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Publicly Available Published by De Gruyter July 6, 2016

„Unternehmerisches Handeln hält Verschwendung und Ineffizienz in Schach“

Ein Gespräch mit Israel M. Kirzner über die ökonomische Sichtweise, den Unternehmer als Ruhestörer, Sinn und Unsinn des Gleichgewichtsdenkens sowie ein stärker subjektivistisches Verständnis von Zeit

  • Karen Horn EMAIL logo

PWP:Herr Professor Kirzner, eines Ihrer Bücher trägt den Titel „The Economic Point of View“[1]. Das klingt simpel, ist aber eine sehr grundlegende Frage. Was macht sie denn nach Ihrer Auffassung aus, die ökonomische Sichtweise?

Kirzner: Im Laufe der Geschichte des ökonomischen Denkens hat es eine Vielzahl von Versuchen gegeben zu identifizieren, was wir unter einer „ökonomischen Sichtweise“ verstehen wollen. Die Perspektive, die ich in diesem Buch befürworte, wenn auch vielleicht mehr implizit als explizit, fokussiert die ökonomische Sichtweise auf die Art und Weise, wie zweckorientierte Menschen interagieren und dabei auf dem Markt ihre Entscheidungen treffen[2]. Dieser Fokus unterscheidet unsere Sichtweise von anderen Sichtweisen wie der politischen oder der ästhetischen. In all diesen Sichtweisen nimmt man die Gesellschaft und die soziale Interaktion von einem eigenen, ganz spezifischen Ausgangspunkt aus in den Blick. Für uns als Ökonomen besteht der Ausgangspunkt darin anzuerkennen, dass das, was in der sozialen Welt geschieht, kein blanker Zufall ist. Es ist vielmehr das Ergebnis systematischer Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung, die dann ans Licht kommen, wenn zweckgerichtet handelnde Personen mit begrenztem Wissen interagieren. Sie nutzen günstige Gelegenheiten, die andere Menschen zu Verfügung stellen, und stellen ihrerseits ebenfalls Gelegenheiten zur Verfügung, die andere nutzen können. Das ist die Weise, wie wir die Phänomene der sozialen Welt „sehen“.

PWP: Wenn Sie die ökonomische Sichtweise so fassen, bedeutet das dann, dass sich die ökonomische Analyse auf weit mehr erstreckt als nur auf das, was man herkömmlich darunter versteht, also nur das, was irgendwie mit kommerziellem Handel und Geld zu tun hat?

Kirzner: Ja, so ist es. Diese Beobachtung steckt auch schon in einer älteren, sehr bekannten Definition der ökonomischen Sichtweise, und zwar in der Formulierung von Lionel Robbins. Nach seiner Definition, die in der neoklassischen Ökonomik weithin anerkannt ist, fokussiert der Ökonom die Art und Weise, wie freiwillige Auswahlentscheidungen getroffen werden, wenn Individuen knappe Mittel zwischen konkurrierenden Zwecken aufteilen müssen[3]. Robbins hat klar darauf hingewiesen, dass sich diese Perspektive auf weit mehr bezieht als nur auf kommerzielle und industrielle Aktivitäten, die man damit natürlich zuerst in Verbindung bringen würde. Gleichgültig, ob man nun den Ansatz von Robbins oder von Mises bevorzugt, immer umfasst die ökonomische Sichtweise weit mehr als nur das, was traditionell mit dem Adjektiv „ökonomisch“ versehen wird.

PWP:Wenn man sich für die Interaktion von Menschen interessiert, ist der Unterschied zwischen beiden Definitionen allerdings ausgesprochen relevant. In der Robbins’schen Variante geht es um die Auswahlentscheidungen eines einzelnen Akteurs, in der Mises’schen um den Austausch zwischen mindestens zwei Handelspartnern. Die Interaktion tritt in der zweiten Variante deutlicher zutage.

Kirzner: Ja, auf den ersten Blick schon, aber Interaktion geht immer mit Auswahlentscheidungen einher. Schließlich können wir unsere Auswahl ja nur zwischen alternativen Optionen treffen, die uns andere Menschen anbieten. Unsere Auswahlentscheidung bedingt mithin eine spezifische Interaktion mit jemandem, der ein Angebot unterbreitet. Wenn ich mich entscheide, eine Wohnung zu mieten, geht damit Interaktion einher. Auf der anderen Marktseite gilt dasselbe: Wenn ich mich entscheide, eine Wohnung zu vermieten, die mir gehört, geht damit Interaktion einher. Der Markt, die Mieten und die Preise sind allesamt Aspekte von Interaktion. Wobei unsere Interaktion, wie wir schon sagten, alle möglichen Formen des Austausches umfasst, auch solche, die wir normalerweise nicht als Gegenstand der Ökonomik betrachten. Individuen treffen ihre Auswahlentscheidungen auf der Grundlage jener Rahmenbedingungen, die sie jeweils umgeben. In einer Gesellschaft, in der die Menschen frei sind, über alle möglichen Dinge zu entscheiden, gibt es natürlich viel mehr Dimensionen und Facetten der Interaktion als unter anderen Umständen. Wo es viele Verbote und Regulierung gibt, ist auch nur begrenzter Raum für freiwillige Auswahl und Interaktion.

PWP:Es scheint, dass Sie sich mehr für den Prozess der Interaktion interessieren als für das Ergebnis, das sich in einem hypothetischen Gleichgewichtszustand einstellen wird. Stimmt das?

Kirzner: Das stimmt. Die Betonung des Prozesses ist auf jeden Fall von zentraler Bedeutung für meine Arbeit. Ich habe das von Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek übernommen, die immer unterstrichen haben, wie wichtig es ist, dass sich die Aufmerksamkeit der Ökonomen nicht nur auf die Ergebnisse des interaktiven wirtschaftlichen Prozesses richtet, sondern sich auf die Natur und das Wesen des Prozesses selbst ausdehnt. Wobei auch nicht ganz ohne Interaktion auskommt, wer in Gleichgewichten denkt. Aber in einer prozesstheoretischen Perspektive bekommt diese Interaktion eine neue Dimension. In einem interaktiven Prozess findet das statt, was Hayek als Lernen bzw. Entdecken bezeichnet hat; er sprach deshalb vom Wettbewerb als einem „Entdeckungsverfahren“[4]. Im Gleichgewichtszustand würde diese Dimension der Interaktion nicht existieren.

PWP: Und warum ist der Prozess so wichtig?

Kirzner: Er ist aus zwei Gründen wichtig. Er ist wichtig, weil es schlicht falsch wäre, wenn Sie die Welt, wie wir sie um uns herum wahrnehmen, als gleichgewichtig interpretierten. Wenn Sie versuchten, die existierende Welt dadurch zu erklären, dass Sie sie zu einem bestimmten Gleichgewichtsmuster in Bezug setzen, wäre das ebenfalls falsch. Das ist der erste Grund, warum wir mehr den Prozess fokussieren sollten als dessen Ergebnisse. Dazu müssen wir zunächst einmal überhaupt erkennen und anerkennen, dass die Welt, die wir zu erklären suchen, mitten in einem fortlaufenden Wandlungsprozess steckt. Es gibt aber auch noch einen zweiten Grund. Falls jemand tatsächlich glaubt, dass sich die Welt in einem Gleichgewichtszustand befindet, dann gilt auch für ihn das Erfordernis der Wissenschaftlichkeit: Er muss erklären, wie dieses Gleichgewicht zustande kommt. Dafür aber bedürfte es einer Theorie über den Prozess, einer Theorie darüber, in welche Richtung sich der Markt bewegt und wie genau diese Bewegung aussehen müsste, damit er sich idealerweise dem Gleichgewicht nähern könnte. Damit haben wir also zwei wesentliche Gründe, warum die Betrachtung des Prozesses so wichtig ist, und zwar wichtiger als die Identifikation und die Analyse des Gleichgewichtszustandes. Natürlich kann man diese Frage auch noch von einigen anderen Ansatzpunkten aus ergründen, aber dies sind die Hauptpunkte, die erklären, warum eine allein auf Gleichgewichtszustände begrenzte Untersuchung der ökonomischen Aktivität nicht ausreichend ist.

PWP: In Ihrem berühmten Modell des Unternehmers[5] weisen Sie den Begriff des Gleichgewichts aber nicht zurück. Wenn ich Sie dort richtig verstanden habe, erklären Sie, was genau der Unternehmer tut und wie dies auf dem Markt eine Bewegung in Richtung Gleichgewicht in Gang setzt.

Kirzner: Der Unternehmer agiert in einer Situation des Ungleichgewichts. Mit anderen Worten: Er ist mit Preisen konfrontiert, die nicht im Gleichgewicht sind. Er entdeckt, dass entweder die Preise desselben Guts auseinanderklaffen oder auch die Preise eines Pakets von Inputs, die ein Output generieren können. Wenn er feststellt, dass die Inputs zu einem Preis erworben werden können, der deutlich niedriger liegt als der Marktpreis, der für das Output zu zahlen ist, unter Berücksichtigung der Produktionskosten, dann entdeckt er damit offensichtlich einen Zustand des Ungleichgewichts. Es ist genau diese Entdeckung eines Unterschieds, die uns eine entscheidende Brücke zur Erklärung des Unternehmerphänomens schlägt. Wer erst einmal glaubt, solche Preisdivergenzen entdeckt zu haben, der hat damit zugleich auch eine potentielle Gelegenheit entdeckt, Gewinn zu erwirtschaften. Und das ist es, was den Unternehmer zum Handeln inspiriert, einlädt und lockt. Dieses Handeln ist der Prototyp allen Handelns auf Märkten, das wir in der Realität beobachten. Wir sehen, dass Leute kaufen bzw. verkaufen, wenn sie glauben, dass sie zu einem niedrigeren Preis kaufen bzw. zu einem höheren Preis verkaufen können, als es eigentlich angemessen ist. Sie treibt ihr Interesse an, sozusagen etwas gratis zu bekommen. Was sie dazu bringt, unternehmerisch zu handeln, ist die von ihnen selbst entdeckte Gelegenheit, reinen Gewinn einzustreichen. Im Gleichgewicht, wo es nach der neoklassischen Theorie keinen Gewinn mehr gibt, würde per Definition niemand auf diese Weise handeln. Das von mir beschriebene Handeln ist mithin ein Prozess-Handeln.

PWP: Und es hat einen zum Gleichgewicht zurückführenden Effekt.

Kirzner: Nicht zwingend. Unternehmerische Aktivität ist sehr komplex. Unternehmerisches Handeln in einem Marktsegment kann mit unternehmerischem Handeln in einem anderen Marktsegment sehr wohl kollidieren. Deshalb können wir nie abschließend darauf vertrauen, dass Unternehmertum zu gleichgewichtigen Verhältnissen führt, aber es ist durchaus korrekt zu sagen, dass es starke Kräfte gibt, die dem Ergebnis unternehmerischen Handelns einen wenigstens tendenziell zum Gleichgewicht strebenden Charakter verleihen. Gleichzeitig darf man nicht aus dem Blick verlieren, dass in einer hypothetischen Gleichgewichtssituation jegliche unternehmerische Aktivität immer noch den unabhängigen Systemvariablen unterliegt, namentlich den technologischen Möglichkeiten, der Verfügbarkeit von Ressourcen und der Präferenzstruktur der Konsumenten. Diese Parameter ändern sich andauernd. Infolge dessen ist auch die hypothetische Gleichgewichtssituation selbst ständig dabei, sich zu ändern. Unternehmerisches Handeln findet mithin stets vor einem sich unablässig wandelnden Hintergrund statt.

PWP: Aber in vielen ökonomischen Theorien wird mit der Annahme gearbeitet, dass sich die Märkte einem Gleichgewichtszustand genähert haben.

Kirzner: Dass ein hypothetisches Gleichgewicht entstehen kann, bedarf der Voraussetzung, dass täglich eine komplexe Vielzahl von Aktivitäten stattfindet. Und erstaunlicherweise findet tatsächlich täglich eine komplexe Vielzahl von Aktivitäten statt. Also scheint der Markt zu funktionieren. Aber das heißt nicht, dass das Gleichgewicht auch tatsächlich erreicht wird. Was man aber sagen kann, ist immerhin, dass unternehmerisches Handeln die große Verschwendung und Ineffizienz, die mit einem Zustand außerhalb des Gleichgewichts einhergehen, einigermaßen in Schach hält. Es ist in diesem spezifischen Sinne, dass unternehmerisches Handeln in Richtung des Gleichgewichts wirkt. Die meisten Ökonomen stimmen in der Überzeugung überein, dass es eine große, starke Tendenz zur Markträumung und folglich auch zur Effizienz gibt.

PWP: Stimmt es also, dass sich Ihr Verständnis vom unternehmerischen Handeln mit Blick auf diese Tendenz fundamental vom Schumpeterschen Prozess der schöpferischen Zerstörung unterscheidet, der als eine Kraft wirkt, die vom Gleichgewicht wegführt, weshalb es zu Konjunkturschwankungen kommt? Und können beide Phänomene bzw. Ideen koexistieren: das unternehmerische Handeln, das zum Gleichgewicht hinführt, und das unternehmerische Handeln, das von ihm wegführt?

Kirzner: Diese beiden Ideen schließen einander überhaupt nicht aus. Sie sind nichts anderes als Beschreibungen desselben Phänomens aus unterschiedlichen Blickwinkeln. In meinem Buch „Competition and Entrepreneurship“ habe ich vor allem den Kontrast betont zwischen dem Schumpeterschen Unternehmer, der ein gegebenes Gleichgewicht mit seiner Innovation zerstört bzw. stört, also indem er ein neues Produkt herstellt oder eine neue Produktionstechnik einsetzt, und dem Unternehmer, dessen Handeln tendenziell dazu führt, dass es auf dem Markt keine Preisunterschiede mehr gibt. Mit anderen Worten: Eine anfangs noch bestehende Preisdisparität wird dadurch überwunden, dass ein Unternehmer zu niedrigen Preisen kauft und zu hohen Preisen verkauft, denn mit seiner zusätzlichen Nachfrage bzw. seinem Angebot treibt er den Preis, zu dem das betreffende Produkt gekauft werden kann, nach oben, und den Preis, zu dem es verkauft werden kann, nach unten.

PWP: Was eine ganz normale Marktreaktion ist.

Kirzner: Ja. Diese Art unternehmerischen Handelns führt in der Tendenz dazu, dass Preisunterschiede verschwinden, also zum Gleichgewicht. Aber es gibt zwei Facetten des unternehmerischen Handelns. Die eine Facette ist das innovative Element, das nicht nur kreativ ist, sondern auch zerstörerisch, wie es Schumpeter seinerzeit erkannt hat. Wenn jemand eine Innovation verwirklicht, wirkt er insofern zerstörerisch bzw. störend, als er jene Leute aus ihrer Zufriedenheit reißt, die nicht begriffen hatten, dass auch sie in dieser Weise hätten innovativ sein können. Die Erfindung des Automobils zum Beispiel entfaltete eine solche zerstörerische Wirkung auf alles, was mit Pferd und Wagen zu tun hatte. Doch es wäre ein Fehler zu behaupten, dass sich das Transportwesen vor dem Auftreten der Innovation Automobil im Gleichgewicht befunden habe. Es befand sich vielmehr im Ungleichgewicht. Hier kommt nun das zweite Element, die zweite Facette des unternehmerischen Handelns ins Spiel, und das ist meine „Story“. Es gab die Technologie, die man braucht, um Automobile zu produzieren; man verfügte über die notwendigen Ressourcen; und die Preise waren so gesetzt, dass es lohnend war, Automobile zu produzieren. Es war schlicht Verschwendung, dass die Ressourcen weiterhin in andere Richtungen flossen, unter anderem in die Aufzucht von Kutschpferden und die Herstellung von Pferdewagen. Und insofern hatte die schöpferische Zerstörung, die Teil der Automobil-Innovation war, auch eine zum Gleichgewicht hinführende Wirkung.

PWP: Und was für ein Typ Mensch ist der Unternehmer?

Kirzner: Schumpeter und seine Schüler haben die Kreativität des Unternehmers betont, die Neuheit seiner Ideen, seine Frechheit und Kühnheit, seine Bereitschaft, Risiken zu übernehmen usw. All das ist richtig, und all das muss man berücksichtigen, wenn man an einer Managementschule künftige Unternehmer unterrichtet. Der Ökonom hingegen, der zu verstehen versucht, was die Folgen der unternehmerischen Ruhestörung ist, muss erkennen und anerkennen, dass der Unternehmer ein umfassenderes Gleichgewicht auf den Weg bringt. Wenn der Schumpetersche Unternehmer eine bestehende Ruhe stört, dann war diese Ruhe nur eine Einbildung. Sie war das Ergebnis fehlenden Wissens. Nehmen wir eine Situation, in der zwei Länder über dieselbe Ressource verfügen, allerdings zu unterschiedlichen Preisen. Das kann Hunderte von Jahren so bleiben – bis ein cleverer Unternehmer daherkommt und die Ressource im Niedrigpreis-Land kauft und im Hochpreis-Land verkauft. Ein solches unternehmerisches Handeln ist zerstörerisch bzw. störend in dem Sinn, dass diejenigen Leute, die gestern noch glaubten, sie könnten die Ressource zum niedrigen Preis kaufen, heute dadurch aus dem Schlaf gerissen werden, dass sie mit einem höheren Preis konfrontiert sind.

PWP:Und das ist so, weil seine zusätzliche Nachfrage im Niedrigpreis-Land die Ressource verteuert. Was wieder eine ganz normale Marktreaktion ist.

Kirzner: Der Schumpetersche Unternehmer stört die Ruhe, indem er eine vorfindliche Preisdisparität ausnutzt. Dadurch setzt er einen Trend in Richtung Preisausgleich in beiden Ländern in Gang – und das macht sein Handeln zu einer Kraft, die tendenziell zum Gleichgewicht hinführt.

PWP: Schumpeter hat tatsächlich die Innovation in den Blick genommen, das schöpferische Element des Unternehmertums. Was Sie hingegen beschreiben, ist bloß Arbitrage. Damit definieren wir aber die eigentliche Innovation weg, oder?

Kirzner: In dem einfachen Modell meines Buches „Competition and Entrepreneurship“ gab es in der Tat keine Innovation. Dort findet der Unternehmer bestimmte Güter zu verschiedenen Preisen auf verschiedenen Märkten vor und nutzt das aus. Das ist alles. In meinem wichtigsten Buch hingegen, „Discovery, Capitalism and Distributive Justice“[8], habe ich herausgearbeitet, dass sich mein Ansatz bestens mit Innovation im Schumpeterschen Sinne verträgt. Es gibt wirklich nichts im einfachsten unternehmerischen Prozess, das diesen unvereinbar mit vollständiger Neuheit macht. Man muss sich nur klar machen, dass ein Mensch, der eine Innovation vollbringt, Güter vor seinem geistigen Auge hat, die es noch überhaupt nicht gibt, die aber ohne jegliche Probleme produziert werden könnten, weil die Ressourcen mühelos und zu einem guten Preis verfügbar sind und die Chancen gut stehen, dass die Verbraucher mit dem Ergebnis sehr glücklich sein werden. Das sind die Bedingungen, unter denen ich eine Innovation verwirkliche, und das ist dann dasselbe wie Arbitrage. Es ist eine Arbitrage, die mit der Entdeckung von etwas Neuem einhergeht. Etwas zu entdecken bedeutet in diesem Zusammenhang, dass man eine Gelegenheit erkennt, etwas zu kaufen und zu verkaufen oder etwas zu produzieren, die man zuvor als solche nicht gesehen hatte.

PWP: Und wie genau gelangen wir von dieser Entdeckung zur Produktion?

Kirzner: Wenn Sie etwas produzieren, wissen Sie schon, was Sie produzieren wollen und wie. Eine Entdeckung hingegen ist eine ökonomische Aktivität, durch die Sie festlegen, was produziert werden soll. Es kann durchaus etwas sein, das es schon vorher gegeben hat, das aber prohibitiv teuer war, weil niemand eine Ahnung hatte, wie man zu einem vernünftigen Preis an die notwendigen Ressourcen kommen könnte. Was Sie entdecken, kann aber auch etwas sein, was es zuvor noch nicht gegeben hat, ein neuer Kniff, eine neue Technik. Um diesen Aspekt des Entdeckens dreht sich meine Arbeit vor allem, und nicht so sehr um die Frage, wie das Neue in die Welt kommt – wobei aber natürlich jede Entdeckung in dem genannten Sinn etwas mit sich bringt, was in gewisser Weise neu ist. In meinen Modellrahmen zum Unternehmertum passt beides.

PWP: Wie verhält sich Ihr Ansatz zu der Theorie der Wissensteilung von Friedrich August von Hayek, in der sich ein „Entdeckungsverfahren“ aus dem Zusammenwirken von dezentral verstreutem Wissen, Preismechanismus und Wettbewerb ergibt?

Kirzner: Hayek hat sich auf das Thema Wissen und den wettbewerblichen Prozess als Verfahren zur Generierung neuen Wissens konzentriert. In seiner Theorie gibt es nichts, was sie mit meinem Ansatz zum Unternehmertum unvereinbar machen würde. Ich erinnere mich noch daran, wie ich einmal in Hayeks Gegenwart eine Vorlesung in Freiburg hielt, zu Unternehmertum und Kreativität. Hayek machte danach ein paar freundliche Bemerkungen und sagte sinngemäß: „Kirzner zieht es vor, die Dinge vom Blickwinkel unternehmerischen Handelns aus darzustellen. Das ist in Ordnung, das ist sein Ansatz. Man kann von meinem wissensorientierten Ansatz zu einer unternehmerischen Sprache wechseln, ohne dass sich irgendetwas ändert.“ Ich kann das unterschreiben. Die beiden Ansätze sind im Kern identisch. Man kann allein das Wissen betonen oder man kann darauf verweisen, dass es das unternehmerische Element ist, das die Generierung neuen Wissens treibt.

PWP: Sie erwähnen hier wie auch in Ihren Werken oft Ihren Lehrer, den österreichischen Ökonomen Ludwig von Mises. Was an seinem Werk ist so bedeutsam für Sie? Inwiefern hat er Sie geprägt?

Kirzner: Die Schriften von Mises sind nicht einfach zu lesen und zu verstehen. Ich muss gestehen, dass es mich viele Jahre gekostet hat, wirklich tief in dieses Werk einzutauchen und den Wert dessen zu erkennen, was er zu sagen versuchte. Hayek war ein viel besserer Autor, hellsichtig und klar. Mises schrieb zumindest im Englischen einfach lausig. Nach jahrelanger Auseinandersetzung wurde mir irgendwann aber trotzdem klar, dass er einige sehr tiefe und wichtige Erkenntnisse mitzuteilen hatte, die es verdienten, deutlicher herausgearbeitet zu werden. In meiner Arbeit habe ich versucht, diese grundlegenden Ideen in eine Sprache zu übersetzen, von der ich hoffe, dass sie andere Menschen verstehen. In meiner Arbeit gibt es wenig, was sich nicht irgendwie auf Mises zurückführen lässt, und ich bemühe mich immer, ihm dafür angemessen die Reverenz zu erweisen.

PWP: Und was macht in Ihren Augen die Essenz der Mises’schen Erkenntnisse aus?

Kirzner: Als Student nahm ich einen Abend an einem Kurs teil, den Mises gab, und einen anderen Abend an einem Kurs in Preistheorie, den ein neoklassischer Ökonom namens Solomon Fabricant gab. Fabricant benutzte George Stiglers Lehrbuch[9]. Und es fiel mir schwer, all das, was ich an dem einen Abend hörte, in Verbindung zu bringen mit dem, was ich an dem anderen Abend hörte. In Stiglers Welt war schon alles vorab geordnet und angepasst. Der Markt war gleichsam in ein Gleichgewicht eingerastet und verriegelt. In diesem gleichgewichtigen Arrangement waren die menschlichen Präferenzen, die Verfügbarkeit der Ressourcen und das technologische Wissen vorgegeben. Es gab deshalb auch nur eine einzige Handlungsweise, die dazu passte, wenn man annahm, dass Menschen frei entscheiden. Diese strikte Gleichgewichtsperspektive war das blanke Gegenteil dessen, was ich in dem anderen Kurs lernte. Bei Mises war überhaupt nichts eingerastet und verriegelt, alles war unaufhörlich im Fluss. Er interessierte sich nicht so sehr für das Robbins’sche effiziente Entscheiden, über das wir zuvor schon sprachen, also für die Ressourcenallokation, sondern er dachte über das menschliche Handeln allgemein nach. In seinem Buch „Nationalökonomie“ machte er nur leider nicht hinreichend klar, worum es ihm ging.

PWP: Und worum ging es ihm?

Kirzner: Er wollte darauf hinaus, dass die Entscheidungen, die Menschen zu fällen haben, weit über die Frage der effizienten Allokation hinausgehen. Bei Robbins geht man von gegebenen Mitteln und gegebenen Zielen aus. Wie man die Ressourcen zuteilen muss, damit sie die Ziele bestmöglich erreichen, ist lediglich ein mathematisches Problem. Mises lenkte die Aufmerksamkeit darauf, dass die Leute keine Roboter sind, sondern menschliche Akteure. Sie sind Unternehmer in dem Sinn, dass sie mit ihrem Handeln den Rahmen, innerhalb dessen sie ihre Entscheidungen fällen, selbst bestimmen. In ihrem Handeln teilen sie mit, wie sie die Wirklichkeit wahrnehmen und wo sie günstige Gelegenheiten für sich zu sehen glauben. In diesem Sinne handelt jeder Mensch unternehmerisch. Indem er dergestalt die Perspektive erweiterte, verlieh Mises der ökonomischen Sichtweise eine zusätzliche Dimension, die für Neoklassiker sehr irritierend ist.

PWP: Wieso?

Kirzner: Für Neoklassiker ist das unternehmerische Element ein Ärgernis, eine Pest, etwas, das sie am liebsten loswerden möchten, weil es die Aufgabe schwierig oder vielmehr unmöglich macht, klare Ergebnisse zu erzielen. Denn wenn die Leute frei sind zu sehen, was sie zu sehen glauben, dann sind sie nicht daran gebunden, irgendein Optimum zu wählen. In der neoklassischen Theorie liegt der Schlüssel zum Verständnis darin, dass man sich vorstellt, die Menschen seien gezwungen, so zu entscheiden, wie sie entschieden, weil sie ein bestimmtes Optimum erzielen müssen, einen Tangentialpunkt zwischen Indifferenzkurve und Möglichkeitskurve – einfach weil sie so und nicht anders programmiert sind. Mises hat das nie akzeptiert. Er hatte erkannt, dass menschliches Handeln unternehmerisch ist. Er wusste, dass eine Person, die eine Entscheidung fällt, nicht nur abwägen muss, ob sie nach Osten oder Westen, nach Norden oder Süden geht, sondern dass sie überhaupt erst entdecken muss, dass dies die Richtungen sind, die ihr zur Verfügung stehen. Schon allein dies herauszufinden, ist eine unternehmerische Leistung, denn diese Richtungen sind nicht vorgegeben. Dass sich der Unternehmer der zur Verfügung stehenden Ressourcen und eines vielversprechenden Ziels bewusst ist, zeigt sich nur und erst in seinem Handeln selbst.

PWP: Was ist daran so anders?

Kirzner: Der Clou ist, dass genau das, was aus neoklassischer Sicht eine lästige Störung darstellt und den ganzen Erkenntnisprozess abzubrechen droht, in Wirklichkeit der Schlüssel zum Verständnis ist. Man kann nicht einfach davon ausgehen, dass die Leute ihre Mittel kennen, mit denen sie ihre Ziele verfolgen. Sie müssen sie erst einmal entdecken, und dazu braucht es unternehmerisches Handeln.

PWP: Wollen Sie damit sagen, dass das neoklassische Modell mit seinem Fokus auf dem Gleichgewicht kompletter Unsinn ist?

Kirzner: Oh nein, nein! Lassen Sie mich das ganz klar sagen: Auf gar keinen Fall möchte ich den Eindruck erwecken, das neoklassische Standardmodell sei nutzlos oder noch schlimmer als nutzlos. Wenn ich mich entscheiden müsste, nur einen einzigen Kurs für Studenten zu geben, die noch überhaupt nicht mit der Ökonomik in Berührung gekommen sind, dann würde ich die Preistheorie wählen und die Studenten mit Angebots- und Nachfragediagrammen traktieren, um ihnen auf effektive Weise einige wesentliche Elemente des Fachs zugänglich zu machen. Zwar stellt die Neoklassik das Wesen des Marktprozesses massiv vereinfacht dar, aber diese Vereinfachung ist ganz sicher sinnvoll. Auch wenn die einfachen Angebots- und Nachfragediagramme voller Irrtümer und Widersprüche stecken, sind sie doch ein nützliches Instrument, um sich grundlegende ökonomische Zusammenhänge klar zu machen.

PWP: In der neoklassischen Theorie geht alles Nachdenken von den individuellen Präferenzen aus; wir nennen das den „methodologischen Individualismus“. Selbst die Makroökonomik ist mikrofundiert und damit ebenfalls ein Ansatz, der vom Individuum ausgeht. Ist die Ökonomik damit zugleich auch schon hinreichend subjektivistisch für Ihren Geschmack?

Kirzner: Nein. Ich teile zwar Ihre Aussage, dass die heutige Mikrofundierung der Makroökonomik vom methodologischen Individualismus getragen ist. Das ist sehr gesund, ein erheblicher Fortschritt. Aber echter Subjektivismus ist etwas anderes. Wenn man anerkennt, dass alle wirtschaftlichen Prozesse von Individuen ausgehen, dann hat man eigentlich zugleich auch anerkannt, dass alle wirtschaftlichen Aktivitäten von Subjektivität beherrscht sind. Doch oft wird der methodologische Individualismus dazu benutzt, einige der eher lästigen Eigenschaften des Subjektivismus zu unterdrücken.

PWP: Wie das?

Kirzner: In der ökonomischen Wissenschaft hat der Subjektivismus erstmals in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts Einzug gehalten. Damals ging es vor allem darum, Aufmerksamkeit auf die Rolle der Verbrauchernachfrage zu lenken. Die früheren klassischen Ökonomen hatten sich auf die physische Wirklichkeit konzentriert, also darauf, wie die Produktionsbedingungen die Ergebnisse des Wirtschaftens beeinflussen. Die neoklassischen Ökonomen hingegen, beginnend mit Léon Walras, Carl Menger und Alfred Marshall, interessierten sich auch für die Nachfrage. So entstand schließlich die Marshallsche Synthese der Angebots- und Nachfrageseite des Markts. All das war auf jeden Fall ein Fortschritt. Doch der Subjektivismus ist mehr als das.

PWP: Und zwar was?

Kirzner: Echter Subjektivismus bedeutet zunächst einmal anzuerkennen, dass Individuen ihre Auswahlentscheidungen in einer Welt nur unvollständigen Wissens treffen müssen. In ihrem Handeln kommen nicht nur ihre Präferenzen zum Ausdruck, wie man in einer Welt meinen würde, in der Mittel und Ziele umfassend bekannt sind. Die Menschen müssen Entscheidungen fällen, ohne die Zukunft genau zu kennen. Selbst die angeblich gegebenen Mittel sind keineswegs mit Sicherheit bekannt, wie sogar auch die Ziele unbekannt sind, weil man nie sicher voraussagen kann, was die Verbraucher am Ende wirklich wollen. Das Handeln der Menschen lässt sich deshalb nicht als rechnerisches Ergebnis eines schlichten Maximierungsproblems unter Nebenbedingungen voraussagen. Aus einem subjektivistischen Blickwinkel gilt es über ein solches Optimierungsdenken hinauszugehen und erst einmal herauszufinden, was überhaupt der relevante gedankliche Rahmen ist. Auch mit dem Phänomen Zeit braucht es einen ganz anderen, einen viel stärker subjektivistischen Umgang. Das aber leistet die Neoklassik nicht, und deshalb kann ich ihr auch keine subjektivistischen Kränze flechten.

PWP:Die Beschäftigung mit der Zeit ist allerdings nicht neu. Seit sich die Menschheit mit der Frage beschäftigt, wieso man eigentlich Zinsen zahlt und ob das überhaupt legitim ist, steht doch das Thema Zeit auf der Agenda der Ökonomen. Inwiefern ist der bisherige Ansatz unzureichend?

Kirzner: Die meisten Ökonomen behandeln die Zeit, als wäre sie eine Art Raum. Es gibt eine zeitliche Distanz, wie es auch eine räumliche Distanz gibt. Alles, was man braucht, um einen Wagen in Detroit als verschieden von einem Wagen in New York zu kennzeichnen, ist eine entsprechende Indexziffer in der Gleichung. Und dann kann man den Preisunterschied zwischen beiden mit Verweis auf die Kosten der Transformation erklären, was natürlich mit dem Transport zu tun hat. Üblicherweise gehen wir Ökonomen mit dem Faktor Zeit genauso um, einschließlich der Phänomene Kapital und Zins. Zeit ist dann nur eine Indexziffer an irgendeinem Gut, das heute verfügbar ist, oder nächstes Jahr, oder wann auch immer. Sonst ändert man nichts. Es reicht, das Datum zu kennen, zu dem das jeweilige Gut verfügbar ist, wenn man optimale Produktions- und Konsummengen berechnen will. Manchmal mag das in der Tat ausreichen, aber es hilft nicht weiter, um Kapital und Zins wirklich zu begreifen.

PWP: Und was braucht man anstelle dessen?

Kirzner: Ein wirklich subjektivistisches Verständnis von Zeit nimmt keine Trends in den Blick, sondern subjektive Distanz. Wenn ich das kommende Jahr betrachte, schaue ich nach vorn in die Zukunft. Doch Zukünftigkeit ist nicht nur der Unterschied zwischen zwei Indexziffern. Es gibt Zeitpunkte, die weit von mir weg sind, und andere, die mir näher sind. Wenn ich von einem Zeitpunkt wegrücke, sehe ich ihn anders als wenn ich auf ihn zugehe. Einige Denker in der österreichischen Tradition der Ökonomik haben ein wirklich überlegenes subjektivistisches Verständnis von Zeit entwickelt. Ein Beispiel ist die Zeitpräferenztheorie. In diesem Konzept wird Zeit in einem futuristischen Sinn gefasst: Wie weit ist der künftige Konsum eines Gutes von mir entfernt, und wie hoch bemesse ich seinen Wert heute, obwohl ich seiner doch erst in der Zukunft habhaft werde? Es geht hier nicht darum, dass bzw. ob Eiscreme im Sommer wertvoller ist als im Winter. Der Punkt ist, dass ich, wenn jetzt Winter ist, noch bis zum Sommer warten muss, um mir draußen ein Eis kaufen zu können. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen einer räumlichen und einer subjektiven Wahrnehmung von Zeit, wobei letztere auf die individuelle Wertschätzung künftiger Genüsse abhebt.

PWP: Wenn die individuelle Wahrnehmung eine so große Rolle spielt, kann man allerdings nur schwer den für viele Theorien notwendigen „repräsentativen Verbraucher“ modellieren, geschweige denn individuelle Präferenzen zu einer gesamtwirtschaftlichen Nachfragekurve aggregieren.

Kirzner: Ich sehe nicht, wieso wir einen repräsentativen Verbraucher brauchen und warum wir die individuelle Nachfrage aufaddieren müssen, wenn es darum geht, Preise und Zinsen zu verstehen. Preise werden marginal bestimmt, und das Rätsel, warum es einen Zins gibt, ist eine universelle Frage. Selbst Eugen von Böhm-Bawerk hat mit dieser Frage gekämpft – erfolglos.

PWP: Erfolglos?

Kirzner: Sein Werk steckt voller innerer Widersprüche. Das Problem liegt darin, dass er immer noch aus dem Blickwinkel der Produktivität schrieb – das ist wenig hilfreich.

PWP: Die berühmten „Produktionsumwege“.

Kirzner: Genau. Wer etwas später wirklich die Rolle der Zeit geklärt hat, ist Mises. Nach seiner reinen Theorie der Zeitpräferenz spielt die Produktivität bei der Bestimmung des Zinses keinerlei Rolle.

PWP: Und wie steht es dann um die Möglichkeit, die Zinsentwicklung vorherzusagen, wenn alles subjektiv ist?

Kirzner: Die ökonomische Theorie ist nicht für Vorhersagen gemacht. Ihre wirkliche Aufgabe besteht darin, uns dabei zu helfen, die Welt zu verstehen und zu erklären. Ich erinnere mich noch gut an die Geschichte von einem Cartoon an der Bürotür eines Professors, auf dem folgender Satz zu lesen war: „Economics will not keep you out of the bread line, but at least you will know why you are there“. Das ist eine sehr treffende Feststellung.

PWP:Das war an der University of Tennessee, kolportiert von James M. Buchanan, der dort studiert hatte.

Kirzner: In der Ökonomik können wir nicht voraussagen, was und wann etwas geschehen wird. Alles, was wir tun können, ist zu versuchen, es zu verstehen und es zu erklären. Natürlich reicht das vielen Leuten nicht, sie möchten die Dinge kontrollieren und erwarten von der Wissenschaft, dass diese ihr dazu die Instrumente liefert. Wenn man allerdings erkennt, wie wichtig es ist, subjektivistisch zu arbeiten, dann ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass sich irgendetwas prognostizieren lässt.

PWP: Was halten Sie eigentlich von den modernen verhaltensökonomischen Ansätzen? Immerhin rückt man damit weiter vom Homo oeconomicus ab, der ja auch nur eine Vereinfachung ist.

Kirzner: Ich halte das für interessante Arbeit, und sie mag auch wertvoll sein. Aber diese Art von Forschung ist allenfalls auf der Ebene der angewandten Ökonomik angesiedelt, nicht auf der Ebene der Theorie. Keine Theorie der Welt ist in der Lage vorherzusagen, welche Einstellungen die Leute in der Zukunft hegen werden. Empirische Arbeit über die Präferenzen, beispielsweise darüber, was Menschen kaufen möchten und was sie lieber meiden, ist für die angewandte Forschung wichtig. Aber Theorie ist das nicht. Mich persönlich hat das nie wirklich interessiert.

PWP: In der Tat besteht ein Großteil der ökonomischen Wissenschaft heutzutage aus angewandter Forschung. Nicht nur die Theorie kommt manchmal zu kurz, auch Methologie und Ideengeschichte fristen ein Schmalspurdasein in den Lehrplänen.

Kirzner: Früher begann eigentlich jedes ökonomische Buch mit einem Abriss über die relevante wirtschaftswissenschaftliche Ideengeschichte zum Thema. Auch in der Lehre für Fortgeschrittene beschäftigte man sich mit der Geschichte des ökonomischen Denkens. Doch das nahm ab und war dann irgendwann mehr oder minder weg. Das ist bedauerlich. Es ist wichtig zu wissen, was all die wirklich brillanten früheren Ökonomen dachten und wieso man mit ihnen heute noch einig oder vielmehr uneinig sein kann. Und es ist genauso wichtig zu erfassen, wie sich frühere Denkansätze zu den modernen Paradigmen gewandelt haben, die wir heute kennen. Ich bin altmodisch genug, um überzeugt zu sein, dass die ökonomische Ideengeschichte eine notwendige Disziplin ist.

PWP: Und die Methodologie?

Kirzner: Da bin ich ambivalent. Ich bin immer davon ausgegangen, dass sich die Methodologie schon aus der Substanz der Forschungsarbeit von selbst ergibt. Es ist in der Tat wichtig, auf die Grundlagen zu achten. Aber ich glaube, ich kann erkennen, welche Methode nicht hilfreich ist und wo jemand analytisch in einer völlig falschen Richtung unterwegs ist. Ein Ökonom wie Fritz Machlup zum Beispiel hatte seinerzeit ein sehr tiefes, gesundes Verständnis von nützlicher und nicht nützlicher Methodik. Aber ich selbst habe es immer viel interessanter gefunden, mich gleich mit der Substanz eines Werks zu beschäftigen als mit der abstrakten Methodologie, die ihm angeblich zugrunde liegt.

PWP: Was halten Sie von interdisziplinären Ansätzen in der Ökonomik? Welche Nachbardisziplin ist Ihnen die nächste?

Kirzner: Ein Ansatz, der mehr als nur eine theoretische Disziplin berücksichtigt, wäre auf jeden Fall nützlich und sehr gesund. Ich wäre zwischen klassischer Philosophie und politischer Philosophie hin- und hergerissen. Aus dem ökonomischen Blickwinkel ist die Philosophie essentiell, um die Entwicklung, die Rechtfertigung und die Nützlichkeit des Privateigentums zu verstehen. Ökonomen setzen das sonst einfach voraus. Da man in der politischen Philosophie auch mit viel klassischer Philosophie traktiert wird, würde ich wohl erstere wählen. Aber das ist nur eine vage Idee.

PWP: Welchen Rat würden Sie Studenten erteilen?

Kirzner: Sie sollten viel lesen, so viel und so breit, wie sie nur können. Ein tieferes Verständnis lässt sich nur durch umfassende und kritische Lektüre erringen. Und sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass die Wirtschaftswissenschaft eine Disziplin ist, die hilft, die Welt zu verstehen und zu erklären – und nicht, den künftigen Lauf der Dinge vorauszusagen. Darüber hinaus rate ich durchaus nicht davon ab, sich mit angewandter Wissenschaft zu beschäftigen. Auf diesem Feld wird es in der Zukunft mit Sicherheit die wichtigsten wirtschaftswissenschaftlichen Weiterentwicklungen geben.

Mit Israel M. Kirzner sprach Karen Horn, Dozentin für ökonomische Ideengeschichte und Publizistin in Zürich. Israel M. Kirzner wurde von Matthias Lüdecke fotografiert, Karen Horn von Beatríz Barragán.

Zur Person

Wachsamkeit und Tatkraft

Israel M. Kirzner

Israel M. Kirzner, geboren 1930 in London, aufgewachsen in England und Südafrika als Sohn eines bekannten Rabbiners und Talmud-Gelehrten, bewegt sich heute in den Fußstapfen des Vaters. Er ist Rabbiner in der orthodoxen Bnei-Yehuda-Gemeinde in Brooklyn. Seine Ausbildung dazu erhielt er schon in den fünfziger Jahren parallel zu seinem Ökonomiestudium an der New York University. In beiden Sphären traf er auf einen Lehrmeister, der ihn tief beeindruckte und prägte: den orthodoxen Gelehrten Isaac Hutner und den österreichischen Wirtschaftswissenschaftler Ludwig von Mises.

Anders als Robert Aumann, der im Jahr 2005 gemeinsam mit Thomas Schelling mit dem Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde und seine Methode in der Spieltheorie gern auch dazu nutzt, talmudische Dilemmata zu analysieren, hat Kirzner die beiden Sphären stets penibel getrennt gehalten. Das Äußerste an Überschneidung, das er sich je erlaubte, bestand darin, dass er einige seiner Werke in einer schlichten Notiz dem Allmächtigen widmete. Schon die Wissenschaftlichkeit verlange eine solche klare Trennung, sagt er. Wichtige ökonomische Einsichten ließen sich nicht einfach aus religiösen Vorschriften ableiten. „Ich war außerdem immer der Auffassung, dass meine wissenschaftliche Arbeit auch all jenen Menschen zugänglich sein muss, die meinen Glauben nicht teilen“, erklärt Kirzner, ein ernster, hochkonzentriert formulierender Herr.

Angefangen hatte Kirzner an der New York University mit einem betriebswirtschaftlichen Studium mit Schwerpunkt Rechnungswesen. Er wandte sich dann aber unter der Anleitung von Mises der Volkswirtschaftslehre zu und schrieb bei diesem später auch seine Doktorarbeit. Und er blieb seiner Alma Mater stets treu – zunächst als Assistenzprofessor und schließlich, seit 1968, als Ordinarius. Dass die New York University heute als ein akademisch bedeutsamer und international bekannter Hort der „Austrian Economics“ gilt, ist zu einem wesentlichen Teil Kirzners Verdienst. Seine Schüler und Weggefährten preisen seine brillante theoretische Leistung, für die er schon seit Jahren für den Nobelpreis im Gespräch ist, ebenso wie seine schulbildende Kraft und große menschliche Integrität.

Als „Austrian Economics“ firmiert die moderne, vorwiegend amerikanisch geprägte Fortsetzung des Forschungsprogramms der einstigen „österreichischen Schule der Nationalökonomie“. Zur älteren Generation dieser ideengeschichtlichen Tradition zählten österreichische Wissenschaftler wie Carl Menger (1840–1921), Eugen von Böhm-Bawerk (1851–1914) und Friedrich von Wieser (1851–1926); zur jüngeren Friedrich August von Hayek (1899–1992) und Ludwig von Mises (1881–1973). Zu ihren Nachfolgern in der neuen Welt rechnet man Fritz Machlup (1902–1983), Ludwig Lachmann (1906–1990) und Murray Rothbard (1926–1995) – und eben Israel Kirzner. Zur aktiven Generation gehören heute unter anderem Peter Boettke, Frédéric Sautet und Peter Leeson (alle drei forschen und lehren an der George Mason University, Washington), Mario Rizzo (New York University), Steven Horwitz (St. Lawrence University) und David L. Prychitko (Northern Michigan University).

„Austrian Economics“ ist ein heterodoxer, nicht dem Mainstream zugerechneter Forschungszweig, der diesem aber immer wieder fruchtbare Impulse verleiht. Seine Themen reichen von der Geld- und Kapitaltheorie bis hin zur Konjunkturtheorie und der Innovationsforschung. Was sie alle verbindet, ist vor allem ein konsequent subjektivistischer und dynamischer, marktprozesstheoretischer Ansatz und die Berücksichtigung der Tatsache, dass alles Wissen dezentral verstreut und unvollständig ist.

Israel Kirzners wohl wichtigster Forschungsbeitrag ist seine Durchdringung des unternehmerischen Handelns. Ausgerechnet in der Frage, was Unternehmer eigentlich tun, was sie antreibt und was sie bewirken, war die Ökonomik lange blank. Schließlich sind im üblichen Wettbewerbsgleichgewicht der neoklassischen Theorie die Gewinne gleich null. Wieso sollte da überhaupt jemand unternehmerisch aktiv werden? In seiner Konjunkturtheorie hatte Joseph Schumpeter (1883–1950) zwar das Bild des kreativen, von einer Geschäftsidee besessenen Unternehmers gezeichnet, der mit einer Innovation ein gegebenes Gleichgewicht „schöpferisch zerstört“, Nachahmer auf den Plan ruft und damit einen gesamtwirtschaftlichen Zyklus auslöst. Dass es tatsächlich ein solches Gleichgewicht gibt, das durch einen Pionierunternehmer zerstört werden kann, war allerdings immer schon strittig. Nicht nur kollidiert die Statik des Gleichgewichtskonzepts logisch mit der Dynamik des unternehmerischen Prozesses, die Determiniertheit des Gleichgewichts lässt zudem keinen echten Raum für Kreativität.

In seinen Büchern „Competition and Entrepreneurship“ (1973), „Perception, Opportunity and Profit“ (1979) und „Discovery and the Capitalist Process“ (1982) hat Kirzner vermittels seiner neuartigen Interpretation des Unternehmers gezeigt, dass es der Idee des Gleichgewichts als Ausgangspunkt gar nicht bedarf. Dazu muss man sich den Unternehmer nur als eine Art Arbitrageur vorstellen, als eine findige, mit besonderer Wachsamkeit („Alertness“) versehene Person, die Preisunterschiede auf dem Markt beobachtet und die daraus entstehenden Möglichkeiten erfasst und tatkräftig für sich nutzt. Der Kirznersche Unternehmer nimmt sein Tun somit vielmehr in einer Situation des Ungleichgewichts auf und führt das gesamtwirtschaftliche System durch sein zielorientiertes Handeln tendenziell in die Richtung eines neuen, höheren Gleichgewichts – ohne dass es dieses freilich je erreicht. (orn.)

Online erschienen: 2016-7-6
Erschienen im Druck: 2016-7-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 5.12.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pwp-2016-0009/html
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