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Publicly Available Published by De Gruyter June 10, 2015

„Die Politik der Federal Reserve ist die schlechteste aller Zeiten – und kein Mensch kann sie aufhalten“

Ein Gespräch mit Allan Meltzer über einen Euro auf zwei Gleisen, Regeln für die Geldpolitik, Eigenkapitalvorschriften für Banken und die blinden Flecken der Geldtheorie

  • Allan Meltzer EMAIL logo

PWP: Herr Professor Meltzer, was halten Sie von der Geldpolitik der EZB? Geld ist in Europa ziemlich billig geworden, um es vorsichtig auszudrücken. Ist „Quantitative easing“ eine gute Idee?

Meltzer: Das zentrale Problem ist doch gar kein monetäres. Ich weiß, dass es den Marktteilnehmern nur allzu recht wäre, wenn die EZB noch mehr Geld drucken würde, als sie es schon getan hat. Die Geldpolitik der EZB war in der Vergangenheit nicht besonders expansiv. Das ist allerdings dabei, sich zu ändern. Wenn die EZB nur ein bisschen Geld drucken würde, wäre das kein großes Problem. Aber natürlich ist es nicht bei einem bisschen geblieben. Das zentrale Problem jedenfalls ist ein anderes. Es besteht darin, dass es auf der einen Seite wirtschaftlich starke Länder wie Deutschland und die Niederlande gibt, wo die relativen Preise viel höher sind als in Italien, Griechenland und Spanien. Also muss man sich anpassen. Es gibt drei Wege, auf denen eine Anpassung stattfinden kann. Man kann die reichen Länder inflationieren – aber das ist unrealistisch. Man kann stattdessen die anderen Länder deflationieren – und das ist genau, was derzeit tatsächlich passiert. Diese Form der Anpassung ist ein langwieriger, langsamer und schmerzhafter Prozess.

PWP: Und die dritte Möglichkeit?

Meltzer: Man müsste die in Schwierigkeiten geratenen Länder zusammennehmen, einschließlich Frankreichs, und für sie eine eigene Währung einführen, die man dann abwerten kann, um die Preisanpassung herbeizuführen. Denn das ist es, was geschehen muss. Diese Länder müssen eine Anpassungsleistung erbringen; sie brauchen strukturelle Reformen, um zum Wachstum zurückzukehren. Und wenn das erst einmal erledigt ist, können sie zurückkommen und sich der Gruppe der starken Euro-Länder wieder anschließen. Ich behaupte nicht, dass die notwendigen Reformen auf diesem Weg schmerzfrei vonstattengehen werden, aber sie werden noch viel schmerzhafter sein, wenn es keine Möglichkeit gibt, die Währung abzuwerten. Meine Kernbotschaft dabei ist die folgende: Damit das Euro-System funktioniert, braucht es Reformen.

PWP: Sie empfehlen also einen „weichen Euro“ für die schwächeren Länder und einen „harten Euro“ für die wirtschaftlich starken Länder. Fürchten Sie nicht die Nebeneffekte, die damit einhergehen würden, wenn die schwächeren Länder den starken Euro verließen? Den psychologischen Schock, den ein solcher Schritt zur Zweigleisigkeit des Euro auslösen würde; die Kapitalflucht, die einsetzen würde; die Abschreibungen, die nötig würden; die Rezession, zu der es dann zweifellos käme?

Meltzer: Probleme, die sich aus ökonomischer Divergenz ergeben, sind seit 1945 und bis zur Schaffung des Euro immer so gelöst worden. Italien und Frankreich haben regelmäßig abgewertet, und die Weltwirtschaft ist daran nicht zugrunde gegangen.

PWP: War der Euro in Ihren Augen überhaupt eine gute Idee?

Meltzer: Aus ökonomischen Gründen bin ich kein großer Freund von festen Wechselkurssystemen. Und was den Euro angeht, war ich von Anfang an skeptisch, ob es wirklich weise ist, auf Änderungen des Wechselkurses und der nationalen Zinsen als Instrument für den Ausgleich von Divergenzen zwischen den europäischen Staaten zu verzichten. Das gegenwärtige System betont zu sehr die Anpassungen im Beschäftigungsgrad und in den Produktpreisen – diese sind das wesentliche und, praktisch gesprochen, auch das einzige verbliebene Anpassungsmittel. Ein solches System kann nur dann zu Vollbeschäftigung und Preisstabilität gelangen, wenn alle Mitglieder ihre kostspieligen Wohlfahrtsstaaten und Regulierungssysteme von Grund auf verändern. Aber wie dem auch sei, die Europäer wollten nun einmal eine gemeinsame Währung. Und sie wollten sie, weil sie glaubten und wohl auch noch immer glauben, dass diese gemeinsame Währung helfen würde, einen neuerlichen Krieg in Europa zu verhindern. Natürlich muss das ein übergeordnetes Ziel für jedermann in Europa und darüber hinaus sein. Wir wollen auf keinen Fall einen weiteren großen europäischen Krieg. Deshalb müssen wir auch dafür sorgen, dass das System funktioniert – auf dass die Europäer darüber auf Dauer zueinander finden.

PWP: Und deshalb soll es ein Europa der zwei Geschwindigkeiten geben?

Meltzer: Ja, genau deshalb schlage ich eine zweite, „weiche“ Eurozone vor. Allerdings mache ich mir derzeit große Sorgen. Wenn man sich Deutschland, Frankreich, auch Großbritannien ansieht, auch wenn letzteres nicht Mitglied im Euro-Raum ist – die politische Opposition zum europäischen Projekt als Ganzes nimmt stetig zu. Ich rechne zwar nicht damit, dass die neuen eurokritischen, nationalistischen Parteien an die Macht kommen, außer vielleicht in Frankreich der rechte „Front National“. Aber was überall geschehen wird, weil Politiker nun einmal Politiker sind, ist, dass sich die alten, etablierten Parteien in Richtung der Nationalisten bewegen. Dann wird sich die europäische Integration verlangsamen und die Nationalstaaten werden zu ihren alten Egoismen zurückkehren. Das ist die große Gefahr, vor der wir gegenwärtig in Europa stehen.

PWP: Anfang 2015 hat die EZB angekündigt, schrittweise Staatsanleihen im Wert von mehr als 1 Billion Euro aufzukaufen. Sie hielt ein weiteres „Quantitative easing“ für notwendig, gerade auch angesichts einer leicht negativen Inflationsrate. Nicht viel später spülten die Wahlen in Griechenland „Syriza“ an die Macht, eine Partei der extremen Linken. Was sagen Sie dazu?

Meltzer: Die Wahlergebnisse in Griechenland haben die Unzufriedenheit verdeutlicht, die auch in vielen anderen Ländern herrscht. Die Wähler wollen bessere Ergebnisse sehen. Jahrelange Anpassungsversuche auf dem deflationären Weg haben Irland, Spanien und Portugal auf den Weg der Besserung gebracht, nicht aber Frankreich und Italien. Die nationalistischen Parteien in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Spanien, Schweden und Großbritannien begrenzen ihre Kritik und ihre Gegnerschaft in vielen Fällen nicht auf das Projekt einer gemeinsamen Währung, sondern ihnen widerstrebt die ganze Idee der Europäischen Union. Hierin besteht eine ernsthafte nationalistische Bedrohung der Übereinkunft Frankreichs und Deutschlands, gemeinsame Interessen zu entwickeln und auszubauen, um einen weiteren Krieg in Europa zu verhindern. Zunehmender Nationalismus steht diesem Ziel entgegen. Ich bezweifele zwar, dass die nationalistischen Parteien tatsächlich überall Mehrheiten erringen können, aber die Gefahr besteht eben darin, dass sich die anderen Parteien inhaltlich auf sie zubewegen, um Wähler zurückzugewinnen.

PWP: Für Turbulenzen hat Anfang des Jahres auch die Schweiz gesorgt. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) hat im Januar die Wechselkursuntergrenze von 1,20 Franken zu einem Euro aufgegeben. Danach wertete der Franken stark auf, weil die Schweiz als sicherer Hafen für Anleger gilt und sich das fliehende Kapital über die Alpen rettete. Allerdings macht das der exportorientierten Wirtschaft in der Schweiz das Leben sehr schwer. War die Freigabe des Franken die richtige Wahl?

Meltzer: Ja, die SNB hat im Januar genau das Richtige getan. Ihre Hauptaufgabe ist es, Inflation zu verhindern. Angesichts der sich damals schon abzeichnenden Entscheidung der EZB, massiv Geld zu drucken, hat die SNB so gehandelt, um zu verhindern, dass eine wahre Euroflut ins Land strömt. Mit einem solchen Problem hatte die SNB schon einmal zu tun gehabt. In den siebziger Jahren musste sie eine Taktik entwickeln, wie sie verhindern könnte, dass eine Dollarflut die schweizerische Inflation in die Höhe treibt. Damals, im Jahr 1973, war die Inflation zweistellig. Diesmal hat die SNB versucht, eine Wiederholung zu vermeiden. Ja, die Aufwertung schadet den Exporten, aber sie senkt auch die Importpreise. Das kommt nicht zuletzt den Verbrauchern zugute, wenn sie Nahrungsmittel und Benzin kaufen.

PWP: Hier zeigt sich doch aber, wie stark sich die Finanzmärkte von der Realwirtschaft abgekoppelt haben, zum Schaden letzterer. Die schweizerischen Bauern, die Hoteliers und die Chemieindustrie zahlen einen hohen Preis für die Eurokrise und dafür, dass die EZB die Gelddruckmaschine angeworfen hat. Ist das denn fair?

Meltzer: Fair? Seit wann kümmert sich die Europäische Union oder die EZB um Drittstaaten? Als das System von Bretton Woods 1973 zerfiel, haben die Staaten jeglichen Anspruch aufgegeben, eine Politik zu vermeiden, die anderen schadet. Ich glaube nicht, dass sich jemals wieder ein ähnliches Festkurssystem konstruieren lässt, aber wir sollten versuchen, die Inflationsraten in den Vereinigten Staaten, im Euro-Raum, in Japan und China auf 0 bis 2 Prozent zu begrenzen. Dazu braucht es dann auch noch irgendeine Art von Durchsetzungsmechanismus.

PWP:Wie sehen Sie denn die Politik der amerikanischen Notenbank, der Federal Reserve?

Meltzer: Vor nicht allzu langer Zeit habe ich zu dieser Frage einen Vortrag an der Federal Reserve Bank of Chicago gehalten. Ich habe versucht, die Augen meiner Zuhörer dafür zu öffnen, dass sie drei ganz wesentliche Fehler gemacht haben. Das Federal Reserve System in den Vereinigten Staaten hat Überschussreserven von 2,7 Billionen Dollar aufgebaut. Glauben Sie, dass die ein Programm dafür haben, wie sie diese Reserven einmal wieder loswerden? Natürlich nicht, und es wird Jahre dauern! Solche Überschussreserven abzubauen, ohne Inflation, Rezession oder beides auf einmal zu verursachen, wird eine große Herausforderung für die Zukunft sein. Sobald dieses Geld nicht mehr bei der Fed geparkt ist, sondern in die Realwirtschaft einfließt, wird es unweigerlich die Preise in die Höhe treiben. Wenn zu viel Geld umläuft, steigen immer die Preise: Inflation ist ein monetäres Phänomen. Und warum haben sie überhaupt diese riesigen Überschussreserven aufgebaut? Weil sie eben einen riesigen Fehler gemacht haben.

PWP: Und zwar welchen?

Meltzer: Einen analytischen Fehler. Es ist eigentlich ganz einfach: Wir haben kein monetäres Problem in Amerika. Wir haben realwirtschaftliche Probleme. Ja, die amerikanische Wirtschaft legt wieder zu, und das vor allem dank der verbilligten Energie. Aber wir haben immer noch hohe Steuersätze, eine schreckliche Regulierung und ein wirtschaftsfeindliches Klima, das immer dramatischer wird. Vor einem Jahr hat das Magazin „The Economist“ einen sehr hellsichtigen Artikel veröffentlicht unter dem Titel „Die Kriminalisierung der amerikanischen Wirtschaft“[1]. Diese Entwicklung ist wirklich außerordentlich besorgniserregend.

PWP: Der Kommentator im „Economist“ schrieb, die amerikanischen Regulierungsbehörden seien schlimmer als die sizilianische Mafia, die chinesische Volksbefreiungsarmee und die Kreml-Kleptokratie. Lassen Sie mich zitieren: „Die Formel ist einfach: Man finde ein großes Unternehmen, das möglicherweise (oder auch nicht) etwas falsch gemacht hat; dann bedrohe man dessen Manager mit dem geschäftlichen Ruin, vorzugsweise verbunden mit einer strafrechtlichen Anklage; man zwinge sie, das Geld der Aktionäre dafür zu verwenden, ein enormes Bußgeld zu zahlen, auf dass die Anklage in einem außergerichtlichen Vergleich fallengelassen wird (sodass niemand die Einzelheiten überprüfen kann). Und dann wiederhole man das mit einem anderen großen Unternehmen. Die Beträge sind irrwitzig.“ Um eine Rufschädigung zu verhindern, wichen die Unternehmen immer mehr auf außergerichtliche Vergleiche aus. Und diese Praxis unterminiere die Herrschaft des Rechts.

Meltzer: Oh ja, und der „Economist“ hat recht. Was da läuft, ist wirklich ein Desaster. Sehen Sie, genau darin liegen die wirklichen Probleme, die wir haben. Um Investitionen und Wachstum wieder in Gang zu bringen, sollte die Regierung die Steuern senken, deregulieren und damit aufhören, die Unternehmen zu kriminalisieren. Wir haben kein monetäres Problem in den Vereinigten Staaten, und trotzdem hört die Federal Reserve nicht auf, Geld zu drucken. Ihre Politik ist die schlechteste aller Zeiten. Und kein Mensch kann sie aufhalten – die Fed schuldet niemandem Rechenschaft. Nach Ausbruch der jüngsten Finanzkrise und auch noch lange danach hat sich die Federal Reserve fiskalpolitisch betätigt, sie hat Schuldenmanagement betrieben. Und dabei hat sie ihre Bilanzsumme vervielfacht. Keine Behörde sollte über derart viel unabhängige Handlungsmacht verfügen. In den Vereinigten Staaten sind wir stolz darauf, dass wir unserem Staat Schranken auferlegen – die Federal Reserve jedoch hat unbegrenzte Handlungsmacht. Und sie benutzt sie auf fürchterliche Weise! Wie zum Teufel kommt man auf die Idee, man müsse immer mehr Geld drucken, wenn sich die Reserven doch schon bei den Banken stapeln, weil diese sie nicht einsetzen? Die Banken wissen nicht einmal, was sie mit den schon bestehenden Reserven anfangen sollen. Es gab etliche Momente, in denen die Fed hätte erkennen müssen, dass ihr Handeln das Problem nicht behob – spätestens aber 2009. Und dass das Problem kein monetäres war. Das war der erste Fehler.

PWP: Und der zweite?

Meltzer: Der zweite Fehler liegt darin, dass die Federal Reserve zu sehr auf die kurze Frist geachtet hat. Heute ist das nicht mehr ganz so, aber über Jahre hat die Fed den Beschäftigungszuwachs in den Vordergrund gestellt. Einen Monat sind die Beschäftigungszahlen gut, den nächsten Monat gehen sie wieder abwärts. Diese Daten sind enorm volatil. Alles, was man so bekommt, ist „Noise“. Natürlich folgen die Märkte immer dem, was die Fed sagt. Wenn die Fed verkünden würde, dass sie in ihrer Politik auf Seelenschreiber achtet, würden wir alle Seelenschreiber kaufen. Das Problem der Marktteilnehmer liegt darin herauszufinden, was die Fed tun wird. Nur leider richtet die Fed ihr Handeln nach einem Indikator aus, der sehr wenig Bedeutung hat. Er überreagiert auf laufende Ereignisse und führt nur zu noch größerer Unsicherheit.

PWP: Und Sie meinen, dass sich diese Fehler auf eine fehlgeleitete Theorie zurückführen lassen?

Meltzer: Ja, und genau darin liegt der dritte der genannten drei Fehler der Fed. Die Krise, die wir haben durchlaufen müssen, war eine Kreditkrise. Die Banken haben zu viele Hypothekenkredite herausgereicht. Und obwohl das so war, benutzen die Ökonomen der Fed Modelle, in denen Geld und Kredit nicht vorkommen. Das ist einfach dumm! Wer auch immer nur irgendetwas über Geldgeschichte weiß, und ich habe immerhin ein Buch darüber geschrieben[2], der weiß, dass Geld und Kredit der Dreh- und Angelpunkt von allem sind. Dass sie diese Aggregate nicht berücksichtigen, begründen die Fed-Ökonomen damit, dass diese instabil seien. Für mittel- und langfristige Werte stimmt das aber gar nicht! Als mein Freund Otmar Issing noch in der Bundesbank Verantwortung trug, wurde dort sehr wohl auf Geld und Kredit geachtet, und die Geldpolitik war sehr gut. Die Federal Reserve jedoch hat sich davon verabschiedet. Nun, Sie werden sich nicht wundern, dass der Präsident der Federal Reserve Bank of Chicago nicht begeistert war von dem, was ich ihm und den anderen Zuhörern erzählte. Aber ich habe auch nicht damit gerechnet, dass es ihnen gefällt.

PWP: Hat das von Ihnen kritisierte Handeln der Fed nicht auch etwas mit deren Mandat zu tun? Dieses unterscheidet sich ja wesentlich vom Auftrag der EZB. Der Federal Reserve Act schreibt als Ziele der Geldpolitik vor, für Vollbeschäftigung, Preisstabilität und moderate langfristige Zinsen zu sorgen. Die EZB hingegen hat eine Zwei-Säulen-Strategie und betrachtet dabei monetäre Indikatoren, insbesondere Geldmenge und Inflation, sowie gesamtwirtschaftliche Indikatoren, insbesondere Beschäftigung und Wachstum, insofern diese einen Einfluss auf die Entwicklung der Preise haben.

Meltzer: Als Ökonom, also rein vom Standpunkt der ökonomischen Wissenschaft, ziehe ich ein singuläres Ziel vor. Aber als politischer Ökonom ist mir klar, dass etwas Derartiges in den Vereinigten Staaten nicht funktionieren würde. Es muss irgendeine explizite Form der Berücksichtigung des Beschäftigungsgrades geben. Die besten Perioden in der Geschichte der Federal Reserve, in den mehr als hundert Jahren ihrer Existenz, waren die Jahre 1923 bis 1928, als es den Goldstandard noch gab, und 1986 bis 2002, als sie mehr oder minder, ohne sich offiziell darauf festzulegen, der Taylor-Regel folgte.

PWP: In diese Regel fließen, je nach Variante, die Inflationslücke (also die Abweichung zwischen tatsächlicher und angesteuerter Inflation), die Produktionslücke (die Abweichung zwischen tatsächlichem Bruttoinlandsprodukt und Produktionspotenzial) oder die Beschäftigungslücke (die Abweichung zwischen tatsächlicher Beschäftigung und Vollbeschäftigung) ein. Nach dieser Regel sollte die Notenbank in Zeiten hoher Inflation oder überschießender Konjunktur die Zinsen anheben, sie in Zeiten geringer Inflation oder Deflation aber senken.

Meltzer: Ja, und ich fände es wirklich großartig, wenn die Federal Reserve gehalten wäre, dieser Regel zu folgen, verbunden mit der Pflicht, den amerikanischen Kongress wie auch die Öffentlichkeit darüber zu informieren, wo sie in den kommenden zwei oder drei Jahren den Beschäftigungsstand und die Inflation sieht. Wenn es ihr nicht gelingt, die angekündigten Zielwerte zu erreichen, müsste sie dies erklären und Konsequenzen ziehen – in Form eines Rücktritts der Verantwortlichen. Das wäre wirklich hilfreich. Erinnern Sie sich, was 1986 bis 2002 war, als die Taylor-Regel angewendet wurde? Die Geldpolitik dieser Periode produzierte die sogenannte „Great moderation“, eine Zeit niedriger Inflationsraten, eines guten Beschäftigungsstandes sowie sehr kurzer konjunktureller Abschwünge mit schneller Erholung. Das war eine gute Zeit. Und warum war diese Zeit so gut? Weil Alan Greenspan, der damalige Fed-Chairman, eine Langfriststrategie im Kopf hatte, statt Tag für Tag auf das zu reagieren, was gerade an den Märkten vorgegangen war. Unter Greenspan zielte die Fed auf Arbeitslosigkeit und Inflation zugleich, und es funktionierte sehr gut. Doch leider ist die Fed von diesem langfristigen Denken wieder abgekommen.

PWP:Wie wichtig ist es, eine klar definierte Regel zu haben? Es ist sicherlich vorteilhaft für die Öffentlichkeit, weil die Menschen so wissen, worauf sie sich einstellen müssen...

Meltzer: ... und die Notenbank auch! Die Leute dort wüssten endlich, was sie tun sollen. Eine Regel ist für beide Seiten nützlich.

PWP: Sicher, aber diskretionärer Handlungsspielraum hat auch einige Befürworter – unter den Verantwortlichen der Notenbank natürlich, weil sie dann die Dinge besser steuern können, und unter den Politikern auch, die versuchen, auf die Entscheidungen der Notenbank Einfluss zu nehmen, denn schließlich müssen sie auf aktuelle Ereignisse reagieren können und haben ein Interesse daran, möglichst rasch Erfolge zu sehen. Welche Regel braucht man, wenn dies also bewusst unterbunden werden soll?

Meltzer: Nun, in den Vereinigten Staaten machen wir da leichte Fortschritte. Das Repräsentantenhaus hat grünes Licht für eine Regel gegeben. Und es handelt sich um eine gute Regel, auch wenn sie noch ein paar Macken hat. Im Kern ist es eine Taylor-Regel. Die Fed wird nicht gezwungen, explizit der Taylor-Regel zu folgen, sie kann jeder Regel folgen, die ihr gefällt. Aber sie muss diese Regel stets mit der Taylor-Regel als Benchmark vergleichen. Das ist ein guter Schritt in die richtige Richtung.

PWP: Wenn der Senat zustimmt. Warum ist die Taylor-Regel eigentlich so gut?

Meltzer: Kein System, keine Regel wird je permanent funktionieren. Dafür ist das Leben einfach zu unsicher. Wir müssen uns damit abfinden, dass es Tage, Wochen oder auch Monate geben wird, in denen die Zentralbank von der Taylor-Regel oder einer anderen Regel, die sie sich gegeben hat, abweichen muss. Aber die Taylor-Regel hat von 1986 bis 2002 sehr gut funktioniert, und sie erfüllt die politische Restriktion, dass man etwas gegen Arbeitslosigkeit tun muss, nicht nur gegen Inflation. Politisch muss man das in den Vereinigten Staaten einfach so hinnehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine völlig andere Ausrichtung geben könnte. Es gibt Leute, die lieber ein reines Inflationsziel hätten. Doch selbst als Otmar Issing Chefvolkswirt der EZB war, hatte man dort nicht nur ein Inflationsziel, sondern man achtete auch auf die Arbeitslosenquote. In einer Demokratie kann man die Arbeitslosigkeit nicht einfach ignorieren. Den Leuten ist das zu wichtig.

PWP: Professor Issing war als Wissenschaftler ursprünglich sehr angetan von dem Gedanken einer festen Regel, sogar von Milton Friedmans Konzept, nach dem sich das Geldangebot am langfristigen Wirtschaftswachstum orientieren soll. Im Laufe der Zeit indes ist er der Friedman-Regel gegenüber immer kritischer geworden. Die in die Regel einfließenden Aggregate unterlägen dem Wandel, sagte er, weshalb eine auf ihnen aufbauende Politik zwangsläufig instabil sei. Insofern könne man auf ein Mindestmaß an diskretionärem Spielraum nicht verzichten[3]. Wie stehen Sie hierzu?

Meltzer: Ich betrachte mich als einen sehr guten Freund von Otmar Issing. Er hat in der EZB vorzügliche Arbeit geleistet. Hier ist meine Antwort. Ich habe die einhundertjährige Geschichte der Federal Reserve genau studiert. Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass die zwei besten Perioden der wirtschaftlichen Entwicklung in den Vereinigten Staaten jene Phasen waren, in denen die Fed eine geldpolitische Regel befolgte. Wie ich schon sagte, wird es immer Zeiten geben, in denen man von einer Regel abweichen muss, und das ist auch in Ordnung. Die Notenbank kann dann durchaus kommunizieren, dass die Regel in den gegenwärtigen Umständen nicht hilft – solange sie sich verpflichtet, dass sie wieder zu ihr zurückkehrt, sobald sich die Dinge einigermaßen stabilisiert haben. Das ist in Ordnung. Die Taylor-Regel hat eine sehr, sehr gute Wirtschaft produziert. Unter ihr gab es die beste Zeit, die wir je hatten. Kein diskretionärer Spielraum hat das je zu leisten vermocht. Im Gegenteil, es war diskretionäre Politik, die seinerzeit die Weltwirtschaftskrise verursacht hat, die Hyperinflation und viele andere Phasen von Inflation und Rezession.

PWP: Und war die lockere Geldpolitik im Aufgalopp zur Krise von 2007/8 nicht gerade dadurch zustande gekommen, dass es eben keine offizielle Bindung an die Taylor-Regel gab, sondern der Notenbankchef einen diskretionären Spielraum behielt und auch nutzte, was dem Grundgedanken einer Regelbindung diametral entgegenstand?

Meltzer: Ja, das stimmt, aber zumindest Greenspan hatte immerhin noch eine langfristige Strategie, und das Versagen der Fed ging auch darauf zurück, dass sie sich um die Kreditblase nicht scherten. Außerdem hat die Fed noch etwas anderes Dummes gemacht. Sie hat die Bankenregulierung dergestalt geändert, dass das vorsichtige Geschäftsgebaren der Banken zur Verantwortung des Regulierers wurde. Das Problem damit besteht darin, dass der Regulierer selbst keinen Anreiz hat, richtig zu regulieren. In den Jahren 2007/8 wurde auch prompt nicht richtig reguliert. Die Fed erlaubte es den großen Banken, Niederlassungen zu gründen, die Hypotheken halten konnten. Vor der Krise war es üblich, dass nicht nur ein oder zwei, sondern zehn bis zwanzig Aufsichtsbeamte die großen Banken unter die Lupe nahmen und sich jede einzelne Transaktion ganz genau ansahen. Ich habe den obersten Bankenaufseher von der Federal Reserve Bank of New York einmal gefragt, wie viele Transaktionen sie denn heute in Frage stellen oder sogar unterbinden. Die Antwort war: keine.

PWP: Wie muss die Regulierung denn nach Ihrer Meinung aussehen, damit das Bankensystem sicher und stabil ist?

Meltzer: Um das Bankensystem sicher und stabil zu machen, müssen wir nach meiner Vorstellung den Banken eine Eigenkapitalquote von 15 Prozent vorschreiben. Das ist es, was mir vorschwebt, und darin argumentiere ich ganz ähnlich wie Martin Hellwig und Anat Admati in ihrem berühmten Buch[4]. Die Bankenmanager müssen die richtigen Anreize gesetzt bekommen. Und zwar so, dass die Anteilseigner, wenn die Manager nicht vorsichtig genug vorgehen und exzessive Risiken eingehen, noch eine Chance haben, dagegen zu protestieren und zu sagen: ‚Was um Himmels willen machen Sie? Wieso gehen Sie diese Risiken ein, ohne das notwendige Kapital zu haben? Tun Sie das nicht!‘ Es sind die Manager, die für das unvorsichtige Geschäftsgebaren ihrer Bank verantwortlich gemacht werden müssen. Der Federal Reserve und den anderen Regulierern kommt dann nur noch die Aufgabe zu, die Einhaltung der Eigenkapitalvorschriften zu überwachen. Externe Prüfer hätten zu bestätigen, dass die Vorschriften eingehalten werden.

PWP: Woher nehmen Sie eigentlich die Zahl von genau 15 Prozent? Hellwig und Admati, aber auch andere Ökonomen hätten auch gegen eine noch höhere Quote nichts einzuwenden.

Meltzer: In der Weltwirtschaftskrise, in den Jahren von 1929 bis 1932, der schlimmsten Krise aller Zeiten, ist nicht eine einzige New Yorker Großbank zusammengebrochen. Nicht eine einzige. Der Grund war, dass sie alle 15 bis 20 Prozent Eigenkapital hatten. Indem Banken angehalten wurden, für ihre Fehler zu bezahlen, gab das System den Bankiers starke Anreize, beim Verleihen von Geld Vorsicht walten zu lassen. Das Problem damals war allerdings, dass sich die Prüfer das Portfolio an Verbindlichkeiten der Banken ansahen, in dem alles zu Nominalwerten verbucht war. Nun hielten die Banken damals allesamt Eisenbahnanleihen, und deren Kurs sank rapide. Die Prüfer berücksichtigten dies, korrigierten den Buchwert und kamen dann zu dem Ergebnis, dass die Bank eigentlich insolvent war. Sie forderten sie deshalb auf, die Eisenbahnanleihen wieder auf den Markt zu werfen, sie also abzustoßen. Dann zogen die Prüfer weiter zur nächsten Bank und mussten – welch Überraschung! – feststellen, dass der Kurs der Eisenbahnanleihen inzwischen noch weiter gesunken war.

PWP: Und dann?

Meltzer: Angesichts dieses Problems setzten sich der damalige Präsident Herbert Hoover und Finanzminister Andrew Mellon mit den großen New Yorker Banken zusammen und erklärten, sie wollten eine nationale Kreditkommission ins Leben rufen. „Wir fordern jeden einzelnen von Ihnen auf, uns 50 Millionen Dollar zu geben, die wir in das Kapital der Kommission stecken können, und dann wird diese die Eisenbahnanleihen aufkaufen, wenn sie auf den Markt kommen. Dann wird der Markt besser funktionieren“, so war die Ansage. Im Jahr 1931 waren 50 Millionen Dollar eine Menge Geld. Die Banken sagten zu: „Wir sind bereit, das zu tun, aber das Leben ist unsicher, und deshalb möchten wir im Gegenzug, wenn wir in eine Schieflage geraten, uns bei der Fed refinanzieren können“. Das allerdings lehnte die Fed ab, und deshalb lief der Plan ins Leere. Das war im Sommer und Herbst 1931. Im Winter 1932 stellte Hoover dann stattdessen die „Reconstruction Finance Corporation“ auf die Beine, eine staatliche Behörde mit genau den gleichen Aufgaben. Wir wussten damals, dass die Großbanken nicht nur große Verluste zu verbuchen hatten, sondern dass bei ihnen untätiges Kapital in Höhe von 50 Millionen Dollar herumlag. Da kommen die 15 Prozent her. Keine New Yorker Großbank hatte damals weniger als 15 Prozent Eigenkapital.

PWP: Aber diese Lektion hat man dann wohl nicht dauerhaft verinnerlicht. Zu Beginn der Krise von 2007/8 verfügten die amerikanischen Banken im Durchschnitt über weniger als 10 Prozent Eigenkapital.

Meltzer: In den Anhörungen zum Dodd-Frank Act bin ich vier Mal zu Wort gekommen und habe immer wieder genau diese Geschichte erzählt.

PWP: Der „Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act“ wurde von Präsident Barack Obama am 21. Juli 2010 in Kraft gesetzt. Das Gesetz führte zu wesentlichen Änderungen der Bankenregulierung in den Vereinigten Staaten seit den Regulierungsreformen der dreißiger Jahre.

Meltzer: Etwas später rief mich der republikanische Senator David Vitter aus Louisiana eines Tages an und fragte, ob ich vorbeikommen könnte, um mit seinen Mitarbeitern zu sprechen. Er wollte wissen, was in einem Gesetzentwurf stehen müsste, mit dem künftige Bail-outs verhindert werden sollten. Ich sagte: „15 Prozent Eigenkapital auf alle Vermögenswerte, ohne alle Gewichtungen, derer sich die Banken nur bedienen, um ihre Gewinne zu verstecken.“ Und so schrieben sie es dann auch in den Gesetzentwurf hinein. Vitter gelang es, Senator Sherrod Brown, einen liberalen Demokraten, für sein Vorhaben zu gewinnen, und so kam ein parteiübergreifender Gesetzentwurf zustande.

PWP: Hier tritt Ihr Einfluss in der Tat deutlich zutage. Vitter und Brown wollen Finanzinstitute, die mehr als 500 Milliarden Dollar an Vermögenswerten besitzen, zu 15 Prozent Eigenkapital verpflichten. Banken mit weniger, aber mindestens noch 50 Milliarden Dollar an Vermögenswerten sollen zu 8 Prozent verpflichtet werden. Die kleinen „Community Banks“ unterhalb dieser Schwelle sollen ausgenommen bleiben, weil sie ohnehin üblicherweise ordentliche Reserven haben. Bisher ist der Gesetzentwurf nicht durchgekommen. Warum?

Meltzer: Den großen Banken gefällt der Gesetzentwurf nicht, und ich kann Ihnen auch sagen, warum: Sie profitieren vom bestehenden System, denn sie werden als „too big to fail“ betrachtet. Deshalb ist mit dem Bankensystem folgendes passiert: Gerade weil sie für „too big to fail“ gehalten werden, haben die Großbanken auf dem Geldmarkt zu niedrigeren Zinsen Kredit aufnehmen können als irgendjemand sonst. Etwas kleinere Banken können da nicht mithalten. Was tun sie also? Sie schließen sich zusammen. Deshalb hat die Chemical Bank Chase gekauft und dann mit J.P. Morgan zu JPMorgan Chase fusioniert; die Bank of America hat Countrywide Financial und Merrill Lynch übernommen; Wells Fargo hat Wachovia geschluckt; die PNC Bank aus meiner Stadt Pittsburgh hat eine Bank aus Cleveland gekauft. Im Ergebnis haben die Großbanken nicht mehr nur 15 bis 20 Prozent Marktanteil, sondern 50 Prozent, einfach nur wegen der gewachsenen Zahl und Größe. Das ist keine gute Entwicklung, im Gegenteil, der Wettbewerb nimmt dadurch ab. Was den Banken natürlich nur recht ist. Wie auch immer, ich denke, der Gesetzentwurf von Vitter und Brown dürfte im neuen Kongress eine Chance haben.

PWP: Wird es dieser Gesetzentwurf auch durch den Senat schaffen?

Meltzer: Vor einigen Wochen bekam ich eine Email, mit der ich nie gerechnet hätte. Sie kam von einem Mitglied des National Economic Council der Regierung von Präsident Barack Obama. Er fragte an, ob ich mit ihnen sprechen könnte. Ich schrieb zurück und sagte: „Natürlich“. Und dann führten wir erst einmal ein Telefonat darüber, was zu tun sei. Es lief ganz prima. Damit ihm klar ist, wo ich stehe, habe ich ihm gleich am Anfang gesagt: „Sie wissen sicher, dass ich dieser Regierung nicht sehr wohlgesinnt bin“. Er antwortete: „Natürlich wissen wir das.“ Ein paar Tage später bekam ich eine weitere Email, in der er mich fragte, ob ich ins Weiße Haus kommen könnte, um mit ihm und seinen Kollegen zu diskutieren. Natürlich fuhr ich hin. Ich war nicht der einzige, mit dem sie gesprochen haben, auch Anat Admati war da, die Koautorin von Martin Hellwig, und sicher noch andere Leute.

PWP: Was wollten die Berater?

Meltzer: Das republikanisch dominierte Repräsentantenhaus hatte 300 Gesetzentwürfe gebilligt, die dann nicht durch den Senat gegangen sind, weil die demokratische Senatsmehrheit sie zurückhielt. Das war noch vor den Senatswahlen 2014, aber jedermann rechnete schon damals damit, dass die Republikaner auch den Senat übernehmen würden. Und es war klar, dass der demokratische Präsident nicht gegen 300 Gesetzesvorschläge sein Veto einlegen kann. In unserem Gespräch mit dem National Economic Council wurde ich irgendwann gefragt: „Wenn Sie in unserer Lage wären, was würden Sie tun?“ Und ich antwortete: „Wie Sie wissen, liegen 300 Gesetzentwürfe vor. Ich würde sie alle einmal gründlich durchgehen, mir überlegen, zu welchen ich kompromissbereit bin, und dann würde ich mir eine Strategie für die Zeit nach den Wahlen zurechtlegen.“ Kopfnicken überall. In diesem Sinne bin ich auch etwas optimistisch, dass wir ein bisschen Fortschritt sehen werden.

PWP: Aber wieso glauben Sie, dass „Ihr“ Gesetzentwurf, also die Vorlage von Vitter und Brown, am Ende zu jenen gehören wird, die durchkommen?

Meltzer: Man weiß nie. Politiker sagen immer, dass sie sich bemühen werden, ein wirkliches Problem zu lösen. Aber das sind nur Worte, und wir müssen abwarten, um zu sehen, was das alles in der Praxis bedeutet. Aber eines ist klar: ein Veto gegen 300 Gesetzentwürfe wird es nicht geben. Es wird vielleicht an dem einen oder dem anderen Gesetzentwurf noch Änderungen geben müssen. Aber dieser, „mein“ Gesetzentwurf von Vitter und Brown, hat immerhin den Vorteil, parteiübergreifend zu sein. Und deshalb hat er eine gute Chance. Vielleicht wird es uns nicht gelingen, die Eigenkapitalquote auf 15 Prozent zu bringen, aber sie wird schon höher zu liegen kommen als früher. Zu Beginn der Krise 2007/8 hatten manche Banken nur 1 Prozent Eigenkapital. Sie erfüllten ihr Kapitalsoll, indem sie Geld aufnahmen. Sie hatten hochwertige Anleihen, die sie absicherten, mit dem Ergebnis, dass ein Versicherungsunternehmen wie AIG das Risiko trug und die Banken überhaupt nicht mehr über die Risiken nachdachten, die sie eingingen. Das war ein dummes, instabiles System. Die Banken müssen das Risiko ihrer Aktivitäten tragen. Nur so funktioniert das System. Sie werden genug verdienen wollen, um die 15 Prozent schultern zu können, aber wenn sie dafür zu viele Risiken eingehen, Risiken, die sie als Bank selber tragen müssen, dann werden sie Ärger mit ihren Anteilseignern bekommen. Diese werden fragen: „Was macht Ihr mit unserem Geld?“

PWP: Lassen Sie uns noch ein wenig auf die Wissenschaft schauen. Sie sagten bereits, die ökonomischen Modelle, die heute in Mode seien, ignorierten Geld und Kredit.

Meltzer: Mein Modell tut das nicht. Aber irgendwie ist das verschütt gegangen. In der guten alten Zeit kam James Tobin, ein überzeugter Keynesianer, gleichzeitig mit Karl Brunner und mir auf die Idee, Modelle zu bauen, in denen die Transmission geldpolitischer Impulse über die Vermögenswerte läuft. Wenn Sie das Geldangebot ausdehnen, steigen die Aktienkurse, die Immobilienpreise, die Preise der Vermögenswerte. Damit wird es günstiger, neue Vermögenswerte aufzubauen, weshalb in Immobilien und Sachkapital investiert wird. Wenn man sich die jüngste enorme Zunahme der Aktienkurse in Amerika ansieht, kann man dahinter aber weit und breit keine Investitionen entdecken. Die Investitionen sind die Achillesferse der gegenwärtigen Erholung. Man kann schon eine Zunahme der Immobilienpreise feststellen, aber es wird nicht deutlich mehr gebaut. Die Bautätigkeit hat sich gebessert, aber sie ist noch lange nicht so gut wie einst. Deshalb ist es mir ein Dorn im Auge, dass die Fed so wenig auf die Kredite achtet. Stattdessen starrt sie auf die Phillips-Kurve.

PWP: Wieso das?

Meltzer: Nach der Argumentation der Fed ist dies das einzige Modell, in dem sich das Verhältnis zwischen nominalen und realen Variablen abbilden lässt. Aber das ist schlicht und ergreifend nicht wahr. Das Tobin-Modell und das Brunner/Meltzer-Modell enthalten sehr wohl ein Verhältnis zwischen nominalen und realen Variablen, und zwar eines, das von viel empirischer Evidenz gestützt ist. Dass es derzeit zu keinen Investitionen kommt, sollte die Fed wurmen! Wir müssen das Klima für Investitionen verbessern, und das ist ein realwirtschaftliches, kein monetäres Problem. Die beiden wirklich guten Vorsitzenden der Federal Reserve, die ich erlebt habe, Paul Volcker und Alan Greenspan, haben sich beide von der Phillips-Kurve verabschiedet. Volcker hielt seinerzeit öffentliche Ansprachen darüber, berichtete an den Kongress, sprach mit dem Stab der Fed darüber, warum er der Phillips-Kurve nicht traute. Er stellte ihr die, wie ich sie nenne, Anti-Phillips-Kurve entgegen. Nach seiner Auffassung brauchten wir, um mehr Beschäftigung zu bekommen, eine niedrige erwartete Inflation. Das ist der Zusammenhang, den die Anti-Phillips-Kurve beschreibt. Jetzt aber glauben sie in der Fed wieder an die Phillips-Kurve; Ben Bernanke hat sie seinerzeit wieder eingeführt. Es ist einfach unglaublich – da gibt es eine enorme Fülle an ökonometrischer Evidenz aus Studien sehr guter Wissenschaftler, die alle belegen, dass die Phillips-Kurve wenig verlässlich ist. Und trotzdem lässt man sich bei der Fed von ihr leiten.

PWP:Ist die Phillips-Kurve nur wenig verlässlich oder haben Theorie und Evidenz nicht gezeigt, dass es den postulierten Zusammenhang so eigentlich gar nicht gibt? Und ist sie nicht auch von allen Seiten widerlegt worden, von Milton Friedman ebenso wie von Edmund Phelps?

Meltzer: Das ist wahr. Alle haben sie widerlegt. Und seit jenen Tagen von Friedman und Phelps hat sich noch jede Menge empirische Evidenz hinzugesellt, Arbeiten von guten Leuten, die weder Monetaristen noch Keynesianer sind, sondern einfach Ökonometriker. Sie alle zeigen, dass die Phillips-Kurve nichts taugt. Weshalb also immer wieder auf sie zurückkommen?

PWP: Ja, weshalb?

Meltzer: Wohl weil sie in der Fed nichts anderes beherrschen.

PWP: Dann sollten Sie wohl mal mit denen sprechen.

Meltzer: Oh, das habe ich, aber die hören mir nicht zu.

PWP: Wie sehen Sie die jüngsten Entwicklungen in der Geldtheorie?

Meltzer: Ich habe großen Respekt für Michael Woodford.

PWP: Einen in der Zunft sehr anerkannten Ökonomen von der Columbia University in New York, der mit seiner Forschung die Geldtheorie aktuell stark prägt.

Meltzer: Woodford ist ein sehr intelligenter, fähiger Mann. Aber ich habe kein Fünkchen Zuversicht, dass er das Richtige tut. In seinem Modell gibt es kein Geld und keinen Kredit. Das hatten wir ja schon. Ich habe Woodford einmal gefragt: „Wie können Sie bloß die gesamte monetäre Geschichte wegwerfen und sagen, sie sei irrelevant? Monetäre Geschichte ist die Geschichte von Geld und Kredit!“ Woodford entgegnete mir, das sei nicht wichtig. Wie kann man denn auf die Krise von 2007/8 zurückblicken und nicht sehen wollen, dass es sich um eine Kreditkrise handelte? Und jetzt, was machen sie jetzt? Die Regierung hatte nach der Krise vorgeschrieben, dass Hauskäufer 20 Prozent Eigenkapital mitbringen mussten, und das war eine gute Sache. Als ich einst mein erstes Haus kaufte, war ich noch ein armer Assistenzprofessor, und 20 Prozent Eigenkapital waren schon damals die Regel. Aber jetzt hat die Regierung diese Quote wieder gesenkt, und wir haben nur noch 3 Prozent. Sie fordern das Schicksal geradezu heraus! Wir werden denselben Ärger wieder erleben. Nicht einmal ein Jahrzehnt ist ins Land gegangen, und schon machen sie dieselben Fehler wie zuvor.

PWP: Sie züchten Blasen.

Meltzer: Exakt. Ich verstehe den politischen Druck durchaus. Arme Leute, die immerhin ein eigenes Häuschen haben, das ist schon eine sehr wünschenswerte Sache. Aber was heißt das schon? Wenn Sie den Leuten bei 3 Prozent Eigenkapital ein Eigenheim geben, was gehört denen dann wirklich?

PWP: Genau 3 Prozent des Häuschens, nicht wahr? Lassen Sie uns abschließend noch einmal den Blick weiten. Was halten Sie für die größte ökonomische Herausforderung, der wir heute in der Welt gegenüber stehen? Was ist das größte ökonomische Problem?

Meltzer: Die politische Herausforderung ist natürlich, für Frieden zu sorgen. Ohne Frieden ist alles andere ohne Bedeutung. Ökonomisch ist es das Allerwichtigste, den enormen Fortschritt nicht abreißen zu lassen, den wir seit dem Zweiten Weltkrieg gemacht haben. Der Lebensstandard hat in aller Welt zugenommen. Es war uns vergönnt, eine beispiellose Periode zu durchleben. In der Geschichte der Menschheit hat es nichts gegeben, was mit den siebzig Jahren seit dem Krieg vergleichbar gewesen wäre. Mehr Menschen und mehr Länder sind in den Genuss eines höheren Lebensstandards gekommen. Das ist unsere ökonomische Herausforderung: den Fortschritt beizubehalten. Doch um den Fortschritt zu sichern, müssen wir humane Wege finden, wie wir den Wohlfahrtsstaat eindämmen können. Der Wohlfahrtsstaat tötet die Produktivität.

PWP: Sehen Sie uns da auf dem richtigen Weg?

Meltzer: Ganz und gar nicht. Eines der größten Probleme im Zusammenspiel zwischen Politik und Wirtschaft heute besteht darin, dass die Politiker unter dem Druck der Öffentlichkeit sehr kurzfristige Lösungen erzwingen. Wir müssen immer sofort handeln. Das macht eine gründliche Suche nach den dauerhaft richtigen Lösungen unmöglich. Lassen Sie mich ein Beispiel geben, das ich für ausgesprochen aussagekräftig halte. Am Ende des Zweiten Weltkrieges haben wir die richtigen Institutionen für Freihandel, langfristige monetäre Stabilität und wirtschaftliche Unterstützung der unterentwickelten Länder geschaffen. Das war ein Projekt mit einem langen Horizont. Aber worin besteht unser langfristiges Projekt denn heute? Wir haben nichts, was diesen Namen verdienen würde. Heute reagieren die Regierungen aller Länder auf die Probleme, die sie gerade vor der Nase haben, ohne je über eine langfristige Strategie nachzudenken, die uns sagen würde, wo wir überhaupt stehen und wohin wir gehen müssen. Das ist gerade für die jungen Menschen sehr hart, vor allem für diejenigen, die keine Arbeit finden. Diese politische Perspektiv- und Ziellosigkeit ist schrecklich für sie. Vielleicht würde es helfen, wenn wir die transatlantischen und transpazifischen Freihandelsabkommen endlich auf den Weg brächten. Die Freihandelsstrategie funktioniert sehr gut, das wissen wir aus Erfahrung. Aber wir müssen in den Verhandlungen sehr aufpassen, dass nicht so viele Einschränkungen ihren Weg in den Vertragstext finden, dass das Abkommen am Ende gar nichts bringt.

PWP: Diese Kurzsichtigkeit des politischen Handelns kann man als Preis der Demokratie bezeichnen. Wie soll denn eine langfristige Strategie zustande kommen, wenn die Regierung damit rechnen muss, in wenigen Jahren abgewählt zu werden, wenn den Bürgern die Vorteile ihres Tuns nicht sofort klar werden?

Meltzer: Das ist in der Tat das Problem. Und darin liegt auch der Unterschied zwischen 1945 und heute. Damals kamen wir aus dem Krieg mit dem festen Vorsatz zu verhindern, dass sich die Vorkriegsprobleme wieder einschleichen. Das Ergebnis dieses Vorsatzes waren institutionelle Arrangements, die eine Regelbindung für Regierungen mit sich brachten. Ein Beispiel war das 1944 geschlossene Währungsabkommen von Bretton Woods, ein anderes die 1949 gegründete Nato, noch ein weiteres die 1951 gegründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Unglücklicherweise verhielten sich die Vereinigten Staaten nicht so, dass das Festkurssystem auf Dauer hätte aufrechterhalten werden können. Und die kontinentaleuropäischen Länder entwickelten sich innerhalb der Nato zu Trittbrettfahrern, die ihre Militärausgaben drosselten und von der militärischen Kraft Amerikas profitierten. Heute verzichten die Vereinigten Staaten genauso wie viele andere Länder auf eine auch nur mittelfristige Strategie. Sie konzentrieren sich auf das zeitlich Naheliegende. Die Schweiz ist da in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme. Man kann den Erfolg ihrer Strategie an vielen Indikatoren ablesen. Einer davon ist die Tatsache, dass der Franken unmittelbar nach dem Krieg 20 amerikanische Cent wert war. Heute steht er bei 1,20 Dollar.

Mit Allan Meltzer sprach Karen Horn, Dozentin für ökonomische Ideengeschichte und Publizistin mit Sitz in Zürich, im Intercity von Zürich nach Freiburg im Breisgau. Allan Meltzer wurde von Wonge Bergmann fotografiert, Karen Horn von Beatríz Barragán.

Zur Person

Keine Geldtheorie ohne Geld und Kredit

Allan Meltzer

Allan H. Meltzer wurde am 6. Februar 1928 in Boston, Massachusetts, als Sohn eines Unternehmers geboren. Im Alter von 16 Jahren ging er zum Studium an die Duke University in Durham, North Carolina. Der Campus stand damals strikt im Zeichen der Rassentrennung, was Meltzer empörte und sein politisches Engagement weckte. Er engagierte sich im Wahlkampf von Henry Wallace, dem Kandidaten der – linksgerichteten – „Progressive Party“ zur Präsidentschaftswahl. Nach dem B.A.-Abschluss stieg er erst einmal für fünf Jahre in Los Angeles in das Familienunternehmen ein. Sein Wissensdrang, die großen gesellschaftlichen Fragen und eine gewisse Ernüchterung über die Funktionsweise der Politik trieben ihn schließlich zurück an die Universität. Wie für viele Wissenschaftler seiner Generation war auch in Meltzers Fall der Hintergrund der Weltwirtschaftskrise, die er als kleines Kind erlebt hatte, konstitutiv dafür, dass er sich für ökonomische Zusammenhänge zu interessieren begann. Wie war ein solches Debakel nur möglich, wie könnte man es in Zukunft vermeiden?

Meltzers Familie hatte zwar selbst keine Not gelitten. Greifbar war die Dramatik der Zeit für den Jungen dennoch, denn regelmäßig waren Wanderarbeiter und Bettler auf der Suche nach etwas Essbarem an den Hintereingang des Zweifamilienhauses gekommen, in dem er mit seiner Schwester nach dem Tod der Mutter bei der litauischen Großmutter lebte. Diese starke Persönlichkeit, eine erfolgreiche Unternehmerin, brachte ihm durch ihr Vorbild die Tugend der Barmherzigkeit bei und vermittelte ihm in ihrer strengen Erziehung zudem ein geradezu humboldtsches Bildungsideal: Sie betrachtete es als jedermanns, also auch als seine Pflicht, „seinem Potential gerecht zu werden, seinen Horizont zu weiten und seine Fähigkeiten zu entfalten“, wie Meltzer in seinem Aufsatz „My life philosophy“[5] schreibt. Es dürfte ihr Freude und Genugtuung bereitet haben, dass der Enkel genau dies mit großem Erfolg tat und sich so, wie er selber sagt, ein „zufrieden stellendes, erfülltes, glückliches Leben“ erschloss.

Von 1953 an setzte Meltzer seine Studien an der University of California in Los Angeles fort, wo er auf den

Schweizer Karl Brunner traf. Dieser öffnete ihm die Augen über die Rolle von Institutionen, Regeln und Anreizen, inspirierte ihn zur Befassung mit der Geldtheorie und schärfte sein methodologisches Bewusstsein. Brunner wurde Meltzers Lehrmeister, Koautor und enger Freund. Nach einem Forschungsaufenthalt in Paris wurde Meltzer 1958 promoviert, mit einer Arbeit über die Determinanten des Geldbestandes in Frankreich in der Zeit des Krieges und in der inflationären Nachkriegszeit.

Meltzers akademische Karriere begann an der Wharton School und setzte sich an der Carnegie Tech (heute Carnegie Mellon University) in Pittsburgh fort. Dort wurde er rasch heimisch; die gut zwei Kilometer zwischen seiner Wohnung und dem Campus legt er noch heute zu Fuß zurück. Aufenthalte als Gastprofessor führten ihn innerhalb der Vereinigten Staaten unter anderem nach Harvard, Chicago und Stanford, im Ausland nach London, Belgrad, Rio de Janeiro und Tokio. Eine besondere Ehre wurde ihm 1997 damit zuteil, dass sein Lehrstuhl seither seinen Namen trägt, „The Allan H. Meltzer University Professor of Political Economy“ – was bedeutet, dass er lehren darf, was und wann er will, oder, wie er es sarkastisch umschreibt, dass er einen Freibrief hat, „sich zu Tode zu arbeiten“. Die Universität würdigt damit einen führenden Geldtheoretiker, einen einflussreichen Monetaristen.

Berühmt ist Meltzer vor allem für zwei bedeutende wissenschaftliche Werke. Gemeinsam mit Brunner hat er ein allgemeines Gleichgewichtsmodell entwickelt, in dem er die Geldmenge zur wirtschaftlichen Aktivität und zu den Preisen in Bezug setzt. Anders als in vielen anderen Modellen bleiben hier Geld und Kredit nicht ausgeblendet. In dem Buch „Money and the Economy: Issues in Monetary Analysis“[6] haben die beiden Ökonomen ihre Forschung zusammengetragen. Meltzers eigenes Großprojekt war die „History of the Federal Reserve“[7], ein mehrbändiges Werk, an dem er etwa 14 Jahre saß und das häufig in eine Reihe mit dem monumentalen Werk von Milton Friedman und Anna Schwartz, „A Monetary History of the United States“ (1963) gestellt wird. Meltzer arbeitet stets theoretisch und empirisch zugleich; sich in der formalen Wissenschaft zu verlieren, liegt ihm nicht. „Die Ökonomik ist eine angewandte Wissenschaft, in der es um politisches Handeln geht, und kein Zweig der angewandten Mathematik“, sagt er: „Wir brauchen sowohl formale Modelle als auch die Analysen von Institutionen und ihren Auswirkungen.“

Meltzer ist kein Mensch, der sich allein im Elfenbeinturm wohl fühlt. Er betrachtet es als Aufgabe seines Berufs, Alternativen zu entwerfen und diese an die Politik, aber auch an die Öffentlichkeit heranzutragen – Alternativen zu bestehenden Institutionen, Verfahren und Zielen. Hiermit wurde er zu einem gefragten Politikberater. Gemeinsam mit Brunner rief er 1973 das „Shadow Open Market Committee“ ins Leben, als der damalige Präsident Richard Nixon Preiskontrollen verhängt hatte und die Federal Reserve davon abgewichen war, das Wachstum der Geldmenge stetig zu halten, was in eine Rezession mündete. Seither entwickelt dieses Expertengremium, welches das Open Market Committee der Federal Reserve spiegelt, alternative Empfehlungen für die Geldpolitik. Meltzer stand dem Komitee bis 1999 vor und hatte viel zu tun – erst ging es darum, die Notenbank von der Mindestreservepolitik abzubringen, dann von der Zinssteuerung. Eine zweite Einrichtung der gleichen Art für Europa folgte 1977, das Shadow European Economic Policy Committee“, das Alternativen zu den Empfehlungen der OECD ausarbeitete.

Präsident Ronald Reagan berief Meltzer 1988 in den amerikanischen Sachverständigenrat, den Council of Economic Advisers. Er beriet auch die Federal Reserve Bank in New York sowie, von 1995 bis 2009, das Congressional Budget Office. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er als Leiter der vom Kongress einberufenen „International Financial Institution Advisory Commission“ bekannt, kurz „Meltzer-Kommission“, die Reformen für den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank vorschlagen sollte – und beiden Institutionen vor allem ein deutliches Abspecken nahelegte. Die Wissenschaftler wollten den IWF auf die Rolle des „Lender of last resort“ zurückstutzen.

Meltzer ist ein überaus freundlicher, feinsinniger Herr, dessen Augenkrankheit ihm schon immer den äußeren Anschein einer gewissen Verletzlichkeit gab. Doch wer allein deshalb von ihm in der Sache milde Zurückhaltung erwartet, täuscht sich. Karl Brunner hat über Meltzer einmal gesagt, er argumentiere „im Stil eines Maschinengewehrs, in spitzen und schnellen Salven“. Dogmatismus freilich ist ihm zuwider. Sein Engagement gilt weiterhin der Geldpolitik, daneben aber auch einer Rehabilitation der Marktwirtschaft, deren angeschlagenes Ansehen in der Öffentlichkeit seit der Krise von 2007/8 ihn zutiefst betrübt. Dabei ist er alles andere als ein „Anarchokapitalist“, der den Staat mitsamt seinen Institutionen abschaffen will. „Kollektive Entscheidungen muss es geben, die Frage ist nur, in welchem Umfang“, sagt er. Inspiriert von der „Public-Choice“-Literatur und in gewisser Weise auch hier wieder im Geiste Wilhelm von Humboldts, hat er gemeinsam mit Scott Richard eine rationale Theorie über den Umfang des Staatshandelns entwickelt.[8] In ihrem Modell erklären sie die Größe des Staats als Ergebnis der Wählerpräferenzen und der Differenz zwischen der Verteilung von Wählerstimmen und Einkommen. Meltzer macht sich keine Illusionen: „In der Politik geht es im Wesentlichen um die Einkommensumverteilung“. Seit vielen Jahren Mitglied der liberalen Mont Pèlerin Society und 2012–14 deren Präsident, hat er 2013 ein Buch zu diesem Thema auf den Markt gebracht: „Why Capitalism“. Hierzu hält er derzeit auch eine Vorlesung, zu der die Studenten in Pittsburgh Schlange stehen. (orn.)

Online erschienen: 2015-6-10
Erschienen im Druck: 2015-6-1

© 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston

Downloaded on 1.10.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pwp-2015-0011/html
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