PWP: Herr Professor Dustmann, seit Monaten hält uns in Europa der Massenzustrom von Menschen in Atem. Hat es so etwas schon einmal gegeben?

Dustmann: Deutschland hat immerhin schon nach der Wiedervereinigung eine starke Zuwanderung von Spätaussiedlern erlebt, insbesondere aus den Gebieten der einstigen Sowjetunion und des Ostblocks, ebenso wie Anfang der 2000er Jahre, und auch damals gab es eine entsprechend heftige öffentliche Diskussion. Die Zahlen gingen auch damals schon in die Millionen; dennoch ist die Herausforderung diesmal sicher größer. Man muss übrigens innerhalb der Zuwanderung, oder Migration, klar zwischen freiwilliger Zuwanderung und erzwungener Flucht unterscheiden. Über reine Flüchtlingsströme kann die ökonomische Forschung bisher nicht viel sagen. Die Entscheidung zur Flucht ist per Definition auch keine ökonomische Entscheidung, sondern es geht den Menschen zumeist ums nackte Überleben vor dem Hintergrund von Krieg, religiöser Verfolgung oder auch Naturkatastrophen. Bei der freiwilligen Zuwanderung hingegen stehen tatsächlich ökonomische Überlegungen im Vordergrund, und für diese interessieren wir uns als Ökonomen am meisten.
PWP:Lässt sich das so klar auseinanderhalten, abgesehen davon, dass wir aktuell noch gar nicht wissen, wie viele der Neuankömmlinge nach dieser Definition tatsächlich als „echte“ Flüchtlinge zu klassifizieren sind? Wer vor Gefahr flieht, macht im Hintergrund sicher auch ein ökonomisches Kalkül auf, nicht zuletzt im Blick darauf, wo er hingeht.
Dustmann: Klar, in der Realität hängt das zusammen, aber konzeptionell ist es extrem hilfreich, das sauber zu unterscheiden. Mit ökonomisch motivierter Migration haben wir übrigens in Deutschland mit den „Gastarbeitern“ in den fünfziger und sechziger Jahren sehr gute Erfahrungen gemacht. Ihnen war gedient und uns auch. Und was die reinen Flüchtlingsströme angeht, dürfen wir auf keinen Fall den riesigen Zustrom aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten vergessen, mit dem Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg fertig werden musste.
PWP: Die Aufnahmekapazität des zerstörten Landes konnte damals naturgemäß nicht die beste sein.
Dustmann: Vom Potsdamer Abkommen waren damals bis zu 15 Millionen Menschen betroffen, die in die vier Besatzungszonen umsiedeln mussten. Nicht alle haben die Anstrengungen der Flucht überlebt. Insgesamt jedenfalls war das schon eine erhebliche Migration.
PWP: Wobei die Aufnahmequote in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, mit knapp 25 Prozent am höchsten war. Kann uns diese Erfahrung optimistisch stimmen, dass wir auch jetzt wieder in der Lage sein werden, mit dem starken Zustrom umzugehen?
Dustmann: Noch wissen wir zu wenig über die Migranten, um dazu eine klare Aussage abgeben zu können. Wir beobachten die aktuelle starke Zuwanderung ja erst über eine für wissenschaftliche Zwecke sehr kurze Periode. Viel wird davon abhängen, wie sich die Situation insbesondere in Syrien entwickelt. Wir haben bei der Zuwanderung aus dem Balkan in den neunziger Jahren erlebt, dass viele dieser Flüchtlinge nach Beruhigung der Lage Deutschland auch wieder verlassen haben. Eine Rolle wird auch spielen, wie leicht sich die Menschen, die zu uns kommen, integrieren lassen. Als seinerzeit die Spätaussiedler kamen, brachten die meisten von ihnen die deutsche Sprache und deutsches Kulturgut mit. Das ist bei den Menschen, die heute bei uns Zuflucht suchen, anders. Sie kommen aus anderen Kulturkreisen und haben Sprachhindernisse. Da kommt viel Arbeit auf alle zu.
PWP: Syrien ist im Moment ja nicht der einzige Staat, aus dem die Menschen fliehen und abwandern. Es kommen Leute unter anderem aus dem Irak, aus Afghanistan, aus Pakistan und aus Nordafrika.
Dustmann: Ja, und deshalb brauchen wir ganz klare Richtlinien, wer als Asylsuchender anzuerkennen ist, und wir brauchen eine politische Strategie, wie die Grenzen des Schengen-Raums zu sichern sind. Es hat sich eine sehr starke Trittbrettfahrer-Bewegung herausgebildet. Es versuchen viele Menschen nach Nordeuropa zu kommen, die im Sinne des Dublin-Übereinkommens gar nicht als Flüchtlinge zu qualifizieren sind. Da muss man klar unterscheiden; das ist in der augenblicklichen angespannten Lage schon sehr wichtig. Und wir sehen ja auch schon entsprechende politische Bemühungen.
PWP: Sie sprachen gerade die unterschiedlichen Kulturkreise an. Wird es mit den vielen Zuwanderern insbesondere aus muslimischen Ländern nicht deutlich schwieriger werden?
Dustmann: Ja, natürlich ist das eine Herausforderung. Aber ich sehe das auch als Chance.
PWP: Schön – aber inwiefern?
Dustmann: Ich sehe die Chance, dass sich Deutschland positiv verändert und dass die Bürger lernen, mit Leuten aus sehr unterschiedlichen Kulturkreisen gut umzugehen und sie entsprechend zu integrieren. Das setzt ganz wesentlich voraus, dass die Institutionen und Prozesse reformiert werden, dass sie besser, schlanker und effizienter werden. Wir sind da in Deutschland noch lange nicht so weit wie die klassischen Einwanderungsländer wie die Vereinigten Staaten und Kanada. Auch Großbritannien, wo ich lebe, ist da weiter. Wenn es Deutschland gelingt, unter dem enormen aktuellen Druck hier deutlich aufzuholen, werden wir für das 21. Jahrhundert besser gewappnet sein und auch eher in der Lage sein, ökonomisch von Zuwanderung zu profitieren. Denn die Zukunft wird ganz sicher massiv von Migrationsströmen gekennzeichnet sein. Die Welt ist ein Dorf geworden. Es ist besser, sich darauf vorzubereiten und einzustellen.
PWP: Machen Sie sich Sorgen, ob Deutschland „es schaffen“ kann?
Dustmann: In Deutschland könnte die Situation im Augenblick nicht günstiger sein. Wir haben auf der einen Seite eine hervorragende wirtschaftliche Lage, wir haben Wachstum, die industrielle Produktion hat sich sehr gut entwickelt, der Export ist stark, im öffentlichen Haushalt haben wir zuletzt mit einem Überschuss abgeschlossen, und auf der anderen Seite altert die Bevölkerung. Der absehbare Arbeitskräftemangel bereitet der Wirtschaft schon jetzt erhebliche Sorgen. Das bedeutet, dass wir heute eine Migrationswelle sehr viel besser absorbieren und die Menschen schneller in den Arbeitsmarkt integrieren können als noch in den neunziger Jahren, als die Wirtschaft stagnierte.
PWP: Was sagt denn die Forschung über die ökonomischen Effekte der Migration beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt?
Dustmann: Die Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt hängen ganz wesentlich davon ab, welche Qualifikationen die Zuwanderer mitbringen, an welcher Stelle auf dem Arbeitsmarkt sie mit Einheimischen konkurrieren, ob und wie sie existierende Engpässe füllen, wie lange sie bleiben wollen und wie lange sie am Ende tatsächlich bleiben. Wie stark sich der Migrant in den Arbeitsmarkt und in das Sozialsystem integriert und ob er die Sprache lernt, hängt nämlich davon ab, ob er dauerhaft bleiben will. Was die Bleibeabsichten angeht, wissen wir über die derzeitige Migrationswelle bisher nicht viel. Aber wir haben ein paar Erkenntnisse aus früheren Migrationswellen. Migration ist heute meistens temporär, seltener permanent.
PWP: Sind das Ihre Erfahrungen in Großbritannien?
Dustmann: Hier erleben wir, dass sehr viele Einwanderer auch wieder auswandern. Nach fünf Jahren sind nur noch etwa 60 Prozent derer da, die mal hergekommen sind. Woanders ist das ähnlich. Eine Migrationsentscheidung ist nicht immer eine Entscheidung für das ganze Leben, sondern meistens nur für einen Lebensabschnitt. Gemeinsam mit Kollegen habe ich in einer Serie von Aufsätzen versucht, die Lebenszyklusentscheidungen von Migranten dynamisch zu verstehen in einem Szenario, in dem die Migrationsentscheidung nicht permanent, sondern nur temporär ist[1].
PWP: Wie ist da der Zusammenhang?
Dustmann: Jemand, der nur temporär bleiben will, zum Beispiel zwei Jahre, bemüht sich in der Regel nicht so sehr, in Humankapital zu investieren, das spezifisch für das Gastland ist, zum Beispiel indem er die dortige Sprache erlernt. Aber er wird hart arbeiten, um so viel Geld wie möglich zu verdienen. Wer gleich für 20 Jahre oder sogar ganz bleiben will, der tut jedoch gut daran, seine Verdienstmöglichkeiten zu verbessern, indem er die Sprache lernt.
PWP: Klingt logisch. Was sagt uns das für unseren aktuellen Fall?
Dustmann: Zunächst einmal ist es wichtig festzustellen, dass es sich bei der augenblicklichen Flüchtlingsmigration zum großen Teil um Menschen handelt, die sich auf Grund der Gefahr in ihrem Heimatland zur Flucht entschlossen haben. Es ist davon auszugehen, dass viele dieser Menschen wieder zurückkehren werden, wenn sich die Lage in Syrien stabilisiert hat – ähnlich wie im Fall der Balkanflüchtlinge Anfang der neunziger Jahre. Wir wissen noch viel zu wenig über die Ausbildungsstruktur der Menschen, die jetzt neu nach Deutschland gekommen sind, und noch viel weniger über die Ausbildungsstruktur der Leute, die auch Aussicht darauf haben, Asyl gewährt zu bekommen. Es ist viel zu früh, um eine einigermaßen gesicherte Aussage darüber zu treffen, ob die Neuzugänge in eine Angebotslücke auf dem Arbeitsmarkt stoßen oder ob von ihnen Verdrängungseffekte ausgehen werden. Eine Lehre, die sich auch aus den langjährigen Anstrengungen anderer europäischer Länder im Zusammenhang mit vorherigen Flüchtlingsströmen ziehen lässt, ist freilich die, dass es sehr wichtig ist, die Leute so schnell wie möglich auf den Arbeitsmarkt zu schicken. Die gesellschaftliche Integrationswirkung des Arbeitsmarkts ist unübertroffen. Die Behörden müssen deshalb möglichst schnell über Asylanträge entscheiden, und man sollte auch nicht zu viel Zeit mit Weiterbildungen und Umschulungen („Skill upgrading“) verstreichen lassen. Die Leute müssen schnell Jobs haben und können sich dann weiter qualifizieren, wenn sie erst einmal auf dem Arbeitsmarkt integriert sind.
PWP: Dafür müssen sie selbst sicherlich auch ein wenig flexibel sein.
Dustmann: Gewiss. So unterschiedlich und wenig vergleichbar die Fälle an sich sind, hat sich doch in allen Migrationsbewegungen beobachten lassen, dass die Zugewanderten zunächst einmal in Stellen arbeiten, deren Anforderungsprofil unter ihrer eigentlichen fachlichen Qualifizierung liegt. Das ist einfach immer so, weil komplementäre Fähigkeiten fehlen, beispielsweise die Sprache. Der legendäre syrische Chirurg wird sicher nicht gleich als Chirurg in einem deutschen Krankenhaus arbeiten können, solange er die Sprache nicht beherrscht. Das dauert seine Zeit. Und deshalb ist es auch ein typisches Muster, dass es die erste Generation der Zuwanderer in der neuen Heimat zumeist schwerer hat als ihre Nachkommen. Um deren kulturelle Assimilation steht es dann in der Regel schon deutlich besser, und das erhöht ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Wichtig ist es aber, den Chirurgen sofort in den Arbeitsmarkt zu integrieren – und wenn es auch zunächst nur als Krankenpfleger ist. Er kann sich dann nebenbei weiterqualifizieren.

PWP: Da ist dann sicherlich auch die Wirtschaft gefragt.
Dustmann: Richtig. Die Wirtschaft wird sich für alle Zuwanderer interessieren, die sie produktiv in ihre Prozesse einbringen kann. Aber machen wir uns nichts vor, es wird auch Personen geben, bei denen das schwierig ist. Und da müssen wir Hilfestellung geben.
PWP: Wie steht es denn um die Einheimischen? Vor allem im Niedriglohnsektor scheinen die Menschen in Deutschland Angst zu haben, von Migranten verdrängt zu werden.
Dustmann: Der Einfluss der Migration auf die Löhne im Gastland ist nicht leicht zu erfassen. Was sich beobachten lässt, sind die Löhne, nachdem Migration stattgefunden hat. Das will man vergleichen mit den Löhnen, wie sie wären, wenn Migration nicht stattgefunden hätte. Das ist allerdings eine kontrafaktische Evidenz, die nicht beobachtbar ist. Das zu simulieren, ist nicht trivial, und ohne ziemlich starke Annahmen geht das nicht. Man kann dabei zum Beispiel die Variation von Migrationsbewegungen in verschiedene Regionen ausnutzen. Wenn unterschiedlich viele Migranten nach Bayern und in den Rest Deutschlands strömen, dann kann man die unterschiedliche Lohnentwicklung in diesen Regionen dazu in Relation setzen. Allerdings beruht das dann auf der starken Annahme, dass sich die Migranten rein zufällig auf die verschiedenen Regionen verteilen.
PWP: Und was, wenn sie gerade deshalb nach Bayern gehen, weil sie dort mit einer besseren ökonomischen Entwicklung rechnen?
Dustmann: Dann ist der Parameter, den man schätzt, nicht kausal. Man muss deshalb versuchen, die Migration in die verschiedenen Regionen mit Faktoren vorauszusagen, die mit der ökonomischen Entwicklung nichts zu tun haben. Wenn es schon vor 20 Jahren viele Italiener in Bayern gab, dann mag es für Italiener heute vorteilhaft sein, ebenfalls dorthin zu gehen, weil sie dort Netzwerke haben – das ist aber in der Regel nicht korreliert mit der ökonomischen Entwicklung heute. Man kann auch ausnutzen, dass Migranten, beispielsweise beim Zustrom der Spätaussiedler, nach bestimmten Schlüsseln auf unterschiedliche Kreise verteilt worden sind. Im Falle der Aussiedler war das Siedlungsmuster damals nicht mit ökonomischen Faktoren korreliert. Einer meiner ehemaligen Studenten hat das ausgenutzt, um den Effekt dieser Migration auf die Löhne zu identifizieren.[2] Deutschland hatte Anfang der neunziger Jahre die deutsch-tschechische Grenze für tschechische Pendler geöffnet. Es war ihnen erlaubt, in einigen Kreisen in Grenznähe zu arbeiten, aber sie mussten zuhause wohnen bleiben. Technisch gesprochen hat dieses Setting erlaubt, den Einfluss dieser Pendler-Migration auf Löhne und Beschäftigung der Einheimischen kausal zu bestimmen, weil man die Kreise, in denen Tschechen arbeiten durften, mit Kreisen vergleichen konnte, in denen es ihnen nicht erlaubt war. Außerdem konnte man die Variation in den Kreisen, in denen sie arbeiten durften, zum Abstand von der deutsch-tschechischen Grenze ins Verhältnis setzen.
PWP: Und was kam dabei heraus?
Dustmann: Es gibt nur relativ kleine Lohneffekte, aber ziemlich große Beschäftigungseffekte. Das hat entscheidend damit zu tun, dass es sich um Leute handelt, die lediglich zum Arbeiten nach Deutschland fahren, dort aber kein Geld ausgeben. Und die Beschäftigungseffekte werden gar nicht wesentlich durch jene heimischen Arbeiter hervorgerufen, die ihre Beschäftigung verlieren, sondern hauptsächlich indirekt von denen, die wegen der Konkurrenz durch die Tschechen nicht aus ihrer schon bestehenden Nicht-Beschäftigung herausfinden, oder die nicht aus weniger betroffenen Regionen in mehr betroffene Regionen pendeln.
PWP: Lässt sich empirisch etwas darüber sagen, ob ein Mindestlohn, wie ihn Deutschland seit dem vergangenen Jahr hat, die Integration der Zuwanderer auf dem Arbeitsmarkt erschwert und die allfälligen Verdrängungseffekte gegenüber Einheimischen verschärft, und wenn ja, in welchem Ausmaß?
Dustmann: Zum Zusammenhang zwischen Migration und Mindestlohn gibt es bisher nur sehr wenig Forschung. Es kommt natürlich immer darauf an, wie hoch der Mindestlohn angesetzt ist, und ob es Ausnahmen insbesondere für jüngere Menschen gibt, die aufgrund mangelnder Erfahrung weniger produktiv sind als ältere. Wenn der Mindestlohn einigermaßen bescheiden angesetzt ist und geeignete Ausnahmen vorgesehen sind, muss er keine großen Verdrängungseffekte zeitigen. Ob und wie sich die Einführung des Mindestlohns auf die Beschäftigung in Deutschland auswirkt, und insbesondere auf Migranten, ist etwas, das wir uns im Augenblick anschauen.
PWP: Aber Sie haben vor ein paar Jahren im Auftrag der britischen Low Pay Commission untersucht, wie sich die Migration auf Löhne in der Nähe des Mindestlohns auswirkt.
Dustmann: Ja, und das war eine Herausforderung, weil es keine Methodologie dafür gab. Wir haben im Laufe dieser Studie festgestellt, dass Migranten nicht dort im Arbeitsmarkt zu finden sind, wo man sie gemäß ihrer Ausbildung und Erfahrung vermuten würde. Der polnische Migrant mit Hochschulabschluss und 10 Jahren Berufserfahrung beispielsweise ist nicht dort zu finden, wo man Engländer mit demselben Hintergrund suchen würde, sondern weiter unten auf der Lohnskala. Dieses „Downgrading“ ist extrem problematisch für einen großen Teil der in der Migrationsökonomik verwendeten Methodik, die davon ausgeht, dass man Migranten aufgrund solcher Merkmale wie Ausbildungsabschluss und Berufserfahrung in entsprechende Kategorien eingruppieren kann. Das geht aber nicht.[3]
PWP: Und dann?
Dustmann: Wir haben uns angesehen, wo die Migranten in der Lohnverteilung stehen. Sie befinden sich vor allem dort im Wettbewerb mit Einheimischen, wo ihre beobachteten Löhne den Löhnen der Einheimischen entsprechen. Wir haben dann eine Methode entwickelt, die es erlaubt, den Einfluss von Migration entlang der gesamten Lohnverteilung zu schätzen[4]. Dieser Einfluss ist dort leicht negativ, wo der Besatz mit Migranten sehr dicht ist. Das kommt durch Substitution zustande, wenn also Migranten Einheimische in den Niedriglohnjobs verdrängen. Hingegen ist am oberen Ende der Lohnskala der Einfluss der Migration leicht positiv, was sich durch Komplementarität erklärt.
PWP: Haben Sie nach verschiedenen Migrantengruppen und Herkunft differenzieren können? Gibt es Untersuchungen, die man heranziehen kann, um eine Aussage darüber zu treffen, ob an den klassischen Klischees wie „die Chinesen sind fleißig, die Araber weniger“ überhaupt etwas dran ist?
Dustmann: Das tun wir in dieser Arbeit nicht. Man könnte das grundsätzlich zwar analysieren, aber eine solche Aufteilung erfordert weitere starke Annahmen, die wir nicht bereit waren zu machen. Überhaupt muss man mit Aussagen zu solchen politisch heiklen Fragen immer sehr aufpassen. Man muss sich über die enorme Brisanz dieses Themas in der Öffentlichkeit im Klaren sein; da wird oft viel missverstanden und missbraucht. Diese Gefahr der Fehlinterpretation muss man berücksichtigen und sich darauf einstellen.
PWP: Wie tun Sie das?
Dustmann: Wir sind sehr vorsichtig und zurückhaltend mit dem, was wir in die Medien und in die öffentliche Diskussion bringen, und welche Sprache wir dabei benutzen. Gerade in England sind die Medien extrem aggressiv. Wir haben da schon einige Erfahrungen gesammelt, beispielsweise mit unserer Studie zur Auswirkung der Migration auf die öffentlichen Haushalte. Es ging um die Frage, ob die Migranten, die seit dem Jahr 2000 nach England gekommen sind, mehr in die öffentlichen Haushalte einbezahlt haben in Form von Steuern, als ihnen in Form von Transfers ausgezahlt wurde. Das war natürlich extrem brisant, weil der britische Premierminister David Cameron die Reform der Transferbezüge zum Kernthema seiner Verhandlungen mit der Europäischen Union gemacht hat.
PWP: Und was kommt in der Studie heraus?
Dustmann: Der Saldo ist ganz klar positiv. Das wollten allerdings nicht alle hören. Man kann sich in Deutschland gar nicht vorstellen, unter welch enormem Druck von Politik, Interessengruppen und Medien wir mit dieser Studie gestanden haben. Wir waren deshalb auch sehr vorsichtig mit den Annahmen und den Szenarien in unserer Analyse, und wir haben die Studie völlig transparent gemacht.[5] Trotzdem gab es etliche sehr unschöne Kommentare. Gerade deshalb muss man immer sehr aufpassen, ob und womit man sich politisch aus dem Fenster hängt.
PWP: In Deutschland, insbesondere im Osten, scheinen gerade jene Menschen Angst vor den Flüchtlingen zu haben, die von staatlichen Transfers abhängig sind. Sie fürchten, dass die Flüchtlinge so viel Geld kosten, dass es ihnen irgendwann ans Portemonnaie geht. Ist diese Sorge berechtigt?
Dustmann: Nein, das halte ich für absurd. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir durch den Flüchtlingsstrom in eine wirtschaftliche Situation geraten, in der wir tatsächlich gezwungen wären, die Kosten der Versorgung von Asylbewerbern durch eine Kürzung von Sozialbezügen zu finanzieren. Zumal die deutschen Staatsfinanzen in einem guten Zustand sind. Natürlich kostet die Versorgung der vielen Flüchtlinge nicht nur Kraft, sondern auch Geld. Aber es ist doch die Frage, was die Alternative ist. Wenn wir Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, eine Zuflucht gewähren wollen, ist klar, dass wir uns auch mit den Kosten auseinandersetzen müssen. Wobei die gar nicht so hoch sein müssen, wenn es uns gelingt, die Menschen rasch auf den Arbeitsmarkt zu bringen. Wenn sie erst einmal eine Stelle haben, können sie für ihren eigenen Unterhalt aufkommen, zahlen Steuern und Sozialbeiträge und unterstützen damit sogar unsere angespannten sozialen Sicherungssysteme.
PWP: Wenn der Flüchtlingszustrom noch lange so weitergeht, wird man irgendwann aber doch über eine Finanzierung nachdenken müssen. Wozu würden Sie dann raten?
Dustmann: Ich sehe derzeit überhaupt keine Notwendigkeit für eine solche Diskussion. Viel wichtiger ist es, konkret darüber nachzudenken, wie die Lasten aus der Flüchtlingskrise auf die verschiedenen europäischen Länder zu verteilen sind. Nicht nur Deutschland hat seinerzeit die Dublin-Übereinkunft unterschrieben; auch alle anderen Unterzeichnerstaaten sind in der Pflicht, sich an den Kosten zu beteiligen. Wenn nun Deutschland das Land ist, das die meisten Flüchtlinge aufnimmt, dann ist es auch angebracht, über einen finanziellen Ausgleich dafür nachzudenken.
PWP: In den größten Nöten sind derzeit aber wohl gerade die wirtschaftlich schwachen EU-Länder wie Griechenland, in denen die Flüchtlinge zuerst den Schengen-Raum betreten.
Dustmann: Ja, Griechenland und auch Italien. Aber das ist nichts Neues. Diese Länder sind wegen der Flüchtlinge, die bei ihnen anlanden, schon seit mindestens zehn Jahren in einer sehr schwierigen Situation. Sie sind mit der Aufgabe, die Außengrenzen des Schengen-Raums zu schützen, überfordert. Es war eine große Nachlässigkeit der nordeuropäischen Länder einschließlich Deutschlands, diese Situation über viele Jahre nicht angemessen gewürdigt und die notwendige Unterstützung gegeben zu haben. Man spricht erst jetzt unter dem Druck der Ereignisse im Norden wirklich über diese Problematik, aber man hätte die notwendigen Strukturen schon viel früher schaffen müssen.
PWP: Manche Leute befürchten, dass wir uns mit immer mehr muslimischen Zuwanderern nur weitere Parallelgesellschaften heranziehen, die sich irgendwann auch dem deutschen Recht entziehen. Wie bewerten Sie die Erfahrungen damit in England?
Dustmann: In England gibt es einen sehr hohen Anteil von Muslimen, deren Familien schon vor einigen Generationen gekommen sind. Nach meinem Eindruck hat die Integration hier eigentlich sehr gut geklappt. Natürlich gibt es eine gewisse gesellschaftliche Segregation. Aber wir beobachten auch Segregation in anderen Gesellschaften, wo die wohlhabenden Leute in anderen Gegenden wohnen als die ärmeren – in den Vereinigten Staaten zum Beispiel, wo es zu Ghettobildungen kommt. Diese gesellschaftlichen Strukturen sind nicht nur durch die Herkunft und die Religion der Leute bestimmt, sondern wesentlich auch durch den ökonomischen Status. Wichtig ist es vor allem, den Angehörigen von Minderheiten die Möglichkeiten und Anreize zu geben, sich in alle Teile der Gesellschaft zu integrieren. Und da hat Deutschland wie gesagt einen gewissen Nachholbedarf.

PWP: Und stößt derzeit auch schlicht an eine Kapazitätsgrenze.
Dustmann: Auch deshalb müssen Zuwanderungsländer das Recht haben, zu regulieren und zu kontrollieren, wer genau hereingelassen wird und wer draußen bleiben muss. Die saubere Abgrenzung ökonomisch motivierter Zuwanderer von den Flüchtlingen, die in ihrer Heimat nicht länger leben können, ist in der aktuellen Lage ganz besonders wichtig und rechtlich gesehen auch ganz klar. Und das ist auch gut so. Eine Politik offener Grenzen ist ganz sicher keine gute Politik.
PWP: Warum?
Dustmann: Weil bei derart großen Migrationsbewegungen der heimischen Bevölkerung eine Menge zugemutet wird. Die Leute haben Angst vor allem Fremden, vor allem Neuen, vor Veränderungen. Eine verantwortungsvolle Migrationspolitik muss deshalb die Ängste und Sorgen der eigenen Bürger berücksichtigen und sie abwägen gegen den rein ökonomischen Nutzen und die rein ökonomischen Kosten, die mit der Zuwanderung einhergehen. Es besteht die Gefahr, dass zu viel Zuwanderung die Fremdenfeindlichkeit im Land eskalieren lässt, dass sich die Bürger radikalisieren, und das würde am Ende dazu führen, dass die Grenzen komplett geschlossen werden – womit niemandem geholfen ist.
PWP: In den EU-Mitgliedstaaten ist die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, sehr ungleich verteilt.
Dustmann: Ja, klar. Zuwanderung ist immer eine heikle Geschichte, viel schwieriger als alle anderen Themen, mit denen sich die Europäische Union bisher hat auseinandersetzen müssen. Die Erfahrungen, welche die verschiedenen Länder mit Migration gemacht haben, sind nicht dieselben, und die Emotionen kochen in der Bevölkerung leicht hoch. Dass wir in Deutschland viel Sympathie für die Flüchtlinge sehen, hat auch etwas mit der Erinnerung an Flucht und Vertreibung im eigenen Land zu tun. Gerade die ältere Generation in Deutschland hat da noch immer sehr viel Verständnis.
PWP: In ganz Europa vollzieht sich politisch ein Rechtsruck, der wesentlich mit der Migration und der Angst vor Muslimen zusammenzuhängen scheint. Können Sie das empirisch bestätigen? Und wo wird uns das hinführen?
Dustmann: Mein Kollege Ian Preston und ich haben schon vor rund 15 Jahren angefangen, uns mit diesen Zusammenhängen zu beschäftigen. Was beeinflusst eigentlich die Art, wie die Menschen über Zuwanderungspolitik denken – das war unsere Frage. Natürlich kann man einfache ökonomische Modelle entwickeln, in denen Migration dazu führt, dass es Gewinner und Verlierer gibt; die Verlierer sind dann oft, gerade wenn die Migranten eher ungebildet sind, am unteren Teil des Arbeitsmarkts zu finden. In den ersten Analysen dazu kamen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass sich diese Modelle auch in der Meinungsbildung widerspiegeln. Ungebildete Menschen haben demnach sehr oft eine eher negative Einstellung zu mehr Zuwanderung, während gebildete Menschen offener sind.
PWP: Aber das war Ihnen nicht plausibel?
Dustmann: Nein, in dieser platten Form haben wir das nie geglaubt; das ist zu einfach. Wir haben versucht, das Meinungsspektrum zur Migrationspolitik etwas komplexer zu sehen. Im Jahr 2001 haben wir ein Modul für den European Social Survey entwickelt, der dann 2002 in 24 europäischen Ländern im Feld war. Damit wurden den Teilnehmern 60 Fragen zu ihren Einstellungen mit Blick auf alle möglichen Aspekten der Migration gestellt. Auf dieser Grundlage wurde es für uns möglich, ein Modell zu formulieren, in dem die Einstellungen der Menschen gegenüber der Migration von zwei Faktoren abhängen, erstens von einem ökonomischen Faktor (der erwarteten Auswirkung der Migration auf Löhne, Sozialleistungen etc.) und zweitens von einem weicheren nicht-ökonomischen Faktor (Entfremdungsängste, Wertschätzung gesellschaftlicher Homogenität, Wunsch nach einer einheitlichen Religion und Sprache etc.)[6]. Es hat sich gezeigt, dass nicht-ökonomische Überlegungen den größten Anteil haben; diese sind drei- bis fünfmal wichtiger als ökonomische Überlegungen. Ein ähnliches Muster ergibt sich, wenn man dasselbe mit Blick auf die Flüchtlingspolitik im engeren Sinne fragt. Diese Ergebnisse publizieren wir demnächst. Dass weniger gebildete Leute weniger offen gegenüber Zuwanderern und Flüchtlingen sind, ist also nicht per se der Fall, sondern hat damit zu tun, dass diese weniger gebildeten Leute mehr Wert auf ein vertrautes homogenes soziales Umfeld legen. Sie haben mehr Angst vor dem Fremden und Unberechenbaren als gebildete Leute.
PWP: Das bringt für die Politik schon mal die Lehre mit sich, dass man sehr gut darüber nachdenken muss, wie man Zuwanderungspolitik kommuniziert. Und dass es wichtig ist, auf Sorgen einzugehen.
Dustmann: Auf jeden Fall. Die öffentliche Diskussion ist enorm volatil. Als damals der Leichnam des kleinen syrischen Junge am türkischen Strand angespült worden war und das Bild um die Welt ging, löste das eine Welle von Mitgefühl aus. Ich hatte damals schon Sorge, dass das nur so lange anhält, bis es die erste Vergewaltigung gibt. Mit dem eigentlichen Thema hat beides wenig zu tun, aber die öffentliche Meinung lässt sich von so etwas einfach sehr stark beeinflussen.
PWP: Zumal in Zeiten von Facebook, Twitter und Instagram alles Mögliche ungeprüft und unerklärt millionenfach geteilt wird, sodass sich Gerüchte und Meinungen explosionsartig verbreiten. Bis mal etwas ordentlich recherchiert und gegebenenfalls widerlegt ist – wie seinerzeit die falsche Nachricht von dem toten Flüchtling oder von der angeblich vergewaltigten Dreizehnjährigen in Berlin –, haben sich Meinungen dann oft schon verfestigt und lassen sich nur schwer wieder korrigieren.
Dustmann: Das ist auch etwas, woran wir gerade arbeiten – wie sich Meinungen bilden. Das ist in der Tat ein ganz wichtiges Thema. Eine andere Frage, die uns aktuell interessiert, betrifft den Einfluss der Migrationsströme auf die Wahlergebnisse. Man kann sich dem analytisch nähern, indem man prüft, ob sich der Unterschied zwischen den Wahlergebnissen in verschiedenen Regionen eines Landes, die unterschiedlich stark von Migration betroffen sind, wesentlich auf diese zurückführen lässt. Man hat da analytisch das Problem, dass Zuwanderer sich ja selber aussuchen, wo sie hingehen, und dass sie ziemlich sicher nicht in Gegenden gehen, wo schon eine besonders fremdenfeindliche Stimmung herrscht. Um eine Kausalität zu isolieren, nutzen wir aus, dass in den neunziger Jahren in Dänemark die Migranten zufällig auf verschiedene Gemeinden zugewiesen wurden, und schauen uns an, wie sich dort die Wahlergebnisse unterscheiden. Es zeigt sich, dass es da einen erheblichen Rechtsruck im gesamten politischen Spektrum gibt. Es zeigt sich allerdings auch, dass der Umfang des Rechtsrucks ganz wesentlich davon abhängt, wie gut oder wie schlecht existierende Immigrationsbevölkerungen in den lokalen Arbeitsmarkt integriert sind und nicht vom Wohlfahrtssystem abhängen. Das hat sicherlich wichtige Konsequenzen für die Politik.
PWP: Es würde nicht überraschen, wenn bei einer hohen Migrantendichte die Ablehnung steigt und deshalb auch die Rechtsparteien Zugewinne verzeichnen. Aber oftmals ist es so, dass gerade dort die Menschen am meisten Angst vor Zuwanderung und Flüchtlingen haben und sich Rechtspopulisten zuwenden, wo am wenigsten Ausländer sind, wo die Gemeinden also am stärksten homogen sind.
Dustmann: Ja, beides ist möglich. UKIP hat zum Beispiel bei den jüngsten Parlamentswahlen in London kaum nennenswerte Stimmerfolge erzielt, obgleich hier nahezu 50 Prozent der Bevölkerung in einem anderen Land geboren sind (und in der Regel nicht wählen). Was genau die dominanten Faktoren sind, versuchen wir noch herauszufinden.

Mit Christian Dustmann sprach Karen Horn, Dozentin für ökonomische Ideengeschichte und Publizistin in Zürich. Christian Dustmann wurde von Micha Theiner fotografiert, Karen Horn von Beatríz Barragán.
Zur Person
Nicht im Elfenbeinturm
Christian Dustmann
Christian Dustmann, geboren im westfälischen Bünde, ist Leiter des CReAM (Centre for Research and Analysis of Migration) am University College in London. Das Thema Migration ist ihm gleichsam in die Wiege gelegt: Die Dustmanns sind schon seit dem 15. Jahrhundert in Bünde ansässig, dem Zentrum eines bis heute bestehenden Clusters, doch Mitte des 19. Jahrhunderts sind etliche von ihnen nach Amerika ausgewandert. Christian Dustmann selbst hat viele Jahre den Spagat zwischen der Heimat und dem Ausland geübt, bevor er selbst zum Migranten wurde und nach England zog.
Christian Dustmanns Studium an der heimischen Universität Bielefeld, das ihn 1997 zur Venia legendi für Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie geführt hat, war von zwei längeren Auslandsaufenthalten unterbrochen: einem Master-Programm in Economics an der University of Georgia, der ältesten staatlichen Universität der Vereinigten Staaten, und dem Doktorandenprogramm am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, einer 1972 ins Leben gerufenen internationalen Wissenschaftsorganisation, die heute von 21 Mitgliedstaaten der Europäischen Union getragen ist. Während der Arbeit an seiner Habilitationsschrift lehrte er ein Jahr in Bielefeld und orientierte sich dann nach London ans University College, zunächst als Lecturer und Reader und dann seit 2004 als Lehrstuhlinhaber und Gründungsdirektor des CReAM.
Warum Dustmann nicht in Deutschland geblieben ist, erklärt sich von selbst, wenn man seinen Aufsatz im Handelsblatt vom 4. Mai 2009 zum „Ökonomenstreit“ liest, der sich seinerzeit an der Neuausrichtung der früheren Wirtschaftspolitik-Lehrstühle an der Kölner Universität entzündet hatte. Er warf darin der deutschen Volkswirtschaftslehre vor, die neuen Ansätze in der empirisch ausgerichteten Wirtschaftsforschung „nicht oder kaum aufgenommen“ zu haben. Vor allem diese „Verknöcherung der Lehrinhalte“ habe zu einem „starken Abgang talentierter junger deutscher Ökonomen geführt, die ihre Ausbildung und Karriere mit modernen Lehrinhalten jetzt im angelsächsischen Raum absolvieren“ – damit meinte er gewiss nicht zuletzt sich selbst.
Dabei bedeute die eingeforderte Modernsierung weder einen Verzicht auf Realitätsbezug noch auf mittelbare ordnungspolitische Wirkung. „Meine gesamte Forschungs

arbeit ist immer von aktuellen wirtschaftspolitischen Fragestellungen geprägt“, betont Dustmann auch im PWP-Gespräch, „ich arbeite nicht im Elfenbeinturm“. Die moderne empirische Wirtschaftsforschung liefere, so schrieb er im Handelsblatt, „eine theoriegebundene und theoriemotivierte Analyse von für die öffentliche Diskussion relevanten ökonomischen Abläufen und Institutionen, mit dem Ziel, wissenschaftlich fundierte Empfehlungen an die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger abzuleiten“.
Auch von London aus zieht es Dustmann immer wieder auf Reisen; er hat mehrfach Gastprofessuren am European University Institute in Florenz wahrgenommen, an der Universität Bonn, an der University of California in Berkeley, an der Australian National University in Canberra, an der Universität Amsterdam und in Harvard. Er amtiert als Präsident der European Society for Labour Economists (EALE). Sein Forschungsthema Migration hat ihn vor dem aktuellen Hintergrund zu einem viel gefragten Gesprächspartner der Medien gemacht, wobei er jedoch penibel darauf achtet, sich nicht zu sehr aus dem Fenster zu lehnen. In England, wo die Medien „extrem aggressiv“ seien, sei ordnungspolitische Zurückhaltung geboten. Sobald man in ein bestimmtes politisches Lager gestellt werde, sei man für die öffentliche Debatte verbrannt und erreiche gar nichts mehr. „Wir streben am CReAM deshalb nur danach, dass unsere Forschung als unabhängig und unparteiisch anerkannt ist und dass wir bei anderen Wissenschaftlern die höchstmögliche Reputation halten.“
Jenseits des Themas Migration forscht Dustmann auf diversen anderen Gebieten der angewandten Mikroökonomik wie der Familienökonomik und der Bildungsökonomik, beschäftigt sich mit Fragen von Lohnentwicklung, Mobilität und Kriminalität. Es sei als Forschungsstrategie ungeheuer wichtig, sich nicht mit Themen zu verzetteln, die einmal große Aktualität erlangten, „morgen aber niemanden mehr interessieren“. Man müsse an nachhaltigen Fragen arbeiten, weil gute akademische Forschung nun einmal eine Menge Zeit in Anspruch nehme und keine Schnellschüsse zulasse.
Solche nachhaltigen Fragen stellen sich auf jeden Fall zur Migration – „ein unglaublich breites Thema, das alle angeht“. Dustmann systematisiert das Feld, auf dem er forscht, indem er drei große Themenbereiche unterscheidet. Da geht es zunächst um die Migranten selber: Warum entscheiden sie sich, ihr Land zu verlassen; wohin zieht es sie; welche Karriere machen sie in den Ländern, in die sie eingewandert sind; wie lange bleiben sie? Und wie hängt die Entscheidung, wie lange sie bleiben, damit zusammen, ob und wie viel sie in ihr Humankapital, in die Sprache, in ihre Karriere investieren?
In einem zweiten Themenblock gilt es herauszufinden, was sich in Ländern verändert, aus denen Menschen abwandern, und in solchen, die zur Zuflucht werden. Wie wirkt sich die Migration auf den Arbeitsmarkt aus, auf die Beschäftigung, die Lohnentwicklung, die Immobilienpreise, die Kriminalität, die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit des Landes? Kommt es in den Abwanderungsländern zum „Brain drain“; was bewirkt das Geld, das die Migranten nach Hause schicken?
„Stark im Kommen“ ist nach Dustmann der dritte Themenkomplex, den er erforscht: die Interaktion von Migranten und Bleibenden in den Herkunfts- wie auch den Einwanderungsländern. Wovon hängt die soziale Integration ab, wie entwickelt sich unter dem Einfluss von Zuwanderung die öffentliche Diskussion und Meinung, wann kommt es zu einer Radikalisierung im Wählerverhalten, wovon hängen die Einstellungen der Bürger gegenüber der Migrationspolitik ab? Lässt sich eine Mehrheit der Menschen von ökonomischen Überlegungen leiten, beispielsweise davon, dass Zuwanderer ihnen auf dem Arbeitsmarkt Konkurrenz machen, oder spielen vor allem intangible Faktoren eine Rolle, Entfremdung, Angst vor dem Neuen und Anderen? Dustmann hat gemeinsam mit Ian Preston nachgewiesen, dass tatsächlich die rationalen Gründe eine eher geringe Rolle spielen[7] – und bestätigt damit einen Eindruck, der sich in der öffentlichen Debatte derzeit geradezu aufdrängt. (orn.)
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