wesentlichen und erfolgversprechendsten Wiederaufnahmegrund handle (E2, E5, E6, E9, E10). Da die Tatsachen oder Beweismittel – wie es der Wiederaufnahmegrund benenne – neu sein müssten, komme es selten vor, dass diese bereits vorlägen (E2). Oft gebe es keine relevanten Nova, die geeignet wären, tatsächlich einen Freispruch herbeizuführen (E9). Die Experten gaben übereinstimmend an, dass die neuen Tatsachen oder Beweismittel in der Regel erst ermittelt oder beschafft werden müssten, wenn ein Wiederaufnahmefall angenommen werde (E2, E3, E6, E7, E9, E10). Es komme in einzelnen Fällen jedoch auch vor, dass neue Tatsachen bereits vorgelegen bzw. vom Mandanten präsentiert worden seien, sodass durch den Experten nur noch der Antrag habe geschrieben werden müssen (E3, E6, E9). E5 und E8 betonten im Kontext der Nova noch, dass dies auch etwas sein könne, was bereits in den Akten sei bzw. schon vorgelegen habe, aber unbekannt gewesen oder im Urteil nicht verwertet worden sei.
Im Wesentlichen seien es Zeug:innen oder Sachverständige, die im Hinblick auf die neuen Tatsachen oder Beweismittel von Relevanz seien (E4). Wie bereits im Rahmen der vorbereitenden Tätigkeiten der Experten ausgeführt wurde (s. 3.1.4), gaben viele Experten an, im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags Sachverständige zu beauftragen. Wenn der Erstrichter jedoch schon eine:n Sachverständige:n gehört habe, gebe es einige Hürden zu überwinden. Lediglich auszuführen, dass ein Gutachten fehlerhaft sei, führe nicht weiter (E5). Auch Versuche der Verteidigung, mit einer methodenkritischen Stellungnahme zu operieren, würden in der Regel einfach zurückgewiesen (E1). Eine andere Ausgangslage sei es, wenn mit dem Wiederaufnahmeantrag bereits ein neues Sachverständigengutachten vorgelegt werden könne, was zu neuen Ergebnissen geführt habe (E9). Ein neues Sachverständigengutachten allein sei jedoch noch keine neue Tatsache – hinzukommen müssten entweder Mängel am Ursprungsgutachten, Zweifel an der Sachkunde der:des Ursprungsgutachter:in, unzutreffende Anknüpfungstatsachen oder der:die neue Sachverständige müsse über eine andere Qualifikation oder überlegene Forschungsmittel verfügen oder andere Befundsachen zugrunde gelegt haben (E1, E4, E6).
In Bezug auf Zeug:innen als möglicher Einstiegspunkt machten die Experten unterschiedliche Erfahrungen. E9 berichtete diesbezüglich von zwei Fällen, in denen neue Zeugenaussagen eine entscheidende Rolle gespielt hätten. Ein anderer Experte gab hingegen an, in der Theorie sei das zwar eine einfache Konstellation, da man Zeug:innen anschreiben und Kontakt mit ihnen aufnehmen könne; in der Praxis sei das jedoch schwieriger, weil man oftmals keine Antwort erhalte oder nicht wisse, was man von einer Aussage halten solle, wenn es sich z. B. um einen Freund des Verurteilten handle (E5). Auch E3 berichtete, dass neuen Zeug:innen grundsätzlich großes Misstrauen entgegengebracht werde. Im Falle einer ursprünglichen Falschaussage habe man E8 zufolge selten Erfolg, selbst bei einer eigenen Bezichtigung durch die betreffende Person.
Alle anderen Wiederaufnahmegründe seien den Experten zufolge eher selten und hätten keine große praktische Bedeutung (E2, E4, E6, E10). Zwei Experten gaben an, in je einem Fall habe eine falsche Urkunde, d. h. § 359 Nr. 1 StPO, eine Rolle gespielt (E2, E10). E6 berichtete darüber hinaus, im Rahmen von Sexualdelikten sei es eine Möglichkeit, eine Verurteilung des Opfers wegen Falschaussage zu erwirken (vgl. § 359 Nr. 2 StPO), wobei dies nur selten Erfolg habe. Eine Anzeige gegen einen Richter wegen Rechtsbeugung im Sinne des § 359 Nr. 3 StPO hielten die Experten darüber hinaus für sehr wenig erfolgsversprechend (E2, E4, E6, E10).
3.1.6 Erfolg von Wiederaufnahmeanträgen
Die Mehrheit der befragten Strafverteidiger gab an, dass es in der Praxis sehr schwer sei, Wiederaufnahmeverfahren erfolgreich zu gestalten. Die Erfolgsquoten in diesem Bereich seien sehr gering bzw. gingen gegen Null (E1, E2, E5, E6, E10). Dabei sei die Erfolgsquote noch geringer als im Bereich der Revisionen (E2). E10 führte weiter aus, mindestens 99 % der Wiederaufnahmeanträge scheiterten bereits im Aditionsverfahren. Ein anderer Experte schätzte, nur 5 von 1.000 Wiederaufnahmen hätten Erfolg, wobei unter diesen 5 Fällen häufig Bagatell-Verurteilungen bzw. Strafbefehle vertreten seien (E6). E6 zufolge seien Fälle, in denen nach verbüßter Haft eine Wiederaufnahme gelinge, wie ein Sechser im Lotto. Dabei gehöre auch eine Menge Glück zu einer erfolgreichen Wiederaufnahme. In Bereichen, in denen naturwissenschaftlich-technische Beweismittel, wie bspw. DNA-Analysen, eine Rolle spielten, könne zwei Experten zufolge leichter ein Erfolg erzielt werden (E1, E8).
Aus den Angaben der Experten geht hervor, dass manche erfolgreiche Verfahren darauf beruhten, dass Wiederholungsanträge, d. h. zwei, drei oder sogar vier Wiederaufnahmeanträge gestellt worden seien (E1, E4, E6). Während drei Experten angaben, schon selbst einen erfolgreichen Wiederholungsantrag gestellt zu haben (E4, E6, E8, E9), berichteten weitere Experten zumindest einen solchen Fall zu kennen (E2, E10) oder sich das generell vorstellen zu können (E1, E7). Generell müssten in Wiederholungsanträgen neue Gründe geboten werden, um erfolgreich sein zu können; die alten seien in der Regel verbraucht (E2, E7). Deswegen handhabten Verteidiger:innen es oftmals so, dass sie lieber erstmal alles gründlich für einen Vortrag sammelten, statt in Teilstücken vorzutragen (E1). Als vorteilhaft wurde in diesem Kontext benannt, dass man in einem zweiten Anlauf die Gründe des Gerichts für die Ablehnung kenne und es dementsprechend besser machen könne (E8, E10). Unter Umständen könnten auch bereits eingesetzte Beweismittel aus dem ersten Antrag berücksichtigt werden, wenn man diese mit den neuen Beweismitteln ineinanderfließen lasse, wodurch sich ein neuer Aspekt oder ein neues Gewicht ergeben könne (E1).
Einige Experten nahmen im Kontext vom Erfolg von Wiederaufnahmeanträgen auch Bezug auf die Formulierung des Antrages (E3, E4, E7, E8, E9). Die Mehrheit dieser Experten führte aus, dass der Vortrag des Wiederaufnahmeanliegens eine entscheidende Rolle spiele (E3, E4, E8, E9). Demnach sei es eine besondere Kunst, durch die Präsentation des Anliegens nachhaltig und deutlich den Eindruck zu erwecken, dass das Urteil tatsächlich falsch sein könne – was mehr eine Sache der Psychologie, als Kunst von Jurist:innen sei (E3). Ein guter Wiederaufnahmeantrag müsse substantiiert vorgetragen, von Richter:innen verstanden werden und unmittelbar einleuchtend sein. Um ernstgenommen zu werden erfordere es zudem Zuverlässigkeit, Klarheit und die Fähigkeit, es auf den Punkt zu bringen (E8). E4 zufolge sei es wichtig, dass ein Antrag sauber und schön gearbeitet sei, sodass man sich dessen Wirkung nicht entziehen könne. E9 erachtete es als eines der Hauptprobleme, dass Anwält:innen einen Wiederaufnahmeantrag nicht richtig formulierten, d. h. sich nicht genug Mühe gäben und zu wenig detailliert darlegten. Die Anforderungen an Wiederaufnahmeanträge seien diesbezüglich sehr hoch. Entgegen dieser Auffassungen führte E7 aus, den Schriftsatz zu formulieren, sei keine Kunst.
Gründe für Erfolglosigkeit
Die Strafverteidiger führten eine Reihe von Gründen an, die ihrer Ansicht nach dazu beitragen, dass Wiederaufnahmeanträge mit einer geringen Erfolgsquote einhergehen. Ein Aspekt, der in diesem Kontext benannt wurde, ist, dass Wiederaufnahmeverfahren ein Spezialgebiet seien und spezielles Wissen erforderten, das in der Fachanwaltsausbildung nicht vermittelt werde. Es gebe daher nur wenige Anwält:innen bzw. Spezialist:innen auf dem Gebiet der Wiederaufnahme, die über die notwendige Sachkenntnis und Kompetenz verfügten (E1, E8). Erfolglosigkeit resultiere in diesem Kontext häufig daraus, dass schlechte Wiederaufnahmeanträge von Rechtsanwält:innen gestellt würden (E4, E7, E9). E7 zufolge scheiterten viele Anträge schon an der Zulässigkeitsstufe; auch deswegen, weil unsinnige Anträge gestellt würden, die formal nicht in Ordnung seien. Die Darstellung eines Wiederaufnahmevorbringens sei eine anspruchsvolle Aufgabe, da die Anforderungen sehr hoch seien (E4). E9 führte dazu an, Anwält:innen hielten sich nicht an die gesetzlichen Vorgaben.
Fast alle Experten kritisierten in diesem Zusammenhang auch die Rechtsprechung bzw. die Auslegung des Wiederaufnahmerechts (E1, E2, E4, E5, E6, E7, E9, E10). Generell würden Staatsanwaltschaften und Gerichte das ohnehin sehr restriktive Gesetz noch restriktiver auslegen als es vom Gesetzgeber formuliert worden sei (E2, E7). Während das Gesetz unter recht strengen, aber klaren Voraussetzungen die Möglichkeit zur Wiederaufnahme vorsehe, hätten die Oberlandesgerichte in ihrer Beschwerderechtsprechung solche Fallstricke eingebaut, dass der Zugang in der Praxis beschränkt werde (E4). Die Rechtsprechung habe sehr hohe Anforderungen entwickelt, die über den Gesetzestext hinausgingen und viele Anträge bereits an der Zulässigkeit scheitern ließen (E9, E10). Anders als im Erkenntnisverfahren reiche es im Wiederaufnahmeverfahren völlig aus, wenn es eine minimale Wahrscheinlichkeit gebe, dass der Verurteilte die Tat doch begangen haben könnte, um einen Antrag abzulehnen (E10). E4 führte diesbezüglich an, dass missbräuchliche und ungeeignete Wiederaufnahmeanträge zu dieser Verhärtung der Rechtsprechung geführt hätten und bedauerte diese Entwicklung. Konkrete Schwierigkeiten, die in der Praxis vorkämen, seien bspw., dass das BVerfG eine eingeschränkte Überprüfung der Glaubhaftigkeit von Zeug:innen im Aditionsverfahren zulasse, obwohl es sich dabei um eine Frage der Beweiswürdigung handle, die in einer erneuten Hauptverhandlung im Wiederaufnahmeverfahren geklärt werden müsste (E6). Außerdem wurde der strenge Maßstab hinsichtlich neuer Beweismittel als Problem angeführt (E5). Dabei sei es auch ein gesetzliches Problem, dass Umstände neu sein müssten, es aber häufig nicht seien. Im Falle von Strafbefehlen sei bspw. in der Regel der gesamte Akteninhalt nicht neu, genauso wie Zeugenaussagen, die im Urteil ausgelassen worden seien, nicht neu seien, obwohl sie offensichtlich als nicht bedeutsam oder erheblich genug angesehen worden seien (E1, E9). Schwierigkeiten bereiteten neben der Neuheit auch die Rechtsbegriffe der Geeignetheit und Erheblichkeit (E1, E4, E7, E8). Die Anforderungen an die Frage der Erheblichkeit seien E7 zufolge so hoch, dass es Zufall sei, ob man diese Schwelle überschreite. Die Geeignetheit sei eine Ermessensfrage des Gerichts, wobei der Beurteilungsspielraum sehr groß sei (E1, E8). E8 führte hierzu weiter aus, es sei ein Leichtes für einen Richter, der eine Wiederaufnahme erreichen wolle, die Geeignetheit zu bejahen. Der Rechtsbegriff der Geeignetheit sei unbestimmt und werde in Abhängigkeit der Individualität der Richter:innen unterschiedlich eng gehandhabt. Der Experte beklagte in diesem Zusammenhang ein Auseinanderdriften von materieller und formeller Gerechtigkeit; es sei unbefriedigend, dass es im Rahmen der Verwerfungsbeschlüsse zum § 359 StPO sowohl extensive als auch reduzierende Auslegungen gebe – gerade wie man es brauche. E6 zufolge seien die Schwächen im System, wie die restriktive Handhabung der Gerichte, dem Gesetzgeber bekannt. Dies sei jedoch so gewollt.
Einige Experten führten die Erfolglosigkeit von Wiederaufnahmeanträgen auch auf die Einstellung der Justiz zurück. Demnach herrsche auf Seiten der Justiz ein generelles Desinteresse an Wiederaufnahmeverfahren (E2, E4). Auch das BVerfG äußere sich nur selten zu den Fragen der Wiederaufnahme (E4). Die Justiz wolle generell nicht zugeben, dass sie sich geirrt haben könne. Daher bestehe eine sehr geringe Bereitschaft, sich mit möglichen Justizirrtümern auseinanderzusetzen (E3). Wenn Wiederaufnahmeanträge erstmal ein bestimmtes Stadium erreicht hätten, werde z. T. mit einer regelrechten Boshaftigkeit versucht, sie wegzudrücken (E3). Sowohl die Staatsanwaltschaften als auch die Gerichte zeigten den befragten Experten zufolge ein enormes Beharrungsvermögen auf der Rechtskraft eines Urteils (E1, E2, E3, E4, E5, E8). E3 führte diesbezüglich aus: »dann erleben Sie den Widerstand der Justiz. Und der ist brachial. Also es gibt offenbar in der deutschen Justiz nichts mehr als die Rechtskraft eines Urteils. Also die Rechtskraft, die hat nicht Götterqualität, sondern Götzenqualitäten. Also das muss verteidigt werden auf Biegen und Brechen.« Der Widerwille, etwas zu korrigieren, sei mit der Rechtskraft noch größer als wenn der Fehler schon im Vorfeld hätte korrigiert werden können (E5). Dabei werde argumentiert, dass die Rechtssicherheit verloren ginge, wenn die Rechtskraft durch zu viele erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren zerbröseln würde; E1 gab diesbezüglich zu bedenken, dass Rechtssicherheit wichtig sei, andererseits aber auch garantiert werden müsse, dass Unschuldige nicht verurteilt würden. Drei Experten monierten in diesem Kontext auch, dass der Grundgedanke des Wiederaufnahmeverfahrens gewesen sei, die fehlende zweite Instanz in Fällen schwerer Kriminalität zu ersetzen und dies zu stark in Vergessenheit geraten sei (E1, E5, E8). Ein weiterer Grund für die Erfolglosigkeit von Wiederaufnahmeanträgen sei E5 zufolge auch ein sehr starker Korpsgeist in der Justiz, was den gesamten Instanzenzug und alle Gerichtsbarkeiten betreffe. In der Wiederaufnahme müssten Richter:innen der gleichen Tatsacheninstanz über die Urteilsentscheidungen ihrer Kolleg:innen entscheiden. Dabei entstünden Hemmungen, da Richter:innen ihre Kolleg:innen ungern bezichtigten, fehlerhaft gearbeitet zu haben (E1, E8). Hinzu komme, dass Wiederaufnahmen viel zusätzliche Arbeit machten und versucht werde, Anträge auf Aktenbasis abzuarbeiten (E8). Dabei stünden Richter:innen aufgrund von hoher Arbeitsbelastung unter Druck und priorisierten andere Verfahren (E6). Unter Umständen bestehe eine Hemmschwelle auch in Schadensersatzansprüchen, die Gerichte mit einer positiven Entscheidung über Wiederaufnahmeanträge auslösen könnten (E1).
3.1.7 Schwierigkeiten im Kontext von Wiederaufnahmeverfahren
Die Strafverteidiger wurden neben den Gründen für Erfolglosigkeit auch nach generellen Schwierigkeiten im Kontext von Wiederaufnahmeverfahren gefragt. Zunächst wurde diesbezüglich angeführt, dass die Arbeit frustrierend sei, da die Hürden für die Wiederaufnahme hoch und oft nicht überwindbar seien (E1, E4, E8). Da es immer wieder zu Rückschlägen komme und man viele Pfade verfolgen müsse, von denen die meisten versandeten, sei auch eine gewisse Beharrlichkeit erforderlich (E3, E6). Dabei sei es eine besondere Schwierigkeit, dass die Verteidigung auf sich allein gestellt sei und nicht etwa auf einen Hilfsapparat von Polizist:innen oder auf die Befugnisse und Ermittlungsrechte der Staatsanwaltschaft zurückgreifen könne. Dadurch sei es eine besondere Herausforderung, trotzdem an bestimmte Auskünfte oder Beweismittel zu gelangen (E6, E7, E10). In Bezug auf die Beweismittel gaben einige Experten zudem an, die Erfahrung gemacht zu haben, dass entscheidende Asservate in manchen Fällen bereits vernichtet gewesen seien (E2, E8, E9, E10). Ein weiteres Problem stelle die Position des Verteidigers dar, wenn es darum gehe, Sachverständigengutachten in Auftrag zu geben (E1, E4, E6, E8). E8 kritisierte diesbezüglich, dass es einige Sachverständige gebe, die grundsätzlich nicht mit Verteidiger:innen arbeiteten, sondern lediglich für Gerichte und Staatsanwaltschaften tätig würden – so könne es u. U. schwierig sein, überhaupt eine:n Sachverständige:n zu finden. Ein weiteres Problem im Bereich von psychologischen oder psychiatrischen Gutachten sei die fehlende Kooperationsbereitschaft der Betroffenen, wenn man ein neuerliches Gutachten in Auftrag geben wolle; so könne sich das fragliche Opfer einer erneuten Exploration verweigern (E1, E4, E6).
Kritisiert haben einige Experten auch das fehlende Interesse bzw. die fehlende Bereitschaft von Strafverteidiger:innen, sich an Wiederaufnahmeverfahren zu beteiligen (E3, E4). Sowohl E3 als auch E4 führten dazu aus, dass sie dies nicht verstehen könnten, da es eine innere Genugtuung sei und die Lebensqualität steigere, wenn die Arbeit der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfe. Es sei jedoch insgesamt nur ein sehr begrenzter Kreis von Kolleg:innen, die sich überhaupt mit Wiederaufnahmeverfahren auskennten (E8, E10). Die Wahrscheinlichkeit sei daher gering, dass Betroffene geeignete Anwält:innen fänden (E10). Gleichzeitig wurde auch eine Untätigkeit der Ermittlungsbehörden bemängelt (E7, E9). So berichtete E9 bspw. von einem Fall, in dem kein Wiederaufnahmeverfahren von Amts wegen eingeleitet worden sei, obwohl die Belastungszeugin ihre damalige Aussage gegenüber der Polizei widerrufen habe. Auch E7 bemängelte, dass er keinen einzigen Fall erlebt habe, in dem die Staatsanwaltschaft »den kleinsten Finger krumm gemacht habe«; selbst dann nicht, wenn man auf die Idee hätte kommen müssen, dass etwas nicht stimmen könne.
Aus den Antworten der Experten ging auch das Problem des Missbrauchs von Wiederaufnahmeanträgen hervor (E4, E5). E4 führte hierzu aus, dass jedes Angebot, das das Gesetz mache, Gefahr laufe, missbraucht zu werden. Das gelte insbesondere für die Möglichkeit der Wiederaufnahme. In diesem Fall zeige der Missbrauch zwar keine Folgen, da bspw. die Rechtskraft dadurch nicht aufgehalten werde. Manch einer greife jedoch zur Wiederaufnahme, weil er sich seine Schuld selbst nicht eingestehen oder den Angehörigen vorführen wolle, er mache alles, was möglich sei. Das führe dazu, dass z. T. ungeeignete Anträge gestellt würden, die in der Folge dazu führten, dass es zur Verhärtung der Rechtsprechung komme, die einem dann in anderen Fällen in die Quere komme (s. 3.1.6).
Zugang für Betroffene und Ratschläge
Die Frage, ob Betroffene ausreichend Zugang zur Wiederaufnahme hätten, wurde von den Experten übereinstimmend verneint. Während vereinzelt zwar ein theoretisch vorhandener Zugang angeführt wurde (E3, E5, E8), wurde deutlich zum Ausdruck gebracht, dass in der Praxis kein ausreichender Zugang bestehe (E1, E2, E3, E4, E5, E7, E8, E9, E10). So führte E1 bspw. an, die soziale und materielle Barriere für einzelne Betroffene sei unheimlich hoch; der Einzelne, der im Vollzug sei, könne das meistens kaum stemmen. In ähnlicher Weise gab auch E2 an, als verurteilte:r Straftäter:in habe man praktisch keine Möglichkeiten und keinen wirksamen Zugang zu einer Wiederaufnahme – außer, man habe sehr viel Geld oder finde jemanden, der umsonst arbeite. Auf das Problem der Finanzierung nahmen auch weitere Experten Bezug (E7, E8, E9, E10). Eine weitere Schwierigkeit für Betroffene sei es darüber hinaus, jemanden zu finden, der sich mit Wiederaufnahmen auskenne, da es nur wenige spezialisierte Kolleg:innen gebe (E3, E4, E8, E10). Einen Antrag zu Protokoll der Geschäftsstelle zu geben sei E4 zufolge nicht ratsam; die Beteiligung einer:s Verteidiger:in sei in solchen Fällen unerlässlich. E5 begründete den fehlenden Zugang für Betroffene zudem mit dem Leerlauf des Rechtsmittels.
Nach Ratschlägen für Betroffene gefragt, wurde vor allem benannt, sich an Verteiger:innen mit ausgewiesenem Spezialwissen zu wenden (E1, E2, E9). Dabei sollten Betroffene versuchen, die:den Verteidiger:in für sich zu gewinnen (E1). E7 zufolge sollte ein:e Verurteilte:r sich zudem die Mühe machen, sich das Urteil vorzunehmen, die Feststellungen in den Blick zu nehmen und zu schauen, ob dagegen andere Tatsachen vorgebracht werden könnten oder es noch Zeug:innen gebe. E9 gab außerdem an, Betroffene sollten sich beraten lassen und dabei auch mehrere Anwält:innen ansprechen. Weder sie selbst noch ein:e Anwält:in sollten vorschnell einen Wiederaufnahmeantrag stellen.
3.1.8 Änderungswünsche und Verbesserungsvorschläge
Die Experten führten eine Vielzahl von Änderungswünschen und Verbesserungsvorschläge im Kontext von Wiederaufnahmeverfahren an, auf die im Folgenden einzugehen ist. E2 gab diesbezüglich zunächst an: »[...] wenn der Strafprozess weniger mängelbehaftet wäre, dann würden sich viele Wiederaufnahmebegehren sowieso erledigen.« Auch E5 war der Meinung, man müsste Fehlurteile schon im Instanzenzug beseitigen, damit die Wiederaufnahme im Wesentlichen überflüssig werde.
Der am häufigsten benannte Verbesserungsvorschlag in Bezug auf den Strafprozess betrifft die Protokollierung der Hauptverhandlung (E1, E2, E4, E5, E7). Die Experten forderten in ihren Antworten ein (wörtliches) Protokoll von Hauptverhandlungen am Landgericht (E2, E4, E5) bzw. eine audio(visuelle) Aufzeichnung im strafrechtlichen Erkenntnisverfahren (E1, E7). Eine Aufzeichnung der Hauptverhandlung hätte E7 zufolge mehrere Vorteile. Zum einen würden Richter:innen auf diese Weise entlastet werden, da sie nicht mitschreiben müssten, und Missverständnissen könnte vorgebeugt werden. Zum anderen hätte man hierdurch die Möglichkeit, bestimmte Feststellungen bereits in der Revision anzugreifen. Darüber hinaus könnten auf diese Weise auch Falschfeststellungen eines Gerichts zum Gegenstand eines Wiederaufnahmeverfahrens gemacht werden. Ebenso führte E1 aus, dass häufig – wenn man anführe, dass etwas neu sei, weil es im Urteil nicht berücksichtigt worden sei – argumentiert werde, das sei nicht neu, weil es in der Hauptverhandlung gehört worden sei und der Richter es offensichtlich als nicht bedeutsam angesehen habe. Das sei ein Aspekt, der durch eine audiovisuelle Aufzeichnung besser thematisiert werden könnte. E2 zufolge wäre dies eine einfache Veränderung, es fehle jedoch der politische Wille.
Ein weiterer Verbesserungsvorschlag betrifft das Rechtsmittel der Revision. E7 bezeichnete das Revisionsverfahren als »ein Lotteriespiel« und E2 bemängelte, dass eine wirksame Revisionsinstanz fehle. Dabei sei es vor allem problematisch, dass die Ablehnung einer Revision nicht begründet werden müsse. Wenn der BGH sich bemühen müsste, seine Urteile und Beschlüsse zu begründen, würde E2 zufolge das ein oder andere Urteil sowieso aufgehoben werden. E5 forderte darüber hinaus, es müsste – zumindest in gravierenden Sachen oder wenn die Verteidigung es verlange – möglich sein, zu jedem Sachverständigengutachten eine »second opinion« einholen zu lassen.
In Bezug auf die Möglichkeiten, ein Wiederaufnahmeverfahren anzustrengen, gab E9 zunächst an, seiner Meinung nach müssten zunächst einmal mehr Informationen für Betroffene bereitgestellt werden. So könnte bspw. routinemäßig Informationsmaterial mit den Gerichtsentscheidungen verteilt werden. Verbesserungsbedarf sahen einige Experten auch in Bezug auf die Finanzierung von Wiederaufnahmeverfahren. So äußerte E1 bspw. den Wunsch, von Anfang an mit einer Pflichtverteidigerbestellung operieren zu können. Seiner Meinung nach sollte die Pflichtverteidigung bereits dann gewährt werden, wenn es ein Konzept gebe, mit dem man gehört werden könne. Gleichzeitig müsste großzügiger damit umgegangen werden, was im Rahmen der Pflichtverteidigerbestellung vergütet werde; insbesondere sollte die eigene Ermittlungstätigkeit angemessen honoriert werden. Auch E6 sprach sich für einen Ausbau der Pflichtverteidigung im Sinne einer angemessenen Vergütung aus. Dieser Experte brachte darüber hinaus den Vorschlag, die Möglichkeit zu schaffen – ähnlich wie im Prozesskostenhilferecht – Untersuchungen finanziert zu bekommen (E6). E9 führte außerdem an, es müsste dafür gesorgt werden, dass eine Art Vorüberprüfung finanziert werden könnte. Er schlug diesbezüglich vor, Anwält:innen eine Pauschale zu zahlen, damit diese sich das Urteil anschauen und eine Erstberatung durchführen könnten.
E2 bemängelte im Kontext von Wiederaufnahmeverfahren vor allem, dass sich jemand, der verurteilt sei und kein Geld habe, praktisch nirgendwohin wenden könne. In Deutschland gebe es keine Vereine, in denen Ehrenamtliche oder durch Spenden finanzierte Mitarbeiter:innen versuchten, ein Verfahren neu aufzurollen, wie das bspw. in den USA der Fall ist. Da das System in Deutschland aber – verglichen mit den USA – ein ganz anderes sei, halte er es für die sauberste und gerechteste Lösung, wenn es hier innerhalb der Staatsanwaltschaft zuständige Stellen gäbe, an die sich Betroffene wenden könnten. Diese Stellen wären vergleichbar mit den Conviction Integrity Units in den USA und könnten dem nachgehen, wenn ein:e Verurteilte:r bspw. mit einem neuen Zeugen käme. Von den anderen Experten erachtete lediglich einer diesen Vorschlag als sinnvoll (E7). E8 führte aus, solche zuständigen Stellen innerhalb der Staatsanwaltschaft würden wahrscheinlich nicht schaden, er könne sich jedoch nicht vorstellen, dass dort jemand helfe. Die Einstellung der Staatsanwaltschaft erlebe er eher als: »der ist verurteilt und fertig und Feierabend«. Auch die anderen Experten, die sich zu diesem Vorschlag äußerten, hielten diesen für nicht erfolgsversprechend bzw. nicht sinnvoll (E5, E6, E9, E10). E9 gab diesbezüglich zu bedenken, dass es auch eine Frage der Neutralität sei, die bei der Staatsanwaltschaft nicht unbedingt gegeben sei, da eigene Fehler ans Licht kommen könnten. Daher wäre es besser, unabhängige Organisationen, die nicht im Geflecht der Staatsanwaltschaft untergebracht seien, zu schaffen. Auch ein staatlich finanzierter Verein wurde als Möglichkeit benannt (E2). E10 gab hingegen an, die Wiederaufnahmeanliegen von Betroffenen seien bei Verteidiger:innen richtig aufgehoben. Ihm zufolge müsste sich vielmehr etwas an der Möglichkeit ändern, in den Verfahren Erfolg zu haben.
Diesbezüglich führte E5 aus, er fände es aufgrund der »Verbrüderung« zwischen Staatsanwaltschaft und Justiz sinnvoller, wenn die Anwaltskammern sogenannte Anwaltsgerichte bilden würden, die über die Wiederaufnahme, d. h. über Zulässigkeit und Begründetheit, entschieden. Der Experte vermutete, dass die Erfolgsquoten höher wären, wenn Anwält:innen statt Richter:innen hierüber entscheiden würden. Die Wiederaufnahmeverfahren seien dann wieder von den staatlichen Gerichten in der normalen Besetzung zu führen. Als weiterer Verbesserungsvorschlag wurde benannt, das Wiederaufnahmeverfahren nicht ausschließlich schriftlich stattfinden zu lassen (E6, E9). Vielmehr sollte es bereits vor der Zulässigkeitsentscheidung einen mündlichen Termin geben, in dem über den Antrag gesprochen und Zeugen gehört werden könnten. Das würde die Möglichkeit schaffen, sich besser zu erklären und den Antrag ggf. nachzubessern. E7 sprach sich zudem für ein gesetzliches Gebot aus, dass Wiederaufnahmeverfahren vorrangig behandelt werden sollten.
Weitere von den Experten benannte Verbesserungsvorschläge bezogen sich auf die Aufbewahrung und den Zugang zu asservierten Beweismitteln (E3, E8), die an anderer Stelle bereits kritisiert wurden (s. 3.1.7). Einerseits bräuchte es längere Aufbewahrungsfristen für Asservate, bei denen die Möglichkeit bestehe, sie kriminaltechnisch noch zu untersuchen (E8). Andererseits müsste die Verteidigung das Recht bekommen, auf Beweismittel sachlicher Art, die sich in den Asservaten der Strafverfolgungsbehörden befinden, Zugriff zu nehmen und diese untersuchen zu lassen (E3). Ein dahingehender Vorschlag an die vom Bundesministerium der Justiz eingesetzte Reformkommission sei nicht als Reformvorschlag mit aufgenommen worden. E8 führte darüber hinaus an, dass Sachverständige für spezifische Fragestellungen bzw. kriminaltechnische Gebiete manchmal lediglich in öffentlichen Behörden bzw. Landeskriminalämtern zu finden seien. Anwält:innen hätten jedoch keine gesetzliche Möglichkeit, diese Sachverständigen zu beauftragen. Diese Möglichkeit sollte Strafverteidiger:innen E8 zufolge gegeben werden.
In Bezug auf die gesetzlichen Bestimmungen zu den Wiederaufnahmegründen, d. h. vor allem den § 359 StPO, sahen die meisten Experten jedoch keine Schwierigkeiten und hatten somit auch keine (bedeutenden) Verbesserungsvorschläge (E1, E3, E4, E5, E7, E8, E9). Lediglich E2 bemängelte, dass er bereits das Gesetz als sehr restriktiv empfinde, da ein Urteil (auch nachgewiesen) falsch sein könne und das Verfahren aufgrund fehlender Wiederaufnahmegründe trotzdem nicht wiederaufgenommen werde. Ihm zufolge könnte man den Katalog der Wiederaufnahmegründe bspw. erweitern. E6 und E9 gaben hingegen an, eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe nicht zu befürworten. E6 stimmte dem Gedanken des Gesetzgebers zu, dass man nicht alles richtig machen könne und nur gravierende Fälle, bei denen Zweifel kämen, korrigiert werden müssten. Würde man den § 359 StPO ausweiten und eine unbegrenzte Überprüfungsmöglichkeit eines Urteils bei schweren Fehlern bieten, gäbe es nie Rechtsfrieden – das erachtete E9 als nicht sinnvoll.
E8 äußerte jedoch Kritik am § 359 Nr. 2 StPO, der eigentlich von großer Bedeutung sei, in der Praxis jedoch nicht lebe. Vereidigungen einer:s Zeug:in oder einer:s Sachverständigen kämen in der Praxis kaum vor und Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer vorsätzlichen uneidlichen Aussage würden von den Staatsanwaltschaften häufig nicht eingeleitet oder eingestellt. Dem Experten zufolge sei die Grenze zwischen bewusst fahrlässig und bedingt vorsätzlich sowieso sehr dünn. Er würde es daher befürworten, wenn dieser Wiederaufnahmegrund auch eine fahrlässige Falschaussage umfassen würde.
Die Wiederaufnahme müsste E10 zufolge letztlich so gestaltet werden, dass die Rechtsprechung nicht von vornherein die Möglichkeit habe, jeden Antrag abzulehnen. Seiner Ansicht nach müsste die Erfolgswahrscheinlichkeit von Seiten des Gesetzgebers, bspw. im Sinne einer Beweislastverteilung, verbessert werden. E9 führte diesbezüglich aus, es sei generell schwierig, durch Reformen auf die Rechtsprechung einzuwirken. Er könnte sich aber vorstellen, dass eine ausdrückliche Regelung aufgenommen werden könnte, nach der die Formalia, d. h. die Anforderungen an den Antrag, zurückgeschraubt werden könnten. Auch E5 machte den Vorschlag, dass gesetzgeberisch klargestellt werden könnte, dass eine Patt-Situation, d. h. 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, ob die neue Beweisannahme zu einem besseren Ergebnis komme, ausreichen müsste, um eine Sache wiederaufzunehmen.
Aus den Angaben der Experten wird deutlich, dass diese sich vor allem einen anderen Umgang mit Wiederaufnahmeanträgen im Sinne einer weniger restriktiven Handhabung und Rechtsprechung wünschten (E1, E2, E3, E6, E9, E10). Die Experten erhofften sich diesbezüglich vor allem, dass die Staatsanwaltschaften dem Thema offener gegenüberträten (E2) und Richter:innen mit mehr Augenmaß entschieden (E6). E9 gab zudem an, es wäre schon viel gewonnen, wenn insb. § 359 StPO so angewendet würde, wie es im Gesetz stehe und durch Auslegung und mit ein bisschen gutem Willen bei der Justiz etwas bewirkt werden könnte. E3 bedauerte, dass sich seiner Meinung nach vor allem an der grundsätzlichen Einstellung der Justiz – »wir haben keine Justizirrtümer« – nichts ändern werde.
Zuletzt führte E9 noch an, es wäre wünschenswert, wenn Wiederaufnahmeverfahren mehr in den Blick der Öffentlichkeit geraten würden. Der Experte habe die Erfahrung gemacht, dass die Presse kein großes Interesse an entsprechenden Verfahren habe. Wenn die Öffentlichkeit mehr davon mitbekommen würde und dort bewusst wäre, wie hoch die Dunkelziffer an Fehlurteilen sei, dann würde das Thema vielleicht auch mehr Unterstützung in dem Sinne erhalten, dass sich die Politik mehr damit beschäftigen und Forschung über Fehlurteile in Auftrag gegeben würde.
3.2 Interviews mit Staatsanwälten
3.2.1 Erfahrungen mit Wiederaufnahmeanträgen
Zunächst ist festzuhalten, dass Wiederaufnahmeverfahren einen verschwindend geringen Anteil an der beruflichen Tätigkeit aller befragten Staatsanwälte hatten. Zum einen stellten Wiederaufnahmeverfahren grundsätzlich sehr seltene Ausnahmefälle dar, zum anderen sei auch der benötigte Arbeitsumfang für die Bearbeitung von Wiederaufnahmeanträgen und -verfahren in der Regel gering. Drei der Experten in der vorliegenden Stichprobe agierten als Sonderdezernenten für Wiederaufnahmeverfahren einer gem. § 140 a GVG zugewiesenen Staatsanwaltschaft (E2, E10, E11). Aber auch diese Experten gaben an, dass Wiederaufnahmeverfahren lediglich einen geringen Teil ihrer beruflichen Tätigkeit ausmachten.
Anzahl gestellter Wiederaufnahmeanträge und deren Erfolgsquote
Nr. | Anzahl gestellte Wiederaufnahmeanträge | Erfolgsquote Wiederaufnahmeanträge | ||
Zugunsten der:des Verurteilten | Zuungunsten der:des Verurteilten | Zugunsten der:des Verurteilten | Zuungunsten der:des Verurteilten | |
E1 | 1 | 0 | 100 % | – |
E2 | 0 | 1 | – | 0 % |
E3 | 1 | 0 | 100 % | – |
E4 | 1 | 0 | 100 % | – |
E5 | 2 | 0 | 100 % (1 noch offen) | – |
E6 | 1 | 0 | 100 % | – |
E7 | 1 | 2 | 100 % | 50 % |
E8 | 0 | 3 | – | Keine Erinnerung (1 noch offen) |
E9 | 3 | 0 | 100 % | – |
E10 | 1 | 0 | noch offen | – |
E11 | 10 | 0 | 100 % | – |
Insgesamt ist festzustellen, dass die befragten Staatsanwälte, trotz teils langjähriger Berufserfahrung nur sehr selten Wiederaufnahmeanträge gestellt haben. Bei genauer Betrachtung der Verteilung wird deutlich, dass wesentlich häufiger Wiederaufnahmeanträge zugunsten von Verurteilten gestellt wurden. Die Wiederaufnahmeanträge sowie die jeweils anhängigen abgeschlossenen Wiederaufnahmeverfahren waren in diesen Fällen allesamt erfolgreich. Ein anderes Bild zeigt sich bei der Betrachtung von Wiederaufnahmeanträgen zuungunsten einer oder eines Verurteilten oder Freigesprochenen. Diese Form der Wiederaufnahmeanträge erscheint nicht nur wesentlich seltener gestellt zu werden, Wiederaufnahmeverfahren dieser Art waren in dieser Stichprobe auch deutlich seltener erfolgreich.
Auf die von den Staatsanwälten berichteten Fallkonstellationen wird in Abschnitt 3.2.5. näher eingegangen. Bei den geschilderten Fällen handelte es sich überwiegend um Delikte aus dem Bereich der leichten bis mittleren Kriminalität, bspw. Diebstahl, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz und Fahren ohne Fahrerlaubnis.
3.2.2 Kontaktaufnahme
Im Hinblick auf die Kontaktaufnahme muss zwischen solchen Staatsanwälten unterschieden werden, die ein Wiederaufnahmeverfahren veranlassten, und solchen Staatsanwälten, die letztlich den Wiederaufnahmeantrag stellten. Sieben der Experten berichteten durch ihre Tätigkeit im erkennenden Verfahren auf den jeweiligen Wiederaufnahmegrund aufmerksam geworden zu sein und daraufhin ein Wiederaufnahmeverfahren veranlasst zu haben (E1, E4, E5, E6, E7, E8, E9). Die Hinweise auf das mögliche Vorliegen eines Fehlurteils seien über die verschiedensten Wege erfolgt, unter anderem durch eigene weitere Ermittlungen gegen gesondert verfolgte Mittäter, die Vollstreckungsabteilung der zuständigen Staatsanwaltschaft, die Verurteilten, Richter:innen, Rechtspfleger:innen oder ausländische Behörden. An E2, E8, E10 und E11 seien die Wiederaufnahmegründe durch die für das erkennende Verfahren zuständige Behörde herangetragen worden, was zum Stellen des Wiederaufnahmeantrags geführt habe. E3 sei als Pressesprecher seiner Behörde durch einen Journalisten auf den Wiederaufnahmegrund aufmerksam gemacht worden.
Für die Entscheidung zum Stellen eines Wiederaufnahmeantrags sei für alle befragten Experten in erster Linie das Vorliegen einer der gesetzlich festgelegten Wiederaufnahmegründe ausschlaggebend gewesen. Das Wiederaufnahmerecht sei engmaschig in der Strafprozessordnung geregelt und die Staatsanwaltschaft habe in dieser Hinsicht wenig Spielraum. Sobald die notwendigen Wiederaufnahmegründe – in der Regel neue Beweismittel und/oder neue Tatsachen – vorlägen, werde auch ein Wiederaufnahmeantrag gestellt. E3 kommentierte, dass es zum Berufsethos der Staatsanwälte gehöre, Fehlurteile zu beseitigen. E7 und E8 gaben in Bezug auf Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten einer oder eines Verurteilten oder Freigesprochenen an, dass sie zusätzlich zum Vorliegen der gesetzlich festgelegten Wiederaufnahmegründe auch die Aussichten auf Erfolg des Verfahrens prüften, bevor sie die Ressourcen der Gerichte bzw. der Justiz erneut beanspruchten.
3.2.3 Vorbereitung und Vorgehen
Lediglich vier der befragten Staatsanwälte gaben an, bereits neue Ermittlungen zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags geführt zu haben (E3, E5, E7, E8). Bei E5 und E7 habe es sich in diesem Kontext jedoch lediglich um das Überprüfen vorliegender Unterlagen gehandelt. E3 und E8 veranlassten neue Zeugen- bzw. Beschuldigtenvernehmungen, nachdem Hinweise auf ein mögliches Fehlurteil bekannt geworden seien. Die restlichen sieben Experten berichteten, bislang keine neuen Ermittlungen zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags geführt zu haben, da diese nicht erforderlich gewesen seien und es sich um sehr eindeutige Fälle eines Fehlurteils gehandelt habe.
Sämtliche Staatsanwälte schilderten, dass sie noch nie von Rechtsanwält:innen mit Ermittlungsanregungen zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags kontaktiert worden seien. Zehn der elf befragten Staatsanwälte gaben jedoch an, dass sie selbstverständlich bereit zu einer Kooperation mit Rechtsanwält:innen bzw. der Prüfung eines Wiederaufnahmeantrags von Amts wegen seien, wenn die Hinweise auf Wiederaufnahmegründe substantiiert und glaubhaft vorgetragen würden. Lediglich E7 erklärte, dass er solchen Ermittlungsanregungen ablehnend gegenüberstehen würde, da es nach einem rechtskräftigen Urteil keine rechtliche Grundlage für ein solches Vorgehen gebe.
Nach Verfahren gefragt, in denen die Experten ein Fehlurteil vermuteten, jedoch keine Wiederaufnahmegründe gemäß der Strafprozessordnung vorlagen, schilderten fünf der elf Experten, dass diese Konstellation bisher noch nicht vorgekommen sei (E1, E5, E6, E8, E10). Andere Staatsanwälte führten aus, dass sie durchaus bereits manche Urteile und insbesondere Freisprüche für falsch – wenn auch nicht unbedingt für unvertretbar – gehalten hätten (E2, E3, E4, E7, E9, E11). In Bezug auf Verfahren, die man bis in die letzte Instanz betrieben habe und in denen keine Wiederaufnahmegründe vorlägen, müsse man Urteile jedoch auch hinnehmen können (E2, E9, E11). E3 gab an, dass es an dieser Stelle »zum Glück« keine weiteren Möglichkeiten gebe, die die Staatsanwaltschaft ausschöpfen könne. Keiner der befragten Staatsanwälte äußerte, jemals nach Wiederaufnahmegründen gesucht zu haben, wenn sie mit einem Urteil bzw. einem Freispruch unzufrieden gewesen seien und dieses für falsch gehalten hätten.
3.2.4 Einstellung der Justiz
Keiner der befragten Staatsanwälte beschrieb, dass in der Justiz eine negative Einstellung gegenüber Wiederaufnahmeanträgen und -verfahren bestehe. Vier der Experten erklärten, dass ihre jeweiligen Wiederaufnahmeverfahren wie jedes andere Verfahren behandelt worden seien und dass diese zu ihrer beruflichen Tätigkeit gehörten und dementsprechend professionell und sachlich bearbeitet würden (E4, E5, E6, E8). E1 gab jedoch an, dass das Gericht, dessen Urteil im erkennenden Verfahren rechtskräftig geworden sei, in seinem Fall negativ auf den Wiederaufnahmeantrag reagiert habe.
E3 schränkte ein, dass manche Verurteilte bei Staatsanwält:innen unter Umständen negative Reaktionen hervorrufen könnten, wenn immer wieder unzulässige Wiederaufnahmeanträge gestellt würden. E9 gab in ähnlicher Weise an, dass unsachliche Wiederaufnahmeersuchen einen leichten Widerwillen verursachten. Erkennbar unzulässige und aussichtslose Wiederaufnahmeanträge würden laut E3, E7 und E10 von der Staatsanwaltschaft und vermutlich auch den Gerichten als lästige Zusatzbelastung empfunden, da sie überflüssige Mehrarbeit verursachten. Daraus könne man jedoch keine grundsätzlich negative Einstellung der Justiz ableiten. Wenn Wiederaufnahmeanträge gut begründet seien, sei die einhergehende Mehrarbeit auch gerechtfertigt. E11 führte allerdings aus, dass – mit Ausnahme eklatanter Fehlurteile – ein gewisser »Beißreflex« auf Seiten der Justiz herrsche, da diese die Rechtskraft nicht beseitigen wolle. Er denke jedoch, dass dies die richtige Einstellung sei, und versuche selbst Wiederaufnahmeanträge von Verurteilten bzw. deren Rechtsanwält:innen im Rahmen der Möglichkeiten zurückzuweisen.
3.2.5 Fallkonstellationen und Wiederaufnahmegründe
Drei der befragten Staatsanwälte benannten eine unerkannte Doppelverfolgung als Fehlerquelle, die sie dazu veranlasst habe, einen Wiederaufnahmeantrag zu stellen (E4, E9, E10). E4 beschrieb in diesem Kontext eine Fallkonstellation, in der ein Betroffener im Rahmen eines Strafbefehls erneut aufgrund des identischen Vorwurfs des Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe verurteilt worden sei, obwohl zu diesem Vorwurf bereits ein rechtskräftiger Strafbefehl vorgelegen habe. E9 schilderte eine ähnliche Fallkonstellation in Bezug auf einen Vorwurf der Nötigung und des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr. Allerdings seien in diesem Fall von zwei Behörden unabhängig voneinander Ermittlungen geführt worden, die zum Erlass zweier rechtskräftiger Strafbefehle geführt hätten. E10 beschrieb eine rechtskräftige Verurteilung aufgrund des Vorwurfs des mehrfachen Diebstahls, zu dem bereits eine rechtskräftige Verurteilung im Ausland vorgelegen habe. In keinem der von den Experten benannten Fälle habe der Betroffene Einspruch aufgrund der Doppelverfolgung eingelegt.
Fehlende oder verspätete Einwände und Einsprüche durch Betroffene wurden darüber hinaus explizit von zwei Staatsanwälten als Fehlerquelle bzw. Wiederaufnahmegrund benannt (E5, E7, E3). E5 beschrieb einen Fall, in dem es aufgrund des Vorwurfs der Urkundenfälschung zum Erlass eines Strafbefehls gekommen sei. Der Betroffene habe sich im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht zu dem Vorwurf eingelassen. Erst nach Rechtskraft des Strafbefehls habe er den Nachweis über die Gültigkeit der zu Unrecht für gefälscht gehaltenen Urkunde vorgelegt. In dem von E7 beschriebenen Fall sei es zum Erlass eines Strafbefehls aufgrund eines Vorwurfs im Bereich des Aufenthaltsrechts gekommen. Der Betroffene habe es versäumt rechtzeitig gegen diesen Strafbefehl Einspruch einzulegen. Erst nach Ablauf der Frist habe er Unterlagen vorgelegt, die den Vorwurf als falsch entkräftet hätten. E3 schilderte einen Fall, in dem nachträgliche Recherchen eines Journalisten erbracht hätten, dass der Verurteilte nicht an der Tat beteiligt gewesen sei, was der Journalist ihm mitgeteilt habe. Der Betroffene habe dies bestätigt, jedoch angegeben, dass er grundsätzlich zu Recht inhaftiert sei, da er in seinem Leben so viel Mist gebaut habe.
Eine fehlerhafte Gesamtstrafenbildung wurde von zwei Staatsanwälten als Wiederaufnahmegrund benannt (E6, E11). E6 beschrieb einen Fall, in dem eine bereits vollstreckte Strafe zur Gesamtstrafenbildung einbezogen worden sei und im Ergebnis ein zu hohes Urteil produziert habe. E11 benannte das Problem der unrechtmäßigen, doppelten Einbeziehung von Geldstrafen.
Eine weitere Fehlerquelle, die von den Experten benannt wurde, war die langsame Kommunikation zwischen internationalen Behörden (E7, E10). Wie bereits im ersten Absatz dargestellt, habe E10 erst nach Rechtskraft des in Deutschland ergangenen Urteils erfahren, dass bereits ein rechtskräftiges Urteil zum selben Tatvorwurf im Ausland vorgelegen habe. E7 schilderte einen Fall, in dem von ausländischen Behörden erst nach Freispruch im Rahmen des ursprünglichen Strafverfahrens mitgeteilt worden sei, dass der durch den Betroffenen zu seiner Entlastung vorgelegte ausländische Führerschein eine Fälschung sei.
Falsche bzw. unzuverlässige Aussagen von gesondert verfolgten Mittätern schienen insbesondere im Kontext von Wiederaufnahmeanträgen zuungunsten Verurteilter oder Freigesprochener eine signifikante Rolle zu spielen (E7, E8). E7 beschrieb ein Verfahren zum Vorwurf des Diebstahls, in dem der Angeklagte eine weitere Person als Mittäter belastet habe. Das Verfahren gegen diesen Mittäter habe jedoch einen Freispruch zur Folge gehabt, da der ursprüngliche Angeklagte seine Aussage revidiert habe. Es sei gegen diesen ursprünglichen Angeklagten dann zu einer Verurteilung wegen uneidlicher Falschaussage gekommen, was E7 zu einem (erfolglosen) Wiederaufnahmeantrag veranlasst habe. Auch E8 berichtete, er habe in einem Verfahren aufgrund eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz, das ursprünglich in einem Freispruch geendet sei, eine Verurteilung des zunächst als Belastungszeugen aufgetretenen Mittäters aufgrund einer uneidlichen falschen Zeugenaussage erreicht. In Kombination mit einer neuen Zeugenaussage habe er diese Verurteilung zur Beantragung eines Wiederaufnahmeverfahrens genutzt, über das noch nicht rechtskräftig entschieden worden sei.
Die Problematik der unerkannten Schuldunfähigkeit wurde von zwei Staatsanwälten angeführt (E5, E11). E5 beschrieb in diesem Kontext ein Verfahren, in dem ein Strafbefehl aufgrund Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz erlassen worden sei. Damals habe es keinerlei Hinweise auf eine mögliche Schuldunfähigkeit gegeben. In einem späteren Verfahren sei jedoch ein psychiatrisches Gutachten erstattet worden, dass eine chronische, bereits seit Jahren bestehende psychotische Störung diagnostiziert habe. Der Betroffene sei bereits zur Tatzeit des ursprünglichen Verfahrens schuldunfähig gewesen. E11 beschrieb eine ähnliche Fallkonstellation. Nachdem es zunächst aufgrund eines Ladendiebstals zu einer Verurteilung gekommen sei, habe ein Gutachter im Rahmen späterer Verfahren eine krankhafte seelische Störung festgestellt. Der Betroffene sei bereits zum Zeitpunkt des ursprünglichen Ladendiebstahls schuldunfähig gewesen.
E1 bemerkte, dass Staatsanwälte sich im Rahmen des Ermittlungsverfahrens keinen persönlichen Eindruck von Zeugen machen könnten und sich lediglich auf den Eindruck stützen müssten, den sie auf Basis der Aktenlage erhielten, wobei der so gewonnene Eindruck falsch sein könne. Insbesondere in Verfahren am Amtsgericht vertrete man außerdem häufig nicht die eigenen Anklagen. In seinem konkreten Fall habe eine Person eine Körperverletzung sowie Bedrohung mittels Drohbriefen vorgetäuscht und somit eine falsche Verurteilung herbeigeführt.
Keine konkrete Fehlerquelle benannte hingegen E2. In seinem Fall habe man im erkennenden Verfahren den Tatnachweis nicht erbringen können. Ein späteres Geständnis des Freigesprochenen gegenüber seiner Mutter, die sich anschließend als Zeugin an die Polizei gewandt habe, habe ein (erfolgloses) Wiederaufnahmeverfahren angestoßen.
In Bezug auf den jeweiligen Wiederaufnahmegrund wandten die befragten Staatsanwälte mehrheitlich § 359 Nr. 5 StPO an (E1, E4, E5, E7, E9, E10). Als neue Tatsachen und Beweismittel wurden unter anderem eine Videoaufnahme, das Bekanntwerden der Doppelverfolgung, eingereichte Unterlagen der Verurteilten und psychiatrische Gutachten zur Schuldfähigkeit der Verurteilten angeführt. In Rahmen von Wiederaufnahmeanträgen zuungunsten von Verurteilten oder Freigesprochenen führten die Staatsanwälte sowohl § 362 Nr. 1, Nr. 2 als auch Nr. 4 StPO an (E2, E7, E8). In den insgesamt fünf erinnerlichen Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten des Verurteilten oder Freigesprochenen wurde je zwei Mal eine falsche Urkunde, zwei Mal eine rechtskräftig abgeurteilte falsche uneidliche Zeugenaussage und einmal ein späteres glaubhaftes Geständnis als Wiederaufnahmegrund angeführt. In einem weiteren Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten eines Freigesprochenen konnte sich der Experte nicht mehr an den angeführten Wiederaufnahmegrund erinnern.
3.2.6 Schwierigkeiten im Kontext von Wiederaufnahmeverfahren
Sämtliche Experten gaben an, keine Schwierigkeiten in Bezug auf die rechtlichen Bestimmungen bzw. grundsätzlich im Hinblick auf Wiederaufnahmeverfahren zu sehen. Wiederaufnahmeverfahren seien zwar an anspruchsvolle und enge formale Voraussetzungen geknüpft, allerdings seien diese im Hinblick auf die Rechtskraft nachvollziehbar und gut gelöst. Drei Experten (E5, E9, E10) schränkten diese Aussage insofern ein, als dass sie angaben, sich nicht intensiv genug mit Wiederaufnahmeverfahren beschäftigt zu haben, da diese nur einen sehr geringen Anteil ihrer beruflichen Tätigkeit ausmachten. Lediglich E2 fügte hinzu, dass er es als hochproblematisch ansehe, dass neue Ermittlungserkenntnisse, wie beispielsweise DNA-Beweise – insbesondere bei schweren Delikten – nicht in den Wiederaufnahmegründen des § 362 StPO eingeschlossen seien. An dieser Stelle ist anzumerken, dass die hiesige Interviewstudie vor der am 24.06.2021 durch den Bundestag beschlossenen diesbezüglichen Gesetzesänderung durchgeführt wurde.
3.2.7 Zugang für Betroffene und Ratschläge
Neun der elf befragten Staatsanwälte gaben an, dass der Zugang für Betroffene zu Wiederaufnahmeverfahren grundsätzlich ausreichend sei (E1, E2, E4, E5, E6, E7, E8, E9, E10). E7 und E11 äußerten jeweils, dass sie Verurteilte, die einen unzulässigen Wiederaufnahmeantrag selbst stellten, über die geltenden Formvorschriften informierten, um den Zugang zu gewährleisten. Lediglich E3 schränkte ein, dass der Zugang für Betroffene zu Wiederaufnahmeverfahren zwar möglich, jedoch schwierig ausgestaltet und eng formuliert sei. E11 führte darüber hinaus aus, dass die Vertretung durch erfahrene und spezialisierte Rechtsanwält:innen vermutlich an deren geringen Anzahl und den mangelnden finanziellen Mitteln Betroffener scheitere.
Nach Ratschlägen für Betroffene gefragt, gaben drei der Staatsanwälte an, dass sie Betroffenen zunächst raten würden im Ausgangsverfahren sämtliche Beweismittel und Rechtsmittel auszuschöpfen, um ein rechtskräftiges Fehlurteil zu vermeiden (E1, E6, E9). Es sei sehr schwer mittels eines Wiederaufnahmeverfahrens gegen ein rechtskräftiges Urteil vorzugehen. Darüber hinaus betonten neun der elf Staatsanwälte, dass zu Unrecht Verurteilte sich unbedingt an auf Wiederaufnahmeverfahren spezialisierte und erfahrene Rechtsanwält:innen wenden sollten (E2, E3, E4, E5, E7, E8, E9, E10, E11). Es bestünden große rechtliche Hürden im Hinblick auf das Wiederaufnahmeverfahren. Außerdem könnten Rechtsanwält:innen bereits vorab prüfen, ob ein Wiederaufnahmeverfahren Aussicht auf Erfolg habe und Betroffene entsprechend beraten. E11 merkte an, dass Betroffene sich für das Wiederaufnahmeverfahren an neue Rechtsanwält:innen wenden sollten, da dadurch weniger Rechtfertigungsdruck oder persönliche Betroffenheit bestünden.
3.2.8 Änderungswünsche und Verbesserungsvorschläge
Sechs der befragten Staatsanwälte führten aus, keine Änderungswünsche oder Reformvorschläge in Bezug auf das Wiederaufnahmeverfahren zu haben (E1, E5, E6, E7, E9, E10). Die restlichen fünf Experten machten unterschiedliche konkrete Reformvorschläge. So äußerte E2, dass die Information über die Möglichkeit des Wiederaufnahmeverfahrens von Seiten der Verteidigerschaft an ihre Mandanten verbessert werden könnte. Außerdem führe die Wiederaufnahme ein Schattendasein. Der Austausch über dieses Thema sowie die Möglichkeit von Fortbildungen für Richter:innen und Staatsanwält:innen wäre sinnvoll. E11 äußerte den Wunsch, dass Rechtsanwält:innen besser und intensiver über die Mechanismen und Vorschriften des Wiederaufnahmeverfahrens informiert sein sollten. Darüber hinaus könnte die Möglichkeit der Pflichtverteidigerbestellung ausgebaut und insbesondere zeitlich vorgezogen werden. Jedoch bestünden hier wiederum Bedenken, dass diese Option von Verurteilten mit unzulässigen oder unbegründeten Wiederaufnahmeanliegen ausgenutzt werden könnte. E3 sowie E4 gaben an, dass eine Zuständigkeit der ordentlichen Dezernenten im Wiederaufnahmeverfahren überdacht werden könnte, um eine Politisierung des Verfahrens zu vermeiden. Eine Zuständigkeit der Generalstaatsanwaltschaft könne hier eventuell Abhilfe schaffen. E8 kritisierte wiederum die ausgesprochen lange Dauer von Wiederaufnahmeverfahren, die sich negativ auf das Erinnerungsvermögen von Zeug:innen auswirken könne.
Im Rahmen der Interviews wurden die Staatsanwälte konkret nach ihrer Meinung zu der Einrichtung einer zuständigen Stelle bei der Staatsanwaltschaft gefragt, an die sich Betroffene mit ihrem Wiederaufnahmeanliegen wenden könnten. Von sämtlichen Staatsanwälten wurde jedoch geäußert, dass kein Bedarf für eine solche Stelle gesehen werde. E11 führte dazu aus, dass die Aufgabe der Staatsanwaltschaft nicht die Rechtsberatung sei. E9 gab an, dass die Idee einer spezialisierten Stelle zunächst zwar einleuchte, er jedoch befürchte, dass diese nicht die Situation der Betroffenen verbessern würde. Vielmehr erwarte er, dass eine solche zuständige Stelle vor allem wisse, wie man Wiederaufnahmeanliegen »wegbügelt«. E7 vermutete ähnlich, dass eine solche Stelle lediglich zu Mehrarbeit für die Staatsanwaltschaft, jedoch ohne echten Nutzen für die Betroffenen führen würde.
4 Diskussion
In der vorliegenden Untersuchung wurden 10 Strafverteidiger sowie 11 Staatsanwälte zu ihren Erfahrungen mit (dem Vorfeld von) Wiederaufnahmeverfahren befragt, die alle bereits mindestens einen Wiederaufnahmeantrag gestellt hatten. Bevor die Ergebnisse dieser Befragung inhaltlich diskutiert werden sollen, erscheint es zunächst erforderlich, einen genaueren Blick auf die Fallkonstellationen zu werfen, die sich anhand der Angaben der Experten abbilden lassen. Aus den von den Strafverteidigern und Staatsanwälten berichteten Fallbeispielen lassen sich drei prinzipielle Fallkonstellationen identifizieren.
Mögliche Verurteilung eines Unschuldigen (Anträge zugunsten von Verurteilten). Hier handelt es sich um Fälle, in denen die verurteilte Person angibt, die fragliche Tat nicht begangen zu haben, und argumentiert, dass die relevante Tat durch eine andere Person begangen worden sei oder (in dieser Form) gar nicht stattgefunden habe. Diese Fallkonstellation ist diejenige, die sich überwiegend in den Fällen der Strafverteidiger abbildet, sie findet sich jedoch auch in den durch die Staatsanwälte beschriebenen Fällen.
Möglicher Freispruch eines Schuldigen (Anträge zuungunsten des Verurteilten oder Freigesprochenen). Diese Konstellation ergibt sich naturgemäß nur aus den Angaben der befragten Staatsanwälte.
Mögliche fehlerhafte Rechtsfolgen (Anträge zugunsten von Verurteilten). Bei dieser dritten Fallkonstellation werden zwar ebenfalls Wiederaufnahmeanträge zugunsten von Verurteilten gestellt. Sie unterscheidet sich jedoch von der ersten Fallkonstellation, da die Täterschaft einer Person nicht in Frage gestellt wird, sondern ausschließlich die Rechtsfolgen (z. B. unzulässige Gesamtstrafe, Doppelverurteilung, Verurteilung aufgrund unerkannter Schuldunfähigkeit). Über solche Anträge berichteten in der vorliegenden Untersuchung ebenfalls ausschließlich Staatsanwälte.
Die Unterscheidung dieser Fallkonstellationen ist v. a. deshalb relevant, weil sich unabhängig vom individuellen Fall bereits aus diesen Konstellationen unterschiedliche Probleme ergeben können. Da sich die Strafverteidiger und Staatsanwälte im Rahmen der Experteninterviews mehrheitlich jeweils auf unterschiedliche Fallkonstellationen bezogen, sind abweichende Angaben und Ansichten in weiten Teilen nicht überraschend, sondern vielmehr zu erwarten. Zu berücksichtigen ist ferner, dass sich die Fallkonstellationen auch hinsichtlich der Deliktschwere und folglich der resultierenden Sanktionen unterscheiden: Während die Staatsanwälte, die überwiegend Anträge zugunsten eines Verurteilten wegen fehlerhafter Rechtsfolgen stellten, oftmals eher von Fällen leichter Kriminalität (Fahren ohne Führerschein, Diebstahl etc.) berichteten, beinhalteten die Fallbeispiele der Strafverteidiger, die allesamt die erste Fallkonstellation betrafen, in der Regel Fälle schwerer Kriminalität (v. a. Sexual- und Tötungsdelikte).
Erfolg von Wiederaufnahmeverfahren
Auf der Basis der geführten Interviews ist davon auszugehen, dass von Staatsanwälten gestellte Anträge zugunsten eines Verurteilten die größte Aussicht auf Erfolg haben: Während die befragten Strafverteidiger angaben, dass etwa jeder zweite bis dritte gestellte Wiederaufnahmeantrag Erfolg gehabt habe, erklärten die interviewten Staatsanwälte, dass ihre zugunsten von Verurteilten gestellten Wiederaufnahmeanträge ausnahmslos erfolgreich gewesen seien. Hinsichtlich der von Staatsanwälten gestellten Wiederaufnahmeanträge zuungunsten des Verurteilten oder Freigesprochenen zeigte sich hingegen, dass lediglich jeder dritte durch die Staatsanwälte gestellte Antrag Erfolg hatte. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass die hier befragten Staatsanwälte insgesamt nur sehr wenige Wiederaufnahmeanträge zuungunsten von Verurteilten oder Freigesprochenen gestellt hatten, so dass es sich nicht um ein belastbares Ergebnis handelt. Festzuhalten ist aber, dass sich auch in der Aktenanalyse von Dunkel (2018) zeigte, dass von 18 durch die Staatsanwaltschaft gestellten Anträgen lediglich 4 Anträge zuungunsten eines Verurteilten oder Freigesprochenen gestellt wurden und dass 16 der 18 Anträge erfolgreich waren (davon 13 der 14 zugunsten eines Verurteilten und 3 der 4 zuungunsten eines Verurteilten oder Freigesprochenen gestellten Anträge).
Die höhere Erfolgsquote der durch die Staatsanwaltschaft gestellten Anträge zugunsten eines Verurteilten im Vergleich zu den durch die Strafverteidiger gestellten Anträgen lässt sich vor allem durch die unterschiedlichen Fallkonstellationen erklären, insbesondere durch die mehrheitlich auf die Rechtsfolgen abzielenden Anträge der Staatsanwaltschaft. Bei den im Rahmen dieser Konstellation durch die Staatsanwaltschaft gestellten Anträgen geht es nach den Angaben der befragten Staatsanwälte nahezu ausschließlich um eindeutige Wiederaufnahmegründe, die sich unkompliziert anführen lassen und entsprechend erfolgreich sind. Prinzipiell wäre zwar auch denkbar, dass die höhere Erfolgsquote durch den Status der Antragsteller erklärt werden kann (d. h. Anträge wären per se erfolgreicher, wenn sie von der Staatsanwaltschaft gestellt werden), dagegen ist jedoch anzuführen, dass die Anträge der Staatsanwaltschaft zuungunsten eines Verurteilten oder Freigesprochenen in der hiesigen Untersuchung die geringste Erfolgsquote aufwiesen. Einschränkend ist dabei die geringe Fallzahl von Anträgen zuungunsten Verurteilter oder Freigesprochener in der hiesigen Stichprobe zu beachten; in der von Dunkel (2019) analysierten Aktenstichprobe waren 3 von 4 Anträgen der Staatsanwaltschaft zuungunsten des Verurteilten oder Freigesprochenen erfolgreich und wiesen somit keine besonders ungünstige Erfolgsquote auf. Zur weiteren Klärung dieser Frage sind Ergebnisse aus einer aktuell im Rahmen des Projekts Fehler und Wiederaufnahme im Strafverfahren[3] durchgeführten quantitativen Aktenanalyse mit einer größeren Stichprobe zu erwarten.
Darüber hinaus war festzustellen, dass die relativen Erfolgsquoten auch innerhalb der Gruppe der befragten Strafverteidiger mit Angaben von ca. 2 % bis hin zu 100 % sehr stark variierten. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass auch die Zahl der gestellten Anträge sehr unterschiedlich ausfiel, obwohl alle Befragten über eine große Anzahl von Anfragen berichteten. Wie im Folgenden dargelegt wird, gibt es verschiedene Umstände, die beeinflussen, ob ein Antrag gestellt wird oder nicht. Einer der Faktoren ist die Einschätzung der Erfolgsaussicht. Hier kann eine konservativere oder liberalere Einschätzung getroffen werden und dies kann sich auf die relative Erfolgsquote auswirken. De facto bewegten sich bei allen Befragten die erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahren im einstelligen Bereich.
Kriterium für das Stellen eines Wiederaufnahmeantrags
Im Hinblick auf die Abwägungen und den Entscheidungsprozess für oder gegen das Stellen eines Wiederaufnahmeantrags ergeben sich ebenfalls in Abhängigkeit von der Fallkonstellation unterschiedliche Muster.
Die befragten Strafverteidiger nannten mehrheitlich die Erfolgsaussicht eines Antrags als Kriterium. Für Strafverteidiger:innen stellt sich die Ausgangssituation folgendermaßen dar: Ausgangspunkt ist in der Regel meist nicht das Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes, sondern vielmehr ein:e Mandant:in, der oder die angibt, falsch verurteilt worden zu sein. Es gilt erst zu prüfen, ob überhaupt ein Wiederaufnahmegrund vorliegt und ein entsprechender Antrag Aussicht auf Erfolg hat, wobei das Vorliegen der gesetzlich festgelegten Wiederaufnahmegründe, insbesondere der Nova, entscheidend ist (vgl. Strate, 2014).
Darüber hinaus wurden auch Finanzierungsmöglichkeiten bzw. die Bezahlung der anwaltlichen Tätigkeit, ein sachlicher und fundierter Vortrag des Falls sowie vereinzelt eine vorliegende Sympathie gegenüber den Betroffenen als weitere Kriterien für eine Fallübernahme benannt. Etwa die Hälfte der Strafverteidiger gab außerdem an, dass sie als Voraussetzung für einen Wiederaufnahmeantrag die jeweiligen Betroffenen tatsächlich für unschuldig halten müssten (zur Auswahl von Fällen vgl. auch Strate, 2014).
Die Staatsanwälte hingegen betonten übereinstimmend, dass ausschließlich das Vorliegen eines gesetzlichen Wiederaufnahmegrundes ausschlaggebend für ihre Entscheidung zum Stellen eines Wiederaufnahmeantrags sei. Bei den von der Staatsanwaltschaft zugunsten eines Verurteilten gestellten Anträgen wird ein Fall aber auch überhaupt erst durch das Feststellen eines eindeutigen Wiederaufnahmegrunds zu einem potentiellen Wiederaufnahmefall, wie dies beispielsweise beim Bekanntwerden des Vorliegens einer Doppelverurteilung der Fall ist. Überlegungen zu Erfolgsaussichten sind daher nicht notwendig. Fälle, in denen trotz des Vorliegens eines eindeutigen Wiederaufnahmegrunds von dem Stellen eines Antrags zugunsten eines Verurteilten abgesehen wurde, wurden nicht beschrieben.
Keiner der Staatsanwälte berichtete, dass den zuungunsten eines Verurteilten oder Freigesprochenen gestellten Anträgen eine explizite Suche nach einem Wiederaufnahmegrund auf der Basis der Annahme eines falschen Freispruchs vorausgegangen war. Vielmehr sei der Entscheidungsprozess durch das Vorliegen eines potentiellen Wiederaufnahmegrunds (beispielsweise Verurteilung eines Entlastungszeugen wegen einer falschen Zeugenaussage) ausgelöst worden. Für die endgültige Entscheidung zur Antragsstellung hätten in dieser Konstellation auch bei den Staatsanwälten Überlegungen zu Erfolgsaussichten eine Rolle gespielt.
Aktivitäten im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags
Ausgehend von den unterschiedlichen Ausgangslagen ergeben sich auch unterschiedliche Vorgehensweisen im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrages. Die Staatsanwälte äußerten, dass in der Regel keine neuen Ermittlungen zur Vorbereitung von Wiederaufnahmeanträgen angestrengt werden. Den Angaben ist zu entnehmen, dass dies meist auch nicht erforderlich war, da es sich bei ihren Anträgen überwiegend um sehr eindeutige, in der Regel im Hinblick auf die Rechtsfolgen fehlerhafte Urteile gehandelt habe.
Bei den Strafverteidigern gehen gestellten (und auch nicht gestellten) Anträgen vielfältige Aktivitäten voraus: Neben der Aktenlektüre benannten die Strafverteidiger insbesondere das Befragen potentieller Zeugen und eigene Ermittlungstätigkeiten in Form von Recherchen als Kerntätigkeiten, um neue Beweismittel zu finden bzw. zu beschaffen, auf die sich ein späterer Wiederaufnahmeantrag stützen kann. In diesem Rahmen wurde auch die Beauftragung neuer Sachverständigengutachten sowie der Zugriff auf asservierte Beweismittel benannt, wobei beides nach Angaben der Befragten nicht leicht zu realisieren sei, da häufig die finanziellen Mittel oder der Zugang nicht zur Verfügung stünden. Von einzelnen Strafverteidigern wurde darüber hinaus angeführt, dass in Fällen, in denen keine neuen Beweismittel oder Tatsachen vorliegen oder gefunden wurden, versucht werden könne eine andere Sachverhaltsbeurteilung durch Anstrengen eines Zivilverfahrens zu erreichen, die wiederum die Tür für einen Wiederaufnahmeantrag öffnen könne.
Die Mehrheit der befragten Strafverteidiger gab auf Nachfrage an, die Staatsanwaltschaft noch nie um Unterstützung im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags gebeten zu haben. Eine solche Anfrage wurde als wenig erfolgversprechend angesehen. Teils wurden von den Strafverteidigern auch ablehnende Reaktionen der Staatsanwaltschaft auf Unterstützungsersuchen beschrieben, wobei ein Strafverteidiger angab, dass er neben negativen Erfahrungen auch bereits Unterstützung im Rahmen des Möglichen erlebt habe. Im Gegensatz dazu gaben zehn der elf befragten Staatsanwälte an, dass sie bereit seien, mit Rechtsanwält:innen im Hinblick auf das Anstreben eines Wiederaufnahmeverfahrens im Fall eines substantiierten Fallvortrags zu kooperieren. Diese gegenteiligen Angaben könnten einerseits dem Umstand geschuldet sein, dass die Stichprobe der befragten Staatsanwälte nicht repräsentativ ist, da jeder Staatsanwalt bereits mindestens einen Wiederaufnahmeantrag von Amts wegen gestellt und sich damit bereits offen für ein solches Verfahren und die Möglichkeit von Fehlurteilen gezeigt hatte. Darüber hinaus berichteten alle Staatsanwälte, dass sie bisher noch nie mit einem solchen Kooperationsersuchen kontaktiert worden seien, daher handelt es sich bei ihren Angaben lediglich um theoretische Überlegungen; ein möglicher Einfluss von sozialer Erwünschtheit auf das Antwortverhalten muss zumindest in Betracht gezogen werden. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass sich die von den Strafverteidigern überwiegend erwartete ablehnende Haltung in den Angaben der hier befragten Staatsanwälte nicht zeigte und durch einen grundsätzlichen Verzicht auf solche Unterstützungsersuchen somit in manchen Fällen möglicherweise Chancen vertan werden.
Typische Fehlerquellen und gesetzliche Wiederaufnahmegründe
Die Mehrzahl der Strafverteidiger benannte Sachverständigengutachten als häufige Fehlerquelle. Besonders herausgehoben wurden dabei psychologische Gutachten (v. a. Glaubhaftigkeitsgutachten), Schuldfähigkeitsgutachten sowie rechtsmedizinische Gutachten. Ein weiteres Problem liege zusätzlich in der Würdigung von Sachverständigengutachten durch Richter:innen, da die Gutachten selten kritisch bewertet würden. Ebenfalls von einer Mehrzahl benannt wurde das Problem des Tunnelblicks (Findley, 2012; Findley & Scott, 2006) im Ermittlungsverfahren, sprich die verfrühte Festlegung auf einen mutmaßlichen Täter, wodurch auch das spätere Gerichtsverfahren geprägt werde. Die Hälfte der befragten Strafverteidiger benannte (falsche) Zeugenaussagen, insbesondere im Bereich von Sexualstraftaten als eine Hauptfehlerquelle, die zu Fehlurteilen führe. Mangelhaft durchgeführte Gegenüberstellungen könnten darüber hinaus falsche Personenidentifikationen verursachen. Falsche Geständnisse wurden ebenfalls vereinzelt als Fehlerquelle benannt. Die genannten Fehlerquellen entsprechen somit zum erheblichen Teil denen, die bereits von Peters (1970, 1972) genannt wurden, was darauf verweist, dass seitdem noch keine Wege zur Verbesserung gefunden wurden. Arnemann (2019) fand in ihrer Befragung von Strafverteidiger:innen ebenfalls teilweise korrespondierende Befunde bezüglich der genannten Gründe für Fehlurteile. Dort wurde insbesondere angeführt, Fehlurteile seien in unzureichender Arbeit der Justiz begründet, wobei Unzulänglichkeiten oftmals bereits im Ermittlungsverfahren aufträten. Als weitere Fehlerquellen wurden dort eine falsche anwaltliche Beratung sowie fehlende Kenntnisse der Verfahrensbeteiligten in Komplementärwissenschaften benannt.
Die befragten Strafverteidiger betonten, dass das Vorliegen einer Fehlerquelle allein aber noch nicht zu einem Wiederaufnahmeverfahren berechtige. Fehler könnten mitunter nicht mittels der gesetzlichen Wiederaufnahmegründe geltend gemacht werden, dafür würden vielmehr neue Beweismittel bzw. Tatsachen benötigt. Bei § 359 Nr. 5 StPO handele es sich um den wesentlichen Wiederaufnahmegrund, der auch als »Türöffner« fungiere, wenn die eigentliche Ursache für das Fehlurteil nicht durch die gesetzlichen Wiederaufnahmegründe geltend gemacht werden könne. Andere Wiederaufnahmegründe liegen nach Auffassung der Strafverteidiger eher selten vor und hätten keine große praktische Bedeutung.
Die von den befragten Staatsanwälten am häufigsten benannte Fehlerquelle ist eine unerkannte Doppelverfolgung, die auf die mangelnde bzw. schleppende Kommunikation zwischen nationalen und internationalen Behörden zurückgeführt wurde. Ähnlich gelagert ist das Problem der fehlerhaften Gesamtstrafenbildung, das ebenfalls vereinzelt beschrieben wurde. Darüber hinaus wurde das Problem der fehlenden oder verspäteten Einwände und Einsprüche durch die Betroffenen, insbesondere in Strafbefehlsverfahren benannt, durch die Fehlurteile rechtskräftig werden könnten, die später im Rahmen der Wiederaufnahme korrigiert werden müssten. Hingewiesen wurde ferner auf eine unerkannte Schuldunfähigkeit der Verurteilten sowie fehlende Möglichkeiten des persönlichen Eindrucks von Zeugen auf Basis der Akten. Im Hinblick auf Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten des Verurteilten oder Freigesprochenen wurden außerdem falsche Aussagen von gesondert verfolgten Mittätern benannt, die später zu einem Wiederaufnahmeverfahren führten.
Auch die befragten Staatsanwälte betonten im Hinblick auf Wiederaufnahmeverfahren zugunsten Verurteilter die besondere Rolle der neuen Tatsachen und Beweismittel gemäß § 359 Nr. 5 StPO. Im Rahmen von Wiederaufnahmeverfahren zuungunsten des Verurteilten oder Freigesprochenen wurden unechte bzw. gefälschte Urkunden (§ 362 Nr. 1 StPO) sowie nachweislich und vorsätzlich falsche uneidliche Zeugenaussagen (§ 362 Nr. 2 StPO) in gleicher Häufigkeit als Wiederaufnahmegründe angeführt. Die befragten Staatsanwälte verneinten allesamt jemals nach Wiederaufnahmegründen gesucht zu haben, wenn sie ein Urteil für falsch gehalten hätten.
Gründe für Erfolglosigkeit/Hürden in Wiederaufnahmeverfahren
Sowohl in der Untersuchung von Dunkel (2018) als auch in der hiesigen Befragung ergab sich, dass durch Strafverteidiger gestellte Wiederaufnahmeanträge eine geringere Erfolgsquote aufweisen als staatsanwaltschaftliche Anträge zugunsten Verurteilter, obwohl die Erfolgsquote aufgrund der systematischen Auswahl von in Wiederaufnahmesachen erfahrenen und renommierten Anwälten mit durchschnittlich 30 bis 50 % vermutlich gemessen an durchschnittlichen Erfolgsquoten von anwaltlichen Wiederaufnahmeanträgen ausgesprochen hoch liegt; wenngleich auch diese Anwälte die Erfolgsquoten in diesem Bereich als sehr gering oder sogar gegen Null gehend bezeichneten. Daher ist es wenig überraschend, dass in der hiesigen Studie vor allem die Expertengruppe der Strafverteidiger Angaben in Bezug auf die (vermuteten) Gründe für die auch in der Literatur thematisierte Erfolgslosigkeit von Wiederaufnahmeanträgen machten.
Die Strafverteidiger benannten insbesondere das Problem der fehlenden Sachkenntnis und Kompetenz von Rechtsanwält:innen in Bezug auf das Spezialgebiet des Wiederaufnahmeverfahrens, das nicht in der Fachanwaltsausbildung vermittelt werde. Es sei höchst anspruchsvoll Wiederaufnahmeanträge zu formulieren. Vereinzelt wurde auch die fehlende Bereitschaft von Strafverteidiger:innen, sich mit Wiederaufnahmeverfahren zu beschäftigen, kritisiert.
Darüber hinaus sei die restriktive Gesetzgebung in Kombination mit einer noch restriktiveren Auslegung dieser problematisch. Viele Anträge scheiterten bereits an der Zulässigkeit, was sich vor allem in den strengen Maßstäben, die an neue Tatsachen und Beweismittel gelegt würden, niederschlage. Insbesondere die Rechtsbegriffe der Neuheit sowie der Geeignetheit und Erheblichkeit bereiteten hier Schwierigkeiten, da diese im Ermessen des Gerichts lägen und von Richtern unterschiedlich ausgelegt würden. Allerdings hätten auch missbräuchliche Wiederaufnahmeanträge zur restriktiven Handhabung des Wiederaufnahmeverfahrens beigetragen.
Grundsätzlich monierte die Mehrheit der befragten Strafverteidiger in dieser Untersuchung, die (rechtlichen) Hürden im Wiederaufnahmeverfahren seien sehr hoch und manchmal nicht überwindbar. Im Gegensatz dazu gaben sämtliche Staatsanwälte an, keine Schwierigkeiten in Bezug auf die rechtlichen Bestimmungen oder grundsätzlich das Wiederaufnahmeverfahren zu sehen. Die formalen Voraussetzungen für ein Wiederaufnahmeverfahren seien zwar eng und anspruchsvoll, jedoch gut gelöst.
Einige Strafverteidiger führten die Erfolglosigkeit von Wiederaufnahmeanträgen zudem auf die Einstellung der Justiz zurück, die neben einer geringen Bereitschaft, sich mit eigenen Fehlern und Justizirrtümern auseinanderzusetzen auch ein großes Beharrungsvermögen auf der Rechtskraft zeige. Dazu komme ein »ausgeprägter Korpsgeist« in der Justiz, der bei den entscheidenden Richter:innen zu Hemmungen im Hinblick auf Wiederaufnahmeverfahren führe (vgl. auch Eschelbach, 2008; Marxen & Tiemann, 2014).
Im starken Kontrast dazu stehen die Angaben der befragten Staatsanwälte, die eine prinzipiell negative Einstellung der Justiz gegenüber Wiederaufnahmeanträgen verneinten und beschrieben, dass Wiederaufnahmeanträge, wie jedes andere Verfahren auch, professionell und sachlich bearbeitet würden. Ein einzelner Staatsanwalt gab jedoch einschränkend an, dass – mit Ausnahme eklatanter Fehlurteile – ein gewisser »Beißreflex« zum Schutz der Rechtskraft in der Justiz bestehe. Darüber hinaus erklärten einige Staatsanwälte, dass erkennbar unzulässige, aussichtslose und unsachliche Wiederaufnahmeanträge negative Reaktionen hervorrufen könnten.
Schwierigkeiten, die ausschließlich Strafverteidiger im Kontext von Wiederaufnahmeverfahren betreffen und entsprechend benannt wurden, sind mangelnde Befugnisse und Ermittlungsrechte der Verteidigung. Dies treffe auch auf die Beauftragung von Sachverständigengutachten zu, wobei hier zusätzlich die fehlende Kooperationsbereitschaft betroffener Zeug:innen zu erneuten Explorationen problematisch sei. Von einigen wurde auch die Untätigkeit der Ermittlungsbehörden bemängelt.
Die befragten Staatsanwälte berichteten zumeist von Fällen, in denen sie einen Fehler bemerkt oder intern, beispielsweise von der Vollstreckungsabteilung, auf diesen aufmerksam gemacht und dadurch zum Stellen eines Wiederaufnahmeantrags veranlasst wurden. Lediglich in Einzelfällen gaben sie an, durch die Betroffenen selbst oder durch Dritte, beispielsweise Journalist:innen, auf das Vorliegen eines zu korrigierenden Fehlurteils hingewiesen worden zu sein. Letztlich lassen sich jedoch keine generellen Aussagen darüber treffen, wie die Staatsanwaltschaft auf mögliche Fehler reagiert, wenn diese von Betroffenen angeführt werden. Wie weiter oben bereits ausgeführt wurde, konnten sämtliche Staatsanwälte im Hinblick auf eine mögliche Kooperation mit Strafverteidiger:innen zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags lediglich theoretische Aussagen treffen.
Zugang für Betroffene und Reformvorschläge für einen verbesserten Zugang
Während die Staatsanwälte im Rahmen der hiesigen Befragung angaben, dass der Zugang für Betroffene zu Wiederaufnahmeverfahren grundsätzlich ausreichend sei, wurde von den befragten Strafverteidigern bemängelt, dass in der Praxis kein ausreichender Zugang bestehe.
Gemäß § 366 Abs. 2 StPO kann ein Angeklagter den Antrag auf Wiederaufnahme nur mittels einer von dem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift einreichen oder zu Protokoll der Geschäftsstelle geben. Aufgrund der hohen rechtlichen Hürden gaben jedoch beide Expertengruppen übereinstimmend an, sie würden Betroffenen raten, sich an Strafverteidiger:innen mit ausgewiesenem Spezialwissen zu wenden, wenn sie eine Wiederaufnahme anstrebten. Folgt man den Angaben der Strafverteidiger, stellt jedoch gerade dieser Aspekt eine Schwierigkeit dar, die sich auf den Zugang für Betroffene auswirkt, da es nur eine kleine Gruppe von Strafverteidiger:innen gibt, die über solche Spezialkenntnisse verfügen.
Letztlich kann ein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten aber auch durch die Staatsanwaltschaft gestellt werden. Der Vorschlag eines Strafverteidigers, innerhalb der Staatsanwaltschaft eine zuständige Stelle einzurichten, an die sich Betroffene wenden könnten und die sich – ähnlich wie Conviction Integrity Units in den USA (vgl. Momsen & Diederichs, 2021) – mit potentiellen Wiederaufnahmefällen befassten, wurde sowohl von den Staatsanwälten als auch von den anderen Strafverteidigern eher nicht befürwortet, jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft besteht für eine solche Stelle schlicht kein Bedarf. Die Strafverteidiger äußerten hingegen eher Zweifel, ob von Seiten der Staatsanwaltschaft Unterstützung zu erwarten wäre. Zudem wurde bezweifelt, ob die Staatsanwaltschaft ausreichend Neutralität zeigen würde, sodass eher unabhängige Organisationen bzw. staatlich finanzierte Vereine zu bevorzugen seien.
Eine weitere Zugangsbeschränkung ergibt sich laut Angaben der Strafverteidiger:innen aus der Finanzierung. Derzeit werde ein Teil der zeitaufwendigen Fälle von Anwält:innen pro bono bearbeitet. In vielen Fällen scheitere eine anwaltliche Beauftragung an der fehlenden Finanzierung. Ebenso könnten Sachverständigengutachten potentiell ein neues Beweismittel liefern, die Beauftragung scheitere aber an fehlenden finanziellen Mitteln. Zur Verbesserung der Finanzierung wurden von den Strafverteidigern verschiedene Vorschläge gemacht, wobei auch Bezug auf Reformen im Hinblick auf eine angemessenere Vergütung im Rahmen der Pflichtverteidigerbestellung genommen wurde. Zusätzlich wurde eine Vorverlagerung der Pflichtverteidigerbestellung thematisiert, die auch von einem Staatsanwalt als mögliche Reformmaßnahme angesprochen wurde.
Reformvorschläge für das Wiederaufnahmeverfahren
Von den Staatsanwälten, von denen nur wenige überhaupt Änderungswünsche oder Reformvorschläge äußerten, wurden keine Vorschläge in Bezug auf die gesetzlichen Bestimmungen zu den Wiederaufnahmegründen gemacht. Auch die Mehrheit der Strafverteidiger sah keinen Verbesserungsbedarf in Bezug auf die gesetzlichen Regelungen des § 359 StPO. Lediglich der Wunsch, den Katalog der Wiederaufnahmegründe zu erweitern und den § 359 Nr. 2 StPO dahingehend zu erweitern, auch eine fahrlässige uneidliche Falschaussage zu berücksichtigen, wurden vereinzelt benannt. Gleichzeitig wurde auch aus den Reihen der Strafverteidiger geäußert, eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe nicht zu befürworten.
Die Änderungswünsche der Strafverteidiger zielten vielmehr darauf ab, die Hürden für eine erfolgreiche Wiederaufnahme zu senken, wobei vor allem eine weniger restriktive Handhabung und Rechtsprechung gewünscht wurde. Von Seiten der Strafverteidigung wurde dabei insgesamt von einer eher ablehnenden Haltung der Justiz gegenüber Wiederaufnahmeverfahren gesprochen, wohingegen eine offenere Haltung wünschenswert wäre. Zudem wurde vorgeschlagen, das Wiederaufnahmeverfahren nicht ausschließlich schriftlich stattfinden zu lassen, sondern bereits vor der Zulässigkeitsentscheidung einen mündlichen Termin einzuführen.
Ein Strafverteidiger machte zudem den Vorschlag, Anwaltsgerichte über Wiederaufnahmeanträge entscheiden zu lassen und vermutete, hierdurch höhere Erfolgsquoten erzielen zu können.
Während der § 359 StPO von den Strafverteidigern eher wenig kritisiert wurde, wurden gesetzliche Reformen jedoch an anderer Stelle für wichtig erachtet: Reformen im Bereich der Protokollierung von Hauptverhandlungen könnten den Nachweis erleichtern, dass Sachverhalte im Erkenntnisverfahren nicht angemessen berücksichtigt wurden. Reformen im Hinblick auf die Aufbewahrung und den Zugang zu asservierten Beweismitteln könnten wiederum die Ermittlungen von Verteidiger:innen im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags erleichtern.
5 Abschließende Schlussfolgerungen
Bei der Diskussion um Wiederaufnahmeanträge sollte stets bedacht werden, dass hierunter ganz unterschiedliche Fallkonstellationen zu subsumieren sind. Zu unterscheiden ist nicht nur zwischen Anträgen zugunsten von Verurteilten und solchen zuungunsten von Verurteilten oder Freigesprochenen. Die Anträge zugunsten von Verurteilten sind ferner zu unterscheiden in a) Fälle, in denen reklamiert wird, dass eine Person für eine Tat verurteilt worden ist, die sie nicht begangen hat oder die überhaupt nicht stattgefunden hat, und b) Fälle, in denen die Täterschaft nicht in Frage steht, in denen aber möglicherweise fehlerhafte Rechtsfolgen eingetreten sind. Nicht nur die Strafverteidiger, sondern auch die hier befragten Staatsanwälte hatten überwiegend Anträge zugunsten von Verurteilten gestellt, letztere aber eben vor allem solche, die sich auf fehlerhafte Rechtsfolgen beziehen. Ergebnisse der Aktenanalyse von Dunkel (2018) lassen darauf schließen, dass ein substantieller Teil der erfolgreichen Wiederaufnahmeanträge in diese Kategorie fällt. Bereits in der Untersuchung von Peters fand sich anteilmäßig die höchste Fehlerquote in Bezug auf eine unerkannte Schuldunfähigkeit, die dieser Kategorie zugeordnet werden kann (Peters, 1970, 1972).
Festzuhalten ist, dass die Regelungen des § 359 StPO sowie des (zum Zeitpunkt der Befragung geltenden) § 362 StPO von den meisten Befragten in beiden Expertengruppen nicht kritisiert, sondern als zweckmäßig erachtet wurden. Von Anwaltsseite wurde jedoch eine weniger restriktive Handhabung und Rechtsprechung und generell eine größere Offenheit gegenüber Wiederaufnahmeverfahren gewünscht.
Nach den Ergebnissen der vorliegenden Befragungen stellen Staatsanwälte nach Rechtskraft eines Urteils in der Regel keine weiteren Ermittlungen an, sondern werden mit Wiederaufnahmeanträgen dann aktiv, wenn ein eindeutiger Wiederaufnahmegrund bereits vorliegt. Dass Staatsanwälte Kenntnis von Wiederaufnahmegründen erlangen, scheint dabei eher zufällig zu sein (beispielsweise durch ein neues Verfahren, in dem Schuldunfähigkeit festgestellt wird, welche auch schon zum früheren Tatzeitpunkt bestand). Zwingend ist das Stellen eines Wiederaufnahmeantrags in einer solchen Situation nicht, wurde jedoch von allen befragten Staatsanwälten als Selbstverständnis angesehen. Wie generell Entscheidungsspielräume an dieser Stelle genutzt werden, ließ sich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht klären; zu vermuten ist, dass sowohl zeitliche Ressourcen als auch persönliche Einstellungen eine Rolle spielen.
Strafverteidiger:innen sind demgegenüber mit dem Umstand konfrontiert, dass Unschuld reklamiert wird, aber häufig zunächst kein Wiederaufnahmegrund erkennbar ist. Wiederaufnahmeanträgen müssen daher oft Ermittlungen vorausgehen, die aber nicht Bestandteil üblicher anwaltlicher Tätigkeit sind und zudem sehr zeit- und kostenaufwendig sein können.
Der Zugang zu Wiederaufnahmeverfahren für Verurteilte, die angeben, zu Unrecht verurteilt worden zu sein, ist nach den Ergebnissen der Befragung aktuell geprägt von Problemen der Finanzierung (sowohl der anwaltlichen Tätigkeit als auch der Bezahlung von Ermittlungsaktivitäten wie die Beauftragung von Sachverständigengutachten) und dem Umstand, dass nur wenige Anwält:innen über spezialisiertes Wissen über das Wiederaufnahmerecht verfügen. Die von uns befragten Strafverteidiger, die mindestens ein, häufig diverse Wiederaufnahmeverfahren erfolgreich geführt haben, berichteten über eine Fülle von Anfragen, von denen sie nur einen Bruchteil übernehmen können. Potentiell erfolgreiche Anträge können insofern sowohl an der Finanzierung als auch an nicht optimaler anwaltlicher Vertretung scheitern. Als mögliche Lösungsvorschläge wurden eine Vorverlagerung der Pflichtverteidigerbestellung und eine Erhöhung der entsprechenden Gebühren sowie eine Ausweitung von Fortbildungsmöglichkeiten im Bereich des Wiederaufnahmerechts formuliert.
Diese Reformvorschläge tangieren noch nicht die Probleme, die daraus resultieren, dass häufig Ermittlungstätigkeit von Strafverteidiger:innen im Vorfeld von Wiederaufnahmeanträgen notwendig ist (Momsen & Diederichs, 2021). Diesbezüglich wurden vor allem gesetzliche Reformen vorgeschlagen, die den Nachweis einer Fehlverurteilung erleichtern und die teilweise gar nicht im Wiederaufnahmerecht zu verankern wären. Dies betrifft insbesondere die audio(visuelle) Protokollierung der Hauptverhandlung, aber auch die Aufbewahrung und den Zugang zu asservierten Beweismitteln (vgl. auch Arnemann, 2019). Diese Reformvorschläge zielen im Ergebnis darauf ab, dass die Ermittlungstätigkeit im Vorfeld eines Antrags auf die tatsächlichen potentiellen Fehlerquellen fokussiert und dadurch begrenzt gehalten werden kann. Aktuell werden dagegen teilweise andere Wiederaufnahmegründe als Türöffner genutzt, um die vermuteten eigentlichen Fehlerquellen dann in einem neuen Hauptverfahren zu erörtern. Ein vollständiges Hauptverhandlungsprotokoll würde bspw. ermöglichen, direkt darauf zu verweisen, wenn Aussagen von entscheidenden Zeug:innen im Urteil nicht oder falsch wiedergegeben wurden.
Die von vielen Verteidiger:innen angenommene generell ablehnende bis feindliche Haltung der Justiz gegenüber Wiederaufnahmeverfahren wurde zumindest anhand der hiesigen Befragung der Staatsanwälte nicht in dieser Form bestätigt. Es ist gut möglich, dass die zur Befragung bereiten Staatsanwälte nicht repräsentativ für ihre Berufsgruppe sind; in der Literatur finden sich plastische Beispiele von abwehrenden Haltungen von Justizseite (z. B. Strate, 2014). Möglicherweise ist die ablehnende Haltung gegenüber begründeten Wiederaufnahmeanträgen jedoch auch nicht bei allen Vertreter:innen der Staatsanwaltschaft so ausgeprägt wie angenommen. Immerhin war in der von Dunkel (2018) durchgeführten Aktenanalyse der größte Teil der erfolgreichen zugunsten eines Verurteilten gestellten Anträge von der Staatsanwaltschaft formuliert worden. Zu ergänzen ist, dass in beiden Expertengruppen thematisiert wurde, dass eine reservierte Haltung gegenüber Wiederaufnahmeanträgen und eine restriktive Rechtsprechung nicht zuletzt auch Reaktion auf zahlreiche unbegründete und von vorneherein aussichtslose Anträge seien.
Ähnlich wie sich aus dem Verhältnis von vielen Anzeigen und wenigen Verurteilungen nicht ohne nähere Kenntnis ergibt, ob hier rechtlich angreifbare oder rechtlich richtige, aber sachlich problematische oder rechtlich und sachlich richtige Entscheidungen getroffen worden sind (z. B. Elz, 2021), lässt sich das Verhältnis von vielen gestellten und wenigen erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahren nicht ohne nähere Kenntnis der Anträge bewerten. Hierzu sind empirische Analysen der gestellten Anträge notwendig, wie sie in jüngerer Zeit von Dunkel (2018) vorgelegt und aktuell im von der DFG geförderten Projekt Fehler und Wiederaufnahme im Strafverfahren[4] durchgeführt werden.
Das Ziel dieser Expertenbefragung bestand darin, Informationen zum Vorfeld von Wiederaufnahmeverfahren zu erheben, die sich nicht durch Aktenanalysen erfassen lassen. Die Ergebnisse der hiesigen Befragung zeigen vor allem, dass in Fällen von tatsächlicher Fehlverurteilung Wiederaufnahmebestrebungen schon im Vorfeld eines Antrags an fehlender Finanzierung oder Überlastung von auf Wiederaufnahmeverfahren spezialisierten Anwält:innen scheitern können. Sie zeigen außerdem, dass der Nachweis einer tatsächlichen Fehlverurteilung unter Umständen deswegen nicht geführt werden kann, weil sowohl polizeiliche Vernehmungen als auch Erörterungen in der Hauptverhandlung wegen unzureichender bzw. fehlender Protokollierung nicht rekonstruiert werden können. Aus dem schriftlichen Urteil mag sich zuweilen ein Bild ergeben, das nicht dem tatsächlichen Stand der Erörterungen in der Hauptverhandlung entspricht, so dass nicht nachgewiesen werden kann, dass das Urteil auf falschen Voraussetzungen basiert (vgl. Schwenn, 2013)[5]. Solche Fälle finden sich in Aktenanalysen von Wiederaufnahmeverfahren nicht, weil erst gar keine Anträge gestellt werden.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung können keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, weil sie nur auf einer begrenzten Anzahl von Interviews basieren. Zur Beurteilung der Frage, ob die hier berichteten Ergebnisse repräsentativ sind, sind weitere empirische Untersuchungen notwendig. Auf Basis der Rückmeldungen der Staatsanwaltschaften entstand allerdings der Eindruck, dass die Zahl der Staatsanwält:innen, die selbst über Erfahrung mit dem Stellen von Wiederaufnahmeanträgen verfügen, ausgesprochen gering ist. Zudem ergab sich aus den Angaben der hier befragten Staatsanwälte ein recht homogenes Bild im Hinblick auf die berichteten Erfahrungen, die dafür sprechen, dass Staatsanwält:innen sich überwiegend dann mit Wiederaufnahmeverfahren beschäftigen, wenn ein eindeutiger Wiederaufnahmegrund zugunsten eines Verurteilten vorliegt. Entsprechende Tendenzen zeigen sich auch in der Aktenanalyse von Dunkel (2018). Besondere Abwägungsprozesse im Vorfeld wurden nicht berichtet. Denkbar ist allerdings, dass sich andere – hier nicht befragte – Staatsanwält:innen nicht dazu entscheiden, einen Wiederaufnahmeantrag zu stellen, wenn sie mit vergleichbaren Fallkonstellationen konfrontiert sind. Man könnte in zukünftigen Studien versuchen, entsprechende Entscheidungsprozesse mit Vignettenstudien abzubilden. Bei Wiederaufnahmeanträgen, die zuungunsten eines Verurteilten oder Freigesprochenen gestellt werden, ist mit komplexeren Abwägungsprozessen im Vorfeld eines Antrags zu rechnen. Solche Anträge scheinen aber selten gestellt zu werden (Dunkel, 2018) und wurden auch hier nur ausnahmsweise berichtet. Staatsanwält:innen, die einen Antrag erwogen, sich aber dagegen entschieden haben, sind in dieser Studie nicht erfasst, wenn sie nicht gleichzeitig einen Wiederaufnahmeantrag in einer anderen Sache gestellt hatten. Um zu erfahren, wie häufig Wiederaufnahmeanträge erwogen werden, müsste eine Befragung unter Staatsanwält:innen durchgeführt werden.
In Bezug auf die befragten Strafverteidiger stellt sich die Situation anders da. Für die vorliegende Studie wurden Strafverteidiger kontaktiert, die sich bekanntermaßen mit Wiederaufnahmeverfahren beschäftigen. Diese berichteten ausnahmslos, jeweils eine Vielzahl von Anfragen mit Wiederaufnahmeanliegen zu erhalten, auch wenn manche letztlich nur wenige Anträge stellten. Die Befragten verfügen folglich über viel Erfahrung mit dem Vorfeld von Wiederaufnahmeverfahren, welches im Fokus der hiesigen Untersuchung stand. Ihre Erfahrungen dürften damit eher nicht repräsentativ für alle Strafverteidiger:innen sein, die sich vermutlich häufig gar nicht oder nur ausnahmsweise mit Wiederaufnahmeverfahren beschäftigen. Die Befragten dürften aber besonders geeignet sein, über den Gegenstand dieser Untersuchung Auskunft zu geben.
Danksagung
Wir möchten uns sehr herzlich bei unseren Verbundpartner:innen am Lehrstuhl für Strafrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Medienrecht der Heinrich Heine Universität Düsseldorf, Prof. Dr. Altenhain, Franziska Kilian und Erik Penther, für ihre hilfreichen Anregungen zu einer vorherigen Fassung dieses Manuskripts bedanken. Darüber hinaus bedanken wir uns bei Miriam Bach und Marla Joy Mierzejewski für ihre Unterstützung bei der Datenerhebung bzw. -auswertung. Diese Studie wurde im Rahmen des Forschungsprojekts »Fehler und Wiederaufnahme im Strafverfahren«, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 422235911, durchgeführt.
Literaturverzeichnis
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Anhang
Interviewleitfaden Strafverteidigung
I. Begrüßung und thematische Einleitung
II. Hauptteil
Frage 1a: Beschreiben Sie bitte Ihre Berührungspunkte und Erfahrungen mit Wiederaufnahmeanträgen und -verfahren.
Frage 1b: Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit Wiederaufnahmeverfahren zu beschäftigen?
Häufigkeit und Erfolg von Wiederaufnahmeanträgen
Frage 2 a: Wie viel Raum nehmen Wiederaufnahmeverfahren in Ihrer gesamten beruflichen Tätigkeit ein?
Frage 2 b: Können Sie sagen oder schätzen, wie viele Wiederaufnahmeanträge Sie in Ihrer Zeit als Rechtsanwalt bereits gestellt haben? (Wie lange sind Sie schon als Anwalt tätig?)
Frage 2 c: Und wie viele Anträge davon waren erfolgreich?
Frage 2 d: Wie viele Anfragen erhalten Sie in etwa, in denen Sie gebeten werden, sich mit einem möglichen Wiederaufnahmeverfahren zu befassen?
Frage 2 e: Wie viele dieser Anfragen nehmen Sie letztlich an?
Kontaktaufnahme zu Wiederaufnahmefällen
Frage 3a: Können Sie beschreiben, wie Sie in der Regel zur Übernahme eines Wiederaufnahmefalls kommen? D. h. wie werden Sie kontaktiert? (bspw. durch Verurteilte, durch Dritte, im Grundverfahren tätig gewesen)
Frage 3 a.1: Sie haben angegeben, (auch) von Dritten aufmerksam gemacht worden zu sein. Wie häufig kommt das vor und können Sie genauer beschreiben, um welche Dritte es sich dabei gehandelt hat und den Kontext grob skizzieren?
Frage 3 a.2: Sie haben angegeben, (auch) von Verurteilten kontaktiert zu werden. Wie häufig werden Sie von Verurteilen kontaktiert, die Sie um Unterstützung bzgl. eines Wiederaufnahmeantrages bitten und können Sie genauer beschreiben, wie sich der Kontakt dann üblicherweise gestaltet?
Frage 3 a.3: Sie haben angegeben, (auch) im Grundverfahren tätig gewesen zu sein. Wie häufig haben Sie einen Wiederaufnahmeantrag in einem Fall gestellt, in dem Sie bereits im Grundverfahren tätig waren?
Kriterien für und gegen Wiederaufnahmeanträge
Frage 4a: Können Sie beschreiben, anhand welcher Kriterien Sie entscheiden, ob Sie einen potenziellen Wiederaufnahmefall übernehmen oder nicht?
Frage 4 a.1: Bitte führen Sie das genauer aus? (Ggf. nachfragen nach finanziellen Gründen, Aussichtslosigkeit, Unbegründetheit, zu hoher Aufwand, keine zeitlichen Ressourcen)
Frage 4 a.2: Spielt es für Ihre Entscheidung eine Rolle, ob Sie eine/n Verurteilte/n für unschuldig und das Urteil in dem Sinne für falsch halten?
Frage 4b: Was sind nach Ihrer Erfahrung die wesentlichen Gründe, aus denen kein Wiederaufnahmeantrag gestellt wird, obwohl ein Fehlurteil im Grundverfahren vermutet wird?
Frage4b.1: Denken Sie, dass Ihre Erfahrungen diesbezüglich repräsentativ sind?
Tatsächliche und rechtliche Wiederaufnahmegründe
Frage 6a: Wenn Sie ein Urteil für falsch halten, kann das unterschiedliche Gründe haben. Lassen sich in der Regel spezifische Fehlerquellen festmachen oder kann man meist nur feststellen, dass das Ergebnis falsch ist?
Frage 6 a.1: Wenn Sie spezifische Fehlerquellen festmachen können, welche Fehler sind es, die Sie in der Praxis erlebt haben?
Frage 6 b: Wie gehen Sie bei der Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrages vor und mit welchen Schwierigkeiten muss man dabei rechnen?
Frage 6 c: Wie ist Ihre Erfahrung in der Praxis – lassen sich die von Ihnen als tatsächlich für ursächlich erachteten Gründe für ein rechtskräftiges Fehlurteil mittels der Wiederaufnahmegründe aus § 359 StPO im Wiederaufnahmeantrag geltend machen?
Frage 6 d: Wenn die tatsächlichen Gründe nicht durch die in § 359 StPO benannten Wiederaufnahmegründe abgedeckt sind, gibt es dann Möglichkeiten, die Sie ausschöpfen, um das Urteil dennoch mithilfe eines Wiederaufnahmeantrages anzufechten?
Frage 6 e: Vorherige Studien haben gezeigt, dass § 359 StPO Nr. 5, neue Beweismittel, den häufigsten Wiederaufnahmegrund darstellt. Wie ist Ihre Erfahrung hierzu, liegen neue Beweismittel in diesen Fällen bereits vor oder müssen sie unter Umständen erst ermittelt oder »konstruiert« werden?
Frage 6 e.1: Welche Möglichkeiten der Ermittlung oder »Konstruktion« gibt es?
Frage 6 e.2: Haben Sie jemals die Staatsanwaltschaft im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrages mit der Bitte um Unterstützung bei neuen Ermittlungen kontaktiert?
Frage 6 e.2.1: Wenn ja, wie waren/war die Reaktion/en?
Frage 6 e.2.2: Wenn nein, warum nicht?
Frage 6 e.3: Gibt es bestimmte Personen oder Firmen, die Sie (mit Ermittlungen) beauftragen?
Frage 6 e.4: Haben Sie im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrags schon mal ein anderes Gerichtsverfahren angestrengt, bspw. Zivilverfahren?
Frage 6 e.5: Haben Sie sich schon einmal an die Öffentlichkeit gewandt, um Unterstützung/Aufmerksamkeit für Ihr Wiederaufnahmebegehren zu erhalten?
Frage 6 e.6: Haben Sie schon einmal einen Antrag gestellt, um Zugriff auf asservierte Beweismittel zu erhalten? Wenn ja, was waren Ihre Erfahrungen hiermit?
Frage 6f: Was sind die wesentlichen Gründe dafür, dass Wiederaufnahmeanträge erfolglos sind?
Frage 6g: Haben Sie es schon einmal erlebt, dass erst der Wiederholungsantrag für ein Wiederaufnahmeverfahren erfolgreich war?
Frage 6 g.1: Wenn ja, was waren die Gründe hierfür bzw. was hatte sich geändert?
Frage 6 h: Haben Sie es schon einmal erlebt, dass eine oder ein Verurteilter eine Verurteilung anfechten wollte, nachdem er oder sie zuvor im Rahmen einer Verständigung ein Geständnis abgelegt hatte?
Frage 6 h.1: Wenn ja, welche Erfahrungen haben Sie mit dieser Konstellation?
Frage 7a: Wie gestaltet sich das Vorfeld eines Wiederaufnahmeverfahrens zeitlich?
Frage 7b: Wie viel Zeit vergeht in der Regel von der Kontaktaufnahme/dem Entschluss zur Wiederaufnahme und dem Stellen des Antrags bzw. (wenn erfolgreich) bis zu einer neuen Entscheidung?
Frage 7 c: Können Sie sagen, welche Motivation die Verurteilten in der Regel haben, wenn Sie sich um ein Wiederaufnahmeverfahren kümmern? Geht es darum, frei zu kommen oder gibt es auch andere Gründe?
Finanzierung von Wiederaufnahmeverfahren
Frage 8 a: Können Sie etwas über die Finanzierung/Ihre Bezahlung im Rahmen von Wiederaufnahmeverfahren sagen?
Frage 8 a.1: Durch wen werden Sie bezahlt, wenn Sie im Zuge von Wiederaufnahmeverfahren inklusive Vorbereitungshandlungen für die Antragsstellung, tätig werden?
Frage 8 a.2: Das Gesetz sieht vor, dass Verurteilten bereits für die Vorbereitungen eines Wiederaufnahmeantrages ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden kann. Wie sind Ihre Erfahrungen in Bezug auf diese Möglichkeit, kommt das in der Praxis tatsächlich vor? (§ 364 a StPO)
Frage 8 b: Wie würden Sie den durchschnittlichen finanziellen Aufwand und Arbeitsaufwand, die mit der Tätigkeit in einem Wiederaufnahmeverfahren verbunden sind, beziffern (ein Fall)?
Ratschläge und Änderungsvorschläge
Frage 9 a: Haben Verurteilte Ihrer Meinung nach ausreichend Zugang zum Rechtsinstitut des Wiederaufnahmeverfahrens? Wenn nein, welche Vorschläge haben Sie für einen verbesserten Zugang?
Frage 9 a.1: Was würden Sie davon halten, wenn innerhalb der Staatsanwaltschaft eine zuständige Stelle eingerichtet würde, an die sich Verurteilte mit ihrem Anliegen der Wiederaufnahme wenden könnten?
Frage 9 b: Welchen Rat würden Sie zu Unrecht Verurteilten geben? Wie sollten Sie Ihrer Meinung nach vorgehen, um das Fehlurteil anzufechten?
Frage 9 c: Sehen Sie Schwierigkeiten in den rechtlichen Bestimmungen zu Wiederaufnahmeanträgen? Wenn ja, welche?
Frage 9d: Würden Sie die Gesetzgebung bezüglich Wiederaufnahmeverfahren, sprich vor allem §§ 359 und 362, anpassen? Wenn ja, inwiefern würden Sie dies tun/was sind Ihre Reformvorschläge und -wünsche?
Frage 10: Gibt es noch etwas, was Sie im Kontext von Wiederaufnahmen wichtig finden/gerne hinzufügen wollen?
III. Abschluss und Dank
IV. Nach dem Interview: Interviewbericht
Expertenbefragung Staatsanwaltschaft
I. Begrüßung und thematische Einleitung
II. Hauptteil
Frage 1a: Beschreiben Sie bitte Ihre Berührungspunkte und Erfahrungen mit Wiederaufnahmeanträgen und -verfahren.
Frage 1 b: Haben Sie jemals einen Wiederaufnahmeantrag zugunsten und/oder zuungunsten eines Verurteilten bzw. Freigesprochenen gestellt?
Kontaktaufnahme mit Wiederaufnahmefällen
Frage 2: Wie kommt es dazu, dass Sie Wiederaufnahmeanträge stellen bzw. wie kommen Sie mit Fällen in Kontakt, in denen Sie einen Wiederaufnahmeantrag stellen?
Frage 2.1: Waren Sie bspw. bereits im Grundverfahren mit dem Fall befasst oder sind Sie anderweitig auf den Fall hingewiesen worden? (Anmerkung zu einem Beispielfall aus Böhme: Richter:in bittet Staatsanwaltschaft um Wiederaufnahmeantrag, um Fehler zu korrigieren)
Gründe für Wiederaufnahmeanträge
Frage 3 a: Welche Gründe führen in der Regel dazu, dass Sie einen Wiederaufnahmeantrag zugunsten eines Verurteilten stellen?
Frage 3 a.1: Wie werden Sie in der Regel auf diese Gründe aufmerksam?
Frage 3b: Welche Gründe führen in der Regel dazu, dass Sie einen Wiederaufnahmeantrag zuungunsten eines Freigesprochenen/Verurteilten stellen?
Frage 3 b.1: Wie werden Sie in der Regel auf diese Gründe aufmerksam?
Frage 3c: Kommt es vor, dass Sie Anträge zugunsten eines Verurteilten aufgrund von Schuldunfähigkeit stellen und wenn ja, worauf basiert die Annahme in der Regel? (Anmerkung: Beispielsweise eine gesicherte Diagnose oder Verhaltensauffälligkeiten)
Frage 3d: Was braucht es, damit Sie einen Wiederaufnahmeantrag stellen? Ist hierfür lediglich das Vorliegen einer der in §§ 359, 362 StPO benannten Wiederaufnahmegründe ausschlaggebend oder gibt es weitere Faktoren, die hierfür von Relevanz sind?
Frage 4: Kam es schon einmal vor, dass Sie ein rechtskräftiges Urteil für falsch hielten und ein Wiederaufnahmeverfahren anstrebten, aber keine Wiederaufnahmegründe im Sinne der §§ 359 und 362 StPO vorlagen?
Frage 4.1: Wenn ja, wie ging es danach weiter? Wie sind Sie damit umgegangen?
Neue Ermittlungen für Wiederaufnahmeverfahren
Frage 5a: Haben Sie jemals eigeninitiativ neue Ermittlungen zugunsten und/oder zuungunsten eines Verurteilten bzw. Freigesprochenen als Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrages durchgeführt? (Anmerkung: Antwort zu beidem!)
Frage 5 b: Sind Sie schon einmal von Rechtsanwälten kontaktiert worden, die Sie um Unterstützung bei Ermittlungen im Vorfeld eines Wiederaufnahmeantrages gebeten haben? (Anmerkung: Zum Beispiel um Beweise für § 359 Nr. 5 StPO zu ermitteln)
Frage 5 c: Wären Sie grundsätzlich bereit, mit einem Rechtsanwalt zu kooperieren, der Sie mit Ermittlungsanregungen zur Erreichung eines Wiederaufnahmeverfahrens kontaktiert? Bitte begründen Sie Ihre Antwort.
Häufigkeit von Wiederaufnahmeanträgen und zeitliches Kontingent
Frage 6 a: Wie viel Raum nehmen Wiederaufnahmeverfahren in Ihrer gesamten beruflichen Tätigkeit ein?
Frage 6 b: Können Sie einschätzen, wie viele Wiederaufnahmeanträge zugunsten bzw. zuungunsten eines Verurteilten bzw. Freigesprochenen Sie in Ihrer Zeit als Staatsanwalt bereits gestellt haben?
Frage 6 c: Stellen Wiederaufnahmeanträge und -verfahren für Sie eine Zusatztätigkeit dar oder steht Ihnen zur Bearbeitung solcher Wiederaufnahmefälle ein festgelegtes zeitliches Kontingent zur Verfügung?
Frage 6 c.1: Wenn ja, wie sieht dieses zeitliche Kontingent für Anträge und Verfahren zugunsten oder zuungunsten eines Verurteilten bzw. Freigesprochenen aus?
Frage 6 d: Wie erfolgreich waren Ihre Wiederaufnahmeanträge zugunsten bzw. zuungunsten der/des Verurteilten bzw. Freigesprochenen?
Einstellung zu Wiederaufnahmeverfahren
Frage 7: Können Sie Ihren Eindruck in Bezug auf die Einstellung der Justiz zu Wiederaufnahmeverfahren schildern? Kann man eher mit positiven oder negativen Reaktionen rechnen, wenn man ein Wiederaufnahmeverfahren zugunsten oder zuungunsten eines Verurteilten bzw. Freigesprochenen anstrebt? (Antwort zu beidem!)
Ratschläge und Änderungsvorschläge
Frage 8 a: Welchen Rat würden Sie zu Unrecht Verurteilten geben? Wie sollten Sie Ihrer Meinung nach vorgehen, um das Fehlurteil anzufechten?
Frage 8b: Haben Verurteilte, Ihrer Meinung nach, ausreichend Zugang zum Rechtsinstitut des Wiederaufnahmeverfahrens?
Frage 8 b.1: Wenn nein, welche Vorschläge haben Sie für einen verbesserten Zugang?
Frage 8 b.2: Was würden Sie davon halten, wenn innerhalb der Staatsanwaltschaft eine zuständige Stelle eingerichtet würde, an die sich Verurteilte mit ihrem Anliegen der Wiederaufnahme wenden könnten?
Frage 8 c: Sehen Sie Schwierigkeiten in den rechtlichen Bestimmungen zu Wiederaufnahmeanträgen? Wenn ja, welche?
Frage 8 d: Würden Sie die Gesetzgebung bezüglich Wiederaufnahmeverfahren, sprich vor allem §§ 359 und 362, anpassen? Wenn ja, inwiefern würden Sie dies tun/was sind Ihre Reformvorschläge und -wünsche?
Frage 9: Gibt es noch etwas, das Sie im Kontext von Wiederaufnahmen wichtig finden/gerne hinzufügen wollen?
III. Abschluss und Dank
IV. Nach dem Interview: Interviewbericht
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