PWP: Herr Professor Homann, Sie sind Wirtschaftsethiker. Was bitte ist der Platz der Ethik in den Wirtschaftswissenschaften?

Homann: Die Ökonomik ist aus der Philosophie, genauer aus der philosophischen Ethik heraus entstanden. Der Vater der Ökonomik, Adam Smith, hatte in Glasgow keineswegs einen Lehrstuhl für Ökonomik inne, sondern für Moralphilosophie. In der unmittelbaren Nachfolge von Adam Smith indes kam es durch Ausdifferenzierung zur Trennung von Ökonomik und Philosophie, was ein ganz typischer wissenschaftlicher Prozess ist. Fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch war die Ökonomik dabei aber immer noch politische Ökonomik, sodass die normativen Aspekte immer berücksichtigt waren. Im 20. Jahrhundert indes haben Philosophie und Ökonomik einander weitgehend aus dem Blick verloren. Nicht nur die Ökonomen glaubten, der Philosophie nicht mehr zu bedürfen, auch die Philosophen bildeten sich ein, Moralphilosophie allein mit den Theorieressourcen der Philosophie bestreiten zu können. Die beiden Disziplinen haben sich daraufhin so stark auseinander entwickelt, dass ihre Vertreter einander nicht mehr verstehen. Dabei ist die Ökonomik auch heute ein letztlich moralphilosophisches Unternehmen. Den jungen Leuten ist das aber nicht mehr bewusst. Deshalb braucht es eine eigene wissenschaftliche Disziplin, um die Verbindungen wieder deutlich zu machen: die Wirtschaftsethik. Solche Lehrstühle sind dringend notwendig.
PWP:Brauchen wir die Wirtschaftsethik nicht auch schon deshalb, weil die positiven Ergebnisse der ökonomischen Forschung in der Regel auch zu Politikempfehlungen benutzt werden, die immer zumindest implizit normativ sind?
Homann: Die Ökonomik zielt letztlich immer auf eine Analyse zwecks Gestaltung der Wirklichkeit. Wenn man gestalten will, braucht man eine normative Orientierung. Wenn man die künstlich abschneidet, hat man immer noch zumindest subkutan eine normative Orientierung, die dann aber nicht mehr reflektiert und kritisch analysiert werden kann. So kommt das Problem zustande, das ja auch den Vertretern der Disziplin vorgeworfen wird, dass sie bestimmte, meist ideologische Voreinstellungen haben, die sie selber nicht mehr reflektieren, mit denen aber massiv unsere soziale Wirklichkeit beeinflusst wird. Das ist ein Rückschlag, weil es, mit Freud gesagt, zu einer Wiederkehr des Verdrängten kommt. Wenn man das Normative abschneidet, kommt es durch die Hintertür zurück, in unreflektierter Form. Dann aber kommen häufig ethische Hintergrundvorstellungen politisch zum Tragen, die trivial und naiv oder aber kontraproduktiv sind.
PWP: Welche zum Beispiel?
Homann: So etwas passiert, wenn Befürworter unserer Wirtschaftsordnung beispielsweise behaupten, in der Sozialen Marktwirtschaft müsse die Marktwirtschaft durch das Soziale korrigiert werden. Das wird dann einfach gesetzt, ohne dass man darüber nachdenkt, wie das Verhältnis von Markt und Sozialem eigentlich zu bestimmen ist. Dieser Dualismus hat mich schon immer gestört. Es wird so getan, als hätten Ethik und Ökonomik, normative und positive Wissenschaft systematisch nichts miteinander zu tun. Wenn wir in einem solchen dualistischen Theoriekonzept denken, dann können wir nur noch eines tun: uns entscheiden. Wenn man dann mehr Moral will und mehr davon in die Wirtschaft bringen will, geht das automatisch zulasten von Markt und Wettbewerb – mit den entsprechenden politischen Folgen. Mit einem solchen Theoriekonzept, das einen erbarmungslosen Trade-off unterstellt, sitzen wir in einer Falle, aus der wir nur sehr schwer wieder herauskommen.
PWP: Das Prinzip der Werturteilsfreiheit wird in den Sozialwissenschaften, insbesondere in der Ökonomik, spätestens seit dem berühmten Werturteilsstreit vor mehr als hundert Jahren hochgehalten. Sobald jemand normativ Stellung bezieht, schwingen andere gern die Keule, das sei unwissenschaftlich. Ist das denn vollkommen falsch?
Homann: Klar ist: Ohne positive Kenntnisse kann man nicht normativ steuern; die Empirie ist eine notwendige Voraussetzung für eine sinnvolle normative Steuerung. Aber ohne eine normative Orientierung, also ohne Vorstellung darüber, wozu das Ganze gemacht wird, hängt die positive Analyse in der Luft. Natürlich kann man sich als einzelner Wissenschaftler im Rahmen der Arbeitsteilung auf die positive Analyse fokussieren und beschränken. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber in dem Augenblick, wo diese positive Analyse Einfluss auf die Politik gewinnen soll, als Empfehlung oder Kritik, ist normative Orientierung unabdingbar.
PWP:Kann diese das Kriterium der Wissenschaftlichkeit erfüllen?
Homann: Ja, das kann sie. Die empirischen Wissenschaften sind nicht grundsätzlich wissenschaftlicher als eine elaborierte normative Reflexion. Auch die Empirie bietet kein unerschütterliches Fundament, keine reinen Tatsachen. Wenn wir irgendeinen Befund als Tatsache werten, liegt darin bereits eine Festlegung, wie man bei Karl Popper nachlesen kann. Einzelwissenschaftliche Theorien sind durch eine bestimmte eingeschränkte, „abstrakte“, Fragestellung konstituiert, die den Sinn anderer, ebenso eingeschränkter Fragestellungen nicht bestreitet; sie können daher auch nur für die jeweilige Fragestellung Gültigkeit beanspruchen. Schon unsere Beobachtungen sind theoriegetränkt. Daher sind zu Objektivität im Sinne von Wissenschaftlichkeit auch die empirischen und die naturwissenschaftlichen Fächer nicht in einem höheren Maße imstande als eine elaborierte normative Reflexion. Für die Objektivität kommt es immer darauf an, ob es überlegene Theoriealternativen in der wissenschaftlichen Community gibt.
PWP: Aber was ist dem gerade aus den Nachbardisziplinen ertönenden Vorwurf entgegenzusetzen, die Ökonomik sei unterschwellig ideologisiert?
Homann: Wir können diesem Vorwurf nur entgehen, wenn wir uns aktiv um die normative Orientierung bemühen, diese kritisch reflektieren, offen ausweisen und darüber Rechenschaft ablegen. Aus einem solchen intersubjektiven Prozess resultiert dann wissenschaftliche Objektivität. Dass sich Wertfragen nicht wissenschaftlich entscheiden lassen, stimmt nicht. Empirische Forschung kann Wertfragen nicht entscheiden, das ist wahr, dazu ist normative Wissenschaft notwendig. Und diese ist sehr wohl in der Lage, saubere Argumente dafür vorzutragen, warum eine normative Orientierung einer anderen vorzuziehen ist. Dass die Ergebnisse, die hier und heute daraus resultieren, in Zukunft überholt, „falsifiziert“ werden können, ist klar und gilt genauso auch für empirische Wissenschaften. Eine „Letztbegründung“ ist in keiner Wissenschaft erreichbar.
PWP: Lassen Sie uns einmal kurz in die Niederungen der Unternehmensethik, der betriebswirtschaftlichen Schwester der Wirtschaftsethik, herabsteigen. Stichworte wie „Corporate Social Responsibility“ und „Corporate Citizenship“ sind heute, auch dank Ihrer Schule, in der Wirtschaft allgegenwärtig. Mein Eindruck allerdings ist, dass es ein Überschießen gegeben hat. Die Unternehmen hängen sich das CSR-Mäntelchen um und meinen damit ihre Pflicht gegenüber der Gesellschaft erfüllt zu haben. Eigentlich werden damit aber Aktivitäten befördert, die letzten Endes nur die Aktionäre ärmer machen.
Homann: Ich bin sehr unglücklich über diese Verunsicherung der Unternehmen durch die CSR-Diskussion. Das ist wieder ein Punkt, wo wir theoretisch unsauber geworden sind. Die ganzen CSR-Maßnahmen bringen den Unternehmen nur wenig, denn der Standardvorwurf lautet, die Unternehmen würden sich „nur aus Eigeninteresse“ zu CSR durchringen und alles sei deshalb nur „Ablasshandel“. Wenn wir die ethische Qualität des unternehmerischen Tuns dominant oder gar allein auf CSR-Aktivitäten legen, wenn wir also so tun, als ob nur das, was freiwillig über das Kerngeschäft hinaus im Sinne der gesellschaftlichen Verantwortung getan wird, das unternehmerische Tun moralisch rechtfertigt, dann transportieren wir im Umkehrschluss die Botschaft, dass das Kerngeschäft als solches unmoralisch ist, weil es nur den privaten Interessen der Shareholder dient. Das ist ein Eigentor mancher Verteidiger der Marktwirtschaft.
PWP: Was ist denn die Aufgabe von Unternehmen?
Homann: Normativ gesehen haben Unternehmen die Aufgabe, die Gesellschaft mit guten, preiswerten und innovativen Gütern und Dienstleistungen zu versorgen. Das ist ihre gesellschaftliche Verantwortung. In dem Augenblick, wo die CSR-Aktivitäten dem Kerngeschäft Abbruch tun, kommen die Unternehmen dieser ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht mehr nach. Denn die liegt im Kerngeschäft.
PWP: Wo ziehen Sie denn da die Grenzen? Ab wann wird das Kerngeschäft beeinträchtigt? Das Geld der Eigentümer geht ja auf jeden Fall drauf.

Homann: Ich würde hier keinen Dualismus sehen, kein Entweder-Oder konstruieren. Das wäre verheerend. Unternehmen können mit Aktivitäten, die heute unter CSR laufen, das Kerngeschäft nachhaltig unterstützen. Insbesondere regional und lokal brauchen Unternehmen Akzeptanz. Es ist durchaus sinnvoll, hierfür in CSR zu investieren. CSR ist dann ein Schmiermittel, das dazu beiträgt, dass das Kerngeschäft besser laufen kann. Das liegt in der Entscheidung des Managements. Ein Beispiel, das ich dem Kollegen Markus Beckmann verdanke: Die IT-Unternehmen im Raum Dresden engagieren sich im Kampf gegen Rechtsradikalismus. Was hat IT mit Rechtsradikalismus zu tun? Ganz einfach: Die Unternehmen sind darauf angewiesen, aus aller Welt die besten Fachleute zu rekrutieren, und das fällt ihnen schwerer, wenn es in Dresden Rechtsradikalismus gibt. Insofern unterstützen sie mit ihrem CSR-Engagement langfristig ihr Kerngeschäft. Unternehmen müssen sich nicht nur der kurzfristigen Gewinnmaximierung unter gegebenen Bedingungen widmen, sondern sie müssen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch darum kümmern, dass die Bedingungen für langfristige Gewinnerzielung stimmen. Wenn man die Prämisse preisgibt, dass die grundlegende gesellschaftliche Verpflichtung von Unternehmen im Kerngeschäft liegt, schießt man ein Eigentor. Das bekommt ein Unternehmen auch durch noch so viele CSR-Aktivitäten nicht wieder weg, und außerdem steigen dann die ethisch drapierten Ansprüche gegen die Unternehmen ins Unendliche.
PWP: Und das aufgrund eines Denkfehlers.
Homann: Ja. Eins muss klar sein und bleiben: Unternehmen sind Agenten gesellschaftlicher Wertschöpfung, nicht privater. Die Legitimation unternehmerischen Handelns kann nur in ihrem Beitrag zum Gemeinwohl bestehen. Die Aussicht auf private Gewinne ist lediglich der Anreiz, diese gesellschaftliche Aufgabe effizient zu erfüllen.
PWP: Sie argumentieren hier strikt konsequentialistisch. Aber ist unternehmerisches Handeln nicht auch schon von einem individuellen Freiheitsrecht gedeckt, meinetwegen naturrechtlich begründet, gleichgültig, ob die Ergebnisse für die Gesellschaft gut oder schlecht sind?
Homann: Das ist ein wichtiger Punkt. In der Tat ist die unternehmerische Freiheit im Rechtssystem der Bundesrepublik an Artikel 12 GG, Freiheit der Berufswahl, angehängt und wird rechtstechnisch in diesem grundrechtlichen Sinne ausgelegt. Eine ethische Begründung sieht anders aus. Sie hat immer den Nutzen für die Gesamtheit, also für die Gesellschaft, als Ankerpunkt. Alles muss seine normative Rechtfertigung an dem Ziel der Eudaimonia aller, des Glücks aller, messen. Es hat sich im Laufe der Geschichte herausgestellt, dass dafür manche Institutionen wichtig sind, beispielsweise der Schutz des Privateigentums. Aber die normative Begründung des Privateigentums beginnt nicht beim Eigentümer, auch sie liegt im Nutzen für die Gesellschaft. Die naturrechtliche Auffassung von der Rechtfertigung des Privateigentums wird in der Regel auf John Locke zurückgeführt: Der Einzelne hat ein Recht auf seinen Körper und folglich auch auf all das, was er mit Hilfe seines Körpers, also durch seiner Hände Arbeit, schafft. Doch man sollte sich nicht täuschen: Selbst Locke erkennt in demselben, nur eine halbe Seite umfassenden Paragraphen 27 seiner „Second Treatise“ im Schlusssatz die gesellschaftliche Bedingtheit des Privateigentums an, wenn er dessen Legitimität an die Voraussetzung bindet, dass genug für alle da sein muss. Die Sozialpflichtigkeit, wie es Juristen nennen, wird nicht nachträglich, als Korrektur, auf die Garantie des Privateigentums aufgepfropft, sie ist vielmehr systematisch in die Eigentumsbegründung eingebaut. Die naturrechtliche Begründung des Eigentums oder auch die Einstufung der unternehmerischen Betätigung als Grundrecht ist nicht zu halten. Franz Böhm hat die systematische Verschiedenheit von Freiheit als Grundrecht und unternehmerischer Freiheit klar erkannt, wenn er letztere auf „eine soziale Auftragszuständigkeit, die der Rechtfertigung durch den sozialen Nutzen bedarf“, gründet. Alles andere ist systematisch falsch. Wenn man das unternehmerische Tun philosophisch als ein Grundrecht auslegt, handelt man sich im Übrigen auch schnell die Forderung nach sehr weit gehender Umverteilung ein, denn Grundrechte müssen für alle gleich sein. Faktisch jedoch sind beispielsweise der Unternehmer und der Arbeitslose in ihrer wirtschaftlichen Freiheit sehr ungleich. Dieses Problem stellt sich aber nur, wenn man, anknüpfend an einen falsch verstandenen John Locke, einen systematischen Denkfehler macht.
PWP: Damit sind wir schon mitten drin in der Frage, welche Rahmenordnung wir eigentlich brauchen und welchen Imperativen diese gehorchen soll. Die „Soziale Marktwirtschaft“ mögen Sie ja nicht so sehr, stimmt‘s?
Homann: Nein, ich mag die Soziale Marktwirtschaft und den Begriff sehr. Ich wehre mich nur gegen eine falsche Auslegung, die jedoch weit verbreitet ist. Hier schießen die Freunde der Marktwirtschaft wie gesagt ein klassisches Eigentor, wenn sie zu verstehen geben, dass die Marktwirtschaft erst mit diesem Zusatz des Sozialen moralisch akzeptabel werde. Damit transportieren sie im Umkehrschluss die Auffassung, die Marktwirtschaft als solche sei eigentlich unmoralisch. So verwirrt ist unser Denken geworden! Hier wird wieder dualistisch gedacht: Die Marktwirtschaft dient der privaten Bereicherung, und das Soziale ist die ethisch erforderliche Korrektur. Die politische Folge ist, dass es kein Halten mehr gibt, ständig die Marktwirtschaft durch sozialpolitische Korrekturen zu „bändigen“, zu „domestizieren“ und „in die Schranken zu verweisen“; es wird eine „Durchbrechung“ der ökonomischen Logik verlangt und dieser ganze Schwachsinn. Auf der Grundlage eines solchen Denkens wird dann so lange an der Marktwirtschaft herumgedoktert, bis nichts mehr von ihr übrig ist.
PWP: Wie muss man das Verhältnis zwischen der Marktwirtschaft und dem Sozialen denn dann denken?
Homann: Die Marktwirtschaft als solche, ohne den Zusatz des Sozialen, hat in aller Welt enorm viel Armut beseitigt, und insofern stellt sie ein moralisches Unternehmen dar. Die Soziale Marktwirtschaft verbessert die Marktwirtschaft. Hier besteht ein Steigerungsverhältnis: So müssen wir das denken.
PWP: Was ist denn zu verbessern an der Marktwirtschaft?
Homann: Eine Verbesserung liegt zum Beispiel darin, jungen Leuten einen gebührenfreien Schul- und Hochschulbesuch zu ermöglichen. Das Ziel muss sein, immer mehr Menschen zu potenten Marktteilnehmern zu entwickeln. Wir müssen die Marktwirtschaft verbessern, indem wir immer mehr Menschen, übrigens auch international, einbeziehen. Das vergrößert den Wohlstand aller. So sieht die bessere Marktwirtschaft aus – wir müssen nur aufpassen, dass sie eine Marktwirtschaft bleibt. Wir dürfen auf keinen Fall den Ast absägen, auf dem wir sitzen, indem wir die marktwirtschaftlichen Prinzipien im Namen des Sozialen untergraben. Genau das aber ist im Laufe der vergangenen Jahrzehnte bei uns geschehen, exemplarisch und ganz besonders zuletzt in den Verhandlungen zur Bildung der großen Koalition.
PWP: Inwiefern herrscht denn heute keine Marktwirtschaft mehr?
Homann: Unter anderem sind mehr als 50 Prozent der Preise heute keine Marktpreise mehr, sondern aus sozialpolitischen Erwägungen politisch administrierte Preise. Dahinter stehen immer politische Interessengruppen, die sich vordergründig auf sozialpolitische Ziele berufen und die „soziale Gerechtigkeit“ für sich in Anspruch nehmen. Damit kann man heute die Richtung der Politik bestimmen. Seit etwa 40 Jahren entwickeln wir uns in diese Richtung; es gibt immer weniger Wettbewerb und Marktwirtschaft. Was das Paradigma angeht, herrscht auch hier der beschriebene Dualismus mit dem Umkehrschluss, dass die Marktwirtschaft unmoralisch ist.
PWP: Sie haben gerade den Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ erwähnt, mit dem sich trefflich Politik machen lässt. Friedrich August von Hayek hat die Verwendung dieses Begriffs einmal mit dem Argument kritisiert, Gerechtigkeit sei eine individuelle Tugend und mithin auch individuell zu verantworten; ein Kollektiv wie die Gesellschaft könne insofern nicht gerecht sein. Wie stehen Sie zu diesem Begriff?
Homann: Ich zitiere zwar gern Hayeks Wort, dass der Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ in etwa so sinnvoll sei wie der Ausdruck „ein moralischer Stein“, aber in der Begründung bin ich nicht mit ihm einverstanden. Er übersieht, dass eine reine Marktwirtschaft mit strukturellen Defiziten verbunden sein und verbessert werden kann.
PWP: Welcher Natur sind diese strukturellen Defizite?
Homann: Es kann beispielsweise zur Verarmung oder anderweitiger Exklusion einzelner Gruppen von Menschen kommen. Oder das marktwirtschaftliche Versprechen eines sozialen Aufstiegs für den Fleißigen lässt sich nicht mehr einlösen, weil die soziale Herkunft bedeutsamer ist als die eigene Anstrengung. Die Soziale Marktwirtschaft ist eine Marktwirtschaft, in der jedermann eine reelle Chance erhält. Dafür kann man normativ ein „Recht auf Bildung“ geltend machen, wie es beispielsweise die Achtundsechziger taten. Man kann aber auch ökonomisch argumentieren, dass es einen Verlust für die gesamte Gesellschaft bedeutet, wenn man das Talent und die potentiellen Beiträge eines Teils der Bevölkerung brach liegen lässt. Ich habe in meiner Wirtschaftsethik immer dafür argumentiert, dass man diese beiden Sichtweisen nicht gegeneinander ausspielen darf, denn sie gehören systematisch zusammen wie die zwei Seiten einer Medaille. Alle ethischen Normen, sollen sie Bestand haben können, haben ein ökonomisches Fundament. Denken Sie nur an das vierte Gebot: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.“ Das ist nichts anderes als ein knallhartes individuelles Vorteilskalkül als Bedingung dafür, dass die Menschen das normative Gebot des Wohlverhaltens gegenüber den alten und unproduktiven Eltern einhalten.
PWP: Dem steht die gängige Opfer- und Verzichtsrhetorik gegenüber: Moral muss schon wehtun, sonst ist sie keine Moral.
Homann: Ja, und genau da liegt das Problem. Insbesondere Führungskräfte in der Wirtschaft machen in der Tat im Alltag die schwierige lebensweltliche Erfahrung, dass sie sich regelmäßig ökonomischen und diesen scheinbar entgegenstehenden moralischen Forderungen gegenüber sehen. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass wir einen solchen empfundenen Gegensatz in der Theorie doppeln müssen, wie das die Wirtschaftsethik und insbesondere die Unternehmensethik in den achtziger Jahren tat und zum Teil bis heute noch tut, wenn die „Durchbrechung“ der ökonomischen Logik gefordert wird. So wirft man die Akteure auf eine Entscheidung für die eine oder andere Seite zurück und verbaut sich eine sinnvolle Lösung.
PWP: Und dieses Denken beflügelt auch die Klage über die „Ökonomisierung aller Lebensbereiche“.
Homann: Ja, gerade in bildungs- und gesundheitspolitischen Fragen hat dieses Denken Einzug gehalten. Diese gesellschaftlich wichtigen Felder dürfe man demnach nicht dem Markt und der ökonomischen Logik überlassen. Aber soll man da wirklich Ressourcen verschwenden dürfen?
PWP: Wie kann denn eine sinnvolle Konfliktlösung im Alltag aussehen?
Homann: Die moderne Welt ist dadurch bestimmt, dass wir in unserem Tun, sei es nun auf politische Reformen oder unternehmerische Weichenstellungen ausgerichtet, nicht nur das Rechtssystem respektieren müssen; es muss auch moralisch einigermaßen stimmen, und es muss ökonomisch stimmen. Wir müssen also verschiedene Systemlogiken gleichzeitig bedienen und können uns nicht auf eine Logik allein verengen. Tun wir letzteres doch, produzieren wir nur noch Moralismus und maßen uns Schuldzuweisungen an. Daher kommt auch im öffentlichen Diskurs die Tendenz, den Unternehmern ins Gewissen zu reden und ihnen vorzuschreiben, wie viel Gewinn sie machen dürfen. Selbst der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, ausgebildeter Ökonom, hat einmal gesagt, es könne in der Unternehmenswelt doch wohl nicht um die maximale Rendite gehen, sondern nur um eine angemessene. Diese Einstellung geht heute bei manchen bis zur Militanz. Mein Kronzeuge hierfür ist der Philosoph Hans Jonas, der in seinem „Prinzip Verantwortung“ zum Schutz des Lebens eine „wohlwollende, wohlinformierte und von der richtigen Einsicht beseelte Tyrannis“ postuliert. Jonas war dabei natürlich kein Verfechter der Diktatur. Aber sein Beispiel zeigt, in welche Argumentationsnöte man gerät, wenn man dualistisch denkt und die Dominanz der Ethik und das unbedingte Primat der Moral postuliert.
PWP: Was ist gegen diese dualistische Sackgasse zu tun?
Homann: Wir müssen dieses Entweder-Oder in unserem Denken beseitigen. Wir können die Moral nicht gegen die Funktionslogik der sie umgebenden Systeme denken und durchsetzen, sondern nur mit und in den anderen Funktionslogiken. Ein analoges Beispiel finden wir in der katholischen Kirche, die versucht hat, mit Metaphysik, Theologie und Bibel die Naturwissenschaft des Galileo Galilei aus den Angeln zu heben. Sie hat 350 Jahre gebraucht, um offiziell anzuerkennen, dass das nicht geht; aber für die Lehren von Charles Darwin kann man das nicht sagen, manche katholischen Kreise versuchen bis heute dagegen die Theologie und die Bibel ins Feld zu führen. Das ist absurd: Keinem Menschen würde einfallen, auf 10.000 Meter Höhe aus dem Flugzeug auszusteigen im Vertrauen auf seinen Glauben. Aber viele Menschen und vor allem die Moralisten stellen sich ständig vor, wir könnten im Namen der Moral aus den grundlegenden ökonomischen Gesetzmäßigkeiten aussteigen, und zwar ohne Folgen!
PWP: Warum tun wir uns so schwer damit, das Entweder-Oder-Denken abzulegen? Sind wir dafür am Ende von der Natur vielleicht schlecht ausgerüstet? Sind wir genetisch vielleicht derart von der Moral der Kleingruppe geprägt, dass es uns nicht gelingt und auch gar nicht gelingen kann, die oftmals scheinbar diametral entgegengesetzten ethischen Imperative der abstrakten Gesellschaft zu verinnerlichen?
Homann: Unsere Moralvorstellungen und die wissenschaftliche Reflexion darüber in der philosophischen Ethik sind vor dem Hintergrund vormoderner Gesellschaften entstanden. Das waren Kleingruppen, Face-to-face-Gesellschaften, und in solchen Kleingruppen erlernen wir als Kinder auch heute noch die Moral. Als Erwachsene leben wir heute dann jedoch in einer anonymen Großgesellschaft. Dort gelten andere Gesetzmäßigkeiten. Die verschieden Funktionslogiken unterliegen allerdings denselben normativen Postulaten: Es hat sich nichts geändert an der Eudaimonia als dem Ziel der Ethik und an den Prinzipien Freiheit und Würde des Einzelnen und Solidarität aller Menschen. Grundlegend geändert haben sich hingegen die Strukturen der Gesellschaft. Damit ergeben sich ganz andere, und zwar kontraintuitive, Handlungsimperative, die uns theoretisch, vor allem aber auch emotional, in unseren internalisierten moralischen Überzeugungen, große Schwierigkeiten bereiten. Wir sind mit unseren intuitiven Moralvorstellungen noch nicht in der Moderne angekommen. Da nun die Philosophie ihre Aufgabe darin sieht, uns über unsere moralischen Intuitionen aufzuklären, richtet sie sich in weiten Teilen, besonders in an Kant orientierten Konzeptionen, gegen die Marktwirtschaft mit ihren Systemimperativen Wettbewerb und Gewinnstreben der Unternehmen. Ich bringe immer gern zwei Sätze dagegen in Stellung: „Privateigentum ist sozialer als Gemeineigentum“, weil es die Tragik der Allmende überwindet. Und „Wettbewerb ist solidarischer als Teilen“, weil beim Teilen die Wohltaten nur den Beschenkten zugutekommen (was in eingeschränkten Fällen moralisch durchaus richtig sein kann), während der Wettbewerb die Wohltaten allen zugutekommen lässt. In dieser Hinsicht ist der Wettbewerb kein Gegenprinzip zu Solidarität, sondern – unter einer geeigneten Rahmenordnung selbstverständlich – ein hoch elaboriertes Instrument zur Verwirklichung der Solidarität aller, allerdings einer Solidarität ohne solidarische Motivation. In der vormodernen Welt konnte man so noch nicht einmal denken, und deshalb hat man Vorstellungen über gerechte Preise, Verbot von Zinsnehmen und Kapitalbildung und ähnliches entwickelt, was heute so schwer abzuschütteln ist.

PWP: Wie kommen wir dahin, wenigstens heute so zu denken und uns von den nicht mehr angemessenen Imperativen zu lösen?
Homann: Das Problem ist, dass man nicht mehr aus einer einheitlichen Handlungsmaxime heraus handeln kann, die in allen Konstellationen vom Menschen dasselbe Verhalten verlangen würde. Ein Bauunternehmer, der auf eine Ausschreibung ein Angebot einreicht, konkurriert damit mit seinem Kollegen aus demselben Ort, mit dem er unter Umständen am Sonntag die Kirchenbank teilt. Wenn er den Zuschlag bekommt, kann das für den Letzteren den wirtschaftlichen Ruin bedeuten. Diese marktwirtschaftliche Logik moralisch zu akzeptieren, ist bei unserer traditionellen Solidaritätsprägung nicht einfach. Genau deswegen brauchen wir eine moderne Wirtschaftsethik, die eine theoretisch belastbare Beziehung zu den althergebrachten Moralvorstellungen herstellt. Es führt nirgendwo hin, wenn man den Leuten sagt, sie seien von gestern, wie man manche Argumentationen bei Hayek verstehen kann. Das stößt sie nur vor den Kopf. Nein, man muss vielmehr erklären, dass die Marktwirtschaft die alten normativen Ideale von Freiheit und Würde sowie Solidarität aller Menschen unter den modernen Bedingungen viel besser erfüllt als jede andere Wirtschaftsform. Und dass damit von der Kleingruppenmoral abweichende Handlungsanweisungen verbunden sind, wobei es eben geschehen kann, dass der Konkurrent in den wirtschaftlichen Ruin geht. Das ist moralisch nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten, weil permanenter Strukturwandel mit all seinen unmittelbaren Härten langfristig das Wohl aller fördert.
PWP: Können Sie auch die moderne Wachstumskritik so erklären?
Homann: Natürlich muss man über die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen nachdenken und entsprechende politische Schlussfolgerungen daraus ziehen. Aber insbesondere bei der populären Wachstumskritik spielt nach meiner Auffassung noch ein anderes Motiv eine zentrale Rolle: Die Marktwirtschaft mit Wettbewerb und permanentem Strukturwandel ist ein äußerst stressiges System, dem sich viele am liebsten entziehen möchten. Zwar erkennen die Kritiker an, dass dieses System uns einen enormen Wohlstand einschließlich immaterieller Bereicherungen gebracht hat, aber sie meinen, jetzt sei es genug. Das mündet dann in eine sehr pauschale Kritik an der Marktwirtschaft, an Wettbewerb und Gewinnstreben der Unternehmen, am Wachstumswahn und dergleichen mehr, was alles die humanen, solidarischen und immateriellen, also die „höheren“ Werte zerstöre.
PWP: Schon wieder ein Fall von dualistischem Denken.
Homann: Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund. Was wir einzig und allein tun können, ist aufklären. Aufklären über die moralische Qualität der Marktwirtschaft, und aufklären vor allem über die Problemstrukturen, die den moralischen Problemen unserer Welt zugrunde liegen. Insbesondere müssen die Menschen über den Mechanismus des Gefangenendilemmas und der Tragik der Allmende Bescheid wissen, wenn sie ihre Welt und ihre moralischen Probleme verstehen und kompetent urteilen wollen.
PWP: Also darüber, dass es Situationen gibt, in denen es systematisch angelegt ist, dass Kooperation nicht zustande kommt, womit sich alle schlechter stellen; und darüber, dass es Situationen gibt, die Trittbrettfahrerverhalten herausfordern, womit sich ebenfalls alle schlechter stellen.
Homann: Ja. Und Führungskräfte müssen mit Theoriekonzeptionen ausgestattet werden, die solche Fallen vermeiden. Wir müssen versuchen, das nicht-dualistische Denken einzuüben. Im Alltag und in der Literatur reden wir vom Aufgang der Sonne, was physikalisch Unsinn ist. Wir wissen das und empfinden solche Rede trotzdem nicht als Widerspruch zur Physik. Es muss das Ziel sein, dass die Menschen auch die ökonomischen Zusammenhänge in ähnlicher Weise so internalisieren, dass sie dies nicht mehr als Widerspruch zu ihren moralischen Leitideen empfinden.
PWP: Davon sind wir aber weit entfernt.
Homann: Ich habe als Hochschullehrer meine Aufgabe darin gesehen, die Studierenden mit den richtigen Konzeptionen auszustatten. Wir haben uns auch Gedanken darüber gemacht, wie wir die Erkenntnis, dass ein Wettbewerb unter Regeln solidarischer ist als Teilen, in die Schulen bringen. Semantisch hat es sich dabei immer als hilfreich erwiesen, die Analogie zum Fußballspiel zu bemühen. Das Fußballspiel schließlich lebt davon, dass es Regeln gibt und dass der Schiedsrichter diese Regeln auch anwendet und gegenüber den Spielern durchsetzt. Innerhalb dieser Regeln lässt sich dann ein produktiver, hoffentlich auch aus Sicht des Fußballfans ansehnlicher Wettbewerb veranstalten. Mir ist vorgeworfen worden, dies führe zu einem Rahmenordnungsdeterminismus. So ein Quatsch! Die Regeln des Fußballspiels determinieren doch nicht die Spielzüge und das Ergebnis.
PWP: Worin besteht denn nach Ihrer Auffassung das Grundproblem der Moral unter Bedingungen der Marktwirtschaft mit Wettbewerb?
Homann: In der Ausbeutbarkeit moralischer Vorleistungen, soweit diese etwas kosten, ohne dass sie auf dem Markt honoriert werden. Die Lebenserfahrung hierzu ist so weit verbreitet, dass sie in Metaphern und Sprichwörtern festgeschrieben ist.
PWP: Trittbrettfahrer, Rosinenpicker ...
Homann: Ja, und „Der Ehrliche ist der Dumme“, „Hannemann, geh Du voran“, „St. Florians-Prinzip“, oder denken Sie nur an Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, 4. Akt, 3. Szene: „Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Obwohl diese Problemstruktur als Lebenserfahrung weithin bekannt ist, hat die philosophische Ethik diese Problemstruktur, die in der Spieltheorie als Gefangenendilemma modelliert wird, bis heute nicht auf ihrem Radarschirm, und das regt mich an den Kollegen in der Philosophie regelrecht auf. Sie wollen moralische Probleme, die die Struktur des Gefangendilemmas aufweisen, noch heute überwiegend individualmoralisch auflösen, also mit Appellen an das individuelle Wohlverhalten; seit Kant hat sich da nicht viel geändert.
PWP: Dabei soll das spieltheoretische Gefangenendilemma als Grundmodell der Ethik doch gerade eine Problemstruktur abbilden, wo die individuelle Moral versagt.
Homann: Ja, und deren Ergebnis ist die soziale Falle. Der Einzelne kann allein aus dieser Struktur nicht herausfinden. Man braucht den anderen Teilnehmer, um zu einer für jeden Einzelnen besseren Lösung zu finden. Deshalb stellt das Modell des Gefangenendilemmas für mich das für die Wirtschaftsethik und für die allgemeine Ethik grundlegende Modell dar. Es beschreibt die Grundstruktur menschlicher Interaktionen, weil immer gemeinsame und konfligierende Interessen zugleich vorliegen. Es gilt zu verhindern, dass die konfligierenden Interessen dazu führen, dass die gemeinsamen Interessen nicht zum Zuge kommen. Die Philosophen diskutieren über das Gefangenendilemma bis heute leider nicht systematisch. Wenn sie es überhaupt diskutieren, dann lösen sie es mit einem Appell zur persönlichen Rücksichtnahme auf den/die Anderen, also individualmoralisch, auf. Sie verstehen offenbar nicht, dass das Ergebnis meines Handelns nicht allein von mir abhängt, sondern entscheidend auch von meinem Gegenüber. Verlässlichkeit bezüglich des Verhaltens der anderen bekommt man aber nur durch sanktionsbewehrte Institutionen – und damit ist man bei der Ordnungsethik.
PWP: Es ist eigentlich merkwürdig, dass man ausgerechnet an dieser Stelle so tut, als seien die Individuen vollständig autonom. Dass das Zusammenleben Konfliktsituationen mit sich bringt und dass die Gemeinschaft auch das individuelle Handeln beeinflusst, wusste ja spätestens Karl Marx, von den Vertretern der modernen Mikroökonomik ganz zu schweigen.
Homann: Nicht umsonst lautet bei meinem neuen Buch[1] der Untertitel „Grenzen und Bedingungen der Individualmoral“. Die Individualmoral stößt nun einmal in kollektiven Dilemmastrukturen an Grenzen. Es müssen bestimmte Bedingungen kollektiver Art erfüllt sein, damit es für den Einzelnen überhaupt möglich wird, moralisch zu handeln. Walter Eucken schrieb in seinen „Grundsätzen der Wirtschaftspolitik“, posthum veröffentlicht 1952: „Die Gesamtordnung sollte so sein, dass sie den Menschen das Leben nach ethischen Prinzipien ermöglicht.“ Genau das ist das Konzept.
PWP: Und was bedeutet das, was folgt daraus für die klassische Ökonomik?
Homann: Vielleicht überraschend: dass sie sich nicht einschüchtern lassen soll, wenn sie am Homo oeconomicus festhält.
PWP: Aber die experimentelle Wirtschaftsforschung zeigt, dass sich die meisten Menschen durchaus nicht strikt rational verhalten, nicht nur ihr Eigeninteresse verfolgen und noch nicht einmal perfekt informiert sind, wie es der Homo oeconomicus vorsieht. Hat er als Heuristik trotzdem einen Sinn?
Homann: Aber sicher! Die Versicherung, der Homo oeconomicus sei falsifiziert, gehört zwar heute zum guten Ton in der Ökonomik. Wenn wir unterstellen, dass der Homo oeconomicus das empirische Verhalten der Menschen beschreiben soll, dann ist er als generelle Verhaltensannahme in der Tat sicher falsch. Aber um das zu erkennen, brauchen wir keine experimentelle Wirtschaftsforschung, das wussten wir immer schon. Der Homo oeconomicus ist eine Verhaltensannahme, kein Motiv: So haben das die seriösen Ökonomen auch immer gesehen, nur Philosophen und viele andere haben das falsch verstanden. Der Homo oeconomicus ist auch kein Menschenbild! Er hat mit dem Homo, mit dem Menschen, eigentlich nicht viel zu tun. Er ist keine Beschreibung, wie der Mensch unabhängig von der Situation, in der er steckt, ist. Der Homo oeconomicus ist nichts anderes als ein Theoriekonstrukt zur Ableitung von Verhaltenstendenzen in bestimmten Situationen.
PWP: Was für Situationen?
Homann: Die schon erwähnten Situationen mit einer klassischen Gefangenendilemmastruktur. Der Homo oeconomicus ist eine Beschreibung und eine Erklärung dafür, wie sich Menschen in Gefangenendilemmasituationen verhalten. Er ist damit keine eigenständige, am homo orientierte, sondern eine aus der Grundstruktur des Gefangenendilemmas abgeleitete Kategorie. Für solche Situationen ist der Homo oeconomicus eine hervorragende Heuristik, und es lässt sich ja auch nicht leugnen, dass die Ökonomen mit dem Modell des Homo oeconomicus in grundlegenden Fachgebieten nach wie vor recht erfolgreich arbeiten. In Situationen mit der Struktur des Gefangenendilemmas können wir auf Dauer gar nicht anders, als uns wie ein Homo oeconomicus zu verhalten, also zu „defektieren“, wie die Spieltheoretiker sagen, d. h. die Kooperation zu verweigern. Menschen lassen sich nicht dauerhaft und systematisch gerade in ihrem Wohlverhalten ausbeuten. Sie müssen sich gegen andere schützen, die weniger moralisch spielen, als sie selbst es eigentlich wollen. Präventive Gegendefektion ist die Logik des Gefangenendilemmas.
PWP: Und was ist davon moralisch zu halten?
Homann: In diesen Fällen verteidigen wir uns mit der Defektion ja gegen eine strukturell angelegte Ausbeutung, und wir tun das deswegen so entschieden, weil, wie man etwa bei Daniel Kahneman nachlesen kann, wir als genetisches Erbe eine ganz starke Verlustaversion haben. Dies ist ethisch ganz anders zu bewerten als ein Verstoß gegen moralische Prinzipien beispielsweise aufgrund von Willensschwäche und/oder durch Ausnutzen anderer. Wenn ich etwas als moralisch richtig erkannt habe, beispielsweise Frieden zu halten, dann gilt der daraus folgende Imperativ zunächst nur für meinen Willen, für meine Gesinnung, und noch nicht für mein Handeln. Denn wenn ich diesen Imperativ unmittelbar in meinem Handeln umsetzen würde, wie es eine kantianische Ethik fordert, hieße das nach Thomas Hobbes „eher, sich selbst als Beute darbieten – wozu niemand verpflichtet ist – als seine Friedensbereitschaft zeigen“. Wie Hobbes schon sagt, kann das keine Ethik verlangen, und das hat bislang auch keine Ethik verlangt. Für individuelles Handeln gilt der Imperativ erst, wenn die gröbsten Formen der Ausbeutung durch eine sanktionsbewehrte soziale Ordnung unterbunden sind. Erst dann greift der kategorische Imperativ.
PWP: Aber nicht bei Kant.
Homann: Richtig. Kant kennt die Gefangenendilemmastruktur, er erörtert an einer Stelle sogar das Verhalten der präventiven Gegendefektion – er spricht von einem „Vorbauungsmittel“. Aber ganz am Ende der entsprechenden Passage kommt er dann unglücklicherweise doch wieder zu dem Urteil, solches Verhalten stelle ein „Laster“ dar; er meint also, die Situation individualmoralisch auflösen zu können. Leider stehen die meisten Philosophen und Moralisten immer noch an diesem Punkt.
PWP: Sind Gefangenendilemmasituationen denn in der Wirtschaft allgegenwärtig?
Homann: Diese Struktur liegt im Marktwettbewerb ebenso wie beim Problem der Gemeinschaftsgüter vor, also in den beiden großen Domänen der Ökonomik, und genau deshalb ist der Homo oeconomicus für Wirtschaftswissenschaftler so unverzichtbar. Der Wettbewerb auf derselben Marktseite ist als ein Gefangenendilemma zu interpretieren, das wir aufrecht erhalten wollen, weswegen wir Kooperation im Sinne von Kartellen verhindern müssen - während wir im Fall der Gemeinschaftsgüter Kooperation ermöglichen wollen, also das Gefangenendilemma zu überwinden suchen. Positiv betrachtet, liegt aber in beiden Fällen dieselbe Struktur des Gefangenendilemmas mit den entsprechenden Anreizen und der Unmöglichkeit des individuellen Auswegs vor. Und man kann es niemandem moralisch verwehren wollen, sich gegen die Ausbeutung durch weniger moralische Interaktionspartner zu schützen.
PWP: Die experimentelle Wirtschaftsforschung hat aber noch mehr gebracht als die angebliche Falsifikation des Homo oeconomicus.
Homann: Ja, klar. Ich lese die Literatur wie einen Kriminalroman. Da werden die erstaunlichsten Dinge zutage gefördert, neuerdings in der Biologie sogar bis in die Tierwelt. Die Forschungsergebnisse stellen wertvolle Verfeinerungen des ökonomischen Standardmodells dar. Sie können aber durchweg erst dann fruchtbringend zum Tragen kommen, wenn die gröbsten Formen der Ausbeutung glaubwürdig eingedämmt sind.
PWP: Was halten Sie denn von den anderen modernen ökonomischen Ansätzen, die vom Unbehagen mit der klassischen Ökonomik ausgehen, zum Beispiel die Glücksforschung, die das Wohlbefinden des Menschen jenseits des materiellen Wohlstandes in den Blick nehmen soll, oder der Ansatz des „liberalen Paternalismus“, wo es darum geht, soziale Dilemmastrukturen mit Hilfe von intelligent gesetzten Anreizen gar nicht erst entstehen zu lassen? Das alles ist doch ein Import von ethischen Überlegungen in die politische Ökonomik und bekommt derzeit offenbar auch eine zunehmende politische Relevanz.
Homann: Das sieht auf den ersten Blick wie eine klassische ordnungsethische Konzeption mit einem offenen Vorteilsbegriff nach Art von Gary S. Becker aus, wie auch ich sie vertrete. In der Tat geht es in der Ethik um Eudaimonia. Was für die Menschen Vorteile und Nachteile sind und was für sie ein gelingendes Leben ausmacht, müssen sie heute allerdings jeweils selbst bestimmen. Inhaltlich hat dazu die klassische Ökonomik als solche wenig beizutragen, dafür brauchen wir die Philosophie, aber auch die Literatur, die Kunst und die Religion. Hier können sich Ökonomik und Philosophie wunderbar ergänzen. Die ökonomische Glücksforschung jedoch ist mir zu oberflächlich, zu empirisch und viel zu wenig philosophisch reflektiert. Wir übersetzen zwar Eudaimonia heute mit Glück, aber damit ist nicht die stark psychologische Glücksvorstellung der Glücksforschung gemeint. Natürlich streben alle Menschen auch nach Glück in diesem psychologischen Sinne, aber zu einem solchen Glücklichsein sind wir nicht gemacht. Wir kennen höchstens Verbesserungen unserer Situation, und wir sind immer unzufrieden, solange es anderen besser geht als uns selbst. Im Übrigen kann dieser Ansatz auch praktisch nicht sehr weit führen, solange nicht berücksichtigt wird, dass es zuerst die ökonomische Ausbeutbarkeit von moralischen Vorleistungen zu unterbinden gilt. Erst dann ergibt es Sinn, sich so genannte nicht-ökonomische Ziele zu setzen und nach moralischen Idealen wie Fairness oder, wenn Sie solche Wunschvorstellungen hegen, nach einer gerechten Gesellschaft ohne Wettbewerb zu streben. Sonst gehen diese Wunschvorstellungen zwangsläufig vor die Hunde. Das erleben wir derzeit in Europa.

PWP: Inwiefern?
Homann: Die Vision Europa, diese großartige Idee einer Friedens- und Wertegemeinschaft, geht kaputt, weil das ökonomische Fundament fehlkonstruiert ist. Ein anderes Beispiel ist die Familie: Wenn es ein Armutsrisiko bedeutet, drei Kinder zu haben, ist es kein Wunder, wenn die Geburtenrate sinkt. Das ökonomische Fundament muss stimmig sein, damit ich auf anderen Feldern nach Glück oder sonstigen normativen Zielen streben kann. Anders herum funktioniert das nicht. Wenn Sie den Glücksansatz nun in die Politik tragen, werden Sie Paternalismus ernten. Das kennen wir ja schon, als jüngstes Stichwort „Veggie-Day“. Sie ermächtigen die Politik, den Menschen bestimmte Glücksvorstellungen aufzudrücken. Ich finde das überhaupt nicht gut. Das ist im Übrigen auch ein Fass ohne Boden: Da wir zum Glücklichsein nicht gemacht sind, da wir uns immer Verbesserungen vorstellen können, vor allem wenn wir uns mit anderen vergleichen, würde das bedeuten, dass wir den politischen Beglückern eine Beschäftigungsgarantie geben würden. Man findet nie ein Ende. Und die Beglückerei geht in der Regel zulasten der ökonomischen Grundlagen. Dann kommt es zu Umverteilung in großem Stil, mit allen Folgen, die mit einer solchen Gleichmacherei einhergehen. Eine moderne Gesellschaft lebt vom Wettbewerb, und Wettbewerb setzt Ungleichheit voraus und erzeugt sie immer wieder neu. Das Recht auf Gleichheit beispielsweise in der amerikanischen Verfassung können wir nicht als ein Recht auf ein gleiches Einkommen oder gar gleiches Glück interpretieren. Das wäre verheerend. Wir würden in Armut versinken.
PWP: Aber Wettbewerb und Ungleichheit sind unbeliebt. Wieso eigentlich?
Homann: Mindestens 80 Prozent der Menschen in Deutschland mögen den Wettbewerb nicht, außer im Sport. Und zwar schlicht deshalb, weil man im Wettbewerb verlieren und im Vergleich zu anderen schlechter dastehen kann. Lieber nehmen sie ein niedrigeres, aber gleiches Wohlstandsniveau für alle hin. Dabei bringt das System des Wettbewerbs so viel Wohlstand, dass auch die profitieren, die den Wettbewerb gar nicht wollen. Und wenn man in der öffentlichen Diskussion immer nur darauf verweist, wie sich Menschen im Wettbewerb auch auf kriminelle Weise Vorteile verschaffen, zum Beispiel durch Steuerhinterziehung, Zinsmanipulationen, Kartellabsprachen usw., dann macht man es den Kritikern des wettbewerblichen Systems zu einfach. Denn all das ist nicht Wettbewerb, sondern ganz im Gegenteil ein Verstoß gegen die Prinzipien des Wettbewerbs. Die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Marktwirtschaft hängt wesentlich davon ab, ob wir gegen solche gravierenden Ordnungsverstöße entschieden vorgehen.
PWP: Meinen Sie, dass dann der Wettbewerb beliebt wird?
Homann: Ein gesellschaftliches Umsteuern von Mentalitäten kostet Zeit. Bis Menschen verinnerlicht haben, dass Wettbewerb solidarischer ist als Teilen, braucht es mehrere Generationen. Doch das darf uns nicht schrecken: Wie lange haben wir in Europa gebraucht, den Rechts- und Verfassungsstaat mit Demokratie und Marktwirtschaft zu etablieren und einigermaßen funktionsfähig zu machen? Unter Brüdern 700 Jahre. Gesellschaftliche Veränderungen können wir nicht nach dem Modell der Moralisten denken, wonach ein Mensch sich fest vornimmt, ab morgen nicht mehr zu rauchen, und es dann auch tut. Bloße Willensentscheidungen reichen da nicht aus. Gesellschaftliche Veränderungsprozesse nach diesem Modell zu denken, wäre naiv, mehr noch: Es wäre ein Ausdruck von gesellschaftstheoretischem Analphabetismus.

Mit Karl Homann sprach Karen Horn, Dozentin für ökonomische Ideengeschichte und Publizistin in Zürich. Von ihr stammt unter anderem das Buch „Die Stimme der Ökonomen“, Hanser, München 2012. Karl Homann wurde von Andreas Müller fotografiert, Karen Horn von Beatríz Barragán.
Zur Person
Die Wiedereinbettung der Ökonomik in die Philosophie
Karl Homann
Karl Homann, geboren 1943 im münsterländischen Everswinkel, stammt aus einer Bauernfamilie. Eigentlich war für ihn als dem ältesten Sohn vorgesehen, dass er den kleinen Hof in Alverskirchen übernehmen sollte. Sein Großvater, so erzählt er, habe ihn nach der Taufe über die Tenne getragen, ihm rechts und links die Kühe und die Pferde gezeigt und gesagt: „Die gehören alle Dir.“ Doch aus der bäuerlichen Zukunft wurde später trotz dieser Verheißung nichts, dazu war am Ende die intellektuelle Neugierde des katholisch erzogenen Heranwachsenden zu groß.
Homann ging zunächst in die Grundschule in seinem Heimatdorf, konnte dann mit finanzieller Unterstützung des Pfarrers das bischöfliche Internat in Ostbevern besuchen und legte schließlich das Abitur am Paulinum in Münster ab. In der Vorstellung, er wolle Lehrer werden, meldete er sich an der Pädagogischen Hochschule an – und bald wieder ab: das war nicht das Richtige. An der Universität Münster studierte er anstelle dessen dann Philosophie, katholische Theologie und – „für den Brotberuf“ – Germanistik auf Lehramt. Zu seinen Dozenten gehörten Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., sowie die Philosophen Willi Oelmüller und Joachim Ritter. In dieser Zeit bekam er seine Prägung als Hegelianer, wobei er Hegel nicht etwa als Deterministen und als Gegner der spontanen Ordnung interpretiert, sondern als einen Philosophen des Fortschritts mit einer hellsichtigen Rechtsphilosophie, die im Grunde eine Institutionentheorie der modernen Gesellschaft darstelle. Nach dem Examen 1969 folgte die philosophische Promotion mit einer Arbeit über die Philosophie der Freiheit des Aufklärers Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819).
Doch damit war der Wissensdurst noch nicht gestillt. Homann fühlte sich unwohl mit dem Ansatz der hermeneutischen, historisierenden Philosophie, die zur aktuellen Situation – der Achtundsechziger – nichts zu sagen hatte. In dem Interview, das Ingo Pies in der Festschrift[2] für seinen Lehrer mit demselben führt, gibt es hierzu eine

hübsche Passage: „Ich war damals sehr unzufrieden... dann habe ich gesehen, wie meine Examenssemesterkollegen aus der Philosophie auf die Straße gingen und die ganze Gesellschaft ändern wollten, ohne viel von dieser Gesellschaft zu verstehen... Und ich saß in der Leibnizforschungsstelle und sollte Handschriften edieren. Das habe ich nicht ausgehalten.“ Mehr realitätsbezogene Erkenntnis versprach er sich von der Wirtschaftswissenschaft. In dem Ökonomen Erik Boettcher, der an der Universität Münster das Institut für Genossenschaftswesen leitete, fand er einen kritischen Rationalisten, der ihm einen neuen theoretischen Ansatz bot. Boettcher hatte die mikroökonomischen Arbeiten von Gary Becker und die „Public-Choice“-Schriften von James M. Buchanan ins Deutsche übersetzen lassen und suchte sie theoretisch zu integrieren, nach dem Motto: „Wir schließen uns zusammen, machen einen gemeinsamen Betrieb und einigen uns auf die Abstimmungsmechanismen“ (Homann).
Homann absolvierte also ein Zweitstudium der Volkswirtschaftslehre, das 1979 in einen zweiten, ökonomischen Doktortitel mündete. Wie er bekennt, hat er sich in dieser Zeit das philosophische Denken zur Lösung ökonomischer Probleme gleichsam verboten: „Man muss sich die wissenschaftlichen Disziplinen von innen anschauen und kann nicht von außen über die Ökonomik reden. Man muss sozialisiert werden in diesem Denken.“ Mit der Doppelqualifikation als Philosoph und Ökonom hatte Homann das Rüstzeug, um das zu leisten, wofür er heute bekannt ist: eine Integration der beiden Disziplinen, die eigentlich derselben Wurzel entstammen, sich aber im Laufe der wissenschaftlichen Spezialisierung und Ausdifferenzierung derart weit auseinanderentwickelt haben, dass ihre Vertreter einander kaum mehr verstehen. Mit Hilfe einer Theoriekonzeption, an der beide Seiten „andocken“ können, die blinden Flecken zu beseitigen, die sich aus der Entfremdung der Disziplinen ergeben – das ist Homanns Lebensthema.
Stipendien sowie Assistentenstellen in Dortmund und Münster ermöglichten es ihm, sich 1985 an der Universität Göttingen zu habilitieren – nun aber wieder im Fach Philosophie, bei Günther Patzig. Homanns Habilitationsschrift trägt den Titel „Rationalität und Demokratie“. Danach nahm eine ungewöhnliche, durchgängig jenseits des Mainstreams angesiedelte Karriere ihren Lauf: 1986 nahm er einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre und Philosophie an der neu gegründeten privaten Universität Witten/Herdecke an. 1990 zog er in Deutschlands Süden, denn damals wurde an der Katholischen Universität Eichstätt eine wirtschaftswissenschaftliche Fakultät neu gegründet, und Homann konnte dort die erste Professur für Wirtschafts- und Unternehmensethik im ganzen Land übernehmen. Der „extraterritoriale Status“ zwischen den klassischen Disziplinen der Betriebswirtschaftslehre und der Volkswirtschaftslehre, den er dort genoss, machte diese Zeit wissenschaftlich besonders fruchtbar. 1999 schließlich wechselte er auf den anfangs von der Industrie finanzierten Stiftungslehrstuhl für „Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der philosophischen und ethischen Grundlagen der Ökonomie (Wirtschaftsethik)“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Jahr 2008 wurde er pensioniert. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech). Als „Spiritus Rector“ des Wittenberg-Zentrums für Globale Ethik (WZGE) ist er auch Stiftungsratsvorsitzender der WZGE-Stiftung.
Es ist Homann gelungen, was vielen anderen Wissenschaftlern, zumal in ökonomischen Fächern, kaum mehr möglich ist: eine klar konturierte, weithin anerkannte Denkschule zu begründen. Etliche seiner ehemaligen Mitarbeiter haben mittlerweile selbst Lehrstühle inne und entwickeln seinen Ansatz weiter, beispielsweise Ingo Pies in Halle/Wittenberg, Andreas Suchanek in Leipzig und Christoph Lütge in München. Sie alle eint das Homannsche systematische Denken, insbesondere das Bemühen darum, durch eine adäquate Theoriekonzeption die Verständnisschwierigkeiten von Philosophie und Ökonomik zu überwinden; die Anerkennung des Gefangenendilemmas, also konfligierender Interessen, als Ausgangspunkt des ökonomischen Denkens; die ordnungstheoretische Unterscheidung zwischen dem Handeln unter gegebenen gesellschaftlichen Spielregeln und dem Entwurf dieser Spielregeln; und dementsprechend schließlich das Auseinanderhalten von individualethischer und ordnungsethischer Perspektive.
Mit dem Etikett „Wirtschaftsethik“, das ihm seit langer Zeit anhaftet und ihm auch Türen in die Unternehmenswelt geöffnet hat, ist Homann dabei nicht wirklich glücklich: „Ich habe nie Wirtschaftsethik gemacht“, sagt er und grenzt sich scharf von allen gängigen moralisierenden Ansätzen der Wirtschaftsethik ab. Im Grunde ist das, was er betreibt, nichts anderes als klassische Sozialphilosophie. Er bettet die Ökonomik wieder in die Philosophie ein. Nicht „Corporate Social Responsibility“ und ähnliches interessiert ihn, sondern der Zusammenhang des „Sollens“ mit dem „Können“, also die – typischerweise kontraintuitive – Übersetzung als richtig erkannter moralischer Standards für den realen Kontext großer, abstrakter Marktwirtschaften in der Moderne. Homanns griffige Formulierungen wie „Privateigentum ist sozialer als Gemeineigentum“ und „Wettbewerb ist solidarischer als Teilen“ haben Furore gemacht. (orn.)
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