PWP: Herr Professor Hellwig, Sie haben in einem Zeitungsartikel davor gewarnt, die internationale Kritik am Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands nicht ernst zu nehmen.[1] Sie wehren sich gegen die Sichtweise, es gebe keinerlei Anlass für den Staat, finanzpolitisch gegenzusteuern, denn dieser Überschuss sei vor allem der überlegenen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen geschuldet. Stimmt das denn nicht?
Hellwig: In diesem Artikel warnte ich vor Insensibilität gegenüber den Wirkungen der deutschen Politik und des deutschen Diskursverhaltens auf andere. Ich beobachte ein Auseinanderdriften der Diskurse in Deutschland und in anderen Ländern Europas und fürchte, dass diese Entwicklung auf Dauer eine ähnliche Isolierung Deutschlands nach sich ziehen kann wie die Insensibilität einer früheren Ära, im dritten Jahrzehnt nach der Einigung von 1871. Die Diskussion über die Leistungsbilanzüberschüsse liefert dafür ein Beispiel. Wenn Christine Lagarde und Emmanuel Macron über die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse schimpfen und Wolfgang Schäuble antwortet, diese Überschüsse hätten nichts mit der Politik der Bundesregierung zu tun und seien nur ein Ergebnis der Leistungsfähigkeit deutscher Unternehmen, so ist das entweder ignorant oder arrogant – ignorant, wenn er das wirklich glaubt, arrogant, wenn er es besser weiß, aber gleichwohl die Diskussion abblockt. Der Leistungsbilanzüberschuss ist notwendigerweise gleich der Summe aus dem Überschuss der Investitionen über die Ersparnisse und dem staatlichen Haushaltsüberschuss. Da geht die staatliche Haushaltspolitik unmittelbar ein. Man kann darüber diskutieren, ob die Leistungsbilanzüberschüsse zum Anlass für eine Politikänderung genommen werden sollten, aber man sollte die Diskussion nicht so verweigern, wie Berlin das tut. Tatsächlich sind die Leistungsbilanzüberschüsse nicht nur der Leistungsfähigkeit der deutschen Unternehmen, sondern auch den makroökonomischen Rahmenbedingungen zu verdanken. Wir hatten diese Diskussion schon einmal, 1968/69, als Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger eine Aufwertung der D-Mark ablehnte – mit eben den Argumenten, die der Bundesfinanzminister heute gebraucht.

PWP: Inwiefern sind die Situationen vergleichbar?
Hellwig: Damals waren die Rahmenbedingungen durch die 1967/68 für mehrere Jahre abgeschlossenen Tarifverträge bestimmt. Durch diese Verträge blieben die Nominallöhne während längerer Zeit stabil, während die Produktivität wuchs. Das Auseinanderfallen von Produktivitätsentwicklung und Lohnentwicklung damals hat maßgeblich zur Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen und zu den Leistungsbilanzüberschüssen beigetragen. Das ist heute nicht anders. Die Hartz-Gesetzgebung hat – neben anderen Faktoren – die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften nachhaltig geschwächt, mit der Folge, dass es zunächst drei Jahre gab, in denen die Nominallöhne praktisch stagnierten, während die Produktivität wuchs. Nicht umsonst kommt von den Nachbarn regelmäßig die Kritik, Deutschland betreibe eine merkantilistische Lohnpolitik. Die Antwort, die Löhne seien nicht Gegenstand staatlicher Politik, mag für die Jahre nach den Hartz-Reformen zutreffen. Aber wenn man frühere Stellungnahmen von Sachverständigenrat und Bundesbank zur Lohnpolitik ansieht, ist die Kritik nicht so abwegig. Seinerzeit, 1969, waren die deutschen Ökonomen sich übrigens weitgehend einig, dass Kiesingers Missachtung der makroökonomischen Zusammenhänge gefährlich sei, nicht weil sie fanden, dass die Deutschen beim Urlaub im Ausland mehr für ihre D-Mark bekommen sollten, wie Karl Schiller das im Wahlkampf verkündete, sondern weil sie befürchteten, anstelle der versäumten nominalen Aufwertung werde man eine Geldentwertung bekommen. Aufgrund unserer Mitgliedschaft in der Europäischen Währungsunion bei ansonsten flexiblen Wechselkursen ist das Aufwertungsthema heute komplizierter: Es gibt zwar eine Aufwertung gegenüber dem Dollar, die wohl nicht nur Donald Trump, sondern auch der außenwirtschaftlichen Entwicklung der Eurozone insgesamt geschuldet sein dürfte, schließlich hat nur noch Frankreich ein nennenswertes Leistungsbilanzdefizit. Aber diese Aufwertung wird dadurch gebremst, dass der Euro nicht nur die Währung Deutschlands ist, und eine Aufwertung gegenüber den anderen Mitgliedstaaten der Eurozone kann nicht stattfinden. Die seinerzeit erwarteten Inflationswirkungen gibt es (noch?) nicht, aus Gründen, die wir nicht verstehen, abgesehen davon, dass die Hartz-Gesetzgebung nach wie vor auf die Lohnsetzung wirkt. Auf Dauer würde ich aber erwarten, dass die Politik auf die Situation reagiert und die Position der Arbeitnehmer und ihrer Organisationen bei der Lohnbildung wieder stärkt oder Substitute wie den Mindestlohn verstärkt einsetzt.
PWP: Leistungsbilanzsalden werden ja von vielen Größen beeinflusst. Die spannende Frage ist aber, welche dieser Größen in einer bestimmten Situation als Treiber kausal entscheidend wirkt. Können Sie sicher sein, dass es eine kausale Wirkung gibt, die vom Haushaltssaldo ausgeht?
Hellwig: Die Aussage, dass der Leistungsbilanzüberschuss gleich der Summe aus dem Überschuss der Investitionen über die Ersparnisbildung und dem staatlichen Haushaltsüberschuss ist, kann auf zwei Weisen interpretiert werden, einmal als Ex-post-Beziehung zwischen den Größen in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und einmal als Ex-ante-Beziehung zwischen den Planungen der verschiedenen Beteiligten. Ersteres ist eine Sache der Definitorik in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, Letzteres ist eine Gleichgewichtsbedingung, allerdings eine, die wir nicht wirklich verstehen. Diese sogenannte IS-Gleichung wird vielfach als theoretisch unausgegorene Ausgeburt des Keynesianismus verworfen, aber ein Pendant zu dieser Gleichung findet sich in jedem Modell des allgemeinen Gleichgewichts der Volkswirtschaft. Nehmen Sie das Arrow-Debreu-Modell. Da hängt die Nachfrage eines privaten Haushalts von seinem Budget ab. Dieses ergibt sich aus den Erlösen an etwaigen Güter- und Faktorverkäufen und aus Gewinnausschüttungen. Aber woher weiß der Haushalt, was die Gewinnausschüttungen sind? In den Modellgleichungen stehen da einfach die Ausschüttungen, die sich bei den gegebenen Aktienanteilen der Haushalte aus den von den Unternehmen erwarteten Gewinnen ergeben. Da wird implizit unterstellt, dass der Haushalt die von den Unternehmen – aufgrund von deren Planung! – erwarteten Gewinne kennt. Das ist alles andere als selbstverständlich. Die Bedingung, dass die von den privaten Haushalten erwarteten Gewinneinkommen gleich den aufgrund der Unternehmenspläne erzielten Gewinneinkommen sind, ist nun genau die keynesianische IS-Gleichung (nach einigen Umformungen und Aggregation).
PWP: Wie kann man sich das etwas lebensnäher vorstellen?
Hellwig: Um die Problematik zu verstehen, stellen Sie sich vor, dass Sie Aktien einer Firma halten, deren Produkte ich kaufe, und ich Aktien einer Firma, deren Produkte Sie kaufen. Dann hängen die Gewinnausschüttungen, die ich bekomme, davon ab, wieviel Sie von den Produkten meiner Firma kaufen, und umgekehrt. Die Gewinnausschüttungen, die ich bekomme, bestimmen aber unter anderem, wieviel von den Produkten Ihrer Firma ich mir leisten kann, und damit, wie hoch die Gewinne und die Gewinnausschüttungen Ihrer Firma sind, und wieviel Sie sich von den Produkten meiner Firma leisten können. Im allgemeinen Gleichgewicht müssen Ihre und meine Erwartungen und Pläne miteinander konsistent sein, aber wie kommt diese Konsistenz zustande? Unser Denken ist sehr stark durch die mikroökonomische Partialanalyse geprägt. Da kennt man nur Markträumungsbedingungen als Gleichgewichtsbedingungen. Im allgemeinen Gleichgewicht kommen aber die Einkommensgleichungen hinzu, also die Bedingungen, dass sich die Einkommenserwartungen realisieren. Die Ungleichgewichtsdynamik, die dahinter steht, verstehen wir nicht wirklich. Man wird da an die Dynamik der Zahlungsprozesse denken, auch daran, dass die verschiedenen Größen in Wirklichkeit nicht alle simultan bestimmt werden, sich zum Beispiel Gewinnausschüttungen auf Gewinne des Vorjahrs beziehen. In den Lehrbüchern steht zumeist, die IS-Gleichung sei eine Gleichgewichtsbedingung für den Gütermarkt. Aber dann hat mich einmal ein Student gefragt, warum es eigentlich zwei Gleichgewichtsbedingungen für den Gütermarkt gebe, die IS-Gleichung und die Bedingung, dass aggregierte Nachfrage und aggregiertes Angebot übereinstimmen. Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Die moderne Makroökonomik hat das Problem dadurch gelöst, dass sie den Einkommenskreislauf weitgehend verdrängt hat. Ein Fall von prokrustianischer Amnäsie!
PWP: Was bitte?
Hellwig: Prokrustianische Amnäsie. Was nicht in das Prokrustes-Bett der Modelle passt, die ich verstehe, wird verdrängt. Was nun den Zusammenhang von staatlicher Politik und Leistungsbilanzüberschüssen angeht, so will ich gar nicht behaupten, dass Änderungen der Finanzpolitik hier sehr große Wirkungen hätten. Aber die Aussage, es gebe gar keine Wirkungen, ist nicht haltbar. Staatliche Ausgaben oder staatliche Maßnahmen zur Förderung privater Investitionen haben da Wirkungen.
PWP: Und was folgt daraus?
Hellwig: Das muss man jeweils im Detail prüfen und abwägen. Ich persönlich glaube, dass eine nachhaltige Erhöhung der Infrastrukturinvestitionen, und zwar nicht nur auf der Ebene des Bundes, sinnvoll wäre. Bei uns sind Straßen und Brücken, Schulgebäude und vieles andere marode. Allzu viele Ökonomen schließen davor die Augen. Und selbst wenn sie das Problem sehen, suchen sie Vorwände, um sich nicht damit auseinanderzusetzen. So habe ich kürzlich dazu gelesen, man könne ja über marode Straßen und Brücken in Deutschland schimpfen, aber man müsse doch auch sehen, dass die Bauindustrie völlig ausgelastet sei. Dann folgte noch die Bemerkung, ein Anreizprogramm für private Investitionen wäre vielleicht eine gute Sache. Die einzige rote Linie in diesem Argument ist die Feindseligkeit gegenüber staatlichen Investitionen. Wenn man sagt, die Bauindustrie sei völlig ausgelastet, heißt das noch nicht, dass eine Steigerung der öffentlichen Bauinvestitionen gar keine Auswirkungen hätte oder dass diese Auswirkungen notwendigerweise schlecht wären. Eine solche Steigerung könnte wohl Preissteigerungen im Baugewerbe verursachen und dadurch private Bauinvestitionen verdrängen. Vielleicht würden die Preissteigerungen auch Ressourcen aus anderen Aktivitäten in das Baugewerbe lenken. Das könnte in den anderen Bereichen weitere Preissteigerungen nach sich ziehen, so dass deren Exportaussichten sinken würden. So gäbe es entweder einen Rückgang der privaten Investitionen oder einen Rückgang der Exportüberschüsse oder beides. Wie sich das verteilt, das weiß man nicht.
PWP: Kann man das nicht zumindest in empirischen Studien aus der Vergangenheit extrapolieren?
Hellwig: Natürlich kann man sich Schätzungen der Elastizitäten ansehen, aber die Aussagekraft dieser Schätzungen ist begrenzt, denn die Rahmenbedingungen sind heute sehr anders. Im Übrigen, wie auch immer die Elastizitäten aussehen mögen, die einfache Feststellung, eine Steigerung der öffentlichen Investitionen würde private Investitionen verdrängen, sagt noch nichts darüber, ob das wünschenswert wäre oder nicht. Implizit steckt in der genannten Aussage die Wertung, die Verdrängung privater durch öffentliche Investitionen sei an sich schon eine schlechte Sache.
PWP: Und darin sehen Sie Ideologie?
Hellwig: Ja, ich halte nichts von solchen Pauschalwertungen. In einer Zeit, wo wir uns über eine Immobilienblase Sorgen machen, fragt sich doch, ob es wirklich sinnvoll ist, dass angesichts von Nullzinsen auf Staatsanleihen ein guter Teil der Ersparnisse der Volkswirtschaft in Immobilien geht. Möglicherweise haben wir da in ein paar Jahren wieder Leerstände. Und wenn die Zinsen wieder steigen, werden die Renditeerwartungen auch enttäuscht. Natürlich weiß man das nicht genau. Aber man kann nicht gleichzeitig über eine Immobilienblase sinnieren und die Effizienz privater Investitionen als selbstverständlich ansehen. Natürlich sagen wir gerne, der Markt weiß es am besten. Aber Ertragspanik ist ein schlechter Ratgeber. Und im öffentlichen Raum gibt es Verzerrungen der Entscheidungsmechanismen zulasten von öffentlichen Investitionen. Dass die Infrastruktur erkennbar marode ist, hat doch einen Grund. Früher gab es bei dem Kreditaufnahmeverbot des Art. 115 GG eine Ausnahme für Investitionen. Diese Ausnahme wurde 2009 abgeschafft, weil damit viel Missbrauch getrieben wurde. Man hatte vieles als Investition deklariert, was gar keine Investition war. Die Reform hat insgesamt zur Haushaltsdisziplin beigetragen, gleichzeitig aber die Tendenz zu einer Priorisierung von öffentlichem Konsum und Sozialleistungen gegenüber öffentlichen Investitionen noch verschärft.
PWP: Nicht behoben – einverstanden. Aber wieso verschärft?
Hellwig: Die Möglichkeit der Kreditaufnahme ließ Investitionen als relativ billig erscheinen, schon gar bei den derzeitigen Zinssätzen. Und bei den Missbräuchen musste man immer auch ein paar argumentative Purzelbäume schlagen.
PWP: So einfach war das also mit dem Missbrauch gar nicht?
Hellwig: Man konnte nicht einfach alles als Investition deklarieren. Heute, wo alles gleich zu finanzieren ist, fällt es noch stärker ins Gewicht, dass Investitionen, vor allem Erhaltungsinvestitionen, politisch weniger attraktiv sind. Ihre Wirkungen sind eben nicht so schnell spürbar.
PWP: Was heißt das denn für die Schuldenbremse? Rückabwickeln?
Hellwig: Die Schuldenbremse schafft Disziplin mit dem Holzhammer. Bei den Ländern und den Kommunen, wo wir die eigentlichen Investitionslücken haben, unterbleibt jetzt vieles auch wegen der Schuldenbremse.
PWP: Also? Was machen wir mit ihr?
Hellwig: Ich hielte eine Rückkehr zu irgendeiner Form des alten Artikel 115 GG durchaus für vernünftig. Man muss sich allerdings auch Gedanken machen über die Governance der Entscheidungen, vor allem über die Governance von kommunalen Ausgaben und Einnahmen. Die Erosion der kommunalen Investitionen hat ja auch damit zu tun, dass den Kommunen von oben her, speziell vom Bund, immer wieder alles Mögliche an Belastungen aufgebürdet wird, was nicht gerade investiven Charakter hat. Auch der Missbrauch der kommunalen Kassenkredite zur Haushaltsfinanzierung sollte beseitigt werden. Aber die politische Ökonomie der Finanzverfassung ist ein Thema für sich.
PWP: Im Zusammenhang mit der Schuldenbremse gibt es in der Diskussion derzeit vor allem zwei Stränge. Der eine betrifft die Investitionen; der andere hat mit der von Carl Christian von Weizsäcker in die Diskussion eingebrachten These zu tun, der natürliche Realzins sei negativ, weshalb sich der Staat stärker verschulden sollte, woran ihn die Schuldenbremse aber hindere[2]. Wie stehen Sie dazu?
Hellwig: Agnostisch.
PWP: Das heißt?
Hellwig: Die Argumente, die Weizsäcker in dieser Diskussion vorbringt, sind sehr ernst zu nehmen. Wir wissen nicht, warum die langfristigen Realzinsen so niedrig sind, wie sie sind; warum wir derart niedrige Nominalzinsen haben ohne Inflation, und warum es diese riesige Nachfrage nach Wertaufbewahrungsmitteln gibt. Es gibt dafür einige realwirtschaftliche Gründe, wobei die demographische Entwicklung sicher eine große Rolle spielt. Die demographische Entwicklung scheint auch die Entwicklung seit den neunziger Jahren in Japan maßgeblich mitbeeinflusst zu haben. Jedoch muss man auch die Nachwirkungen der Krise von 2008/09 berücksichtigen, und zwar erstens die Schwäche der Banken und zweitens die hohen Schuldenstände bei Nichtbanken, privaten Haushalten, Unternehmen und Staaten, zusammen mit Wertverlusten bei privaten Vermögen, vor allem Immobilien (Irland, Spanien, Griechenland). Bankenschwäche und hohe Schuldenstände tragen zur Schwäche der privaten Investitionen und der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage bei. In diesem Zusammenhang ist übrigens eine Beobachtung des Nobelpreisträgers Vernon Smith von Interesse. Er weist darauf hin, dass die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre für private Haushalte hohe Vermögensverluste mit sich brachte, vor allem bei Immobilien, während ihre Verschuldung gleich blieb, und dass die Konsumnachfrage entsprechend einbrach[3]. Der Zeitpunkt 1940/41, als die Krise endgültig überwunden wurde, war just auch der Zeitpunkt, zu dem die Nettovermögen der privaten Haushalte wieder ihren früheren Stand erreicht hatten. Es heißt sonst ja immer, die Überwindung der Weltwirtschaftskrise hing mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs zusammen.
PWP: Infolge der Rüstungsnachfrage des Staates.
Hellwig: Ja. Nach Vernon Smith sollte man aber auch die Möglichkeit sehen, dass dieser Vermögenseffekt viel wichtiger war. Ich finde das eine interessante These.
PWP: Das wäre auf jeden Fall ein wunderbares Forschungsthema für Wirtschaftshistoriker! Aber wollen Sie damit jetzt sagen, dass wir also doch zu viel und nicht zu wenig Schulden haben?
Hellwig: In vielen OECD-Ländern sind Schulden zu hoch, sei es bei privaten Haushalten, sei es bei Unternehmen, sei es beim Staat. In den Krisen sind viele Schulden vom privaten Sektor, vor allem von den Banken auf den Staat verlagert worden, aber abgebaut worden sind sie nicht. Deshalb habe ich in der Diskussion über „Quantitative easing“ die Leute von der EZB mehrfach darauf hingewiesen, dass wir gar nicht wissen, warum die Kreditvergabe so schwach ist. Wenn das eigentliche Problem darin besteht, dass Private und Staaten stark verschuldet sind und sich nicht noch weiter verschulden wollen (oder dürfen), dann kann man den Banken noch so viele Anreize zur Kreditvergabe geben, die Schwäche der Kreditnachfrage behebt man nicht. Oder die Banken selbst sind so marode und de facto insolvent bei realistischer Bewertung all dessen, was sie in den Büchern haben, dass sie nunmehr ganz vorsichtig sind und ähnlich wie in den neunziger Jahren in Japan ihre alten Kreditnehmer glimpflich behandeln, um keine Ausfälle zu provozieren und wieder Abschreibungen vornehmen zu müssen. Wenn die Zentralbank die Geschäftsbanken veranlasst, noch mehr Kredite zu vergeben, wird sie dieses Problem möglicherweise verschärfen. Es wäre dann besser, zuerst im Bankensektor aufzuräumen, zum Beispiel indem man die Banken zwingt, mehr Eigenkapital aufzunehmen und auf dieser Grundlage die faulen Kredite zu bereinigen, durch Umschuldungen und Schuldenschnitte, über Verhandlungen oder Insolvenzverfahren. Das Aufräumen bei den Banken liegt in der Kompetenz der Aufsicht, wenn sie denn will. Das Aufräumen bei den Schuldnern der Banken liegt nicht in der Hand der Politik, aber wenn die Banken selbst robust sind, so werden sie sich im eigenen Interesse darum kümmern.
PWP: Alles plausibel – aber wie können Sie gleichzeitig die allgemeine Überschuldung beklagen und eine stärkere Verschuldung des Staates gutheißen, um die öffentlichen Investitionen hochzufahren?
Hellwig: Es gibt doch einen Unterschied zwischen Deutschland und Griechenland. Die deutsche Staatsverschuldung ist im internationalen Vergleich eher niedrig. Auf ihrem Höhepunkt vor einigen Jahren lag sie zwischen 80 und 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts; jetzt sind wir etwa bei 70 Prozent. Das ist zwar höher als die 60 Prozent von Maastricht, aber bei einem Zinssatz von 1 Prozent oder weniger ist die jährliche Belastung niedrig. Und mikroökonomisch gibt es viele Dinge, um die der Staat sich mehr kümmern sollte, ganz unabhängig von der Diskussion um Leistungsbilanz und Fiskalpolitik. Die schwarze Null zum Dogma zu machen, ist ein schwerer Fehler. Wenn wir davon wegkämen, könnten wir europapolitisch Entgegenkommen signalisieren und unsere Infrastruktur sanieren, bei derzeit sehr niedrigen Finanzierungskosten. Ich glaube, das läge in unserem eigenen Interesse.
PWP: Unser Interesse – wer genau ist „wir“?
Hellwig: In der Frage steckt natürlich ein Problem. Was hat ein Siebzigjähriger noch von einer Investition in die Sanierung von Schulen oder Brücken? Die intergenerationellen Verteilungseffekte öffentlicher Investitionen können politökonomisch viel Schaden anrichten. Von den Nutznießern dieser Investitionen sind viele am politischen Prozess noch nicht beteiligt, und, wenn die Investitionen nicht mit Krediten finanziert werden, gehören von denen, die dafür bezahlen müssen, viele nicht zu den Nutznießern. Im politischen Prozess muss man diesen Konflikt gar nicht offen ansprechen; es genügt schon, dass man von Haushaltskonsolidierung und Steuersenkungen redet. Dass dabei die Infrastruktur verrottet oder dass Kitas, Schulen und Universitäten unterfinanziert sind, darüber redet man nicht.
PWP: Und die alternde Klientel, die wählt, stört sich daran nicht.
Hellwig: Genau. Dazu kommt manchmal der Einwand, dass viele Großeltern sehr viel Aufwand für ihre Enkelkinder treiben, sie also durchaus an die nächste oder übernächste Generation denken. Der Einwand ist richtig, aber das heißt nicht, dass diese Großeltern bereit wären, in die Zukunft des Gemeinwesens, gerade auch im Bildungsbereich, zu investieren. Davon könnten ja die Konkurrenten der Enkelkinder profitieren. Das deutsche Bildungssystem bietet heute viel weniger eine Grundlage für intergenerationelle soziale Mobilität als etwa 1980. Das ist auch eine Wirkung der Sparpolitik, beginnend mit der Umstellung von BaföG unter der Regierung von Helmut Kohl. Ich halte das für problematisch. Das „wir“, das Sie hinterfragt haben, enthält das Werturteil, dass es für das Gemeinwesen gut ist, wenn es solchen Partikularinteressen widersteht und für Nachhaltigkeit sorgt, hinsichtlich der Infrastruktur und hinsichtlich der intergenerationellen Mobilität.
PWP: Und wie soll man mit der Verschuldung in anderen europäischen Ländern umgehen?
Hellwig: Hier ist zu unterscheiden zwischen den bestehenden Schulden und der Zukunft der Fiskalpolitik. Der Umgang mit den bestehenden Schulden ist zunächst einmal Sache der Gläubiger. Hätte man 2010 die Banken mit Griechenland allein gelassen, wäre es früher zu einem Schuldenschnitt und zu Reformen in Griechenland gekommen; ersteres, weil die Banken gar keine andere Wahl gehabt hätten, letzteres, weil Griechenland keine Quelle für neues Geld gehabt hätte. Schuldenschnitte – offen oder verdeckt – sind dort unvermeidlich, wo der Gläubiger seine Forderung nicht durchsetzen kann, wo der Schuldner nicht zahlen kann oder nicht zahlen will und auch nicht gezwungen werden kann. Dieses Problem betrifft nunmehr die seit 2010 an die Stelle der Bankkredite getretenen öffentlichen Kredite, beispielsweise für Griechenland.
PWP: Und in Zukunft?
Hellwig: Hier stehen die verschiedenen Vorschläge für eine Europäische Fiskalunion im Raum. Macron will dieses Projekt vorantreiben. Die Bundesregierung sollte das nicht einfach blockieren, sondern überlegen, was wir eigentlich wollen und was sich sinnvollerweise machen lässt. Dann sollte sie das so konkret und so genau wie möglich zur Diskussion stellen, wobei auf die Nachhaltigkeit der zu vereinbarenden Regeln zu achten wäre. Beim Stabilitäts- und Wachstumspakt war von Anfang an klar, dass er nicht durchzusetzen sein würde, weil im Ernstfall weder die Kommission noch der Rat ein Interesse daran hätte.
PWP: Was heißt das konkret?
Hellwig: Man sollte sich nicht pauschal auf eine „Fiskalunion“ einlassen, denn da ist nicht klar, was das bedeutet. Reine Umverteilung? Das kann ein Fass ohne Boden sein. Disziplinierung der nationalen Politik durch einen Europäischen Finanzminister oder einen Europäischen Währungsfonds? Warum sollte das besser funktionieren als der Stabilitäts- und Wachstumspakt? Oder besser als der Agent General der Alliierten in der Weimarer Republik, der 1928 einer Erhöhung der Beamtengehälter um 25 bis 50 Prozent machtlos zusehen musste? Ein Arrangement für wechselseitige Versicherung gegen „asymmetrische Schocks“? Theoretisch gut, aber praktisch kaum ohne erheblichen Spielraum für Missbrauch umzusetzen. Bei all diesen Dingen muss man sich hüten vor Selbstbetrug durch Worthülsen. Man muss genau überlegen, was man konkret meint, um welche Kompetenzen es geht und um welche nicht. Je konkreter und genauer, desto weniger Spielraum gibt es auch für Missbrauch.
PWP: Haben Sie ein Beispiel zur Hand?
Hellwig: Man sollte konkrete Vorhaben ins Auge fassen, bei denen eine gemeinsame Durchführung und gemeinsame Finanzierung sinnvoll ist. Das kann beispielsweise den Schutz der europäischen Außengrenzen betreffen. Es kann aber auch sinnvoll sein, den Umgang mit Problembanken völlig auf die europäische Ebene zu heben. Man braucht Mechanismen, die dafür sorgen, dass die notleidenden Institute schnell und radikal entweder saniert oder abgewickelt werden. Das geschieht bisher nicht, weil die Mitgliedstaaten immer noch eine zentrale Rolle spielen und das Instrument der vorsorglichen Rekapitalisierung zu einer zumeist unterfinanzierten Erhaltung dieser Banken missbrauchen, wenn sie die Probleme nicht von vornherein negieren und verschleppen. Die Vergemeinschaftung der Aufsicht hat einiges verbessert, aber auch die europäische Aufsicht ist hilflos, wenn bei der Sanierung oder Abwicklung von Banken Sand im Getriebe ist. Ich halte es daher für sinnvoll, die Kompetenz für den gesamten Komplex Sanierung und Abwicklung, einschließlich möglicher Rekapitalisierungen, auf die europäische Ebene zu heben. Die dafür zuständige Behörde braucht allerdings Geld, sei es zur Sicherstellung der Liquidität während des Verfahrens, sei es für Rekapitalisierungen, oder sei es für die Abdeckung von Verlusten, wenn die Bank nicht genügend Verbindlichkeiten hat, die für einen Bail-in in Frage kommen, also nicht genügend Eigenkapital oder ungesicherte Verbindlichkeiten.

PWP: Rekapitalisierungen und Verlustabdeckungen – läuft das nicht auf problematische Staatshilfen hinaus?
Hellwig: Ja. Ich teile Ihre Einschätzung, dass die Staatshilfen problematisch sind, halte sie aber in bestimmten Situationen für unvermeidlich. Deshalb verlange ich, dass die Eigenkapitalanforderungen für Banken drastisch erhöht werden, damit man gar nicht erst in die Bredouille kommt. Man sollte auch mehr Mut haben, Banken gegebenenfalls in die Insolvenz gehen zu lassen und – bei Sanierung oder Abwicklung – die Gläubiger von Banken stärker an Verlusten zu beteiligen, wie bei gewöhnlichen Insolvenzverfahren. Aber bei systemrelevanten Instituten, die in mehreren Jurisdiktionen gleichzeitig tätig sind, können die Schäden einer Abwicklung für das Gesamtsystem so groß sein, dass es am Ende doch besser ist, man verwendet Staatsmittel, um das zu verhindern. Eine Wiederholung der Erfahrung mit Lehman Brothers müssen wir verhindern. Leider bieten die derzeitigen Sanierungs- und Abwicklungsverfahren, auch die seit 2008 neu eingeführten, dafür keine Gewähr. Die verstärkte Europäisierung bzw. De-Nationalisierung dieser Verfahren würde zumindest die missbräuchliche Fortführung von eigentlich insolventen Banken durch die Mitgliedstaaten einschränken. Aber wenn man das auf die europäische Ebene hebt, braucht man Finanzierungsmöglichkeiten und somit eine fiskalische Kompetenz.
PWP: Das heißt eine europäische Steuer? Das wäre politisch wieder sehr schwierig.
Hellwig: Vielleicht würde das Bundesverfassungsgericht sogar von einer unzulässigen Abgabe von Souveränitätsrechten sprechen. Aber wir hatten so etwas schon einmal, und wir haben es inzwischen wieder. Die 1952 gegründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) hatte das Instrument der Montanumlage, einer Abgabe, die die Hohe Behörde der EGKS bei den Unternehmen der Montanindustrie erheben konnte, um Restrukturierungsprojekte zu unterstützen. Und der durch einen zwischenstaatlichen Vertrag geschaffene Europäische Bankenrestrukturierungsfonds (Single Resolution Fund) wird durch Abgaben von Banken und anderen Unternehmen des Finanzsektors finanziert. Allerdings reicht dieser Fonds nicht aus, um die Liquidität von Problembanken im Zuge des Sanierungs- und Abwicklungsverfahrens sicherzustellen – 55 Milliarden Euro sind ein Klacks neben dem kurzfristigen Refinanzierungsbedarf einer mittelgroßen Bank mit einer Bilanzsumme von mehreren hundert Milliarden Euro, ganz abgesehen von Instituten wie der Deutschen Bank mit Bilanzsummen von mehr als 1000 Milliarden Euro.
PWP: Gibt das nicht noch mehr Umverteilung zwischen den Mitgliedstaaten?
Hellwig: Sie denken an die 350 Milliarden an faulen Krediten in den Büchern italienischer Banken? Vielleicht auch an die Vorschläge, etwa vom Präsidenten der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde EBA, solche Kredite in eine europaweite „Bad Bank“ zu überführen? Der Unterschied läge darin, dass zumindest bei den mittelgroßen Banken die Gläubiger stärker an den Verlusten beteiligt würden, und auch darin, dass die volkswirtschaftlich sehr schädlichen Verzögerungsstrategien der Banken und Staaten eingeschränkt würden. Ansonsten liegen die global systemrelevanten Banken wie BNP Paribas oder Deutsche Bank, bei denen im Ernstfall Staatshilfen nicht zu vermeiden sein werden, in Nordeuropa. Wenn ich Italiener wäre, würde ich rabiat dagegen protestieren... Im Sommer 2012 war ich als Vorsitzender federführend am Bericht des Advisory Scientific Committee des European Systemic Risk Board über „Forbearance, Resolution and Deposit Insurance“ beteiligt[4]. Wir sprachen uns für eine Bankenunion mit einer Europäisierung der Aufsicht und der Sanierungs- und Abwicklungsverfahren aus. Die Europäisierung der Einlagensicherung hielt ich für eine Cura posterior. Damals befürchteten wir, dass Spanien die Bereinigung der dortigen Bankenkrise noch beliebig lange weiter hinauszögern könnte. Ich dachte damals und denke heute immer noch, dass eine einmalige Vergemeinschaftung bereits entstandener Verluste immer noch besser ist, als gar nichts zu tun, die Bereinigung der Krisen vor sich herzuschieben und die japanische Erfahrung zu wiederholen. Unbedingt notwendig ist allerdings, dass die neu geschaffenen Institutionen tatsächlich das Verschleppen der Probleme – und die zugrundeliegenden Missbräuche auf der Ebene der Mitgliedstaaten verhindern. Seither haben sowohl der gemeinsame Aufsichtsmechanismus als auch der gemeinsame Sanierungs- und Abwicklungsmechanismus Fortschritte gebracht, aber noch längst nicht genug. Die Fälle Monte dei Paschi, Banco Popolare di Vicenza und Veneto Banca zeigen das sehr deutlich, aber die Italiener sagen dazu, die Deutschen hätten es ihnen ja 2008/09 vorgemacht. Und sollte die Europäische Kommission im nächsten Frühjahr eine Abwicklung von HSH Nordbank vorschreiben, werden wir sehen, ob die Deutschen das nunmehr anders machen.
PWP: Was machen Sie denn mit dem Moral-hazard-Problem der Banken, die sich darauf verlassen, dass ihnen vom Staat geholfen wird?
Hellwig: Zum einen sollten Sie sehen, dass das Moral-hazard-Problem zumindest bislang deutlich größer ist, wenn die Banken mit ihrem eigenen Staat zu tun haben, als wenn die Entscheidungen bei einer Brüsseler Behörde liegen. Innerhalb der Mitgliedstaaten sind die Banker, ihre Geldgeber und ihre Kreditnehmer, zum Beispiel Bauunternehmer, eng mit der Politik vernetzt, da hilft die Politik gern und großzügig, auch wenn das nicht immer zu beobachten ist. Die einzige Instanz, die dem seit 2009 Einhalt geboten hat, war die Europäische Kommission mit ihrer Beihilfekontrolle. Und die Bankenunion hat auch dafür gesorgt, dass die Zügel der Aufsicht etwas angezogen werden. Zum anderen müssen Sie unterscheiden zwischen Banken, Bankern und Bankgläubigern. Wenn man Banken als Institutionen erhält, gleichzeitig aber die Banker entlässt beziehungsweise haftbar macht und die Bankgläubiger an den Verlusten beteiligt, dürfte das Moral-hazard-Problem gering sein. Im Übrigen ist das wiederum ein Grund, warum ich für deutlich höhere Eigenkapitalanforderungen plädiere. Zu den Merkwürdigkeiten der Krise gehört es, dass nur sehr wenige Banker entlassen wurden, und das unter Beibehaltung ihrer akkumulierten Boni. Zu den Merkwürdigkeiten der Krise gehört es auch, dass die Branche insgesamt nur wenig diskreditiert wurde.
PWP: Finden Sie?
Hellwig: Die Bankenlobby konnte trotz der gemachten Erfahrungen die Entwicklung der Regulierung nach der Krise sehr stark beeinflussen. Josef Ackermann hat schon im November 2009 im Interview mit der Süddeutschen Zeitung wieder gepredigt, höhere Eigenkapitalanforderungen könnten das System zwar stabiler machen, würden aber die Kreditvergabe und das Wirtschaftswachstum schädigen – und das, nachdem wir im vierten Quartal 2008 gerade den schärfsten Einbruch von Kreditvergabe und Wirtschaftswachstum seit der Weltwirtschaftskrise erlebt hatten, verursacht unter anderem dadurch, dass die Banken im Vorfeld der Krise so wenig an eigenen Mitteln einsetzten, dass die ersten großen Verluste 2007 sie an den Rand der Insolvenz brachten, so dass die Geldmarktgläubiger misstrauisch wurden. Dass die Lobby nicht genügend diskreditiert war, hat dazu beigetragen, dass die Erhöhung der Eigenkapitalanforderungen nach „Basel III“ sehr mäßig ausfiel, wobei Deutschland sehr aktiv als Bremser auftrat. Und heute tut man so, als habe es nie eine Krise gegeben. Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, der Krise 2008/09 ihren Lauf zu lassen, so dass die Lobby nachhaltig diskreditiert worden wäre, wie in den dreißiger Jahren. Wenn ich allerdings bedenke, was die Krise der dreißiger Jahre noch alles nach sich zog, dann bin ich doch zufrieden, dass es die Interventionen gab.
PWP: Aber ist Eigenkapital denn nicht tatsächlich teuer für die Banken?
Hellwig: Die Kosten für die Banken sind nicht unbedingt auch Kosten für die Gesellschaft. Es gibt im Wesentlichen drei Gründe, warum eine Erhöhung des Eigenkapitals für die Banken beziehungsweise ihre Aktionäre als teuer erscheint. Zum einen sind Gewinne körperschaftsteuerpflichtig, Schuldzinsen aber nicht. Daher ist die Steuerlast größer, wenn man den Finanzierungsmix in Richtung auf größere Eigenkapitalfinanzierung verschiebt. Den privaten Kosten der Bank und ihrer Aktionäre steht hier allerdings ein Gewinn des Staates gegenüber; es handelt sich also nicht um gesamtgesellschaftliche Kosten. Zum anderen ist eine Insolvenz der Bank weniger wahrscheinlich, wenn sie mehr mit eigenen Mitteln arbeitet und weniger mit Schulden. Dadurch werden die expliziten und impliziten Garantien des Staats für Schulden der Bank weniger wert. Hier steht den Kosten der Bank ebenfalls ein Gewinn des Staats gegenüber, wie Anat Admati und ich auch in unserem Buch geschrieben haben[5]. Am wichtigsten ist meines Erachtens ein dritter Effekt: Bei einer Bank, die bereits verschuldet ist, kommt ein Ersatz von Fremdkapital durch Eigenkapital, zum Beispiel durch Aktienausgabe und Schuldenrückkauf, zumindest teilweise den Altgläubigern zugute; in dem Maß, wie die Altgläubiger profitieren, erleiden die Aktionäre einen Verlust. Auch dazu gibt es eine Arbeit von uns[6].
PWP: Wodurch kommt der Verlust zustande, durch die Verwässerung ihrer Beteiligung?
Hellwig: Das Wort ist irreführend. Die Altaktionäre werden nicht einfach deshalb schlechter gestellt, weil zum Beispiel bei einer Verdoppelung des Eigenkapitals durch Hereinnahme von Mitteln von außen ihre eigene Beteiligung sich halbiert. Es kommt ja Geld hinzu. Jedoch ist der Wert der halbierten Beteiligung an dem größeren Kuchen normalerweise kleiner als der Wert der ursprünglichen Beteiligung an dem kleineren Kuchen. Hinter dieser Aussage steht nicht die mechanische Verwässerung durch Absenkung der Anteile; diese ist allenfalls von Bedeutung, wenn es um Stimmrechte geht, was aber für die Aktionäre der meisten großen Banken irrelevant ist. Dahinter stehen zum einen die bereits genannten Effekte, dass die Steuerlast steigt und der Wert der staatlichen Garantien sinkt, und zum anderen gibt es noch den Effekt, dass die Konkursoption der Aktionäre weniger wert wird.
PWP: Was ist damit gemeint?
Hellwig: Der wirtschaftliche Wert des Aktienkapitals einer Bank ist gleich dem Wert der Aktiva minus die Verbindlichkeiten plus den Wert der Option, dass man gegebenenfalls die Verbindlichkeiten der Bank nicht erfüllt und sie stattdessen in den Konkurs gehen lässt. Die Existenz dieser Option ist ein Grund, warum bei korrekter Bewertung der Aktiva der Marktwert des Eigenkapitals größer ist als der Buchwert. Die Option ist umso wertvoller, je wahrscheinlicher der Konkursfall ist. Wenn die Bank den Einsatz eigener Mittel erhöht und ihre Schulden senkt, wird eine Insolvenz weniger wahrscheinlich, und das senkt den Wert der Konkursoption. Allerdings beruhen auch diese „Kosten“ von Eigenkapitalanforderungen auf einem Verteilungseffekt: Die Beschränkung der Haftung, das heißt das Recht der Aktionäre, bei Insolvenz des Unternehmens die Schulden nicht zu bedienen, hat zur Folge, dass die Verluste die Gläubiger treffen. Die Erhöhung der Eigenkapitalfinanzierung macht das weniger wahrscheinlich und stellt die Gläubiger besser. In der Diskussion um Eigenkapitalregulierung kommt regelmäßig das Argument, die Regulierung sei ein verfassungswidriger Eingriff in die Eigentumsrechte der Aktionäre. Haben die Aktionäre eines Unternehmens wirklich einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf die Option, dass sie die Verbindlichkeiten, die sie eingegangen sind, im Insolvenzfall nicht erfüllen? Und haben sie einen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, dass der Staat diese Option nicht entwertet, indem er durch Eigenkapitalanforderungen den Insolvenzfall weniger wahrscheinlich macht?
PWP: In der Tat, das scheint ein bisschen absurd.
Hellwig: Die Quelle des Marktversagens liegt darin, dass ein Unternehmen bei der Anfangsfinanzierung nicht auch schon die künftige Finanzierungspolitik verbindlich festlegen kann. Am Anfang gibt es eine Finanzierung durch Kredite, Obligationen, Aktien, dann vergeht einige Zeit, und irgendwann steht eine neue Finanzierungsentscheidung an – sei es, weil ein Kredit abzulösen ist, sei es, weil man neue Projekte finanzieren will, sei es, weil eine Änderung der Rahmenbedingungen einen anderen Finanzierungsmix als besser erscheinen lässt. Diese spätere Finanzierung wird nicht im Vorhinein festgelegt. Das Fehlen bindender Vorschriften für spätere Finanzierungsbedingungen aber begründet ein Marktversagen. Könnte man sich im Vorhinein wirksam binden, so würde man vielleicht festlegen, dass man das Unternehmen nach Verlusten durch eine Aufnahme zusätzlicher eigener Mittel rekapitalisiert. Das käme ex post den Altgläubigern zugute. Diese wären daher ex ante bereit, sich mit niedrigeren Zinsen zu begnügen. Bei Unternehmen außerhalb des Finanzsektors wird dieses Problem letztlich dadurch behoben, dass die Gläubiger bei den späteren Entscheidungen mitreden oder dass sie Bedingungen, sogenannte Covenants, in den anfänglichen Kreditvertrag hineinschreiben, deren Verletzung sie zur Kündigung der Kredite berechtigt. Die mit solchen Arrangements verbundenen Trittbrettfahrerprobleme im Verhältnis der Gläubiger zueinander sind relativ gering, denn es gibt nur wenige große Gläubiger, die Banken. Schauen Sie sich an, was eine Bank bei einem Hedgefonds an Eigenkapital verlangt.
PWP: Passt der Vergleich denn?
Hellwig: Ich nehme bewusst einen Hedgefonds als Beispiel, denn manche Banken sind gar nicht so verschieden von Hedgefonds. Die Deutsche Bank beispielsweise ist genau genommen ein riesiger Hedgefonds, der auch noch Bankgeschäfte betreibt, Einlagen hereinnimmt und Kredite finanziert. Was eine solche Bank einem echten Hedgefonds an Eigenkapitalunterlegung vorschreibt, das würde sie für sich selbst für absurd erklären. Aber bei der Bank selbst spielt niemand diese Rolle und verlangt, sie solle relativ mehr eigene Mittel einsetzen und weniger fremde, und sie solle nicht so hohe Risiken eingehen, die die Gläubiger treffen könnten. Soweit sie durch Staatsgarantien geschützt sind, haben die Gläubiger der Banken kein Interesse an einer solchen Intervention. Viele sind auch zu unbedeutend, um an eine solche Einflussnahme auch nur zu denken. Oder haben Sie schon einmal versucht, Ihrer Bank eine solche Bedingung zu stellen?
PWP: Nicht wirklich, wie ich gestehen muss.
Hellwig: Die Fragmentierung der Einleger und anderen Gläubigern der Banken erklärt, warum das Problem der mangelnden Bindungsfähigkeit zukünftiger Entscheidungen bei Banken stärker ins Gewicht fällt als bei anderen Unternehmen. Die Bankenregulierung ist ein Mittel, um die Folgen dieses Marktversagens zu mildern. Übrigens sorgen die Fehlanreize nicht nur für Widerstand gegen Eigenkapitalerhöhungen, sie schaffen auch eine Tendenz zu immer größerer Verschuldung. Noch 1998 lagen die Eigenmittel der großen europäischen Banken zwischen 4 und 7 Prozent der Bilanzsumme. Kurz vor der Krise lagen sie dann zwischen 2 und 5 Prozent. 1998 gab es kaum große Banken mit Eigenmittelquoten unter 4 Prozent, 2007 kaum große Banken mit Eigenmittelquoten über 4 Prozent. Die sogenannte Verdreifachung der Eigenkapitalanforderungen durch Basel III hat bewirkt, dass wir in etwa wieder das Niveau von 1998 erreicht haben. Auch darauf haben wir im Advisory Scientific Committee hingewiesen[7]. Nach der Krise hat sich nicht so viel geändert.
PWP: Und warum hat sich nicht viel geändert? Wie kann es sein, dass aus einer solchen massiven Krise keine Lehren gezogen werden?
Hellwig: Wie ich schon sagte, die Krisenbekämpfung war zu erfolgreich, als dass die Banker genügend diskreditiert wurden. Dabei erzählen die Banker viel Unsinn. So kritisierte der britische Bankenverband 2010 die Reformvorschläge des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht, die neuen Regeln würden die britischen Banken zwingen, 700 Milliarden Pfund an zusätzlichem Eigenkapital „zu halten“, das würde bedeuten, dass 700 Milliarden Pfund weniger an Krediten vergeben werden könnten. Da wurden Eigenkapitalanforderungen und Mindestreserveregeln verwechselt, das Finanzierungsinstrument Eigenkapital und die Anlageform Zentralbankgeld – ein elementarer Fehler, aber es klingt ja so überzeugend. Die Branche verwendet das Argument nach wie vor, und kaum jemand traut sich, zu sagen, dass das blanker Unsinn ist. Viele wollen das auch nicht, man will es sich mit den Banken nicht verderben, die verfügen ja über Geld!
PWP: Sie selbst empfehlen eine Eigenkapitalunterlegung von 20 bis 30 Prozent. Wie kommen Sie zu der Zahl?
Hellwig: Zunächst: die Empfehlung 20 bis 30 Prozent ist im Sinne eines Stufensystems zu verstehen, bei dem die Vorgaben für die Bank umso restriktiver sind, je weiter unten sie ist. Bei einem Eigenkapital unterhalb von 20 Prozent sollte die Bank gezwungen werden zu rekapitalisieren, zwischen 20 und 30 Prozent sollte sie dazu nicht gezwungen werden, aber Dividendenausschüttungen und Bonuszahlungen sollten untersagt sein. Man kann sich auch noch feinere Unterteilungen vorstellen. Die Idee ist, den Übergang zwischen einer Situation, in der alle Bedingungen erfüllt sind, und einer Situation, in der eine Schließung der Bank ansteht, etwas zu glätten.
PWP: Aber noch einmal: Wie begründen Sie die Zahlen?
Hellwig: Es gibt keine präzise Begründung dafür – schon deshalb nicht, weil die Bedeutung der Zahlen selbst von den Rechnungslegungsvorschriften abhängt. Wobei die Möglichkeiten, Risiken aus den Bilanzen herauszuhalten, durch Netting bei Derivaten, durch Zweckgesellschaften und Ähnliches weitgehend beseitigt werden sollten. Zur Größenordnung ist anzumerken, dass 30 Prozent der Bilanzsumme dem entspricht, was die Banken selbst an Eigenmitteln bei ihren Unternehmenskunden verlangen, auch bei Hedgefonds, die ja ähnliche Diversifizierungsmöglichkeiten haben wie Banken. Ferner entspricht die Größenordnung von 20 bis 30 Prozent der Bilanzsumme dem, was die Banken an Eigenkapital einsetzten, ehe der Staat ins Spiel kam. 1913 hatten die deutschen Großbanken eigene Mittel in Höhe von 22 Prozent, das ging bis 1920 auf 8 Prozent herunter – dazwischen mussten die Banken zur Kriegsfinanzierung beitragen. Niemand kann mir weismachen, das sei ein echtes Marktergebnis gewesen. Später, nach der Weltwirtschaftskrise, kam die Subventionierung der Verschuldung durch explizite und implizite Staatsgarantien hinzu, vor allem für Bankeinlagen, ferner die Verwendung der Banken für parafiskalische Finanzierungen, denken Sie an die deutschen Landesbanken.
PWP: Kann man die Zeit vor 1914 mit heute vergleichen?
Hellwig: Besser als die Zeit 1935 bis 1990 oder für die USA die Zeit 1935 bis 1970.
PWP: Warum das?
Hellwig: Das hohe Maß an Finanzstabilität in der Nachkriegszeit ist im historischen Vergleich außergewöhnlich. Das hatte zwei Gründe: Die Risiken waren klein, und die Wettbewerbsintensität war gering. Es gab nur geringe Zinsschwankungen, und im System von Bretton Woods waren die Wechselkurse fest. Die wenigen Wechselkursänderungen, die es gab, etwa die Pfundabwertung von 1967 oder die D-Mark-Aufwertung von 1969, boten sogar die Möglichkeit, durch fast risikolose Spekulation viel Geld zu verdienen – auf Kosten der Zentralbanken. Seit 1970 ist die Volatilität der Zinsen und Wechselkurse dramatisch angestiegen. In den siebziger und achtziger Jahren gab es enorme Zinsschwankungen, und mit dem Ende des Systems von Bretton Woods kamen auch die Währungsrisiken wieder auf die Tagesordnung. Die Zinsschwankungen brachten etliche Finanzkrisen mit sich, Anfang der achtziger Jahre in den USA, Anfang der neunziger Jahre auch in vielen europäischen Ländern. Und die Währungsrisiken taten das Ihre, von der Herstatt-Insolvenz bis zur Asien-Krise. Die hohe Inzidenz von Finanzkrisen seit 1970 markiert in gewissem Sinn eine Rückkehr zur Normalität der Zeit vor der Weltwirtschaftskrise und vor dem Ersten Weltkrieg.
PWP: Und die Regulierung?
Hellwig: In der Phase der Stabilität – 1935 bis 1970 für die USA, bis 1990 für Deutschland – war das Bankwesen nicht durch intensiven Wettbewerb geprägt. In vielen Ländern waren die Einlagenzinsen durch Regulierung oder Kartelle festgelegt. In Deutschland wurde das 1967 beendet, aber ein implizites Kartell gab es auch danach noch. Der Marktzutritt war fast überall streng reguliert. Und so konnten die Banken gute Margen verdienen. Ab 1970 änderte sich das, zuerst in den USA, wo 1975 Geldmarktfonds zugelassen wurden; in der Hochzinsphase um 1980 nahmen diese den Banken und Sparinstituten so viele Kunden weg, dass diese selbst beim Kongress auf eine Beendigung der Einlagenzinsregulierung drangen. Nach der Deregulierung waren sie zwar wieder wettbewerbsfähig, aber die Margen waren weg. Und viele Sparinstitute waren insolvent, weil sie auf die in den sechziger Jahren vergebenen Langzeithypotheken weniger Zinsen verdienten, als sie selbst zahlen mussten.
PWP: Und in Deutschland?
Hellwig: In Deutschland setzt die Margenerosion später ein, Mitte der neunziger Jahre. Zwischen 1994 und 1997 sind die Margen der Großbanken deutlich gesunken, von rund einem Prozentpunkt unter den Sparkassen auf rund einen Prozentpunkt über den Landesbanken. Die Sparkassen hatten fast durchweg Zinsmargen von 5 bis 6 Prozent (mit einer leichten Absenkung seit 1995), die Landesbanken fast durchweg von 0 bis 1 Prozent. Die Landesbanken haben noch nie richtig Geld verdient, aber seit Mitte der neunziger Jahre ist das auch den Großbanken schwergefallen.
PWP: Was ist da passiert?
Hellwig: Genau kann man das nicht sagen, weil da sehr vieles gleichzeitig lief. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass 1994 in Deutschland Geldmarktfonds zugelassen wurden, aber es gab damals auch andere Deregulierungsmaßnahmen, zum Beispiel bei den Versicherungen. Zu den Merkwürdigkeiten der Entwicklung in Deutschland gehört es, dass wir anders als andere Länder – Schweiz, USA, Schweden und so weiter – Anfang der neunziger Jahre keine Bankenkrise hatten. Ausgerechnet Deutschland mit seinem Vereinigungsboom und etlichen Fehlinvestitionen! Denken Sie an die Insolvenz Jürgen Schneiders, der von der Deutschen Bank einen Immobilienkredit bekommen hatte, bei dem in den Unterlagen von 5000 Quadratmetern die Rede war, und tatsächlich waren es nur 2000 Quadratmeter! Dass wir damals keine Bankenkrise hatten, dürfte daran gelegen haben, dass die Banken noch viele stille Reserven in den Büchern hatten, die sie auflösten, um die Verluste auszugleichen – bis die stillen Reserven erschöpft waren. Und dann legte man etliche Verluste nicht offen, sondern hoffte auf bessere Zeiten. Bei höherer Wettbewerbsintensität war diese Hoffnung allerdings vergeblich. Als man das bei der Bayrischen Hypotheken- und Wechselbank beziehungsweise bei deren Großaktionären Allianz und Freistaat Bayern merkte, „löste“ man das Problem durch eine Zwangsverheiratung mit der Bayrischen Vereinsbank. In dieser Operation fanden die Wirtschaftsprüfer die Bewertung der Hypobank schwierig, um es diplomatisch zu formulieren. Und die fusionierte Bank verkündete nur weniger Monate später, man müsse die Bücher der Hypobank für das Jahr 1997 neu schreiben, wobei 2 oder 3 Milliarden an Verlusten aus Neubewertungen von Immobilienkrediten ausgewiesen wurden. Die Strategie, stille Verluste mitzuschleppen und später mit neuen Gewinnen zu vermischen, funktionierte nicht mehr, weil die Margen verschwunden waren. Ich vermute, dass auch die sogenannte Bankenkrise von 2003 – heute weiß man noch nicht einmal mehr, dass damals das Wort gebraucht wurde – damit zu tun hatte, dass die Großbanken die Entwicklung nicht verstanden hatten und deshalb ihre Kosten nicht an die veränderte Marktsituation angepasst hatten. Das Hin und Her der Deutschen Bank mit der Bank24 gehört ebenfalls hierher: Erst tritt man die Privatkunden in den Hintern und schiebt sie ab, dann erkennt man, dass man mit denen ja Geld verdient hat, und versucht, sie zurückzuholen mit dem Versprechen, sie in Zukunft wieder gut zu behandeln. Kurz, Marktstrukturen und Marktverhalten haben sich geändert. Es ist heute für eine Bank viel schwieriger als früher, Verluste über stille Reserven oder in Zukunft kommende Gewinne zu absorbieren und zu glätten. Daher ist der Bedarf an Kapazität zur Absorption von Verlusten durch Eigenkapital heute deutlich größer als in den Jahrzehnten der Stabilität.
PWP: Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die heutige Rolle der EZB?
Hellwig: Mir ist nicht klar, ob Sie mit dieser Frage auf die Bankenaufsicht oder auf die Geldpolitik abstellen. Zur Bankenaufsicht habe ich vorher schon gesagt, dass die Europäisierung die Chance bietet, die nationalen Vernetzungen von Banken, Politik und Aufsichtsbehörden etwas aufzulösen, das heißt die Banken zu zwingen, Verluste offenzulegen, gegebenenfalls neues Eigenkapital aufzunehmen oder in ein Sanierungs- und Abwicklungsverfahren zu gehen. Ich hätte es vorgezogen, die Bankenaufsicht in einer unabhängigen Behörde außerhalb der EZB anzusiedeln, aber das hätte einer Änderung der Verträge bedurft, an die man sich nicht herantraute.
PWP: Und die Geldpolitik?
Hellwig: Hier muss man genau unterscheiden. Es ist in Deutschland üblich, den geldpolitischen Aktionismus der EZB zu verteufeln. Ich halte das für falsch. Man sollte zwischen den einzelnen Maßnahmen genau unterscheiden. Ich beginne mit der Beobachtung, dass die Geschäftsbanken ein integraler Teil des Geldsystems sind und zwar nicht nur, weil Kredite der Zentralbank an die Geschäftsbanken eine wichtige Form der Geldschöpfung sind, sondern auch, weil wir alle die Einlagen, die wir bei den Geschäftsbanken haben, als Grundlage für unseren Zahlungsverkehr verwenden. Diese Beobachtung hat seinerzeit Milton Friedman und Anna Schwartz veranlasst, als relevantes Geldmengenaggregat nicht die Zentralbankgeldmenge zu nehmen, sondern die Summe aus Bargeld und Bankeinlagen außerhalb des Banksektors. Zur Weltwirtschaftskrise schreiben sie daher, die Geldpolitik der USA sei kontraktiv gewesen, und das, obwohl die Zentralbankgeldmenge in den USA von 1929 bis 1933 um 15 Prozent angestiegen war.[8] Das nach Friedman und Schwartz maßgebliche Geldmengenaggregat war in dieser Zeit um 33 Prozent gesunken, da Banken und Nichtbanken vermehrt Zentralbankgeld nachfragten und die Bankeinlagen stark schrumpften. Eine im Sinn von Friedman und Schwartz „neutrale“ Geldpolitik hätte erfordert, dass die Zentralbankgeldmenge um 48 Prozent anstieg, um die Kontraktion der Giralgeldschöpfung bei den Geschäftsbanken auszugleichen. Da wird Aktionismus zur Grundlage einer „neutralen“ Geldpolitik, und das bei den Aposteln des Laissez-Faire! Im weiteren Verlauf haben die Monetaristen dieses Paradox verdrängt, ein weiterer Fall von prokrustianischer Amnäsie. Das Problem, dass das als relevant betrachtete Geldmengenaggregat M1, M3 oder M547 sich anders entwickelt als die Zentralbankgeldmenge, kommt ja auch nur selten vor, in der Weltwirtschaftskrise und jetzt wieder seit 2008. Für jemanden, der die Analysen der Weltwirtschaftskrise verdrängt hat, ist der Aktionismus der EZB natürlich ein Skandal. Das gilt noch mehr, wenn man sich an die Lehren Friedrich August von Hayeks hält, für den das Geldschöpfungsmonopol einer staatlichen Zentralbank an sich schon von Übel war und der die Geldschöpfung völlig in private Hände überführen wollte.[9]
PWP: Dem schließen Sie sich ja gewiss nicht an.
Hellwig: Es gibt vieles von Hayek, das ich sehr schätze, aber dieses Buch halte ich für sehr schlecht, denn es bedient den Traum von einem staatsfreien Geldsystem, ohne zu erklären, wie der Wettbewerb der Geld ausgebenden Bank genau funktioniert. Da heißt es, die Banken würden jeweils ankündigen, bezüglich welchen Warenkorbs sie den Wert ihrer Banknoten stabil halten wollten, und dann würden Reputationsmechanismen dafür sorgen, dass sie das auch tun. Er sagt sogar ausdrücklich, es gehe nicht um schuldrechtliche Verbindlichkeiten! Dass Reputationsmechanismen nicht wirken, wenn es attraktiver ist, die Bank zu plündern, wird übergangen. Auch die Probleme von Moral hazard und von Systemrisiken, wie wir sie gerade in der Finanzkrise beobachtet haben, kommen bei Hayek nicht vor. Diese Probleme haben die Tradition des „Lender of the last resort“ begründet, nicht erst jetzt, sondern schon früher, im Zuge der „Evolution des Zentralbankwesens“, wie Charles Goodhart das genannt hat.[10] Aber bei einem guten Prokrustianer wirkt der Traum stärker als die Erfahrungen.
PWP: Und was bedeutet das alles nun für die Beurteilung der EZB?
Hellwig: Die Interventionen der EZB von 2008 und 2009, auch die „Long-Term Refinancing Operation“ (LTRO) von 2011/12 entsprachen ziemlich genau dem, was Friedman und Schwartz gefordert hatten, einer aktionistischen Geldpolitik zur Neutralisierung kontraktiver Entwicklungen im Banksystem. Von 2008 bis 2013 hat sich die Zentralbankgeldmenge verdoppelt, und viele in Deutschland haben über den Aktionismus und die Inflationsrisiken geschimpft. Das Geldmengenaggregat M3 ist in dieser Zeit kumulativ um 10 Prozent gestiegen, desgleichen das Preisniveau. Das entsprach genau dem vorgegebenen Inflationsziel. Geldpolitisch ist da allenfalls zu kritisieren, dass ein Geldmengenwachstum von 2 Prozent pro Jahr bei einem Inflationsziel von 2 Prozent pro Jahr keinen Spielraum für reales Wachstum lässt. Vielleicht hätte die EZB noch expansiver sein sollen! Übrigens ist die dramatische Erhöhung der Zentralbankgeldmenge durch LTRO bis 2014, als die Turbulenzen im Finanzsektor sich wieder gelegt hatten, weitgehend wieder zurückgefahren worden, freilich ohne dass die deutschen Kritiker der EZB das wahrgenommen hätten. Ordnungspolitisch ist allerdings unschön, dass schwache, vielleicht sogar de facto insolvente Banken damals die Möglichkeit bekommen haben, sich etwas zu sanieren, indem sie das Geld, das sie zu 1 Prozent von der EZB bekamen, zu 4 oder 5 Prozent an ihre Regierungen weiterverliehen. Schwache Banken sollten sich eigentlich rekapitalisieren oder aus dem Markt ausscheiden. Die Regierungen haben aber kein Interesse, das durchzusetzen, wenn sie durch die Stützungsmaßnahmen der EZB für den Finanzsektor auf indirekte Weise an die Notenpresse kommen – wieder ein Grund für die Europäisierung von Aufsicht und Abwicklung der Banken.

PWP: Wie sehen Sie die Geldpolitik seither, das Quantitative easing und Ähnliches?
Hellwig: Die seit 2014 verfolgte Politik – „Targeted Long-Term Refinancing Operations“ (T-LTRO), Quantitative easing und negative Einlagenzinsen – halte ich für problematisch, weil diese Politik darauf abzielt, die Banken zu zusätzlicher Kreditvergabe zu veranlassen, ohne die Risiken für die Banken und für die Finanzstabililtät angemessen zu berücksichtigen. Bei T-LTRO zum Beispiel wird der Kredit der Zentralbank an die Geschäftsbank davon abhängig gemacht, dass diese ihrerseits einen Unternehmenskredit vergibt. Woher weiß die EZB, ob eine Vergabe von Unternehmenskrediten in der gegebenen Situation angebracht ist? Steht sie damit nicht auch in der Verantwortung für unternehmerische Entscheidungen der Geschäftsbank? Inwiefern verpflichtet sie sich damit, die Geschäftsbank zu unterstützen, falls die betreffenden Kredite ausfallen sollten? Negative Einlagenzinsen belasten die Profitabilität der Geschäftsbanken, das wirkt deren Sanierung entgegen. Ähnliches gilt, wenn die Zentralbank im Rahmen von Quantitative easing de facto als Wettbewerber der Geschäftsbanken auftritt, Staatsanleihen kauft und die Prämie senkt, die die Banken mit Fristentransformation verdienen können. Auch „Forward guidance“ wirkt da schädlich. Die hohen Margen bei LTRO sind ja bald verschwunden. Im Unterschied zu vielen deutschen Kritikern bestreite ich der EZB nicht das Recht, derartige Maßnahmen zu ergreifen, aber ich halte es falsch, der kurzfristigen Konjunkturbelebung die Priorität zu geben zu Lasten einer nachhaltigen Sanierung des Finanzsektors. So argumentiert auch der Wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums.[11]
PWP: Und wie bewerten Sie die deutsche Diskussion zu diesem Thema?
Hellwig: Ein großer Teil der Kritik beruht auf einem ungenügenden Verständnis des Geldwesens. Bundesbank und Bundesverfassungsgericht stellen auf die Möglichkeit ab, dass der Kauf von Wertpapieren für die Zentralbank Verlustrisiken mit sich bringt, die letztlich den Steuerzahler treffen können. Die Warnung ist in dieser allgemeinen Form Unsinn. Man übersieht, dass die Geldschöpfung selbst zunächst einmal einen Gewinn bringt. In der Zentralbankbilanz steht das ausgegebene Geld als Schuld auf der Passivseite, aber ich frage Sie: Wozu verpflichtet diese Schuld die Zentralbank eigentlich?
PWP: Letztlich zu nichts.
Hellwig: Ganz genau! Jeder Geldfälscher weiß, dass er, wenn er Blüten in die Welt setzt und für die Blüten Aktien kauft, einen Vermögenszuwachs erlebt. Wenn diese Aktien dann von einer Baisse betroffen werden, dann schrumpft der Vermögenszuwachs, aber es bleibt immer noch ein Vermögenszuwachs. Das ist bei der Zentralbank nicht anders, abgesehen davon, dass sie keine Angst vor der Polizei haben muss. Die Passivierung des Bargelds ist eine reine Konvention aus der Zeit, als es eine Pflicht zur Einlösung der Banknoten in Gold oder Dollars gab. Diese Konvention ist durchaus nützlich, denn sie hält die Begehrlichkeiten der Politik im Zaum. Wenn in dem Jahr die gesamte Neuausgabe an Zentralbankgeld als Gewinn ausgewiesen würde, dann würde sich die Politik auf diese Geldquelle stürzen. Die Passivierung bremst da ein bisschen, obwohl die meisten Politiker die Zusammenhänge auch so verstehen. Das Gerede von den Verlusten der Steuerzahler aufgrund von Offenmarktoperationen oder auch aufgrund von Krediten an Banken zweifelhafter Solvenz mit schlechten Sicherheiten geht an den eigentlichen Kosten der Geldschöpfung vorbei.
PWP: Worin besteht der nach Ihrer Meinung?
Hellwig: In normalen Zeiten steht dem Gewinn des Staates aus der Geldschöpfung ein realer Verlust bei denen gegenüber, die Geld oder andere Nominalwerte halten. Erfahrungsgemäß verursacht ein über das Wachtum der Realwirtschaft hinausgehendes Wachstum der Zentralbankgeldmenge eine Geldentwertung. Die beiden großen Inflationen, die wir gehabt haben, 1914 bis 1923 und 1936 bis 1945, sind dafür ein Beispiel. Die Möglichkeit, sich durch Gelddrucken zu Lasten der Inhaber von Geld und zu Lasten der Funktionsfähigkeit des Geldwesens zusätzliche Finanzierungen zu besorgen, ist für die Politik sehr verlockend. Gerade deshalb hat man die Bundesbank und, auf deutsches Drängen, die EZB unabhängig gemacht. Es ist geschichtsvergessen, wenn eben diese Bundesbank und das Bundesverfassungsgericht im Namen der Budgethoheit des Parlaments die Berechtigung einer unabhängigen, das heißt demokratisch nicht legitimierten Zentralbank, zur Durchführung normaler Offenmarktoperationen infrage stellen. Wobei hinzuzufügen wäre, dass eine Zentralbank als Bank agiert, für das Geld, das sie emittiert, Vermögenswerte kauft und damit bestimmten Verlustrisiken ausgesetzt ist. Was hat nicht die Bundesbank alles an Verlust auf Dollarbestände gemacht, die sie zur Unterstützung des Wechselkurses kaufte! Allerdings haben wir derzeit praktisch keine Inflation. Die drastischen Erhöhungen der Zentralbankgeldmenge seit 2014 haben nur geringe Auswirkungen auf die Preise und den Wert des Geldes gehabt. Finanzkrise und Eurokrise haben die Wirkungsmechanismen zumindest kurzfristig ziemlich durcheinandergebracht, so dass die Kosten der Geldmengenexpansion für die Besitzer von Geld kaum spürbar sind.
PWP: Und wenn sich das ändert?
Hellwig: Dann könnte das Thema Verluste allerdings akut werden. Sollte die Wirtschaftslage sich so verändern, dass das Inflationspotential, das in der bisherigen Geldschöpfung steckt, virulent wird, dann müsste die Zentralbank in Wahrnehmung ihres Preisstabilitätsmandats die Geldmengenexpansion wieder zurücknehmen. Dazu müsste sie Vermögenswerte verkaufen. Und da kann man nicht ausschließen, dass der Verkaufspreis dieser Vermögenswerte niedriger liegt als der ursprüngliche Ankaufspreis. Wenn das der Fall ist, gäbe es insgesamt tatsächlich einen Verlust für den Steuerzahler.
PWP: Wie wahrscheinlich ist das?
Hellwig: Nicht sehr. Es ist sogar sehr unwahrscheinlich, dass in einer Situation allgemeiner Inflation die Verkaufspreise der von der Zentralbank vorher akquirierten Vermögenswerte niedriger wären als die ursprünglichen Kaufpreise. Soweit die mit der restriktiveren Geldpolitik verbundenen Zinserhöhungen die Kurse der angekauften Schuldtitel sinken lassen, kann die EZB einen Ausweis von Kursverlusten für eine ganze Weile vermeiden, indem sie zunächst die früher, zu relativ niedrigen Kursen akquirierten Titel verkauft. Im Übrigen sehe ich die größere Gefahr darin, dass die Zentralbank sich gar nicht trauen wird, die Geldmengenexpansion wieder zurücknehmen. In den USA hat Ben Bernanke als Präsident der Zentralbank Ende 2013 zum ersten Mal von „Exit“, vom Rückzug aus der expansiven Geldpolitik, geredet. Prompt haben die Börsen gehustet, und er hat ebenso prompt gesagt, er habe das nicht so gemeint. Dieses Spiel hat sich mehrere Male wiederholt, bis seine Nachfolgerin Janet Yellen im Dezember 2015 zum ersten Mal die Zinsen ganz vorsichtig anhob, wonach die Börsen auch wieder drastisch reagierten. Im Juni dieses Jahres hat EZB-Präsident Mario Draghi zum ersten Mal gesagt, die Lage im Euro-Raum sei nicht mehr so schlecht, und dann gab es dasselbe Spiel wie damals bei Bernanke in den USA. In den USA ist immer noch nicht klar, wie nachhaltig die Politikwende ist bzw. sein kann.
PWP: Also Sie meinen, wir kommen aus dieser Politik überhaupt nicht wieder heraus?
Hellwig: Ich weiß es nicht, aber ich sehe da ein Risiko. Ich halte die Nullzins-Politik oder Negativzins-Politik nicht nur wegen des Drucks auf die Banken für gefährlich. Bei langfristigen Zinssätzen in der Nähe von oder gar unter null verliert das wichtigste Instrument der Finanzanalyse seine Aussagekraft, nämlich die Berechnung von abdiskotierten Gegenwartswerten zukünftiger Erträge. Bei einem Stück Land oder einem Wohnhaus – oder auch einer Unternehmensaktie – reichen die Erträge bis weit in die Zukunft, und wenn der Zinssatz, den man zum Abdiskotieren verwendet, nahe bei null liegt, dann fallen auch die weit in der Zukunft liegenden Erträge stark ins Gewicht. Es heißt ja immer, wir hätten eine Immobilienblase. Tatsächlich haben wir eine negative Blase, zumindest wenn ich eine Blase dahingehend definiere, dass der Marktwert größer ist als der Fundamentalwert der Erträge. Wenn die Fundamentalwerte „nahe bei unendlich“ liegen und die Marktpreise endlich sind, wie trifft man dann Anlageentscheidungen? Mir haben schon einige Vermögensverwalter gesagt, sie wüssten gar nicht, wie sie in dieser Situation vorgehen sollten. Anlageentscheidungen und Preisbildung an den Märkten hängen wohl von Erwartungen über die voraussichtliche Dauer dieser Zinspolitik ab, von Kreditrationierung und vielen Unwägbarkeiten, die wir nicht kennen und nicht verstehen. Das beeinträchtigt die Qualität der Kapitalallokation. Und die Umkehr der Politik birgt neue Risiken.
PWP: Welche Risiken meinen Sie?
Hellwig: Wenn der langfristige Zinssatz von Null auf 0,10 Prozent, also auf zehn Basispunkte geht, sinkt der Fundamentalwert eines langlebigen Assets von unendlich auf eine endliche Zahl. Das ist ein ziemlich großer Rückgang. Auch wenn die Marktpreise kleiner sind als diese Fundamentalwerte, liegt hierin ein Potential für sehr radikale Marktreaktionen. Das erklärt die teilweise sehr nervösen Reaktionen der Börsen auf das Exit-Gemurmel der Zentralbankiers. Im Übrigen sehe ich Risiken für alle Institute, die Fristentransformation betreiben. Laut Finanzstabilitätsbericht der Bundesbank sind in Deutschland die Zinsbindungsfristen für Hypotheken auf Wohnimmobilien deutlich verlängert worden. Eine Sparkasse, die jetzt Hypotheken zu 1 bis 2 Prozent vergibt und die Zinssätze für fünfzehn Jahre festschreibt, wird in Schwierigkeiten kommen, wenn in drei oder vier Jahren die Zinssätze auf 3 oder 4 Prozent gehen sollten. Ich glaube auch nicht, dass die Swapmärkte geeignet sind, diese Risiken über derart lange Zeiträume abzusichern. Da gibt es zu viele Gegenparteirisiken. Und je länger die Nullzins-Phase dauert, desto mehr Positionen dieser Art werden aufgebaut, desto schwieriger wird es, aus dieser Situation wieder herauszukommen. Deshalb wäre es mir am liebsten, man würde so bald wie möglich mit dem Exit aus dieser Politik beginnen. Diese Kritik liegt allerdings auf einer anderen Ebene als ein Großteil der deutschen Diskussion über die EZB. Diese wird für meinen Geschmack zu sehr von finanzwissenschaftlichen Belangen beherrscht und zu wenig von finanzwirtschaftlichen oder auch allgemeinpolitischen.
PWP: Allgemeinpolitisch? Was meinen Sie damit?
Hellwig: Die EZB hat Macht, und es ist kaum möglich, Missbräuche dieser Macht zu verhindern. Im Herbst 2010 schrieb der EZB-Präsident Trichet an den irischen Premierminister, wenn Irland im Zuge der Bereinigung der Bankenkrise die ungesicherten vorrangigen Gläubiger an Verlusten beteiligen werde, wie es der Rechtslage entsprach, so würde die EZB sich gezwungen sehen, die Liquiditätshilfen für irische Banken einzustellen. Die Einstellung der Liquiditätshilfen hätte dramatische Folgen für das irische Geldsystem und die irische Volkswirtschaft gehabt, und so beeilte sich der irische Premierminister, zu versichern, man werde die genannten Gläubiger nicht an Verlusten beteiligen, der Staat werde die Verluste übernehmen. Und so musste Irland unter den europäischen Rettungsschirm. Im Juli 2015 wurden die Liquiditätshilfen für griechische Banken eingefroren, es kam zu drastischen Beschränkungen des Zahlungsverkehrs in Griechenland, und die griechische Regierung sah sich veranlasst, den gerade gefassten Referendumsbeschluss beiseite zu schieben und neu mit den Gläubigern zu verhandeln. Ich habe keinerlei Sympathie für das Verhalten der griechischen Regierung in diesen Monaten, halte es aber für problematisch, dass die EZB die Macht, die sie über die Banken und die Geldsysteme und damit die Qualität des Lebens in den Mitgliedstaaten hat, benutzt, um die demokratisch gewählten Regierungen im Sinne der Gläubiger zu beeinflussen. In Deutschland, das ja zu den Gläubigern gehört, mag man solche Einflussnahme schön finden, aber sie passt nicht zum Prinzip des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Abgabe von Souveränitätsrechten nicht die Demokratie beeinträchtigen darf. Ich habe Bauchweh bei der Beobachtung, dass die EZB ihre Macht benutzt hat, um in Gläubiger-Schuldner-Konflikten die Interessen der Gläubiger durchzusetzen.
PWP: Das Bauchweh haben Sie aus politischen Gründen, wegen der fehlenden Legitimation.
Hellwig: Ja. Und das Problem ist in der EU größer als im Nationalstaat. Im Nationalstaat muss die Zentralbank immer befürchten, dass der Gesetzgeber ihre Unabhängigkeit aufheben könnte. Deshalb wird sie eher vorsichtig agieren. In der Europäischen Währungsunion kann die Unabhängigkeit der EZB nur durch eine Vertragsänderung aufgehoben werden, das heißt durch einstimmigen Beschluss der Mitgliedstaaten. Davon geht keine disziplinierende Wirkung aus, denn ein solcher Beschluss wird auch im Fall eines Machtmissbrauchs der EZB nicht gefasst werden, schon gar nicht, wenn dieser Missbrauch die Verteilung zwischen den Mitgliedstaaten betrifft.

Mit Martin Hellwig sprach Karen Horn, Dozentin für ökonomische Ideengeschichte und Publizistin in Zürich. Martin Hellwig wurde von Edgar Schoepal fotografiert, Karen Horn von Beatríz Barragán.
Zur Person
Höchster theoretischer Anspruch und Treue zur Familientradition der politischen Gestaltung
Martin Hellwig
Als „Bullshit-Detektor der Volkswirtschaftslehre“ hat man ihn bezeichnet[12]. In der Tat scheint der herausragende Theoretiker und penible Analytiker der Wirtschaftspolitik an wenig so viel Anstoß zu nehmen wie an dem, was er für geistige Faulheit und mangelnde Präzision hält, für Ideologie, für billige Klischees. Immer wieder schaltet sich der am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn tätige Ökonom auch in die öffentliche Debatte ein, um einfache Gewissheiten zu zerschießen und hergebrachte Legenden zu entlarven. Ob es sich um Wettbewerb oder Europa dreht, sein Urteil ist immer scharf und sein Argument nicht leicht zu kontern.
Hellwig kann diese Rolle leichterhand und mit ironischer Süffisanz spielen, aber auch in heiligem Zorn wie in seiner geharnischten Kritik am Bankgewerbe, das nach der internationalen Finanzkrise 2008 noch lange „nicht genügend diskreditiert“ worden sei. Seine Analyse der Ursachen für den Zusammenbruch ist so unerbittlich wie seine Folgerungen: Die Regulierung des Kreditgewerbes muss hochgefahren werden, und zwar drastisch; mit vorgeschriebenen Eigenkapitalquoten der Banken zwischen 20 und 30 Prozent. Sein im Jahr 2013 gemeinsam mit der Stanford-Professorin Anat Admati veröffentlichtes Buch „The Bankers‘ New Clothes“[13] hat in Wissenschaft wie Politik Furore gemacht.
Dass ein Theoretiker, der in einer ziemlich abstrakten Modellwelt beheimatet ist, sich zugleich auch derart konkret und aktiv der wirtschaftspolitischen Gegenwart und ihrer Gestaltung zuwenden mag, wie Martin Hellwig dies tut, ist nicht selbstverständlich. Um zu erfassen, wie tief die Wurzeln dieser Ausrichtung bei ihm reichen, ist es notwendig, etwas weiter auszuholen als sonst in dieser Rubrik üblich. Das der Hinwendung zur Politik zugrunde

liegende Bedürfnis und die dabei zu Tage tretende Haltung sind Martin Hellwig wohl schon im Elternhaus mitgegeben worden. Als er 1949 in Düsseldorf geboren wurde, feilte sein Vater vermutlich gerade an den Düsseldorfer Leitsätzen. Seit 1947 Mitglied der CDU, arbeitete Fritz Hellwig in den wirtschaftspolitischen Ausschüssen seiner Partei mit und zählte zu den Mitverfassern dieses wichtigen wirtschafts- und sozialpolitischen Programms der CDU für die erste Bundestagswahl, berühmt für die darin verankerte, von Ludwig Erhard maßgeblich vorangetriebene Hinwendung der Partei zur sozialen Marktwirtschaft. Fritz Hellwig, seit 1953 Abgeordneter im Deutschen Bundestag, wurde zu einem der führenden Ordnungspolitiker der Union.
Außerdem amtierte er von 1949 bis 1951 als Geschäftsführer des Arbeitskreises für die Neuordnung der Eisen- und Stahlindustrie; nach der Verkündung des Schuman-Plans unterstützte er alsbald mit einem Memorandum die Bildung eines europäischen Markts. Von 1951 bis 1959 leitete er das damals neugegründete Deutsche Industrieinstitut, das heutige Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln. Anschließend wurde der Mann, dem die Aussöhnung in Europa ein Anliegen war, zum Mitglied der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) in Luxemburg ernannt[14]. Die Erfahrungen und Anschauungen des Vaters aus dieser Zeit sind vermutlich für die Ausführungen des Sohnes unter anderem in diesem Heft nicht gänzlich ohne Belang gewesen.
Nicht nur die Themen Politik und Wirtschaft dürften seinerzeit im Hause Hellwig regelmäßige und prägende Gesprächsgegenstände gewesen sein. Vielmehr war dort das politische Denken stets in eine übergreifende geschichtliche Perspektive eingebunden. Fritz Hellwig, dessen Vater Friedrich Schulrat war und 1919 zu den Gründern der deutsch-saarländischen Liberalen Volkspartei gehörte, hatte Philosophie, Geographie, englische Philologie, Volkswirtschaft, Staatenkunde und Geschichte studiert und sich mit gerade einmal 24 Jahren als Historiker habilitiert. Fritz Hellwigs Frau Margarete war ebenfalls promovierte Historikerin; sie arbeitete einst als Chef-Archivarin der Firma Krupp. Der Sohn Martin, als einziges der drei Kinder erst in der Nachkriegszeit geboren, fühlte sich ebenfalls von der Geschichtswissenschaft angezogen. „Meine Eltern haben mir das nicht aufgedrängt. Aber ich habe viel gelesen, und sie waren natürlich immer sehr hilfreich, wenn ich Fragen hatte“, erzählt er.
Dass daraus an der Universität dann schließlich ein Parallelstudium wurde, hatte allein praktische Gründe: Die Historiker waren Teil der philosophischen Fakultät, doch dort hätte Hellwig das Fach nur mit alten Sprachen kombinieren können – „und Lehrer wollte ich nicht werden“. Der gute Rat des Vaters, dann eben die Volkswirtschaftslehre zur Geschichtswissenschaft hinzuzunehmen, ließ sich freilich wegen der Trennung der Fakultäten nur in Form eines Parallelstudiums verwirklichen. Dabei verschoben sich die Gewichte rasch in Richtung Volkswirtschaftslehre, sodass das Geschichtsstudium ohne eigenen Abschluss blieb. Nach Hellwigs Bekunden kam es einfach so, dass es für ihn in der Volkswirtschaftslehre immer einige Fragen gab, die er klären wollte, bevor er sich wirklich vertieft der Geschichtswissenschaft widmen können würde. „Das ist so bis heute“, sagt er und lacht. Dazu zählt die Frage, wieso es überhaupt dauerhaft Papiergeld geben kann, ein Phänomen, das schließlich auf nicht viel mehr als einer Konvention beruht und zwingend das solide Vertrauen seiner Nutzer voraussetzt.
Nach dem Studium in Marburg und Heidelberg legte Hellwig 1970 im Fach Volkswirtschaftslehre das Diplom ab; er schrieb seine Diplomarbeit bei Carl Christian von Weizsäcker zu der heute abermals heiß diskutierten Frage, ob der Zinssatz mehr als monetäres oder realwirtschaftliches Phänomen zu interpretieren sei. Von seinem belesenen Schüler, den er gerade einmal ein Jahr als Assistent an seinem Heidelberger Lehrstuhl halten konnte, habe er viel gelernt, erzählt Weizsäcker nicht ohne Stolz. Selbst erst 1970 zurückgekehrt von einem zweijährigen Aufenthalt am Massachusetts Institute of Technology (MIT), ließ Weizsäcker Hellwig 1972 ins amerikanische Cambridge ziehen und damit in seine Fußstapfen treten. Hellwig hatte dort, an der einflussreichsten wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Welt, einen Platz als Graduate student ergattert. Sich als deutscher Ökonom vom damaligen Sonderweg des Fachs zu lösen, sich in die viel größere, offenere und fortschrittlichere Forschungswelt der Vereinigten Staaten zu begeben und dort zu reüssieren, war damals eine Rarität – weit mehr als heute, wo sich die wissenschaftlichen Traditionen miteinander verwoben haben.
Am MIT wurde Martin Hellwig Forschungsassistent von Peter Diamond, der dann später – im Jahr 2010 – zusammen mit Dale Mortensen und Christopher Pissarides den Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt. Selbst noch sehr jung, betreuten Peter Diamond und Duncan Foley Hellwigs Doktorarbeit; darin befasste dieser sich mit sequentiellen Modellen zur Untersuchung dynamischer wirtschaftlicher Prozesse. Im Jahr 1973 ging Hellwig mit Foley nach Stanford, bevor er 1974 wieder an die Ostküste zurückkehrte und Assistant Professor of Economics an der Princeton University wurde. In seiner Forschung konzentrierte er sich zu dieser Zeit vor allem auf geldtheoretische Fragen und beschäftigte sich mit Aspekten wie der Geldnachfrage, der Kreditvergabe und der Anlagestrategie, all dies im Rahmen allgemeiner Gleichgewichtsmodelle.
Im Jahr 1977 folgte Hellwig einem Ruf zurück in die Heimat und an die Universität Bonn, wo er mit 28 Jahren der jüngste Ordinarius des Landes wurde. Er richtete sein Forschungsinteresse auf die Frage der Informationseffizienz des Kapitalmarkts, arbeitete über Wert und Neutralität des Geldes, über Kreditrationierung, Währungskonkurrenz, Marktformen und Wettbewerb. Auch öffentliche Güter und Besteuerung hatte er als Themen im Blick. Er untersuchte die Versicherungsmärkte und wie mit asymmetrischer Information umzugehen sei, mit Anreizproblemen wie Moral hazard und adverser Selektion. Im Jahr 1987 lockte es ihn, diese und andere Fragen an der Universität Basel zu vertiefen. In den Schweizer Jahren ging es ihm in seiner Arbeit immer wieder um die Kommunikationsfunktion der Finanzmärkte, um Finanzinnovationen und Risikoallokation – und um die makroökonomischen Implikationen von Kapitalanforderungen für Banken. Bevor er 1996 nach Mannheim ging, legte er ein Jahr an der Hebrew University in Jerusalem und ein weiteres in Harvard ein.
An der Universität Mannheim, bis heute einem Hort der mathematisch anspruchsvollen Ökonomie, war Hellwig an einem ideal zu ihm passenden Platz; schließlich publizierte er regelmäßig in Top-Fachzeitschriften wie Econometrica, dem Journal of Mathematical Economics, der American Economic Review und dem Journal of Economic Theory. Neben der theoretischen Durchdringung kümmerte er sich aber auch aktiv um die wirtschaftspolitische Gestaltung. Es war die Zeit seiner Profilierung als Fachmann der Wettbewerbspolitik. Hellwig wurde 1998 bis 2006 Mitglied der Monopolkommission, die einst Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) ins Leben gerufen hatte und welche bis heute die Bundesregierung in wettbewerbspolitischen Fragen berät. In den Jahren 2000 bis 2004 war er Vorsitzender der Kommission. In diesem Zusammenhang rückte nun unter anderem auch der Postmarkt in sein Visier, die Telekommunikation, der Strommarkt, das Zeitungswesen, die Bahn. Hellwig trat als Fürsprecher des „More economic approach“ in der Fusionskontrolle auf, der statt der Bindung an „Per-se-Regeln“ eine Einzelfallprüfung der Folgen eines Zusammenschlusses verlangte. Schon damals befasst er sich aber auch mit dem Phänomen systemischer Risiken und über die ihn bis heute beschäftigende Frage der gesamtwirtschaftlichen Verantwortung von Banken.
Im Jahr 2004 zog es Hellwig zurück nach Bonn; Rufe nach London und München hatte er ebenso abgelehnt wie, nach langwierigen Verhandlungen, die Nachfolge von Horst Siebert als Präsident des renommierten Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. Letztlich hatte er die Spielräume, das Institut nach seinen Interessen zu gestalten und dabei Forschung und Beratung enger miteinander zu verbinden, als nicht hinreichend empfunden. Stattdessen wurde er, neben dem Rechtswissenschaftler Christoph Engel, Direktor am neu gegründeten Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern.
Domiziliert im Bonner Stadtteil Gronau in einer Villa aus den zwanziger Jahren, in der zeitweilig das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und zuletzt die Botschaft Ägyptens untergebracht war, ist dieses Institut aus der seit 1997 arbeitenden Projektgruppe „Recht der Gemeinschaftsgüter“ hervorgegangen. Diese Gruppe verdankte ihre Existenz den Ausgleichsmaßnahmen für den Umzug der Bundeshauptstadt nach Berlin. In Bonn genoss Hellwig nunmehr die Muße, sich vor dem Hintergrund der Finanzkrise noch weiter in die Frage der Bankenregulierung zu vertiefen. Dazu passte es ideal, dass er zum Mitglied, Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzender des beratenden wissenschaftlichen Ausschusses des Ende 2010 auf Empfehlung der Larosière-Gruppe eingerichteten European Systemic Risk Board (ESRB) berufen wurde, das für die makroprudenzielle Aufsicht über das EU-Finanzsystem sowie für die Prävention des Systemrisikos zuständig ist.
Martin Hellwig ist Ehrendoktor der Universität Tübingen, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Basel. Im Frühjahr 2017 wurde er am Max-Planck-Institut pensioniert; sein Nachfolger wurde der experimentelle Ökonom Matthias Sutter. Hellwig ist dankbar, auch weiterhin ein Büro im Erdgeschoss der Bonner Villa behalten zu können. Zu tun hat er genug. Seinen neuen Status als Pensionär spürt er bisher eigentlich nur auf dem Bankkonto, wie er schmunzelnd gesteht. (orn.)
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