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Publicly Available Published by De Gruyter November 30, 2021

Schaffung gesunder Ernährungsumfelder: Ergebnisse des Food-EPI

Creating healthy food environments: results of the Food-EPI
  • Carmen Klinger EMAIL logo , Karin Geffert , Antje Hebestreit , Eva A. Rehfuess and Peter von Philipsborn
From the journal Public Health Forum

Zusammenfassung

Der Zunahme ernährungsbedingter Erkrankungen, wie dem Typ-2-Diabetes mellitus, kann durch politische Regulierungen entgegengewirkt werden. Die Schaffung eines gesunden Ernährungsumfeldes kann eine positive Entwicklung langfristig unterstützen. Eine Analyse ernährungsrelevanter Politikfelder mit dem Food-EPI ergab, dass Deutschland in vielen Bereichen hinter internationalen Best Practice Beispielen zurückbleibt und wichtige Chancen zur Verbesserung des Ernährungsumfeldes ungenutzt lässt.

Abstract

The increase in diet-related diseases, such as type 2 diabetes mellitus, can be counteracted through political regulations. The creation of a healthy food environment can support positive development in the long term. An analysis of nutrition-related policy areas using the Food-EPI showed that Germany lags behind international best practice examples in many areas and misses important opportunities to improve the food environment.

Einleitung

Sowohl in Deutschland als auch weltweit lassen sich eine Zunahme der Diabetesinzidenz und -prävalenz beobachten [1], [2], [3]. Jährlich erkranken in Deutschland mehr als 500.000 Erwachsene neu an Diabetes [4]. 90% der diagnostizierten Diabetes-Fälle lassen sich hierbei dem Typ-2-Diabetes mellitus (T2DM) zuordnen [5]. Diabetes und die damit verbundenen gesundheitlichen Komplikationen ziehen zudem erhebliche wirtschaftliche Belastungen nach sich, sowohl für die Betroffenen und deren Familien, als auch für das Gesundheitssystem und die Volkswirtschaft [6]. Während die Präventionsmöglichkeiten bei Typ-1-Diabetes mellitus vor dem Hintergrund des heutigen Wissensstandes begrenzt sind, gibt es für den T2DM effektive Präventionsstrategien. Dies macht T2DM zu einer weitgehend vermeidbaren Krankheit [4], [5]. Zu den beeinflussbaren Risikofaktoren für die Entwicklung eines T2DM zählen insbesondere unausgewogene Ernährungsmuster, Rauchen und Bewegungsmangel [7], [8], [9]. Um den Anstieg der T2DM-Inzidenz zu stoppen, basieren viele Konzepte auf einer Kombination aus verhaltens- und verhältnispräventiven Ansätzen. Ziel ist es, neben der Förderung eines aktiven Lebensstils in erster Linie den Zugang zu gesunden und erschwinglichen Lebensmitteln und Getränken zu erleichtern und so ein gesundheitsbewusstes Verhalten zu stärken [10].

Um gesunde Ernährungsumfelder zu schaffen sind staatliche Präventionsmaßnahmen erforderlich. Ernährungsumfelder sind definiert als physische, wirtschaftliche, politische und soziokulturelle Umgebungsfaktoren, Möglichkeiten und Bedingungen, die die Lebensmittel- und Getränkeauswahl sowie den Ernährungszustand der Menschen beeinflussen [11]. Der sogenannte Food Environment Policy Index (Food-EPI) wurde von dem internationalen Wissenschaftsnetzwerk INFORMAS (International Network for Food and Obesity/NCDs Research, Monitoring and Action Support) entwickelt, um den Umfang der Umsetzung von Politiken für ein gesundes Ernährungsumfeld durch Regierungen im Vergleich zu nationalen Best Practice Beispielen zu bewerten [12]. Bisher wurde der vielfach erprobte Food-EPI in rund 40 Ländern weltweit umgesetzt. Er stellt den am weitesten verbreiteten und methodisch umfassendsten Ansatz in diesem Bereich dar. Im Jahr 2020 wurde der Food-EPI von einem Team aus WissenschaftlerInnen auf Deutschland angewandt. In dem folgenden Kurzbeitrag werden die Ergebnisse zusammenfassend dargestellt. Dieser Beitrag mit seinem Fokus auf T2DM basiert auf dem online veröffentlichten Evidenz- und Ergebnisbericht des Projekts [13], [14] sowie einer international veröffentlichten ausführlichen Darstellung von Methodik und Ergebnissen [15].

Methoden

Der Food-EPI für Deutschland stellt eine strukturierte Politikfeldanalyse anhand von 47 Indikatoren in 13 Domänen dar, die auf einer systematischen Erfassung sowie einer qualitativen Inhaltsanalyse relevanter Dokumente basiert und durch eine strukturierte, mehrstufige Befragung von 55 ExpertInnen aus Wissenschaft, Politik und Praxis ergänzt wurde. Dabei wurden a) der Ausgangszustand in Deutschland, d.h. die momentan geltenden Regelungen und implementieren Maßnahmen, erfasst, b) deren Inhalt und Umsetzungsgrad basierend auf einem Vergleich mit internationalen Best Practice Beispielen bewertet, sowie c) solche Reformoptionen identifiziert und priorisiert, die ein gesundes Ernährungsverhalten erleichtern und zugleich hohe Umsetzungschancen haben. Die Priorisierung erfolgte getrennt für die Bereiche Maßnahmen und Strukturen anhand von zwei Kriterien: dem erwarteten Beitrag zur Verbesserung der Ernährung auf Bevölkerungsebene, sowie der Erreichbarkeit (politische Durchsetzbarkeit und rechtlich-administrative Umsetzbarkeit). Handlungsoptionen im Bereich Maßnahmen wurden anhand eines weiteren, dritten Kriteriums, dem erwarteten Beitrag zur Verbesserung der Ernährung in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen, bewertet.

Ergebnisse

Die Ausgangslage in Deutschland sowie die internationalen Best Practice Beispiele werden in dem online veröffentlichten Evidenzbericht beschrieben [13]. Für 18 Indikatoren wurde der Umsetzungsgrad in Deutschland relativ zu internationalen Best Practices als „sehr niedrig“ bewertet, für 21 als „niedrig“, für 8 als „mittel“ und für keinen als „hoch“. Die Domänen 3 (Regulierung von Lebensmittelwerbung und -marketing), 4 (Lebensmittelpreisgestaltung), 6 (Lebensmittelangebot in Einzelhandel und Gastronomie) sowie 13 (Sektorenübergreifende Ansätze) wurden am niedrigsten bewertet. Die höchsten Bewertungen erhielten die Domänen 8 (Politische Führungsrolle und offizielle Ernährungsempfehlungen) sowie 10 (Datensammlung, -auswertung und -nutzung). Hinsichtlich der Priorisierung von Handlungsoptionen wurden insgesamt 18 Optionen im Bereich Maßnahmen und 10 Optionen im Bereich Strukturen identifiziert. Im Bereich Maßnahmen wurde folgenden Handlungsoptionen eine besonders hohe Bedeutung zugeschrieben: eine verbindliche Umsetzung der Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für die Kita- und Schulverpflegung, eine gesundheitsförderliche Mehrwertsteuerreform, sowie die Einführung einer Süßgetränkesteuer. Im Bereich Strukturen wurden die Evaluation von Maßnahmen und Programmen, das Monitoring von Ernährungsverhalten und -status, sowie der Wissensaustausch zwischen Politik, Praxis und Wissenschaft als prioritär eingeschätzt.

Diskussion

Die Ergebnisse zeigen, dass Deutschland in vielen Bereichen nicht an internationale Best Practice Beispiele heran reicht und dass enormes Potenzial für die Prävention von T2DM ungenutzt bleibt. In Chile beispielsweise wurde eine verpflichtende Kennzeichnung von verarbeiteten Lebensmitteln, die bestimmte Grenzwerte an Zucker, Salz, Energie und gesättigten Fetten überschreiten, mittels Warnhinweisen auf der Verpackungsvorderseite, durchgesetzt. Zudem dürfen diese Lebensmittel nicht in Schulen angeboten und im Allgemeinen nicht gegenüber Kindern beworben werden. Dies gilt für sämtliche Kanäle, auch für die Gestaltung der Produktverpackung [16]. Die im Rahmen des Food-EPI identifizierten Reformoptionen mit hoher Priorität decken sich zum Großteil mit den Empfehlungen verschiedener Fachorganisationen, u.a. mit denjenigen der Deutschen Diabetes Gesellschaft e.V. (DDG). Im Sinne des Wandels von einer stark verhaltens- präventiv ausgerichteten Politik hin zu mehr Verhältnisprävention, gehören die Mehrwertsteuerbefreiung für gesunde Lebensmittel mit einer gleichzeitigen Anhebung des Mehrwertsteuersatzes für ungesunde Lebensmittel, die verpflichtende Kennzeichnung aller Lebensmittel mit dem Nutri-Score, bundesweit verbindliche Standards für die Kita- und Schulverpflegung, sowie Verbote von Lebensmittelmarketing ungesunder Produkte gegenüber Kindern und Jugendlichen zu den Kernempfehlungen der DDG [17], [18]. Diese Forderungen sollen in die im Jahr 2020 im Koalitionsvertrag vereinbarte Nationale Diabetesstrategie einfließen, deren bisheriger Entwurf entscheidende Präventionsmaßnahmen – insbesondere im Bereich Ernährung – noch nicht umfasst [19], [20].

Schlussfolgerungen

Gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen ermöglichen die Verbesserung des Ernährungsumfeldes und fördern ein gesundes Ernährungsverhalten. Im internationalen Vergleich hat Deutschland in diesen Bereichen noch Entwicklungspotential. Die Umsetzung der im Rahmen des Food-EPI als prioritär identifizierten Handlungsoptionen bietet eine bisher ungenutzte Chance zur Förderung eines gesunden Ernährungsumfeldes und der Vermeidung ernährungsbedingter Erkrankungen, unter anderem des T2DM.


*Korrespondenz: Carmen Klinger, M.Sc., Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung, Institut für medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBE), Pettenkofer School of Public Health (PSPH), Ludwig-Maximilians-Universität München, Elisabeth-Winterhalter-Weg 6, 81377 München, Germany

  1. Autorenerklärung

  2. Autorenbeteiligung: Alle AutorInnen tragen Verantwortung für den gesamten Inhalt dieses Artikels und haben der Einreichung des Manuskripts zugestimmt. Finanzierung: Das Projekt wurde gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Joint Programming Initiative „A healthy diet for a healthy life“ (JPI HDHL) sowie dem Policy Evaluation Network (PEN). Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass kein wirtschaftlicher oder persönlicher Interessenkonflikt vorliegt. Ethisches Statement: Für die Forschungsarbeit wurden weder von Menschen noch von Tieren Primärdaten erhoben.

  3. Author Declaration

  4. Author contributions: All authors have accepted responsibility for the entire content of this submitted manuscript and approved submission. Funding: The project received funding by the Federal Ministry of Education and Research (BMBF) as part of the Joint Programming Initiative “A healthy diet for a healthy life” (JPI HDHL) and the Policy Evaluation Network (PEN). Conflict of interest: Authors state no conflict of interest. Ethical statement: Primary data for human nor for animals were not collected for this research work.

Literatur

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Online erschienen: 2021-11-30
Erschienen im Druck: 2021-11-25

©2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 23.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pubhef-2021-0088/html
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