Zusammenfassung
Empirische Studien dokumentieren Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe als globales Phänomen. Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe können das Wohlbefinden von Frauen und ihren Familien langfristig über den Zeitraum der Geburt hinaus beeinträchtigen. Um dies zu vermeiden, müssen nationale gesundheitspolitische Strategien die Wichtigkeit respektvoller Betreuung für eine qualitativ hochwertige Geburtshilfe anerkennen.
Abstract
Research shows disrespect and abuse during childbirth to be a global phenomenon. Disrespect and abuse during childbirth can affect the wellbeing of women and families beyond the moment of birth. To avoid this, national health care strategies have to recognize the importance of respectful care for high quality maternity care.
Einleitung
Die Geburt eines Kindes ist eine existenzielle Erfahrung, die Mütter ein Leben lang begleitet [1]. Gebärende haben das Bedürfnis nach einer geburtshilflichen Betreuung, in der sie sich unterstützt, sicher und geborgen fühlen [2]. Der Qualität der Interaktion mit dem geburtshilflichen Fachpersonal kommt eine Schlüsselrolle für das Geburtserleben zu [2].
Bezugnehmend auf die UN Global Strategy for Women’s, Children’s and Adolescents’ Health (2016–2030) betont die WHO die Bedeutung einer positiven Geburtserfahrung für die Gesundheit von Mutter und Kind und rückt sie ins Zentrum ihrer Empfehlungen zu geburtshilflicher Betreuung [3]. Ein umfassendes Verständnis von „Gesundheit rund um die Geburt“, das sich „nicht nur an Kennzahlen körperlicher Gesundheit, sondern auch an subjektiver gesundheitsbezogener Lebensqualität und Wohlbefinden […]“ orientiert, ist seit 2017 auch in Deutschland Teil der nationalen Gesundheitsziele [4].
Prävalenz von Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe
Seit Beginn der 2010er Jahre beschäftigt sich die Forschung intensiver damit, dass Frauen in der intimen Situation einer Geburt Opfer von Handlungen sein können, die respektlos oder gewalttätig sind oder so wahrgenommen werden können [5], [6], [7]. Es wird zwischen personalen, institutionellen und strukturellen Dimensionen von Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe differenziert [7], [8]. Respektlose und gewaltsame Handlungen und Unterlassungen in der geburtshilflichen Betreuung können sowohl absichtlich als auch unbeabsichtigt sein [7].
Die Forschungsgruppe der WHO von Bohren et al. [6] präsentiert eine evidenzbasierte Typologie, die folgende Kategorien von Gewalt in der Geburtshilfe unterscheidet: körperliche Misshandlungen (Ohrfeigen, Kneifen während der Geburt) und sexueller Missbrauch, verbaler Missbrauch (harsche, drohende Sprache), Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund von Alter, ethnischer Zugehörigkeit oder sozioökonomischem Status, Nichteinhalten professioneller Standards (zum Beispiel Nichtbeachtung und Vernachlässigung während der Geburt), schlechte Beziehung zwischen Frauen und betreuendem Personal, einschließlich ineffektiver Kommunikation, mangelnder Unterstützung und Verlust der Autonomie sowie Bedingungen und Beschränkungen im Gesundheitssystem, wie der Mangel an Ressourcen, die erforderlich sind, um Frauen Privatsphäre zu bieten.
Ergebnisse einer 2018 in Deutschland durchgeführten nicht-repräsentativen Online-Umfrage [9] mit mehr als 2000 Teilnehmer*innen belegen, dass auch in deutschen geburtshilflichen Einrichtungen alle genannten Formen von Respektlosigkeit und Gewalt von Frauen erlebt werden. Über drei Viertel der Teilnehmenden berichteten von mindestens einer Form der Misshandlung; am häufigsten genannt wurde die Durchführung geburtshilflicher Maßnahmen ohne das Einverständnis der Gebärenden, gefolgt von physischer Gewalt, Verletzung der Privatsphäre, verbaler Gewalt und Vernachlässigung.
Die Befunde einer Interviewstudie im Jahr 2020 aus Deutschland [10] zeigen eindrücklich, dass Frauen während der Geburt Respektlosigkeit und Gewalt in Form von körperlichen und verbalen Verletzungen, demütigender oder erniedrigender Behandlung, Nichtbeachtung oder Vernachlässigung, Vorenthalten von Schmerzmitteln und in Einzelfällen auch Festhalten oder Festbinden erfahren. Als weitere Formen von Respektlosigkeit und Gewalt nannten die Interviewten mangelnde Aufklärung über mögliche Alternativen, bzw Behandlung von Mutter und Kind ohne informierte Einwilligung, Fehlinformationen über Praktiken und Ressourcen der Geburtsklinik, Verletzung der Vertraulichkeit und Privatsphäre und den groben Umgang mit Neugeborenen.
Eine starke hierarchische Prägung der Arbeitsstrukturen in der Geburtshilfe kann zu respektlosem Verhalten von Fachkräften gegenüber Gebährenden beitragen [11]. Leape und Kollegen [12] beobachteten, dass starke professionelle Hierachien in medizinischen Teams zu einer Kultur der Respektlosigkeit beitragen können. Bohren et al. [6] stellten fest, dass Fachkräfte, die sich am unteren Ende der Hierarchie befanden, eher zu Kontrollverhalten gegenüber den ihnen anvertrauten Gebärenden neigten.
Weitere institutionelle, strukturelle und systemische Dimensionen von Respektlosigkeit und Gewalt sind insbesondere die unzureichende Ausstattung mit (personellen) Ressourcen, geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen sowie das kulturelle Skript, dass Frauen unter der Geburt leiden müssen [8], [10]. Frauen mit niedrigem sozioökonomischem Status und Frauen mit Migrationshintergrund sind überdurchschnittlich häufig von Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe betroffen [9], [13], was die Bedeutung struktureller und systemischer Dimensionen unterstreicht.
Auswirkungen auf perinatale psychische Gesundheit
Empirische Studien legen nahe, dass zwischen 9% und 45% aller Frauen während der Geburt [14], [15] traumatische Erfahrungen machen. Viele der betroffenen Frauen beschreiben eingeschränkte oder mangelnde Fürsorge, sowie Respektlosigkeit und Gewalt in der Betreuung während der Geburt als Hauptfaktoren, die für ihr traumatisches Geburtserleben ursächlich waren [16], [17].
Frauen, die ihre Geburt als traumatisch erleben, haben ein höheres Risiko perinataler psychischer Erkrankungen, wie z.B. einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer postpartalen Depression [18]. Etwa 17% aller Frauen, ohne psychische Vorerkrankungen und Risikofaktoren, entwickeln nach der Geburt eine postpartum Depression, 3-4% ein posttraumatisches Belastungssymptom [18]. Die Langzeitfolgen von postpartaler Depression sind gravierend und beinhalten häufig eine verminderte Fähigkeit der Mutter, sensibel auf das Kind einzugehen. Dies ist mit Störungen der Mutter-Kind-Beziehung assoziiert, was wiederum psychosoziale Störungen der kindlichen Entwicklung verursachen kann [19]. Weitere Folgen beeinträchtigter psychischer Gesundheit nach traumatischer Geburt sind Störungen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie eine reduzierte Qualität der Paarbeziehung [20].
Schlussfolgerung
Ein positives Geburtserleben ist eine wichtige Voraussetzung für die Gesundheit von Frauen und ihren Familien. Studien zeigen, dass auch in Deutschland Frauen Respektlosigkeit und Gewalt in der geburtshilflichen Betreuung erfahren. Um diesem Phänomen entgegenzuwirken, muss die Bedeutung von respektvoller Betreuung für die Qualität der geburtshilflichen Versorgung anerkannt werden. Im Rahmen nationaler gesundheitspolitischer Strategien gilt es, Ursachen, Prävalenz und Folgen von Respektlosigkeit und Gewalt während der Geburt in Deutschland zu erheben und Strategien zu deren Bekämpfung und Vermeidung zu entwickeln, um eine frauen- und familienzentrierte, menschenrechtsbasierte geburtshilfliche Versorgung sicherzustellen.
Autorenerklärung
Autorenbeteiligung: Alle Autoren tragen Verantwortung für den gesamten Inhalt dieses Artikels und haben der Einreichung des Manuskripts zugestimmt. Finanzierung: Die Autoren erklären, dass sie keine finanzielle Förderung erhalten haben. Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass kein wirtschaftlicher oder persönlicher Interessenkonflikt vorliegt. Ethisches Statement: Für die Forschungsarbeit wurden weder von Menschen noch von Tieren Primärdaten erhoben.
Dieses Papier bezieht sich auf die EU-COST-Aktion 18211: DEVoTION: Perinatale psychische Gesundheit und geburtsbedingte Traumata: Maximierung bester Praxis und optimaler Ergebnisse, unterstützt durch COST (Europäische Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technologie). Prof. Dr. Julia Leinweber und Prof. Dr. Claudia Limmer sind (stellvertretende) Mitglieder des Verwaltungsausschusses und Dr. Katharina Hartmann ist Mitglied der COST-Aktion CA18211.
Author Declaration
Author contributions: All authors have accepted responsibility for the entire content of this submitted manuscript and approved submission. Funding: Authors state no funding involved. Conflict of interest: Authors state no conflict of interest. Ethical statement: Primary data for human nor for animals were not collected for this research work.
This paper relates to the EU COST Action 18211: DEVoTION: Perinatal Mental Health and Birth-Related Trauma: Maximising best practice and optimal outcomes supported by COST (European Cooperation in Science and Technology). Prof Dr Julia Leinweber and Prof Dr Claudia Limmer are (alternate) management committee members and Dr Katharina Hartmann is a member of the COST action CA18211.
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