In der modernen Medizin gewinnen technologische Therapieansätze zunehmend an Bedeutung. Dies gilt in besonderem Maße für Erkrankungen des Nervensystems, von denen einige heute bereits sehr wirksam mit Hilfe von Neuroimplantaten behandelt werden können. Eine wahre Erfolgsgeschichte ist beispielsweise das Cochlea-Implantat (CI): Ein elektronischer Innenohrersatz, welcher weltweit zum Einsatz kommt und stark hörgeschädigten Menschen die Möglichkeit gibt, wieder an der auditiven Welt teilzunehmen. Auch die Tiefenhirnstimulation und Brain-Computer-Interfaces (BCI) haben in den letzten Jahren mit eindrucksvollen Erfolgen Aufsehen erregt.
Weniger im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit, aber mit hohem therapeutischen Potential, sind nicht-elektrische Implantate z. B. zur kontrollierten Medikamentenfreisetzung. In der Langzeittherapie komplexer neurologischer Erkrankungen werden die Patienten derzeit oft langfristig und in hohen systemischen Dosen Arzneistoffen ausgesetzt, z. B. zur Verhinderung eines epileptischen Anfalls. Allerdings ist das Gehirn als eigentliches Zielgebiet der Wirkstoffe durch die Blut-Hirn-Schranke abgeschirmt, so dass die Wirkstoffkonzentration im Gehirn häufig nur einen Bruchteil der peripheren Blutkonzentration erreicht. Es ist daher erstrebenswert Materialsysteme zu erforschen, die eine lokalisierte Medikamententherapie direkt im Gehirn erlauben. Damit könnte die nötige Wirkstoffkonzentration im Zielgebiet erreicht, in der Peripherie jedoch gesenkt werden, so dass bei gesteigerter Wirkeffizienz weniger systemische Nebenwirkungen entstehen. Das Einbringen von derartigen Systemen bietet sich insbesondere dann an, wenn z. B. im Rahmen invasiver Diagnostik bereits ein Zugang besteht.
Eine Herausforderung für die Realisierung derartiger lokaler Behandlungsstrategien im Gehirn sind die besonderen Anforderungen an die dafür verwendeten Materialien. Sie müssen biokompatibel, belastbar und hochflexibel sein, um sich an die Gegebenheiten im Gehirn anpassen zu können. Bei Medikamenten-basierten Ansätzen müssen die Materialien außerdem sowohl als Wirkstoffdepot agieren können, als auch in der Lage sein, Substanzen kontrolliert und in besonderen Fällen auf externe Reize hin abzugeben. Um adäquate Funktionsmaterialien für solche Implantate zu entwickeln, ist eine enge Vernetzung von materialwissenschaftlicher und medizinischer Forschung unabdingbar. An dieser interdisziplinären Schnittstelle setzt das im April 2017 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gestartete Graduiertenkolleg „Materials for Brain“ an, das von der Technischen Fakultät und der Medizinischen Fakultät getragen wird. Rund 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Medizin und Materialwissenschaft forschen gemeinsam an der Frage, wie mithilfe von Biomaterialien Erkrankungen wie Epilepsie, Hirntumore und Gefäßaneurysmen effizienter behandelt werden können. Dafür werden sie von der DFG mit 4,1 Millionen Euro gefördert.
Das wissenschaftliche Programm des Graduiertenkollegs behandelt die Erforschung neuartiger Biomaterialien im Kontext ihrer biologischen Funktion. Beispielsweise werden wenige Mikrometer dicke metallische Dünnschichten, die sich in Form von hochkomplexen dreidimensionalen Strukturen erzeugen lassen, auf ihre Funktion als Flow-diverter Stents untersucht (Abb. 1A). Diese Flow-diverter Stents sollen zur minimalinvasiven endovaskulären Behandlung von Gehirngefäßaneurysmen eingesetzt werden, da sie den Bluteinstrom in das Aneurysma minimieren und sich das Aneurysma infolgedessen langfristig verschließt. Des Weiteren werden hochporöse, polymerbeschichtete Materialien als Wirkstoffreservoirs erforscht (Abb. 1B), die eine gesteuerte Freisetzungskinetik von Wirkstoffen bewirken und sich somit insbesondere für die Therapie von Hirntumoren oder Epilepsie anbieten. Die funktionellen Eigenschaften der Materialien sowie deren Interaktionen mit dem lebenden Gewebe werden sowohl in vitro in Zellkulturbedingungen als auch in vivo mittels krankheitsrelevanter Modellorganismen getestet. Diagnostische Methoden wie MRT, EEG, aber auch histologische Untersuchungen und Verhaltensbeobachtung sollen einerseits Aufschluss über den Einfluss der Implantate auf Struktur und Funktion des gesunden Gehirns geben und andererseits die therapeutische Effizienz der neuen Material-basierten Ansätze ausloten.

Strukturierte Materialien, die im GRK 2154 eingesetzt werden. (A) Struktur eines dünnschichtbasierten Flow-Diverter Stents. (B) Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines hochporösen Netzwerks aus Poly(L-lactid-co-caprolacton).
Ein wichtiges Kernziel des Graduiertenkollegs ist die Ausbildung von hochqualifiziertem wissenschaftlichen Nachwuchs an der Schnittstelle zwischen Ingenieurswissenschaften und Medizin. Daher ist das Qualifizierungsprogramm des Graduiertenkollegs auf Interdisziplinarität und Internationalität ausgerichtet: Die Promovierenden werden durch je ein Mitglied der Technischen und der Medizinischen Fakultät betreut, sie führen interdisziplinäre Laborrotationen durch und nehmen an fächerübergreifenden Peer-Coaching-Programmen teil. Zusätzlich ist ein mehrmonatiger Forschungsaufenthalt im Ausland ein wesentlicher Baustein der Graduiertenausbildung, der den internationalen Charakter des Graduiertenkollegs prägt.
Das Graduiertenkolleg „Materials for Brain“ fördert daher die intensive interdisziplinäre Promovierendenausbildung auf einem Zukunftsgebiet der Medizin und Materialwissenschaft. Durch sein wissenschaftliches Programm erarbeitet das Graduiertenkolleg materialbasierte Strategien zur minimalinvasiven und nebenwirkungsarmen Therapie von Erkrankungen des Gehirns und hofft so, die Lebensbedingungen von Patienten mit komplexen Erkrankungen des zentralen Nervensystems zu verbessern.
Homepage: www.grk2154.uni-kiel.de
About the authors

Peer Wulff hat in Hamburg Medizin und Molekulare Neurobiologie studiert und ist nach Assistenzarztzeit in der Neurologie und wissenschaftlicher Postdoc-Zeit in Heidelberg 2006 an die Universität Aberdeen gewechselt, wo er zuletzt den Bereich Translational Neuroscience geleitet hat. Seit 2012 ist er Professor für Neurophysiologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sein Interesse gilt den Zusammenhängen zwischen neuronalen Schaltkreisen und Verhalten unter physiologischen und pathophysiologischen Bedingungen.

Christine Selhuber-Unkel hat in Heidelberg und Uppsala Physik studiert und in Heidelberg im Bereich der Biophysik promoviert. Nach ihrer Postdoc-Zeit am Niels Bohr Institut in Kopenhagen wechselte sie an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seit 2010 ist sie Professorin für Biokompatible Nanomaterialien am dortigen Institut für Materialwissenschaft und seit 2017 Sprecherin des Graduiertenkollegs 2154. Ihr Interesse gilt der Wechselwirkung von Zellen mit Biomaterialien und deren biophysikalischen Mechanismen.
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