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Publicly Available Published by De Gruyter July 3, 2017

„Das deutsche Steuersystem setzt im internationalen Vergleich mit die negativsten Arbeitsanreize für Frauen“

Ein Gespräch mit Nicola Fuchs-Schündeln über die Erwerbsbeteiligung von Frauen und Männern, das Ehegattensplitting, die doppelte Armut in Entwicklungsländern, Präferenzen für Umverteilung und Demokratie sowie die Bedeutung von Grenzen

  • Nicola Fuchs-Schündeln EMAIL logo

PWP: Frau Professor Fuchs-Schündeln, Sie haben sich im Rahmen eines großen empirischen vom European Research Council finanzierten Forschungsprojekts mit der Frage beschäftigt, wie Menschen ihre Entscheidung fällen, ob sie arbeiten und wieviel. Können Sie nun, nach Abschluss des Projekts, aus Ihren Erkenntnissen erklären, warum zum Beispiel die Europäer deutlich weniger Stunden arbeiten als die Amerikaner?

Fuchs-Schündeln: Das ist genau die Beobachtung, mit der unser Projekt begann – und ja, wir können zumindest einen Teil des Unterschieds erklären. Aber lassen Sie mich dazu etwas weiter ausholen. Nach dem Krieg sah der Befund bezüglich der Arbeitsstunden noch anders aus, aber im Laufe der Zeit hat sich dann eine Schere zwischen den durchschnittlichen Arbeitsstunden in Europa und den USA aufgetan. Dazu gibt es auch schon relativ viel Literatur; manche Forscher haben zum Beispiel untersucht, ob das mit Institutionen zu tun hat, zum Beispiel mit der Rolle der Gewerkschaften. In einem anderen Strang der Forschung hat man das Augenmerk auf die Steuern gelegt; mit der Intuition, dass der Grund, warum Europäer weniger arbeiten, in der höheren Besteuerung liegt. Ich fand die Unterschiede in den Arbeitsstunden sehr spannend, und wollte erstmal in den Daten ergründen, wo diese Unterschiede herkommen. Wenn man die aggregierten OECD-Daten sieht, hat man aber nur eine einzige Zahl zu den durchschnittlichen Arbeitsstunden aller 15- bis 64-jährigen und kann zum Detail wenig sagen. Darum haben wir Haushaltsdatensätze gesammelt und versucht, sie international vergleichbar zu machen. Da steckt recht viel Arbeit drin, denn wir haben diese Herausforderung der Vergleichbarkeit sehr ernst genommen. Im Ergebnis konnten wir uns dann sehr schön anschauen, ob die Erwerbsbeteiligung divergiert, die Zahl der Urlaubstage oder die Zahl der Arbeitsstunden in einer normalen Arbeitswoche. Auf der Grundlage dieser Mikrodaten kann man außerdem untersuchen, ob sich bestimmte Gruppen systematisch unterscheiden, also ob alle Europäer weniger arbeiten oder beispielsweise nur Männer oder nur Frauen.

PWP: Und diese Daten sind gut genug?

Fuchs-Schündeln: Das Hauptproblem besteht darin, dass nicht in allen Ländern und nicht in allen Jahren die Leute wirklich über das gesamte Jahr hinweg laufend befragt werden. Man fragt die Leute in solchen Erhebungen typischerweise, wie viele Stunden sie in der jeweils zurückliegenden Woche gearbeitet haben. Manchmal haben sie dann weniger als normalerweise gearbeitet, weil es Feiertage gab, weil sie die Grippe hatten oder weil sie im Urlaub waren; oder aber sie haben Überstunden gemacht. Das will man natürlich auch alles erfassen. Wenn man die Leute über alle Wochen des Jahres befragen würde, wäre das kein Problem, man bekäme ein repräsentatives Bild. Aber das ist nicht immer der Fall, die Datenerhebung ist nicht überall durchgängig. Die Woche zwischen Weihnachten und Neujahr ist zum Beispiel oft unterrepräsentiert, aber gerade in dieser Woche häufen sich die Feiertage und sind viele Menschen im Urlaub. Im Zusammenhang mit Entwicklungsländern ist das übrigens noch ein viel größeres Problem, weil aufgrund der agrarischen Strukturen dort noch viel stärkere Saisoneffekte entstehen. Aus unserem Vergleich zwischen Amerika und Europa jedenfalls sind mehrere Papiere herausgekommen. In dem ersten davon stellen wir überhaupt erst einmal die Datenlage dar[1]. Wir betrachten hier die 15- bis 64-jährigen – einfach weil das typischerweise die OECD so macht – und stellen fest, dass in den Jahren 2013–15 die Europäer durchschnittlich 14 Prozent weniger Stunden gearbeitet haben als die Amerikaner. Ein Viertel bis die Hälfte des Unterschieds kommt durch die Urlaubstage.

PWP: Die Amerikaner haben in der Regel nur zwei Wochen frei, nicht wahr?

Fuchs-Schündeln: Auf jeden Fall haben sie im Durchschnitt deutlich weniger Urlaubstage. Die Zahl der Feiertage ist ungefähr gleich. Eine weitere Disparität kommt daher, dass in Europa, insbesondere in Süd- und Osteuropa, der Anteil von weniger gut ausgebildeten Menschen höher ist, und in allen Ländern die Erwerbstätigenquote mit der Bildung stark zunimmt. Die Vereinigten Staaten haben einen höheren Anteil an Hochgebildeten. Wir sehen daher einen starken demographischen Effekt, in dem die Altersstruktur nicht so viel ausmacht, aber die Bildungsstruktur sehr wohl.

PWP: Wie ist das in Europa?

Fuchs-Schündeln: Der Anteil der niedrig gebildeten Menschen ist in Europa eben höher.

PWP: Das wundert mich. Sind die Bildungssysteme denn vergleichbar?

Fuchs-Schündeln: Natürlich muss man sehr aufpassen, wie man Bildungssysteme vergleichen kann. Es gibt zum Beispiel mehr amerikanische College-Abschlüsse als europäische Universitätsabschlüsse. Indes entsprechen einige amerikanische College-Abschlüsse eher einem europäischen Lehrabschluss. Aber wenn man sich der internationalen Klassifikation nach niedrig, mittel und hoch ausgebildeten Personengruppen anschließt, die ja genau darum entwickelt worden ist, weil es einer gewissen Vergleichbarkeit bedarf, dann muss man das erst einmal auf eine Stufe stellen – und dann ist der Anteil der Hochgebildeten in den Vereinigten Staaten eben höher. Darüber hinaus sieht man interessante Unterschiede in der Erwerbsbeteiligung und in den Arbeitsstunden in einer typischen Arbeitswoche. In den westeuropäischen und insbesondere in den skandinavischen Ländern liegt die Erwerbsbeteiligung in der Tendenz sogar höher als in den USA, aber die Arbeitswoche umfasst im Durchschnitt weniger Arbeitsstunden. In Süd- und Osteuropa ist es genau umgekehrt. Dort ist die Erwerbsbeteiligung niedriger, aber diejenigen, die arbeiten, arbeiten regelmäßig mehr Stunden als die Leute in den Vereinigten Staaten. Man sieht also eine negative Korrelation zwischen Erwerbsbeteiligung und Arbeitsstunden über die Länder hinweg, und diese ist besonders stark im Fall von Frauen.

PWP: Warum ist das so?

Fuchs-Schündeln: Wir haben uns angeschaut, ob das wohl etwas mit besonders familienfreundlichen Politikmaßnahmen zu tun hat – und in der Tat, das korreliert sehr schön. Es gibt Länder, in denen es inzwischen ein Recht auf Teilzeitarbeit gibt, zum Beispiel Deutschland und, noch stärker ausgeprägt, die Niederlande. Dort ist die Erwerbsbeteiligung von Frauen sehr hoch, aber diejenigen, die arbeiten, arbeiten im Durchschnitt recht wenige Stunden pro Woche. In Süd- und Osteuropa, wo es solche Regelungen nicht gibt, ist der Befund genau umgekehrt. Familienfreundliche Politikmaßnahmen könnten also etwas mit diesem Unterschied zu tun haben. Allerdings habe ich damit noch keine Antwort auf die Frage, die ich mir jetzt natürlich auch stelle und zu der ich die Antwort noch nicht weiß: Wo kommen die Unterschiede in diesen Politikmaßnahmen ursprünglich her? Warum lassen manche Länder Teilzeitarbeit zu und andere nicht? Oder, wenn es nicht an der Regulierung liegt, warum gehen in manchen Ländern die Arbeitnehmer oder aber die Firmen auf solche Maßnahmen ein und in anderen nicht? Hat das zum Beispiel mit der Industriestruktur zu tun?

PWP: Da kommt wahrscheinlich der Punkt, wo man nach Mentalitäten fragen muss.

Fuchs-Schündeln: Solche Muster können durchaus auch historisch bedingt sein. Es gibt zum Beispiel soziologische Forschung, die darstellt, dass in manchen Ländern seinerzeit die Frauenbewegung zeitlich mit dem strukturellen Umbruch hin zum Servicesektor zusammenfiel, so dass die öffentliche Meinung eher bereit war, solche Maßnahmen zu tragen. In anderen Ländern hingegen kam der strukturelle Umbruch später, und somit fehlte der Rückenwind für familienfreundliche Politikmaßnahmen. Solche Faktoren spielen bestimmt auch eine Rolle. Da muss man noch weiter schauen. Auch Institutionen sind ja nicht exogen.

PWP: Welche Rolle spielt denn die Besteuerung?

Fuchs-Schündeln: Dieser Frage haben wir uns im zweiten Papier des Projekts gewidmet[2]. Darin geht es noch mehr um die Erklärung der Daten. Da schauen wir uns nur die Gruppe der 25–54-Jährigen an, denn einen erheblichen Teil der Unterschiede bei den Jüngeren kann man auch durch Unterschiede in den Bildungssystemen erklären. Außerdem gibt es in einigen Ländern den Störfaktor einer hohen Jugendarbeitslosigkeit, die die Erwerbstätigkeit nach unten zieht; das ist ein bekanntes Phänomen. Und wenn man sich die Älteren anschaut, die 55–64-Jährigen, dann kommen dort auch Unterschiede wie zum Beispiel durch die Frühverrentung zum Tragen. Das ist bekannt. Bei den 25–54-Jährigen hingegen handelt es sich um eine Altersgruppe, die normalerweise arbeitet, und dort zeigen sich dann auch am besten die Effekte der Besteuerung. Wir stellen fest, dass in Ländern, in denen verheiratete Männer relativ viele Stunden arbeiten, unverheiratete Männer und unverheiratete Frauen auch viel arbeiten. Aber die verheirateten Frauen stechen immer heraus. Die machen, was sie wollen: Es gibt keine Korrelation ihrer Arbeitszeiten mit denjenigen der anderen Gruppen im selben Land, während die anderen Gruppen aber untereinander korrelieren. Auf den ersten Blick ist das merkwürdig und man würde vermuten, dass man diesen Effekt mit der Besteuerung allein nicht erklären kann. Denn mit einem höheren Steuersatz sollte ein Anreiz einhergehen, weniger zu arbeiten, der a priori für alle gilt.

PWP: Was erzählen denn die Daten genau?

Fuchs-Schündeln: Wenn man sich verheiratete Männer anschaut, so arbeiten sie tendenziell in Europa weniger Stunden als in den USA, aber die Unterschiede sind nicht so groß. Wenn man sich dagegen verheiratete Frauen anschaut, sieht man, dass sie in Skandinavien und Osteuropa fast so viel arbeiten wie in den Vereinigten Staaten, aber in Süd- und Westeuropa im Durchschnitt deutlich weniger, in Deutschland sogar 34 Prozent weniger Stunden. Das sind die Fakten.

PWP: Und kann man das nun wirklich nicht mit der Besteuerung erklären?

Fuchs-Schündeln: Schon, zumindest zum Teil, aber es setzt voraus, dass man sich bei der Besteuerung nicht nur den Durchschnittssteuersatz anschaut, sondern auch das Verfahren zur Besteuerung von Ehepaaren in den Blick nimmt. Und dieses ist international sehr unterschiedlich ausgestaltet. Es gibt einige Länder wie Schweden oder Großbritannien, die bei der Besteuerung völlig individualistisch vorgehen. Ob jemand verheiratet ist oder Single, spielt überhaupt keine Rolle. Deutschland steht am anderen Ende des Spektrums mit dem Ehegattensplitting, in dem nur das Haushaltseinkommen zählt. Wie das zustande kommt, ist unerheblich. Und dazwischen gibt es alle möglichen Systeme in verschiedenen Graustufen.

PWP: Amerika hat ein Mischsystem, nicht wahr?

Fuchs-Schündeln: Das amerikanische System ähnelt mit seinen starken Elementen der gemeinsamen Besteuerung im Prinzip dem deutschen, aber es ist im Detail etwas komplizierter ausgestaltet. Vor allem kann man in Amerika in eine Lage kommen, in der es eine „Heiratsstrafe“ gibt, in der also die Steuerlast bei gleichbleibenden Einkommen nach der Heirat steigt, anders als in Deutschland. Dank des Splittings ist die Steuerlast in Deutschland bei gemeinsamer Besteuerung nie höher als bei einer individuellen Besteuerung der Ehepartner. In Amerika ist das nicht garantiert, wenn beide Ehepartner gut verdienen. Aber auch dort sind die Heiratsvorteile im Steuersystem am größten, wenn die Einkommensunterschiede der Partner am größten sind.

PWP: Und was bewirken nun die unterschiedlichen Systeme der Besteuerung von Ehepaaren?

Fuchs-Schündeln: Das lässt sich am Beispiel von den Vereinigten Staaten, Schweden und Deutschland gut verdeutlichen. Verheiratete Männer arbeiten in Deutschland und Schweden etwa 15 Prozent weniger Stunden als in Amerika. Das ist erst einmal übereinstimmend mit dem Bild, das man so hat – dass in den ersten beiden Ländern die relativ hohen Steuern sowohl auf das Arbeitseinkommen als auch auf den Konsum eben auch mit einem ähnlichen negativen Effekt auf das Arbeitsangebot verbunden sind. Die verheirateten Frauen in Schweden hingegen arbeiten fast genauso viel wie die verheirateten Amerikanerinnen, während die deutschen Ehefrauen 34 Prozent weniger Stunden arbeiten. Das ist erst einmal überraschend.

PWP: Kann das an fehlenden Möglichkeiten der Kinderbetreuung liegen?

Fuchs-Schündeln: Die Daten zeigen, dass diese Unterschiede nicht von Frauen mit jungen Kindern getrieben sind. Ich glaube schon, dass die Kinderbetreuung einen Effekt hat, aber das ist auf alle Fälle nicht alles. Erklären kann man das Phänomen aber dann, wenn man sich die Besteuerung der Ehepaare genau anschaut. Da spielt es eben eine Rolle, dass es in Schweden eine strikt getrennte Besteuerung der Ehepartner gibt, in Amerika und in Deutschland jedoch eine gemeinsame. Gemeinsame Besteuerung bedeutet, dass der Steuersatz eines Partners auch vom Einkommen des anderen Partners abhängt. Die genaue Ausgestaltung kann unterschiedlich sein, aber es erhöht sich dadurch der Grenzsteuersatz des Zweitverdieners, und verringert sich der Grenzsteuersatz des Erstverdieners. Wir haben einen marginalen Steuersatz für eine Frau in dem jeweiligen Land berechnet, die mit einem Mann verheiratet ist, der ein Durchschnittseinkommen erzielt. Sie arbeitet erst nicht, nimmt dann aber eine Vollzeitstelle an. Ihr marginaler Steuersatz ist in Schweden und in den Vereinigten Staaten etwa gleich mit etwa 30 Prozent, obwohl die Durchschnittssteuern in Amerika an sich niedriger sind. Das kommt daher, dass die Frau bei der getrennten Besteuerung in Schweden relativ weit unten im progressiven System anfängt, in Amerika wegen der gemeinsamen Besteuerung aber nicht. Die Auswirkungen von Durchschnittssteuersatz und getrennter oder gemeinsamer Besteuerung heben sich in dem Fall zwischen den beiden Ländern komplett auf, sodass die verheirateten Frauen etwa gleich dastehen. In Deutschland mit seinem hohem Durchschnittssteuersatz und zugleich gemeinsamer Besteuerung liegt der effektive Grenzsteuersatz bei 50 Prozent, also wesentlich höher als in den beiden anderen Ländern. Das passt genau zum Arbeitsverhalten der verheirateten Frauen, das wir beobachten. So lässt sich ein signifikanter Teil des Phänomens erklären.

PWP: Kann man die Effekte quantifizieren?

Fuchs-Schündeln: Das haben wir in einem dritten Papier versucht[3]. Wir haben uns eine hypothetische Steuerreform vorgestellt und gefragt, was passieren würde, wenn das jeweilige Land von seinem gegenwärtigen Modell zu einer komplett getrennten Besteuerung von Ehepaaren überginge. Wir haben dabei die durchschnittliche Steuerlast von Ehepaaren absichtlich festgeschrieben. Denn in Deutschland zum Beispiel würden ja die Steuereinnahmen stark steigen, wenn man zur getrennten Besteuerung überginge. Um die Neutralität zu wahren, stellen wir uns vor, dass der Fiskus dies mit einem Pauschaltransfer wieder ausgleicht, so dass die Ehepaare im Saldo gar nicht mehr belastet würden. Aber die Grenzsteuersätze der Partner würden sich verändern; Partner mit geringerem Einkommen träfe ein niedrigerer Grenzsteuersatz, Partner mit größerem Einkommen ein höherer. In den Ländern, die jetzt schon eine getrennte Besteuerung haben, wie Schweden und Großbritannien, aber auch Ungarn und Griechenland, sieht man natürlich gar keinen Effekt. Es gibt zudem eine ganze Menge Länder, wo nur ein bisschen passiert. Schon Amerika zeigt jedoch relativ große Effekte; da sagt das Modell voraus, dass die Arbeitsstunden von Frauen um mehr als 100 Stunden im Jahr hochgehen würden. Deutschland und Belgien jedoch stechen total heraus. In Deutschland sind es nicht weniger als 280 Stunden, die das Modell als Zuwachs der durchschnittlichen Erwerbsbeteiligung von verheirateten Frauen voraussagt.

PWP: Das ist aber wirklich ein sehr starker Effekt.

Fuchs-Schündeln: Ja, er ist ökonomisch sehr signifikant. Wie das so ist mit makroökonomischen Modellen, hängen solche Ergebnisse im Einzelnen immer sehr stark von den Annahmen ab, zum Beispiel von den Arbeitselastizitäten. Unsere Studie zeigt aber ganz klar, dass im internationalen Vergleich das deutsche System mit die negativsten Arbeitsanreize für die Frauen setzt, unabhängig von den Elastizitäten. In Belgien ist das ähnlich, aber die nächsten Länder verbuchen nur noch halb so große Effekte, inklusive der Vereinigten Staaten. Dort schlägt unsere hypothetische Steuerreform deshalb nicht dermaßen ins Kontor, weil die Progressivität nicht so stark ist.

PWP: Würden Sie das Splitting abschaffen wollen?

Fuchs-Schündeln: Das ist natürlich primär eine politische Frage. Als Forscherin habe ich erst einmal nur die Effekte darzulegen, und wir finden in unserem Papier im internationalen Vergleich sehr starke negative Arbeitsanreizeffekte. Da die Globalisierung und internationale Wettbewerbsfähigkeit im Moment in aller Munde ist, sollte man daher einmal über die Wachstumseffekte nachdenken. Eine schwache Erwerbstätigkeit und geringe Arbeitsstunden von Frauen sowie ihre Konzentration auf gewisse Berufe bedeuten eine Menge ungenutztes Potential, wenn man einmal von einer Gleichverteilung der Talente zwischen den Geschlechtern über die Berufe hinweg ausgeht. Gerade ist eine Studie von vier führenden amerikanischen Makroökonomen erschienen, die ein Viertel des amerikanischen Wirtschaftswachstums von 1960 bis heute auf die verstärkte Einbindung von Frauen und Schwarzen in den Arbeitsmarkt zurückführen, also sowohl darauf, dass die Erwerbsbeteiligung in diesen Gruppen gestiegen ist, als auch insbesondere darauf, dass sie in den verschiedenen Berufen gleichmäßiger vertreten sind[4]. Wenn zum Beispiel der Anteil der Frauen unter den Rechtsanwälten steigt und damit repräsentativer wird, dann verbessert dies das Matching von Talenten und Berufen und erhöht im Durchschnitt die Produktivität. Das hat einen starken Wachstumseffekt. Wir sprechen in Deutschland viel von einem Fachkräftemangel, bilden aber zum Beispiel an den Universitäten viele Frauen aus, die nachher dann nur mit Unterbrechungen oder in Teilzeit arbeiten. Das Splitting ist dafür natürlich nicht der einzige Grund, aber es ist eben ein wichtiger Faktor, der die Arbeitsanreize drosselt. Neben der Gleichstellungsperspektive kann man also auch eine Wachstumsperspektive einnehmen, die ich als Ökonomin sehr interessant und wichtig finde und in die Debatte einbringen möchte. Weitere Perspektiven wären natürlich die Wohlfahrtsperspektive und die Verteilungsperspektive.

PWP: Für manche Leute spielt die Wachstumsperspektive keine Rolle, weil sie wachstumsfeindlich eingestellt sind oder weil sie das Splitting als kulturelle Errungenschaft betrachten, die ein traditionelles Lebensmodell stützt.

Fuchs-Schündeln: Das Splitting wurde 1958 eingeführt, seitdem hat sich die soziale Landschaft sehr verändert. Zum Beispiel hat sich der durchschnittliche Bildungsgrad von Frauen stark erhöht, gleichzeitig sind die Scheidungsraten deutlich gestiegen. Zudem wurde das Unterhaltsrecht 2008 so reformiert, dass Frauen nach einer Scheidung nicht mehr den Anspruch haben, den Lebensstandard aufrechterhalten zu können, den sie während der Ehe genossen. Gleichzeitig setzt der Staat durch das Splitting Anreize, dem Arbeitsmarkt während der Ehe fernzubleiben, das passt nicht gut zusammen.

PWP: Aber ist es überhaupt die legitime Aufgabe des Staates, Anreize zu setzen? Ist es nicht besser, wenn das Steuersystem so neutral ist, dass sich der gesellschaftliche Wandel spontan vollzieht?

Fuchs-Schündeln: Das ist selbstverständlich richtig, aber Anreizwirkungen durch das Steuersystem lassen sich nun einmal nicht vermeiden, wenn man einmal von einer Kopfsteuer absieht. Auch das Splittingverfahren setzt ja deutliche Anreize. Es gibt übrigens ja auch die Theorie der optimalen Besteuerung nach Ramsey, die empfiehlt, elastische Faktoren so wenig wie möglich zu besteuern und die Steuerlast möglichst auf unelastische Faktoren zu legen, weil man dann am wenigsten die Anreize verzerrt. Empirisch ist es so, dass das Arbeitsangebot von Frauen elastischer ist als das von Männern und das von verheirateten Frauen und Müttern elastischer als das von unverheirateten und kinderlosen Frauen. Aber in der Realität besteuert man sie relativ hoch. Mein früherer Kollege Alberto Alesina fordert deshalb in einem Papier mit zwei Koautoren sogar eine geschlechtsspezifische Besteuerung, die für Männer höher liegt – eben aus dem Grund, dass das Arbeitsangebot der Männer inelastischer ist[5]. Das mag gewagt sein, aber es verdeutlicht noch einmal, wie stark unser System mit dem Ehegattensplitting die Arbeitsanreize für Frauen verzerrt.

PWP: Der politische Trend geht allerdings derzeit nicht so sehr in Richtung einer ersatzlosen Streichung des Ehegattensplittings, sondern in Richtung Familiensplitting. Wie stehen Sie dazu?

Fuchs-Schündeln: Das Familiensplitting dient zunächst der Unterstützung von Familien mit Kindern, was ja ein legitimes politisches Ziel sein kann. Es vermindert auch die Wirkung des Ehegattensplittings, wenn man Kinder hat. Auch wenn er abgemildert wird, bleibt der grundsätzliche Effekt jedoch bestehen, dass die Grenzsteuersätze der Partner angeglichen werden, unabhängig von ihrem individuellen Einkommen. Klar kann man das machen, aber es wäre nicht meine präferierte Lösung. Wenn der Staat Ehe oder Familie oder beides unterstützen will, dann sollte er lieber versuchen, Formen zu finden, die nicht die relativen Grenzsteuersätze der Partner beeinflussen.

PWP: In Ihrer Forschungsarbeit nehmen Sie ja an, dass die Steuermehreinnahmen, die der Staat bei einer Umstellung auf eine Individualbesteuerung erzielen würde, als Pauschaltransfer an die Bürger zurückfließen, dass es also keine Mehrbelastung gibt. In der Debatte ist das ein wichtiger Punkt; viele Kritiker glauben nicht, dass sich das verwirklichen ließe, und sehen in der Möglichkeit einer solchen Umstellung vor allem eine unlautere Bereicherung des Fiskus. Politökonomisch ist das in der Tat ein Problem, oder?

Fuchs-Schündeln: Klar, aber das sollte einer Reform nicht im Wege stehen. Eine Möglichkeit wäre, Ehe und Familie anders finanziell zu fördern. Solche familienpolitischen Leistungen gibt es ja schon zuhauf. Man könnte auch die Progressivität des Steuersystems abbauen oder den Steuersatz per se absenken, was natürlich zu gewissen Umverteilungseffekten zwischen Verheirateten und Unverheirateten führen würde, wenn man es nicht mit anderen ehespezifischen Förderungen flankierte. Es gibt also viele Möglichkeiten.

PWP: Wie ging es dann in Ihrem Projekt mit dem Thema weiter?

Fuchs-Schündeln: Wir haben uns als nächstes gefragt, wie sich das Bild der Arbeitsstunden eigentlich in armen Ländern darstellt[6].

PWP: Wobei da die Datenlage ziemlich schlecht sein dürfte.

Fuchs-Schündeln: Für arme Länder gibt es tatsächlich noch nicht mal verlässliche Quellen, die uns sagen, wie viel die Leute im Durchschnitt arbeiten. Dabei ist ein Blick auf diese Länder aus zwei Gründen höchst interessant. Erstens aus wohlfahrtstheoretischer Sicht, denn es könnte sein, dass die Wohlfahrtsunterschiede zwischen entwickelter und weniger entwickelter Welt dadurch ein wenig gemildert werden, dass in den ärmeren Ländern die Leute zwar weniger konsumieren, aber auch weniger arbeiten, so dass ihnen mehr Freizeit verbleibt. Zweitens ist die Messung von Produktivitätsunterschieden spannend. Dazu gibt es auch schon eine Menge Literatur im Bereich „Development accounting“. Da schaut man sich in der Regel das Bruttoinlandsprodukt je Arbeiter in den verschiedenen Ländern an und stellt eben fest, dass es in den reichen Ländern deutlich höher ist. Ein Arbeiter erwirtschaftet in reichen Ländern also deutlich mehr als in armen Ländern. Dann kann man fragen, woran das liegt: Am Kapital, am Humankapital? Man kann es noch nicht abschließend erklären; auf diesem Feld ist noch einiges im Fluss. Interessanter als das Bruttoinlandsprodukt je Arbeiter ist aber eigentlich ohnehin das Bruttoinlandsprodukt je Arbeitsstunde. Das ist das eigentlich relevante Maß. Dazu findet man bloß nichts in der Literatur, weil man eben nicht weiß, wie viele Stunden die Leute arbeiten. Deshalb haben wir uns auf die mühsame Suche nach Surveys mit Mikrodaten aus armen Ländern gemacht und geprüft, ob sie wirklich sämtliche Arbeitsstunden messen und ob sie für das jeweilige Land auch repräsentativ sind. Das war ein enormer Aufwand. Zum Beispiel gibt es das Problem, dass in den armen Ländern viele Menschen gar nicht formell angestellt sind, sondern als selbständige Farmer, Straßenverkäufer oder Familienarbeiter tätig sind, und all das muss mit erfasst werden, damit die Daten wirklich aufschlussreich sind.

PWP: Wie muss man sich das vorstellen – machen die Arbeitskräfte da selber die Angaben?

Fuchs-Schündeln: Ja, genau. Man fragt eigentlich immer dasselbe: Wieviel Stunden haben Sie in der letzten Woche gearbeitet? Im ersten, zweiten, dritten, vierten, fünften Job, den Sie haben? Es gibt ja Leute, die haben einen Laden, verkaufen auch an der Straße und bewirtschaften außerdem daheim noch einen kleinen Acker usw. Wir haben auf diese Weise Daten von Menschen in insgesamt 80 Ländern gesammelt. Und wir konzentrieren uns dann auf solche Surveys, in denen Daten das gesamte Jahr hinüber abgefragt worden sind, damit wir trotz saisonaler Schwankungen ein repräsentatives Bild bekommen.

PWP: Was geben diese Daten dann her?

Fuchs-Schündeln: Man sieht, dass im Durchschnitt im ärmsten Drittel der Länder der Welt die Leute 10 Stunden in der Woche mehr arbeiten als im reichsten Drittel. Im reichsten Drittel sind es 19 Stunden, im ärmsten Drittel 29 Stunden. Wir zählen dabei die Arbeitsstunden aller Menschen zusammen, vom Alter von 15 Jahren bis zum Tod. Ein Teil des Unterschieds kommt natürlich schon daher, dass in den reichen Ländern die jüngeren Leute noch Schüler sind und die älteren Rentner, also alles Leute, die nicht am Arbeitsmarkt teilnehmen. Auch das treibt diese Zahl. Insgesamt sind die Arbeitsstunden dann 50 Prozent höher im ärmsten Drittel – ein Riesenunterschied.

PWP: Sind die Zahlen wirklich vergleichbar?

Fuchs-Schündeln: Wir haben den Datensatz probehalber einmal auf die Leute verengt, die wirklich irgendwo fest angestellt sind, und zwar im Verarbeitenden Gewerbe. In deren Fall schwanken die Arbeitsstunden wohl weniger und sind zudem besser erfasst. Und da ist der Unterschied zur entwickelten Welt fast genauso groß. Ich möchte für keines der Länder die Hand ins Feuer legen, dass die Zahlen ganz korrekt sind, aber der Unterschied ist dermaßen deutlich und durchgängig, dass er als solcher nicht anzuzweifeln ist. Wie auch immer man die Daten herunterbricht, er ist immer da.

PWP: Damit weiß man aber noch nicht, wo er herkommt.

Fuchs-Schündeln: Stimmt. Wir haben erst einmal die Sachlage dargestellt und überlegen jetzt, wie wir das modellieren. Man sieht in den Daten auch, dass die Erwerbstätigenquote schon zwischen den ärmsten und den mittleren Ländern stark abfällt. Die Erwerbstätigenquote alleine erklärt schon drei Viertel der Unterschiede. Der Rest geht auf Unterschiede in den geleisteten Arbeitsstunden je Arbeitswoche zurück. Die haben ein anderes Muster, sie fallen erst zwischen mittleren und reichen Ländern ab. Das sind Phänomene, die erst in höheren Schritten der Entwicklung kommen. Wir stellen also fest, dass Menschen in armen Ländern nicht nur konsumarm sind, sondern auch freizeitarm. Das vergrößert die Wohlfahrtsunterschiede noch.

PWP: Statt sie zu mildern, wie man hätte denken können.

Fuchs-Schündeln: Ganz genau. Um wieviel die Wohlfahrtsunterschiede vergrößert werden, hängt wieder von einigen Annahmen ab, insbesondere in Bezug auf die Nutzenfunktionen – aber signifikant ist der Effekt auf jeden Fall. Und zudem nehmen auch die gemessenen Produktivitätsunterschiede zwischen armen und reichen Ländern zu, wenn man vom Bruttosozialprodukt je Arbeitsstunde statt je Arbeiter ausgeht. Um noch besser zu verstehen, wo das Muster der Arbeitsstunden herkommt, haben wir außerdem noch die Variation innerhalb eines Landes untersucht. Es fragt sich ja, ob ein Bewohner eines armen Landes viel arbeitet, weil er in einem armen Land lebt, also aufgrund irgendwelcher institutioneller Faktoren, oder weil er selbst arm ist und einen so niedrigen Stundenlohn bekommt, dass er eben viel arbeiten muss, um zu überleben. Wenn man sich anschaut, wie die individuellen Arbeitsstunden mit dem Lohn variieren, dann sieht man, dass fast in allen Ländern die Arbeitsstunden mit dem Lohn abnehmen, also die Armen mehr arbeiten als die Reichen, außer in den reichsten Ländern. Dort dreht es sich um, und die Armen arbeiten im Durchschnitt weniger Stunden als die Reichen. Das spricht dafür, dass es in den meisten Ländern relativ starke Einkommenseffekte gibt. Nur in den reichsten Ländern ist das nicht der Fall.

PWP: Und woran liegt es, dass die Reichen in den reichen Ländern mehr arbeiten? Liegt es daran, dass es eine Präferenz dafür gibt? Arbeit als Sinnstiftung?

Fuchs-Schündeln: Das könnte sein, aber das sollte dann auch in ärmeren Ländern der Fall sein. Im Moment gehen wir daher von einheitlichen Präferenzen aus und konzentrieren uns auf folgende Überlegungen. Da gibt es zunächst den Subsistenzeffekt; die Leute müssen erst einmal überhaupt überleben und über die Runden kommen und arbeiten daher sehr viel. Dieser Effekt lässt irgendwann nach, und in der Tat sind die Unterschiede in den Arbeitsstunden zwischen armen und mittleren Ländern etwas größer als zwischen mittleren und reichen Ländern. Des Weiteren stellt sich die Frage, warum es eigentlich in den armen Ländern so ist, dass innerhalb eines Landes die Armen mehr arbeiten als die Reichen, in den reichen Ländern hingegen umgekehrt. Das könnte an der Größe des Wohlfahrtsstaates liegen. Diese variiert nämlich auch systematisch mit dem Bruttosozialprodukt. In diese Richtung wollen wir weiterdenken. Dann folgt die nächste Frage gleich auf dem Fuß: Warum wird der Wohlfahrtsstaat denn erst etabliert, wenn ein Land schon einen gewissen Reichtum erreicht hat? Auf jeden Fall haben wir da ein paar faszinierende Ansatzpunkte für künftige Forschung.

PWP: Gestatten Sie mir bitte noch einmal die Nachfrage bezüglich der Vergleichbarkeit. Ist denn zwischen den Ländern, die man da vergleicht, die notwendige Homogenität gewährleistet? Ist eine Stunde Arbeit in einem Entwicklungsland dasselbe wie eine Stunde Arbeit in einem Industriestaat?

Fuchs-Schündeln: Nachdem wir schon unseren Blick auf das Bruttoinlandsprodukt je geleistete Arbeitsstunde gerichtet haben statt auf das Bruttoinlandsprodukt je Arbeiter, wäre in der Tat der nächste Schritt, auch die Arbeitsanstrengung zu berücksichtigen. Die ist allerdings nur ganz schwierig systematisch messbar. Zudem sind gerade in den armen Ländern viele Leute direkt in ihrem Haus selbständig tätig, so dass die Abgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit oft schwierig ist. Das einzige, was wir dazu sagen können, ist eben, dass das Muster im Verarbeitenden Gewerbe nicht anders ist. Als Näherin in Bangladesh beispielsweise bin ich sicherlich nicht weniger, sondern eher schlimmer durchgetaktet, als wenn ich in Deutschland am Fließband stehe.

PWP: Ein Aspekt, zu dem Sie auch geforscht haben, ist bisher noch gar nicht zur Sprache gekommen, und zwar die Präferenzen der Menschen. Im Blick auf den ersten Fragenkomplex, den wir besprochen haben, nämlich die Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen, ist das aber durchaus relevant.

Fuchs-Schündeln: Das stimmt. In dieser Forschung geht es um die Frage, wo eigentlich unsere Präferenzen herkommen, ob wir mit ihnen geboren werden und sie sich dann nicht mehr groß verändern, oder ob sie sich allmählich entwickeln, und welche Rolle dabei die Erfahrungen des Lebens in unterschiedlichen Systemen spielen. Diese Frage kam bei mir seinerzeit im Blick auf einen offensichtlichen Unterschied in den politischen Präferenzen zwischen Amerika und Europa, wie ich ihn persönlich erlebt habe. Insbesondere in den neunziger Jahren waren für Europa „amerikanische Verhältnisse“ immer ein Schreckgespenst, und in den Vereinigten Staaten habe ich dann das umgekehrte Schreckgespenst kennengelernt, das restlos überregulierte „Socialist Europe“. Und das galt jeweils als ganz fürchterlich. Sicherlich unterscheiden sich die jeweiligen Systeme in einer Weise, die diese Präferenzen reflektiert; in den Vereinigten Staaten steht das Individuum mehr im Vordergrund, in Europa gibt es mehr Umverteilung. Aber wirklich fürchterlich ist keines dieser Systeme. Jedenfalls habe ich mich gefragt, ob das System die Präferenzen geprägt hat oder die Präferenzen dafür gesorgt haben, dass man die jeweiligen Systeme so geschaffen hat, wie sie sind.

PWP: Vielleicht gibt es auch einfach historische Gründe?

Fuchs-Schündeln: Gut möglich. Es gibt ja zum Beispiel die durchaus plausible These, dass es mehr die unternehmerischen Geister waren, die seinerzeit aufgebrochen sind, Amerika zu besiedeln. Da stehen dann die Präferenzen an erster Stelle, und die Systeme prägen sich so aus, wie es die jeweiligen Bewohner wünschen. Aber dann kann es auch sein, dass die Präferenzen so sind, weil die Leute nichts anderes kennen und eine Veränderung als Bedrohung empfinden. Wir haben hier ein klassisches Huhn-Ei-Problem, das man ökonometrisch normalerweise nicht so leicht lösen kann. Wir sind dann auf die Idee gekommen, die Frage an einem anderen Beispiel zu bearbeiten, und zwar mit Blick auf die Präferenzen in Ost- und Westdeutschland[7]. Da ließ sich die Wiedervereinigung als ein natürliches Experiment nutzen. Die Zufälligkeit der Teilung, infolge derer die Ostdeutschen im Kommunismus und die Westdeutschen im Kapitalismus gelebt haben, um es plakativ zu beschreiben, ist schlecht zu bestreiten. Wenn die Sowjetunion im Westen Deutschlands läge, hätten die Westdeutschen den Kommunismus erfahren. Es gibt auch keinerlei Hinweise darauf, dass es vor der Teilung systematische Präferenzunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen gegeben hat.

PWP: Wie haben Sie das gemacht?

Fuchs-Schündeln: Wir haben Daten aus der Längsschnittstudie des Sozioökonomischen Panels (SOEP) von 1997 und 2002 genutzt, und denen lässt sich entnehmen, dass Ostdeutsche deutlich stärkere Präferenzen für Staatseingriffe haben als Westdeutsche, was die Fürsorge für Familien, Alte und Kranke angeht. Man kann das in einem weiteren Sinne als Umverteilungspräferenzen interpretieren. Das Muster ist auch dann noch deutlich, wenn man alle möglichen persönlichen Motive berücksichtigt, zum Beispiel dass im Osten die Einkommen niedriger sind und dass die regionale Arbeitslosigkeit höher liegt. Allerdings sieht man innerhalb der Zeitspanne, die wir untersuchen konnten, auch ein wenig Konvergenz. Die ostdeutschen Präferenzen nähern sich den westdeutschen an. Die Unterschiede zwischen Ost und West sind dabei umso größer, je älter die Leute sind, also je länger sie im jeweiligen System gelebt haben. Das zeigt, dass Gewöhnung an das System eine Rolle spielt.

PWP: Wie erklärt sich das?

Fuchs-Schündeln: Das ist eigentlich eine psychologische Frage, und die kann man als Ökonom nicht so leicht beantworten, zumindest nicht anhand dieser Daten. Wir können nur den Befund zur Kenntnis nehmen. Wir haben diesen Fragenkomplex dann noch auf eine politikwissenschaftliche Ebene gehoben und mit Hilfe von Daten aus dem World Value Survey untersucht, wie es um die Unterstützung für die Demokratie bestellt ist.[8] Es gibt eine klare Korrelation insofern, als Menschen in demokratischen Systemen in der Regel auch die Demokratie für ein gutes System halten. Alles andere wäre natürlich auch merkwürdig. Aber interessant ist die Gegenüberstellung mit Menschen, die zumindest teilweise in autokratischen Systemen gelebt haben; an denen kann man studieren, wie sich Präferenzen anpassen. In den Daten zeigt sich eindeutig, dass das Leben in einem demokratischen System die Unterstützung für die Demokratie fördert. Auch da gibt es offenbar einen Gewöhnungseffekt. Man muss sich wohl selbst an das demokratische System erst einmal gewöhnen, um es unterstützen zu können. Und das gilt umgekehrt auch für autokratische Systeme. Daraus folgt unter anderem, dass es schwierig ist, ein Land zu demokratisieren. Die Präferenzen der Bürger tragen solche Bemühungen nicht unbedingt von Anfang an.

PWP: Gibt es nicht auch so etwas wie Sehnsuchts- und Abnutzungseffekte? Also dergestalt, dass sich Menschen in autoritären Systemen irgendwann zu sehr nach Demokratie sehnen, um ihr altes System noch zu unterstützen? Kommen so nicht Revolutionen zustande? Und muss man nicht umgekehrt derzeit auch beobachten, dass irgendwann in Demokratien vielleicht gerade wegen der Gewöhnung die Unterstützung für das System abnimmt, mutwillig, von Populisten angeheizt, oder weil man die Errungenschaften zu selbstverständlich nimmt?

Fuchs-Schündeln: Ich sehe Ihre Argumente, aber die Daten sprechen im Durchschnitt nicht in diese Richtung. Was nicht heißt, dass es die von Ihnen skizzierten Effekte nicht auch gibt. In der Politikwissenschaft und auch in den Wirtschaftswissenschaften beschäftigen sich viele Autoren derzeit ja mit dem Phänomen des Populismus, und das finde ich ausgesprochen faszinierend. Da muss man noch viel tiefer reingehen, um die gegenwärtigen Entwicklungen wirklich zu verstehen. Außerdem sagt unsere Forschung natürlich nicht, dass nicht andere Effekte auch eine wichtige Rolle spielen, zum Beispiel die Qualität des jeweiligen Regimes oder die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung.

PWP: Ist es nicht auch etwas heikel, Ihre Kausalitäten auf die Zukunft anzuwenden? Einerseits können sie einen zwar richtigerweise bescheiden machen, wenn man den großen Ehrgeiz hat, andere Länder zu demokratisieren. Andererseits wäre die Entscheidung, sich um Demokratisierung gar nicht erst zu bemühen, weil die Leute ja an unfreie Verhältnisse gewöhnt sind, auch nicht unproblematisch.

Fuchs-Schündeln: Grundsätzlich finde ich es nicht problematisch, etablierte Kausalitäten für Aussagen über die Zukunft zu benutzen. Als empirische Ökonomin besteht meine Hauptaufgabe darin, erst einmal Kausalitäten und Korrelationen sauber zu unterscheiden. Korrelationen darf ich auf keinen Fall für Vorhersagen nutzen, Kausalitäten schon. In meiner empirischen Forschung lege ich darauf größten Wert und hoffe, es gelingt mir auch. Ich will Kausaleffekte finden, und das einzige, was strittig sein kann, wenn man seine Arbeit ordentlich macht, ist die grundlegende Identifikationsannahme – also zum Beispiel dass die Wiedervereinigung ein natürliches Experiment darstellt. Diese Annahme muss natürlich plausibel sein und in der Forschungsarbeit klar dargestellt werden, auch mit ihren potentiellen Schwächen. Das lege ich auch in einem methodischen Artikel im neuen Handbook of Macroeconomics so dar.[9] Wenn man dann eine Kausalität findet, kann man sie durchaus auch für Vorhersagen verwenden. Freilich darf man nie vergessen, dass es einen Standardfehler gibt und andere Einflussfaktoren. Es ist keineswegs klar, dass in jedem Fall genau das passieren wird, was die in einem anderen Zusammenhang etablierte Kausalität beschreibt. Und gerade wenn man über sehr breite Konzepte wie die Präferenzen für Umverteilung und Demokratie spricht, heißt das nicht, dass es nicht interessante Nuancen gibt. Zudem ergibt sich aus der Feststellung der Tatsache, dass eine Demokratisierung schwierig ist, ja nicht die Handlungsempfehlung, dass man sie nicht versuchen sollte. Ich würde insofern die Hauptschlussfolgerung ziehen, dass es die ersten Jahre im Durchschnitt nicht einfach wird, wenn man ein Land demokratisiert. Dies sind die kritischen Jahre, zumindest unter dem Gesichtspunkt der Präferenzen der Bevölkerung.

PWP: Die umgekehrte These ist ja immerhin sehr ermutigend, nämlich dass Leute, die Demokratie gewöhnt sind, sich diese auch nicht so schnell wieder nehmen lassen. Allerdings bedeutet die Endogenität der Präferenzen ja auch, dass hier kein Determinismus angebracht ist.

Fuchs-Schündeln: Genau. Aber für einen Wandel braucht es mitunter große Schritte, und er braucht Zeit.

PWP: Lassen Sie mich noch nach einem anderen Thema fragen, und zwar nach der Integration der Arbeitsmärkte. Das ist besonders interessant, finde ich, vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um den freien Personenverkehr in der Europäischen Union. Der Anteil der Bürger, die in einem anderen EU-Land arbeiten, ist dabei mit durchschnittlich etwa 3 Prozent ja relativ gering.

Fuchs-Schündeln: Als wir das untersucht haben, wollten wir wissen, wie es um die Mobilität in der EU bestellt ist und ob Grenzen überhaupt noch eine Rolle spielen – weniger im Hinblick auf die Migration, sondern erst mal nur auf das Pendeln zur Arbeit[10]. Es ging uns darum, herauszufinden, in welchem Ausmaß es möglich ist, einen positiven oder negativen regionalen Schock durch Pendeln zu einem Arbeitsplatz in einer anderen Region abzupuffern. Die Analyse beschränkte sich dabei auf die EU-15; die Osteuropäer waren noch nicht dabei. Wir haben dafür regionale Daten der EU für die Jahre 1986–2006 betrachtet. Grundsätzlich sollten die Arbeitsmarktsituationen benachbarter Regionen korreliert sein und die Arbeitslosenquoten also auch, wenn die Arbeitsmärkte integriert sind. Wenn eine Region von einem negativen Schock getroffen wird, so sollte man erwarten, dass mehr Bewohner Arbeitsstellen in benachbarten Regionen suchen und dadurch auch dort kurzfristig Druck auf dem Arbeitsmarkt entsteht. Pendeln ist eben kurzfristig wesentlich einfacher als Umziehen. Wir haben uns die Arbeitslosenquoten in den verschiedenen Regionen innerhalb eines Landes angeschaut, und da ist in der Tat die räumliche Korrelation sehr hoch. Dann haben wir das mit grenznahen Regionen verglichen. Wenn Staatengrenzen auf dem Arbeitsmarkt keine Rolle spielen, sollte man von der gleichen Korrelation zwischen zwei benachbarten Regionen ausgehen, egal, ob eine Grenze dazwischenliegt oder nicht. Wenn Grenzen aber eine Rolle spielen, ist das nicht der Fall. Wenn also Saarbrücken von einem Schock getroffen würde, hätte dieser in den benachbarten deutschen Regionen stärkere Auswirkungen als in den französischen, wenn Grenzen eine Rolle spielen. Und exakt so ist es auch. Die Grenzen spielen noch eine Rolle. Die Arbeitslosenquoten korrelieren immer innerhalb eines Landes stärker als über Grenzen hinweg.

PWP: Volle Integration gibt es also noch nicht.

Fuchs-Schündeln: Nein. In die Zeit unseres Datensatzes fielen dabei große politische Veränderungen, die das Pendeln erleichtert haben. Das war zum einen die Euro-Einführung, zum anderen das Schengen-Abkommen. Bei beiden sehen wir keinen Effekt. Die Grenzeffekte haben nicht signifikant abgenommen, wie man eigentlich hätte denken können. Allerdings muss man hier beachten, dass die empirische Identifikation von Effekten im Zusammenhang mit diesen beiden Maßnahmen schwierig ist, da es nur geringe Variation über die Zeit und zwischen den Ländern bei der Einführung der Maßnahmen gab. Als nächstes haben wir uns gefragt, ob es irgendwelche fundamentaleren Hemmnisse gibt, die man mit solchen politischen Weichenstellungen nicht aus dem Weg schaffen kann. Und die gibt es tatsächlich: die Sprache. Daher haben wir unser Modell dann nicht nach Landesgrenzen, sondern nach Sprachgrenzen unterscheiden lassen. Und da zeigt sich tatsächlich, dass Sprachgrenzen eine größere Rolle spielen als Landesgrenzen. Das ist ja auch plausibel. Die Integration der Arbeitsmärkte ist in Europa wegen der Sprachunterschiede sehr viel schwieriger als beispielsweise in den Vereinigten Staaten. Und das wird wohl auch noch eine Weile so bleiben.

Mit Nicola Fuchs-Schündeln sprach Karen Horn, Dozentin für ökonomische Ideengeschichte und Publizistin in Zürich. Nicola Fuchs-Schündeln wurde von Wonge Bergmann fotografiert, Karen Horn von Beatríz Barragán.

Zur Person

Das reiche Wissen der Daten

Nicola Fuchs-Schündeln, 1972 in Köln geboren, ist gleichsam auf einer Seitenstraße zur Ökonomik gekommen. Ihr Studium an der Universität Köln begann auf dem Feld der Lateinamerikanistik. Darauf angesprochen, spricht sie von „einer Faszination für Lateinamerika, die irgendwie schon immer da war“, verbunden mit ihrem Engagement bei Amnesty International. Innerhalb des Studienganges galt es sich mit vier Disziplinen zu befassen, mit Politikwissenschaft, Romanistik, Geschichte – und eben Volkswirtschaftslehre. „Ich fand das von Anfang an spannend“, sagt sie. Die Anziehung verstärkte sich, als sie im Jahr 1995 als Austauschstudentin an der Universidad del Norte Santo Tomás de Aquino in Argentinien und während eines Praktikums in einer lokalen Sparkasse miterlebte, wie die Tequila-Krise aus Mexiko nach Lateinamerika herüberschwappte. „Ich habe mir gedacht, das will ich besser verstehen.“ Zurück in Köln wurde aus dem Teilfach VWL ein Zweitstudium, in dem sie auch zuerst das Diplom erlangte. Ein Jahr später folgte der Abschluss in Lateinamerikanistik. Die Liebe zu Lateinamerika hat sich Fuchs-Schündeln erhalten, auch wenn sie in der Spitzenforschung, die sie betreibt, mit diesem Teil der Welt nurmehr wenig zu tun hat. „Es ist jetzt eher etwas Privates.“

Stattdessen zog es sie nach dem Doppeldiplom in die Vereinigten Staaten. Sie setzte noch zwei Master-Titel in Economics an der Yale University obendrauf und wurde dort im Jahr 2004 mit Auszeichnung promoviert – mit einer empirischen Arbeit zum Sparverhalten deutscher Haushalte. Anschließend ging sie an die Harvard University, wo sie fünf Jahre als Assistant Professor of Economics lehrte, forschte und publizierte, unter anderem gemeinsam mit Alberto Alesina. Schon damals war klar, dass ihre besondere Fähigkeit in der Arbeit mit Daten liegt, denen sie mit Findigkeit, ökonometrischer Akribie und kluger Interpretation zu entlocken versteht, was sie an reichem Wissen bergen. Immer geht es ihr dabei um Haushaltsentscheidungen, ob sie nun das Sparen, das Arbeitsangebot oder die Migration betreffen. Dass sie nicht nur die Rahmenbedingungen untersucht, sondern auch zu ergründen sucht, wie Präferenzen entstehen und wie sie sich wandeln, zeugt von der Breite ihres Spektrums.

Und dann kam, nach zehn Jahren in den Vereinigten Staaten, ein Angebot aus Frankfurt, das die schon damals vielfach ausgezeichnete Forscherin und ihre Familie zurück in die alte Heimat holte: Sie erhielt einen Ruf auf den

Lehrstuhl für Makroökonomik und Entwicklung am wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereich der sich radikal modernisierenden Goethe-Universität Frankfurt, an das Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“. Gerade dessen einzigartiges interdisziplinäres Ambiente empfindet sie als eine große Bereicherung. Ein Starting Grant des European Research Council, eine der höchstdotierten wissenschaftlichen Auszeichnungen in der Europäischen Union, stärkte der Heimkehrerin 2010 für fünf Jahre zusätzlich den Rücken. Das Projekt lief unter dem Titel „The Role of Preferences and Institutions in Economic Transitions“. Und der Gossen-Preis des Vereins für Socialpolitik dokumentierte 2016 die einhellige Anerkennung der deutschsprachigen Fachkollegen für die junge Spitzenforscherin mit internationalem Ansehen.

Im „House of Finance“ auf dem großzügigen neuen Frankfurter Campus Westend verfügt sie heute über ein sonnendurchflutetes Büro – und bereut auch nach sieben Jahren keineswegs, Amerika den Rücken gekehrt zu haben, dem wissenschaftlichen Sehnsuchtsort so mancher aufstrebender Forscher. Zwar sei es schon wichtig, den Kontakt zu den Kollegen dort zu halten und die eigene Forschung zu präsentieren. Aber man könne ja auch so immer einmal wieder in die Vereinigten Staaten zurückkehren, wenigstens vorübergehend. Ein Sabbatical hat sie schon für einen solchen Forschungsaufenthalt in Stanford genutzt. „Das war sehr erfrischend, auch weil ich aus allem Administrativen draußen war, und diese Zeit hat mir noch einmal so einen richtigen Push gegeben“, erzählt sie. „Aber auch die Universität Frankfurt ist spannend, es ist viel los, die Kollegen sind nett, dynamisch und international ausgebildet.“ Überhaupt herrsche in der deutschen und in der europäischen Forschungslandschaft eine erfreuliche Dynamik. Sie selbst engagiert sich als Direktorin der Review of Economic Studies, der einzigen Top-Five-Zeitschrift der Wirtschaftswissenschaften, die in Europa angesiedelt ist, und als Managing Editor der Zeitschrift Economic Policy, die drei Institute in Frankreich, Großbritannien und Deutschland gemeinsam herausgeben. Zudem ist sie Mitglied des Rates der European Economic Association und Mitglied im engeren Vorstand des Vereins für Socialpolitik.

Was sie in Frankfurt besonders schätzt, ist die dortige Graduiertenschule nach amerikanischem Modell. „Das ist Gold wert und in den Wirtschaftswissenschaften die beste Methode, wie man Doktoranden ausbilden sollte, die in die Wissenschaft streben“, sagt sie. Diese strukturierte, breite Ausbildung soll vermitteln, wo die Forschungsfront über die ganze Ökonomik hinweg verläuft. „Wenn ich davon ausgehen kann, dass meine Doktoranden diese Breite und Expertise mitbringen, die man in der Spitzenforschung braucht, ist das auch für meine Zusammenarbeit mit ihnen sehr hilfreich.“ Das Kursprogramm des Graduiertenstudiums dauert zwei Jahre, mit Mikroökonomik, Makroökonomik und Ökonometrie als Pflichtfächern. Im zweiten Jahr spezialisiert man sich. In dieser Zeit schreiben die Studenten schon wissenschaftliche Papiere. Danach kommt die eigentliche Doktorarbeit; dafür sind noch einmal circa drei Jahre veranschlagt. Auch die Vernetzung der Nachwuchswissenschaftler in der Graduiertenschule ist Fuchs-Schündeln wichtig, die Ähnliches in Amerika selbst erlebt hat. Der Zusammenhalt, der innerhalb einer Kohorte von Graduierten entstehe, sei für vielerlei nützlich, nicht zuletzt zur Weitung des Horizonts und auch zur Verarbeitung von nicht ausbleibenden Frustrationen. Man müsse sich zum Beispiel als junger, ungeduldiger Mensch erst daran gewöhnen, wie langwierig es sei, ein Forschungspapier in einem guten Journal zu platzieren. Wenn man diese Erfahrungen mit anderen teilen könne, sei das tröstlich. Zum Forscherdasein gehöre nun einmal dazu, geduldig zu sein und schon das Erreichen von Zwischenzielen genießen zu können.

Als nächstes Projekt treibt Nicola Fuchs-Schündeln das Thema soziale Mobilität um. Hier will sie Entscheidungen zum Arbeitsangebot verbunden mit dem Phänomen der materiellen Ungleichheit in den Blick nehmen. Insbesondere interessiert es sie, welche Folgen der beobachtete Anstieg des „Assortative matching“, also der Paarbildung unter Menschen ähnlichen Bildungsniveaus, auf die soziale Mobilität der Kinder hat. Und überhaupt: „Wenn man die Ungleichheitsdebatte als Gerechtigkeitsdebatte führt, wie es derzeit geschieht, dann sollte man sich mehr Gedanken um die soziale Mobilität machen.“ Das Schlimmste sei es nun einmal, wenn Menschen in der Armut gefangen seien, warnt die Ökonomin, die sich als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums der Finanzen auch aktiv in die Politikberatung einbringt. Unter den Bürgern Chancengleichheit herzustellen, sei ein unbedingt sinnvolles politisches Ziel. (orn.)

Online erschienen: 2017-7-3
Erschienen im Druck: 2017-6-30

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 6.12.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pwp-2017-0013/html
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