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Publicly Available Published by De Gruyter November 1, 2019

„Das größte Problem für die Zukunft Ostdeutsch-lands ist der zunehmende Arbeitskräftemangel“

Ein Gespräch über die Lage Ostdeutschlands dreißig Jahre nach dem Mauerfall, Erfolge und Fehler der Politik, Strukturschwächen und die Notwendigkeit von Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen

  • Joachim Ragnitz EMAIL logo

PWP: Herr Professor Ragnitz, dreißig Jahre ist es nun her, dass die Mauer fiel. Es war das Ende eines auch in wirtschaftlicher Hinsicht verheerend gescheiterten sozialistischen Experiments. Was folgte, war die Deutsche Einheit und ein tiefgreifender, schwieriger Transformationsprozess. Wo steht Ostdeutschland heute?

Ragnitz: Wenn man als Vergleichsmaßstab die Lage zu Beginn des Transformationsprozesses 1991 nimmt, dann ist ganz klar, dass Ostdeutschland in eigentlich allen wirtschaftlich relevanten Indikatoren enorme Fortschritte gemacht hat. Wirtschaftskraft, Produktivität, Einkommensniveau – das ist alles um 100 bis 150 Prozent gestiegen. Man sieht diese massiven Fortschritte unter anderem auch an der Infrastruktur, dem Aufbau eines neuen Kapitalstocks, der Umweltsituation, dem modernisierten Bildungswesen. Nach dreißig Jahren wäre es aber auch überraschend, wenn sich da nichts getan hätte. Wenn man sich den zeitlichen Verlauf genauer ansieht, stellt man allerdings fest, dass die Entwicklung nicht linear war. Es gab eine Phase sehr flotter Verbesserungen, beispielsweise von 1991 bis 1996. Das hatte damit zu tun, dass der Osten von einem sehr niedrigen Niveau kam. In dieser Aufbauphase wurden viele Unternehmen gegründet; praktisch aus dem Nichts entstand eine neue ostdeutsche Wirtschaft. Dieses rasche Aufholen brach dann Mitte der neunziger Jahre ab, und seitdem haben wir eine Entwicklung, die im Großen und Ganzen nicht viel besser verläuft als im Westen.

PWP: Ein positives Gesamtbild, und trotzdem liegt darin ein Grund zur Enttäuschung?

Ragnitz: Gemessen an den ursprünglichen Erwartungen ist der heutige Befund schon enttäuschend. Man hatte ja mal das Ziel, in den relevanten wirtschaftlichen Indikatoren zum westdeutschen Niveau aufzuholen. Das war den Leuten auch versprochen worden: „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ sollte es geben, die legendären „blühenden Landschaften“. Nun, die Wirtschaftskraft als der maßgebliche Indikator, gemessen an der Produktivität, also dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Erwerbstätigem, liegt heute bei ungefähr 80 Prozent des Westniveaus, oder gemessen am BIP je Einwohner bei ungefähr 70 Prozent, und das bei einer sehr geringen Differenzierung zwischen den ostdeutschen Ländern. Dabei würde man eigentlich vermuten, dass Sachsen und Thüringen viel besser als der Rest dastehen und Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt hinterherhinken – aber in Wirklichkeit ist das alles sehr dicht beieinander. Selbst auf Kreisebene gibt es nicht sonderlich große Unterschiede. Der Niveauvergleich zum Westen hin zeigt, dass es zumindest in der Wirtschaftskraft noch eine sehr große Lücke gibt.

PWP: Aber die umfangreichen Transfers sorgen dafür, dass die Menschen das nicht allzu sehr spüren.

Ragnitz: Ja, richtig, die wirtschaftliche Schwäche spiegelt sich fast gar nicht in den verfügbaren Einkommen der Menschen, die liegen nominal bei etwa 85 Prozent des westdeutschen Niveaus. Das hat viel damit zu tun, dass wir in Deutschland ein progressives Steuersystem haben und eben auch sonst umfangreiche Transfers, was dazu führt, dass niedrige Bruttoeinkommen netto schon etwas stärker angeglichen sind. Man muss darüber hinaus auch sehen, dass wir noch immer große Preisunterschiede zwischen Ost und West haben. Das gilt insbesondere für die Mieten, aber auch für die Preise anderer Güter. Vor allem nicht-handelbare Dienstleistungen sind im Westen deutlich teurer. Wenn man das berücksichtigt, liegt das reale Einkommensniveau der privaten Haushalte im Osten bei 90-92 Prozent des Westniveaus. Das müsste für das Ziel einer Angleichung der Lebensverhältnisse eigentlich schon genügen. In Schleswig-Holstein ist es auch nicht unbedingt viel besser. Kurz: In der Wirtschaftskraft gibt es weiterhin große Unterschiede, in den verfügbaren Einkommen eigentlich nicht mehr.

PWP: Wie sieht es am Arbeitsmarkt aus?

Ragnitz: In den neunziger und frühen zweitausender Jahren hatten wir da ein Riesenproblem; heute ist es das zum Glück nicht mehr. Heute sind die Arbeitslosenquoten von ursprünglich einmal mehr als 20 Prozent in einzelnen Bundesländern auf jetzt etwa 7,5 Prozent zurückgegangen. Es gibt da noch eine gewisse Differenzierung, aber die Quoten sind stark rückläufig, es gibt keinen großen Unterschied zum Westen mehr. Das hat allerdings primär mit der Alterung der Erwerbspersonen zu tun. Die Arbeitslosen gehen irgendwann aus Altersgründen in den Ruhestand und fallen damit aus der Statistik heraus. Das ist also ein demographischer Effekt und hat nichts damit zu tun, dass massiv neue Arbeitsplätze aufgebaut worden wären. Wir haben in den vergangenen 10-15 Jahren hier im Osten „jobless growth“ erlebt, ein durchaus starkes Wirtschaftswachstum, aber kaum Beschäftigungseffekte. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur Entwicklung im Westen.

PWP: Woran liegt das?

Ragnitz: Was die Unternehmen angeht, haben wir eine ganze Reihe an strukturellen Defiziten, zum Beispiel die Branchenstruktur, die Betriebsgrößenstruktur, das Fehlen von Unternehmenshauptsitzen. Außerdem haben wir im Ganzen eine vergleichsweise geringe technologische Wettbewerbsfähigkeit, was daran liegt, dass viele Unternehmen nicht in Forschung und Entwicklung aktiv sind und dass der Technologietransfer über die Hochschulen und andere Forschungseinrichtungen auch nicht so richtig gut funktioniert. Auch bei der totalen Faktorproduktivität gibt es deshalb einen starken Rückstand von etwa einem Viertel. Und man muss auch sehen, dass der Westen kein starres Ziel ist, auf das man sich zubewegen kann, sondern seinerseits stark wächst. Wirtschaftlicher Fortschritt wird zu einem erheblichen Umfang durch steigende Skalenerträge hervorgerufen, und die fallen in der Regel bei den Stärkeren an, das heißt im Westen.

PWP: Also hat der Westen da einen historisch gewachsenen Vorteil.

Ragnitz: Ja, das kann man so sagen. Unternehmenswachstum als Voraussetzung für die Ausnutzung von Skaleneffekten braucht Zeit, und so gesehen sind 30 Jahre einfach zu kurz gewesen. Ich habe mir einmal den Spaß gemacht, auszurechnen, wie groß der Rückstand der Wirtschaftskraft im Osten gegenüber dem Westen in Jahren gemessen ist. Anfangs, im Jahr 1991, lagen wir in Ostdeutschland noch auf dem Niveau von 1959/60; also gut dreißig Jahre zurück. Heute liegen wir auf dem Niveau von 1985, sind also faktisch sogar weiter zurückgefallen. Es gab einen starken Anstieg im Niveau, aber weil der Westen tendenziell genauso stark oder sogar stärker wuchs, ist in der Relation nicht viel passiert.

PWP: Das ist ein Rückstand von immerhin einer Generation. Das ist nicht wenig. Kann man sagen, wie bedeutend der Impuls war, den der Mauerfall, die Wiedervereinigung und damit schließlich das Zustandekommen eines größeren Wirtschaftsraums für Deutschland gehabt haben?

Ragnitz: Es ist allemal ein Vorteil für alle Deutschen in Ost und West, dass wir jetzt ein vereinigtes Land sind. Darüber dürfte es eigentlich auch keinen Dissens geben, auch wenn rund ein Drittel der Ostdeutschen hier eine andere, verzerrte Wahrnehmung hat. Der rein ökonomische Impuls für die deutsche Volkswirtschaft hingegen ist schwieriger zu beziffern. Man kann aber durchaus argumentieren, dass jegliche Integration von Wirtschaftsräumen zu Wohlstandsgewinnen führt, durch die verbesserte Arbeitsteilung, die damit verbundenen Produktivitätszuwächse und insgesamt durch ein steigendes Produktionspotential. Für den Osten war das auf jeden Fall so und die Wirkung mithin positiv – vielleicht nicht für jeden einzelnen Bürger, aber doch insgesamt. Und der Westen hat anfangs stark von dem Nachfrageboom aufgrund der Nachholeffekte aus dem Osten profitiert, ist danach aber wieder auf den alten Wachstumspfad zurückgekehrt. Das heißt, in Summe war der ökonomische Impuls jedenfalls positiv. Und auch politisch ist es nicht unerheblich, ob Sie ein Land mit 83 Millionen Einwohnern haben oder eines mit 65 Millionen. Die Rolle Deutschlands in Europa ist damit wohl auch wichtiger geworden. Aber das sind keine Kategorien, in denen ein Ökonom üblicherweise denkt.

PWP: Man hat mitunter den Eindruck, viele Ostdeutsche hegten immer noch das Vorurteil gegenüber den Westdeutschen, diese hätten nach der Wende bei ihnen alles plattgemacht. Wo kommt das her?

Ragnitz: Diese Vorurteile sind in der Tat verbreitet. Ich glaube, sie begründen sich durch negative Erfahrungen aus der Zeit nach der Vereinigung. Negative Erfahrungen werden immer höher gewichtet als positive; das Problem ist, dass sie öffentlich nicht aufgearbeitet worden sind. Und heute werden sie im politischen Prozess zum Teil auch noch ausgeschlachtet und damit gepflegt. Die Menschen sind mit sehr großen Hoffnungen in die Einheit gestartet. Die Erwartungen waren allerdings total überzogen, und das wurde von der Politik auch noch befördert, eben zum Beispiel mit dem Versprechen „blühender Landschaften“. Die Menschen konnten dann ja, wie gesagt, auch relativ schnell am westdeutschen Wohlstandsniveau teilhaben, doch sie haben nicht gleich begriffen, dass dieses Wohlstandsniveau nicht vom Himmel fällt, dass man sich an neue Bedingungen anpassen muss und dass der Konkurrenzkampf im Kapitalismus sehr viel härter ist als im Sozialismus. Hinzu kommt, dass man sich im Osten wohl auch überschätzt hat. Von der DDR-Propaganda geprägt, hielten die Bürger die ostdeutschen Betriebe für durchaus wettbewerbsfähig; der konkrete Vergleich zum Westen fehlte ihnen. Man glaubte, es würde reichen, die Produktion neu auszurichten und stärker zu diversifizieren, und dann wäre die DDR-Wirtschaft schon in der Lage, einen ähnlichen Wohlstand wie im Westen auf die Beine zu stellen. Das waren Illusionen, die spätestens mit der massiven Aufwertung der Ostmark durch die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion hätten platzen müssen. Dann kam die Vereinigung, und die gen Osten vordringenden westdeutschen Unternehmen nahmen eher wenig Rücksicht. Sie wollten sich den Markt sichern und hierfür, wo nötig, auch die Konkurrenz ausschalten. Da ist nicht alles fein gelaufen, da waren auch viele Glücksritter unterwegs, die Ostdeutschen wurden auch schon mal über den Tisch gezogen. Das alles hat sicher zu dem Vorurteil beigetragen, die „Wessis“ seien nicht etwa Freunde, sondern zum Teil einfach nur kapitalistische Ausbeuter. Dieses Vorurteil ist manchen Bevölkerungsgruppen immer noch stark vorhanden, insbesondere unter den Älteren, die sich oft als Verlierer der Wiedervereinigung fühlen.

PWP: Hat die Politik im Laufe der Einigung dann zusätzlich Fehler gemacht, die jetzt und in Zukunft noch nachwirken?

Ragnitz: Da gibt es schon einiges, was nicht optimal gelaufen ist und was man mit Fug und Recht kritisieren kann.[1] Das beginnt schon bei der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Der damals aus politischen Gründen gewählte Umtauschkurs 1:1 war aus ökonomischer Sicht ganz klar ein Fehler. Es wurde massiv Geld geschöpft, die Menschen haben dann auch noch ihre Ersparnisse aufgelöst und Westwaren gekauft – und das hat einen wahnsinnigen Nachfrageboom im Westen verursacht, begleitet von einem beschleunigten Zusammenbruch im Osten, denn niemand wollte mehr Ostwaren kaufen. 1992 war dieser rein konjunkturelle Boom dann aber vorbei und Deutschland schlitterte in die Rezession, auch weil die Bundesbank die Leitzinsen angehoben hatte, um der Inflation entgegenzuwirken.

PWP: Und die Privatisierung?

Ragnitz: Ja, auch an der Privatisierung der ehemals „volkseigenen“ Betriebe durch die Treuhand, die ich zwar insgesamt für erfolgreich halte, wird berechtigte Kritik geübt, zum Beispiel dass damit bestehende Vernetzungen zwischen den Betrieben zerstört worden sind. Ich glaube aber, dass die Unternehmen, die nicht privatisiert wurden, tatsächlich nicht privatisierbar waren und auch unter günstigeren Bedingungen hätten geschlossen werden müssen. Abgesehen davon gab es ein großes Problem mit dem Grundsatz der Rückgabe vor Entschädigung, der dazu geführt hat, dass ganz lange ein ernstes Investitionshemmnis bestand. Das wurde erst nach einigen Jahren so behoben, dass der Grundsatz in sein Gegenteil umgekehrt wurde. In der Anfangsphase konnten aufgrund dieser Rechtsfiktion aber manche Unternehmen gar nicht bauen oder mussten Standorte wählen, die für sie nicht optimal waren, was die Renditen gedrückt hat. Außerdem haben wir in der ganzen Wirtschaftsförderung wegen der damaligen Massenarbeitslosigkeit sehr stark darauf gesetzt, dass neue Arbeitsplätze entstehen, was üblicherweise bedeutet, dass die Arbeitsintensität relativ hoch und die Arbeitsproduktivität relativ gering ist. In vielen Fällen hat das dazu geführt, dass sich wenig produktive Branchen angesiedelt haben, sodass die Produktivität in der Region insgesamt gering ist. In den neunziger Jahren hat man sich dann auch noch viel zu sehr auf sozialpolitische Anpassungsmaßnahmen konzentriert und die Leute in dem Glauben gehalten, wenn sie eine ABM-Stelle annähmen, dann sei das wie Arbeit. Das hat nicht eben dazu beigetragen, dass sich die Leute mehr um Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt bemühten. Es hat vielmehr dazu beigetragen, dass das Anspruchslohnniveau der Leute relativ hoch blieb und auch dazu, dass die ABM-Teilnehmer auf dem ersten Arbeitsmarkt stigmatisiert wurden. Abgesehen davon sind die Löhne stark gestiegen, weil es Stellvertreterverhandlungen zwischen westdeutschen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaftsverbänden gab, in deren Folge die Lohnangleichung viel zu schnell war. Insgesamt gibt es somit eine ganze Reihe von politisch verursachten Faktoren, die zur Folge gehabt haben, dass sich eine Wirtschaftsstruktur herausgebildet hat, die bis heute ein stärkeres Wachstum und ein größeres Wohlstandsniveau verhindert. Der Preis sind hohe Transferleistungen von West nach Ost, bis heute.

PWP: Es gab doch mal das Konzept der „industriellen Kerne“, die es zu erhalten galt und die im Idealfall eine gewisse Strahlkraft hätten entwickeln sollen. Was ist aus denen geworden?

Ragnitz: Dieses Konzept kam Mitte der neunziger Jahre im Zusammenhang mit der Privatisierung durch die Treuhandanstalt auf. Es gab Bestrebungen in Sachsen, in Brandenburg und auch in anderen Ländern, wo man versuchen wollte, aus dem Bestand der Treuhandanstalt die besonders strukturrelevanten Unternehmen herauszulösen, sie besonders zu subventionieren und sie zu sanieren, um sie anschließend privatisieren zu können – in der Hoffnung, dass sie zu Leuchttürmen werden. Das ist weitgehend gescheitert: Man denke nur an SKET in Magdeburg oder an das Cargo-Lifter-Experiment in Brandenburg; da ist heute ein Spaßbad drin. Natürlich gibt es ein paar positive Ausnahmen, wo man mit großem finanziellen Aufwand etwas hat erhalten oder ganz neu wieder hinsetzen können. Hierzu gehören zum Beispiel die optoelektronische Industrie in Jena um Jenoptik und Carl Zeiss; in Dresden die Halbleiterindustrie um Infineon, ehemals Siemens, und Global Foundries; auch die Chemie-Industrie in Leuna und Bitterfeld; der Automobilbau mit neuen Werken von Porsche und BMW. Das ehemalige Wartburg-Werk in Eisenach gehört heute zu Opel, und VW produziert in Zwickau, also am Standort des einstigen Trabant-Werkes. Aber insgesamt sind die Erfahrungen mit der selektiven Industriepolitik, die man im Osten versucht hat, nicht wirklich positiv. Wo es geklappt hat, hat man sehr viel Geld in die Hand nehmen müssen, und das, was da heute steht, ist eben oft etwas ganz Neues. Und es gibt überhaupt nur sehr wenige große Unternehmen in Ostdeutschland.

PWP: Ist das ein Problem? Ist nicht der Mittelstand auch im Westen das Rückgrat der Wirtschaft?

Ragnitz: Ja, aber die Mischung macht es. In Ostdeutschland fehlen die großen Unternehmen, die zum Beispiel eigene Forschung betreiben oder eine hohe Exportleistung bringen und gut bezahlte Jobs anbieten. Insoweit ist die Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft trotzdem ein großes Manko, und dieses ist durch die Politik der Erhaltung industrieller Kerne in keinem Fall behoben worden.

PWP: Warum hat eigentlich immer noch kein DAX-Konzern seinen Sitz in Ostdeutschland?

Ragnitz: Die Frage kommt immer wieder, und ich frage mich jedes Mal, worin überhaupt der Wert liegen sollte, Standort eines DAX-Unternehmens zu sein. Als großes, börsennotiertes Unternehmen gibt es im Osten aber immerhin Jenoptik in Jena, die sind seit 2003 wenigstens im TecDAX gelistet. Aber ansonsten gibt es im Osten einfach überhaupt keine derart großen, selbständigen Unternehmen, dass sie in der Lage wären, einen Aktienhandel in vernünftigem Ausmaß aufzubauen. Um in den DAX hineinzukommen, brauchen Sie ja einen Mindestumsatz. Das meiste, was wir an Betrieben haben, sind Produktionsstätten von westdeutschen Konzernen. Da ist vielleicht noch die Muttergesellschaft im DAX, aber die sitzt eben nicht im Osten.

PWP: Aber warum sind die kleinen Unternehmen nicht gewachsen, sodass sie mittlerweile börsenfähig wären?

Ragnitz: Die meisten großen Unternehmen in Westdeutschland, die heute im DAX sind, sind schon vor hundert und mehr Jahren gegründet worden. Sie sind erst im Laufe der Zeit so groß geworden. Das dauert eben, aber in Ostdeutschland beginnt die Zeitrechnung in dieser Hinsicht erst 1990. Wir haben einmal eine Untersuchung zum Unternehmenswachstum im Osten und im Westen gemacht. Es hat sich gezeigt, dass die Unternehmen, die seit 1990 im Osten gegründet worden sind, in etwa genauso schnell wachsen wie die Unternehmen, die in dieser Zeit im Westen gegründet wurden.[2] Wobei ohnehin die meisten Gründungen dauerhaft klein bleiben und ein Großteil der Neugründungen die ersten Jahre nicht überlebt. Aber auf jeden Fall reicht die Entwicklung nicht aus, um die Größen zu erreichen, die man braucht, um im DAX gelistet zu werden.

PWP: Moment – die Gründungsdynamik ist dieselbe, aber doch wohl nicht die Gründungsintensität, oder?

Ragnitz: Oh nein, da muss man unterscheiden. Die Gründungsintensität, also die Gründungsneigung, wenn man so will, ist in den ostdeutschen Flächenländern tatsächlich deutlich geringer als in den westlichen.[3] Das führe ich insbesondere auf die Erfahrungen der Ostdeutschen in den vergangenen dreißig Jahren zurück. Diese Erfahrung hat es mit sich gebracht, dass man bis heute nur ungern bereit ist, Risiken einzugehen. Die Leute haben seit der Wende immer schon große Angst vor Arbeitslosigkeit, aber als Unternehmer müssten sie erst recht die fehlende Absicherung ertragen. Statt Unternehmer zu werden, was ja immer schief gehen kann, versucht man in der Regel, am besten eine feste Anstellung im öffentlichen Dienst zu bekommen. Möglicherweise spielt aber auch das tradierte Unternehmerbild in Ostdeutschland eine Rolle, das ja stark durch Schule und Elternhaus geprägt wird und damit immer noch die Ideologie der DDR widerspiegelt.

PWP: Und Rückkehrer gab es auch nicht in nennenswertem Umfang?

Ragnitz: Sie meinen, dass einstmals ostdeutsche Unternehmen wie Siemens und Audi wieder an ihren früheren Sitz im Osten zurückkehren, in diesem Fall nach Berlin und Chemnitz? Man hatte das am Anfang tatsächlich gehofft, aber das war natürlich illusorisch. Die nun schon seit vielen Jahrzehnten im Westen ansässigen Unternehmen haben ihre ganzen Fachkräfte dort, warum sollten sie die zurücklassen?

PWP: Entgegen aller Empfehlungen ist es auch nicht gelungen, Cluster zu bilden, an denen Wissenschaft und Wirtschaft verzahnt sind, sodass daraus eine neue Innovationskraft erwächst und eine Exportbasis entsteht?

Ragnitz: Die Politik hat am Anfang vor allem darauf gesetzt, die Infrastruktur auszubauen, Verkehrswege, Telekommunikation usw. Das war auch gut und richtig. Ansonsten hat man sich politisch auf die Sachkapitalförderung konzentriert. Das hat sich eigentlich erst in jüngster Zeit gedreht. Man meinte anfangs, es reiche aus, wenn man moderne Maschinen hinsetzt und damit dann auch Arbeitsplätze schafft, um das Beschäftigungsproblem zu lösen. Doch das ist nur eine nachholende Entwicklung, nichts nach vorne Gerichtetes, wirklich Innovatives. Forschung und Entwicklung hat man jedoch eher zu wenig unterstützt. Das ist auch nicht ganz einfach, denn es ist natürlich immer mit dem Problem verbunden, dass man damit lediglich den Personaleinsatz subventionieren kann und nicht weiß, was am Ende wohl an Innovationen dabei herauskommt. Jetzt hat hier aber ein Umdenken stattgefunden, und man hat auch gemerkt, dass es nicht allein auf die Forschung in den Unternehmen ankommt, sondern auf die technologische Leistungsfähigkeit. Deswegen konzentriert man sich zunehmend auch auf den Technologietransfer und den Ausbau der Hochschulen. Nur hakt die Umsetzung in die Praxis daran, dass die politischen Kompetenzen hier sehr stark zersplittert sind. Das Bundesministerium für Forschung und Wissenschaft macht die Exzellenzförderung, aber das nützt dem Osten im Zweifelsfall nichts, schon gar nicht in der Breite. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie versucht eine Breitenförderung insbesondere über das ‚Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand“, und dann sind da die regionalen Akteure, die auch noch alle irgendetwas machen, ohne dass immer ganz klar ist, an wen sich das richtet. Für meine Begriffe ist die ganze Förderlandschaft in diesem Bereich undurchsichtig, da fehlt ein Gesamtkonzept. Alle bisherigen Studien zeigen im Übrigen, dass dabei auch nicht so schrecklich viel herumkommt, denn häufig werden entsprechende Aktivitäten wieder eingestellt, sobald die Förderung aufhört.

PWP: Müssen wir befürchten, dass der Osten auf Dauer wirtschaftlich schwach bleibt?

Ragnitz: Ja. Auf jeden Fall ist es so, dass Ostdeutschland an einigen strukturellen Besonderheiten leidet, die sich so schnell nicht zum Guten wenden lassen. Wir haben schon über die Branchen- und die Betriebsgrößenstruktur gesprochen, die auch langfristig kaum veränderbar ist. Zu den strukturellen Besonderheiten gehört aber auch die Siedlungsstruktur. Ostdeutschland ist weitgehend eine ländlich geprägte Region; es gibt ganz wenige große Städte. Typischerweise sind ländlich geprägte Regionen einfach wirtschaftsschwächer, weil sie eine geringere Attraktivität für mobile Einwohner, aber auch für Unternehmen aufweisen. Wir haben einmal ausgerechnet, was noch an Unterschieden übrig bliebe, wenn sich alle Regionstypen in Ost und West voll aneinander anglichen, also die ländlich geprägten Regionen im Osten an diejenigen im Westen und die städtisch geprägten Regionen im Osten an diejenigen im Westen.[4] Die verbleibende Disparität betrüge immer noch 5 Prozentpunkte, man käme also auf etwa 95 Prozent des westdeutschen Niveaus im Osten. Das heißt, die Siedlungsstruktur spielt eine nicht zu vernachlässigende Rolle.

PWP: Damit dürfte sich ein weiteres Problem verbinden, die Abwanderung.

Ragnitz: In der Tat. In den neunziger und zweitausender Jahren hat es eine enorme und zugleich selektive Abwanderung gegeben. Im Osten hören das die Leute nicht gern, aber es ist eine Tatsache, dass gerade die jüngeren, gut qualifizierten und veränderungswilligen Bevölkerungsgruppen abgewandert sind. Es gab einen Brain-Drain, und deshalb fehlen jetzt die Eliten im Osten. Es mangelt einfach an Leuten, die in den Unternehmen für Innovationen sorgen und die Wirtschaft voranbringen könnten. Es fehlen generell die Leute, die die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben könnten. Dieser Aspekt wird massiv unterschätzt. Zur zurückliegenden Abwanderung kommt die geringe Attraktivität für Zuwanderer heute hinzu. Das gilt zwar nicht für die großen Städte wie Leipzig, Dresden und auch Jena, aber gerade in vielen ländlichen Räumen ist die Lage geradezu dramatisch, und im Ergebnis kommt eben die Entwicklung insgesamt nicht richtig voran.

PWP: Was heißt das in der Konsequenz? Noch mehr „passive Sanierung“?

Ragnitz: Die massive Abwanderung aus Regionen, die wenig Zukunftsperspektiven hatten, ist in der Tat damit einhergegangen, dass manche Standorte schlicht aufgegeben wurden. Wenn ein Drittel der Bevölkerung aus einem Ort abgewandert ist, hat man oft mangels tragfähiger Nachfrage auch das öffentliche Angebot an Schulen, Polizei usw. reduziert, was dann seinerseits die Abwanderung noch weiter verstärkt hat. Das ist nichts anderes als passive Sanierung, auch wenn das nie ein politisches Konzept war und es gewiss auch kein Politiker jemals so ausdrücken würde. Politische Maßgabe war immer die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse; man wollte offiziell die Menschen überall dort unterstützen, wo sie leben. Aber in der Wirklichkeit war es anders. Die Wirtschaftsförderung selbst ist zwar grundsätzlich standortneutral, aber auch sie hat indirekt zur Entvölkerung der ländlichen Gebiete beigetragen. Die Unternehmen sind frei in der Standortwahl, der Grundsatz der Politik war es, sie überall zu unterstützen, ganz egal wo in den ostdeutschen Ländern sie sich ansiedeln wollten. Doch für die Unternehmen waren die Städte von vornherein attraktiver, und im Ergebnis ging die Peripherie weitgehend leer aus. Die politischen Folgen sehen wir heute im Wahlverhalten der Bürger.

PWP: Sie meinen die Stärke der radikalen Ränder rechts und links.

Ragnitz: Genau. Das hat zwar nicht ausschließlich mit der tatsächlich erfolgten passiven Sanierung an vielen Standorten in der Peripherie zu tun, aber dass ganze Regionen wirtschaftlich zurückliegen und keine positiven Zukunftsaussichten haben, ist schon fatal. Die Gefahr einer politischen Radikalisierung war eigentlich schon länger absehbar. Dass man jetzt hektisch versucht, mit politischen Maßnahmen gegenzusteuern, wird nichts bringen. Es kommt zu spät, und die Leute durchschauen längst, dass man sie damit „kaufen“ will. Besser wäre es, ehrlich mit den Menschen umzugehen.

PWP: Wie kann es denn dann in Zukunft weitergehen?

Ragnitz: Mein Kollege Reint Gropp vom IWH sagt ja mehr oder minder laut, man müsse die passive Sanierung nicht rückabwickeln, sondern im Gegenteil noch verstärken. Man müsse großflächig ganze Regionen im Osten aufgeben. Ich würde nicht so weit gehen. Aber ich halte es auf jeden Fall auch für richtig, die Wirtschaftsförderung, die Ansiedlung von Unternehmen, die weitere Verbesserung der Infrastruktur stärker auf zentrale Orte zu konzentrieren. Aber anders als Reint Gropp zähle ich dazu nicht nur die großen Städte und ihr direktes Umland, also zum Beispiel Leipzig, Dresden und Berlin, sondern auch kleinere Städte wie Weißenfels, Altenburg oder Delitzsch, Städte mit immerhin noch 25.000 bis 30.000 Einwohnern. Für ihr jeweiliges Umland spielen auch diese Mittelstädte als Ankerpunkte eine große Rolle, sie sind aber zum Teil in einem beklagenswerten Zustand, was Stadtbild und Unternehmensansiedlung angeht. Um sie muss man sich kümmern. Es wird dann trotzdem in den kommenden Jahren einzelne Siedlungen geben, die aufgrund der negativen Einwohnerentwicklung nicht mehr zu halten sind und einfach verschwinden werden. Das weiß eigentlich auch jeder, der sich damit befasst, aber wenn Sie das laut sagen, setzt es Prügel.

PWP: So etwas kann man ja auch nicht verordnen, oder?

Ragnitz: Aus planerischer Sicht wäre es schon besser, wenn man da einen geordneten, halbwegs gesteuerten Prozess organisierte und es nicht bloß dem Zufall überließe, wenn also nicht gerade diejenigen Orte eingingen, wo die verbliebenen Leute als erstes sterben. Aber ich akzeptiere das Argument, dass es sich kaum legitim begründen lässt, wenn eine Behörde oder sonst ein Dritter darüber befindet, welches Dorf geschlossen wird und welches nicht. Darauf habe ich auch keine Antwort. Aber man muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass wir in den nächsten Jahren 20 Prozent weniger Einwohner haben werden und dass gleichzeitig der Trend zu einem Zuzug in die Städte anhält, was bedeutet, dass es Siedlungen geben wird, die nicht mehr aufrecht erhalten werden können. Es ist besser, sich heute schon darauf einzustellen, als um jeden Preis zu versuchen gegenzuhalten.

PWP: Sie haben dafür geworben, aktiv Zuwanderer anzulocken, wenn nicht aus dem Westen Deutschlands oder der Europäischen Union, dann eben darüber hinaus. Politisch dürfte das nicht so ganz leicht werden.

Ragnitz: Ja, das sollte provozieren, aber es war gleichzeitig auch sehr ernst gemeint. Das größte Problem für die Zukunft Ostdeutschlands ist wirklich der zunehmende Arbeitskräftemangel. Es geht dabei nicht nur um Fachkräfte, sondern wir werden in naher Zukunft im Osten in allen Bereichen zu wenige Arbeitskräfte haben. Wir haben derzeit noch eine Arbeitslosenquote von 7 Prozent, und sie wird noch weiter sinken. Wir haben schon vor fast 10 Jahren darauf hingewiesen, dass wir uns der Vollbeschäftigung nähern und dann irgendwann Produktionseinschränkungen hinnehmen müssen.[5] In den nächsten Jahren geht die Zahl der Erwerbsfähigen noch weiter zurück, nicht mehr alle Arbeitsplätze können besetzt werden; die Einwohner sind aber noch da, nur befinden sie sich im Ruhestand. Das führt dazu, dass die Produktion stärker zurückgeht als die Einwohnerzahl, und damit wächst das Pro-Kopf-Einkommen nicht mehr oder schrumpft sogar. In aktuellen Projektionsrechnungen[6] bis 2035 haben wir gesehen, dass Sachsen, das derzeit gut 70 Prozent des Westniveaus hat, auf 80 Prozent bis 2035 kommt, womit aber immer noch eine Lücke verbleibt; Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern hingegen werden von derzeit 70 Prozent leicht zurückfallen. Das heißt, die Schere schließt sich nicht, sondern geht in Teilen sogar weiter auseinander.

PWP: Was kann man tun?

Ragnitz: Man kann einerseits versuchen, den Produktivitätsfortschritt massiv anzutreiben. Der Produktivitätsfortschritt, den man bräuchte, um das Niveau wenigstens der strukturschwachen Westländer zu erreichen, läge in Ländern wie Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt aber beim Dreieinhalbfachen des historischen Werts. Das zu erreichen, ist faktisch ausgeschlossen. Dann könnte man noch versuchen, mit Zuwanderung dagegenzuhalten. Aber da, obwohl sie dürften, die Zuwanderer aus dem Westen Deutschlands und aus der EU nicht kommen, zum Beispiel weil die Löhne niedrig sind und die Netzwerke unergiebig, dann muss man sich halt verstärkt um Menschen aus Drittländern bemühen. Es ist wichtig, dies in die Köpfe der Politiker, aber auch der einheimischen Bevölkerung hinein zu bekommen: Leute, Ihr müsst Euch daran gewöhnen, dass hier künftig mehr Ausländer aus ganz anderen Kulturkreisen leben. Die Politik sollte sich aktiv darum bemühen und sie ganz gezielt anwerben.

PWP: Für wie realistisch halten Sie das, was Sie da vorschlagen?

Ragnitz: Es wird vermutlich nicht so kommen; in der Politikberatung kann man sich ja den Mund fusselig reden. Aber ich finde es wichtig, die Option aufzuzeigen und auf die Gefahren hinzuweisen, die durch Nichthandeln entstehen. Von der Politik würde ich mir wünschen, dass sie diese Möglichkeit zumindest berücksichtigt.

PWP: Könnte man im Osten nicht auch etliche Standorte attraktiver machen, wenn die Kommunen mehr Finanzautonomie hätten? Ein leuchtendes Beispiel, was auf kommunaler Ebene zu schaffen ist, ist die Stadt Monheim in Nordrhein-Westfalen, einst hoch verschuldet, wo vor zehn Jahren ein neuer, junger Bürgermeister die Gewerbesteuerhebesätze drastisch gesenkt hat, um mehr Unternehmen anzusiedeln. Das ist gelungen, und seither ist die Stadt aufgeblüht und ausgesprochen wohlhabend.

Ragnitz: Grundsätzlich bin ich sehr dafür, den Kommunen mehr Finanzautonomie zu geben – und das nicht nur im Osten. Das müssen Sie, wenn, dann schon bundeseinheitlich machen. Derzeit haben wir ja das Problem, dass die Gemeinden und auch die Länder so gut wie keine Möglichkeiten haben, ihre Einnahmen selbst auszugestalten. Das einzige, wo man ansetzen kann, ist die Grunderwerbsteuer auf Länderebene, und es sind eben die Hebesätze der Grundsteuern und die Gewerbesteuern auf kommunaler Ebene. Aber das ist alles sehr beschränkt und wird im Nachhinein über den Finanzausgleich auch wieder nivelliert. Insofern wäre es gut, wenn die Kommunen ein Zuschlagsrecht auf die Einkommensteuer hätten und damit einen Anreiz, etwas für ihre Unternehmen und ihre Bürger zu tun. Und wichtig ist es wohl auch, dass die Kommunen nicht so stark mit Ausgaben belastet sind, die sie nicht wirklich beeinflussen können – also vor allem die vom Bund festgelegten Sozialausgaben.

PWP: Der Solidarpakt läuft jetzt Ende des Jahres aus. Wenn es einen Solidarpakt III gäbe, was müsste der Bund mit den Mitteln machen, wenn er ganz gezielt den Osten fördern wollte?

Ragnitz: Einen Solidarpakt III wird es nicht geben, zumindest nicht unter diesem Namen, das ist politisch ausgeschlossen und ist angesichts einiger strukturschwacher Regionen im Westen auch nicht länger gerechtfertigt. Aber die Ostländer haben in den Verhandlungen über den Finanzausgleich ja eine weitgehende Kompensation ausgehandelt. Und auch die Mittel, die nun im Rahmen des Braunkohleausstiegs fließen werden, sind etwas ähnliches wie der Solidarpakt, zumal davon auch ganz erhebliche Teile Ostdeutschlands profitieren. Der jetzt auslaufende Solidarpakt II, wie er war, enthielt Mittel für Infrastrukturinvestitionen der Länder. Der Bund hatte seinen „Korb II“, und auch was aus diesem floss, ging in Investitionen. Es waren jedenfalls alles investive Verwendungen. Nun kann man argumentieren, dass es im Osten mittlerweile gar keine Investitionslücke mehr gibt, dass der Staat im Gegenteil in manchen Regionen sogar schon zu viel investiert hat. Insofern ist dies, um den Aufbau Ost voranzubringen, sicherlich nicht das Mittel der Wahl. Wenn man etwas für den Osten tun will, dann darf man nicht zuerst über die Höhe der Mittel reden, sondern darüber, was man mit dem Geld anfangen will. Also: was hilft dem Aufbau Ost?

PWP: So war die Frage auch gemeint.

Ragnitz: Da würde ich alles nennen, was mit Forschungsinfrastruktur zu tun hat, und mit Bildung. Gerade im Bildungsbereich haben wir, was die Politik im Osten immer nicht so recht wahrhaben will, riesige Probleme. In den Pisa-Studien stehen die meisten ostdeutschen Länder zwar recht gut da, aber auch die Zahl der Schulabbrecher ist überall sehr hoch. Ansonsten bin ich überfragt, was man noch machen könnte, um dem Osten gezielt zu helfen – die „bequemen“ Maßnahmen sind alle schon ausprobiert worden, die „unbequemen“ Maßnahmen wie echte Sonderwirtschaftszonen oder dergleichen[7] will man nicht. Aber bei den Mitteln, die auf die Empfehlungen der Braunkohlekommission zurückgehen, geht es primär darum, viel Geld in den Osten zu schütten. Da wird es wieder darum gehen, die Infrastruktur auszubauen und Bundeseinrichtungen anzusiedeln. Ich glaube nicht, dass das viel hilft. Wenn Sie sich die Vorschlagslisten der Länder einmal genauer anschauen, dann sehen Sie, dass da auch viele Regionen und Projekte unterstützt werden, die mit der Braunkohle wenig zu tun haben und wo unklar ist, was das für die Regionalentwicklung bringt. Und wenn es darum geht, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse anzusteuern, dann klappt das wohl am ehesten mit einem gesamtdeutschen Fördersystem. Egal, wie dessen Verteilungsindikatoren sein werden, wird davon wohl auch überwiegend der Osten profitieren. Vermutlich wird es dann wohl auch noch eine Gemeinschaftsaufgabe für Regionen im demographischen Wandel geben, wovon dann auch wieder der Osten profitiert. Aber noch einmal: Viel wichtiger ist es, sich vorher zu überlegen, was man damit finanzieren will. Und ich halte es ja ohnehin für mehr oder weniger ausgeschlossen, dass es zu einer schnellen Angleichung der Lebensverhältnisse überhaupt noch kommen kann, solange das eigentliche Problem im Arbeitskräftemangel liegt.

PWP: Ergibt es denn überhaupt Sinn, eine Förderpolitik spezifisch auf den Osten auszurichten?

Ragnitz: Einen spezifischen Bedarf für eine Förderung des Ostens sehe ich eigentlich nicht mehr. Es gibt auch im Westen Regionen, denen es nicht gut geht. Man sollte grundsätzlich eine Politik betreiben, die gleich schlecht gestellte Regionen in Ost und West auch gleich behandelt. Das heißt aber, dass man belastbare Kriterien braucht, um die Bedürftigkeit zu erfassen. Wir haben dafür neue Indikatoren für die Förderung in der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur” (GRW) entwickelt[8]; wir schauen auf Arbeitslosigkeit, Produktivität, Infrastruktur und Bevölkerungsprognose. Mit diesen Indikatoren jedenfalls kommt heraus, dass neben den Ruhrgebiets-Städten im Westen überwiegend die ostdeutschen Regionen förderungswürdig sind. Insofern verändert sich wenig an der Verteilung der Gelder. Aber ob das am Ende zur „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ führt? Schon mit diesem Ziel kommt man nach meiner Einschätzung rasch auf dünnes Eis. Es ist ganz schwierig, eine solche Bewertung vorzunehmen. Klar, Basisleistungen der Grundversorgung muss es flächendeckend geben, aber alles darüber hinaus ist über den Finanzausgleich zu regeln, nicht über Förderprogramme. Außerdem gilt doch auch, dass es gut ist, verschiedene Lebensverhältnisse und damit eine Auswahl zu haben: Wer ein Opernhaus in seiner Nähe braucht, der geht in die Stadt, und wer lieber ein großes Grundstück haben will, der zieht aufs Land. Vielfalt ist doch etwas Gutes.

Das Gespräch führten Karolin Herrmann und Karen Horn. Joachim Ragnitz wurde von Andreas Müller fotografiert, Karolin Herrmann von Rainer Mielke und Karen Horn von Beatríz Barragán.

Zur Person

Strukturwandel, Demographie und öffentliche Finanzen im Osten

Joachim Ragnitz

Joachim Ragnitz, geboren 1960 am westlichen Rand von Niedersachsen, in Nordhorn an der Grenze zu den Niederlanden, kann sich heute nicht mehr vorstellen, in Westdeutschland zu leben. Einerseits liegt das an seinen familiären Wurzeln – der Vater, ein Lehrer, stammte aus Ostpreußen, die Mutter aus Mecklenburg. „Für ich gab es schon in meiner Jugend zu Ostdeutschland immer auch eine emotionale Nähe“, sagt er. Andererseits hat es aber auch etwas damit zu tun, dass er schon 25 Jahre in Ostdeutschland lebt. Er fühlt sich derart heimisch, dass er gar nicht mehr weg will, auch nicht später, nach der Pensionierung. „Westdeutschland ist mir fremd geworden“.

Zur Volkswirtschaftslehre war Ragnitz mehr oder weniger durch Zufall gekommen. So recht wusste er Anfang der achtziger Jahre noch nicht, was er einmal werden wollte – aber Bundeskanzler Helmut Schmidt beeindruckte ihn schwer, und der war ja schließlich Ökonom. „So wie er die Welt erklären konnte, das wollte ich auch können“, erzählt er. Außerdem erschien ihm das Fach sehr vielfältig in den beruflichen Möglichkeiten, die es eröffnete. Also probierte er es an der Universität Köln aus und stellte rasch fest, dass es ihm tatsächlich gut lag. Nach dem Diplom bot ihm dann der für sein striktes ordnungspolitisches Denken berühmte Ökonom Hans Willgerodt eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik an; „Allerdings mit der Auflage, binnen zwei Jahren eine Dissertation abzuschließen, weil er dann emeritiert wurde“. Der Plan war sportlich, doch er gelang, auch wenn die Ausführung „eine Tortur“ war, wie sich Ragnitz erinnert. Mit einer Arbeit zu internationalen Kapitalströmen wurde er 1989 promoviert. Der Name seines Doktorvaters Willgerodt fällt auch als erstes, wenn man Ragnitz nach den Wissenschaftlern fragt, die ihn seinerzeit geprägt haben; daneben nennt er auch die Kölner Finanzwissenschaftler Klaus Mackscheidt und Karl-Heinrich Hansmeyer sowie der Statistiker Karl-August Schäffer.

Eine Habilitation reizte ihn damals nicht sonderlich: „Bloß nicht noch so ein Buch schreiben!“ Doch es ergab sich die Möglichkeit für Ragnitz, seine an der Aktualität orientierten wirtschaftspolitischen Interessen im wissenschaftlichen Mitarbeiterstab des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in

Wiesbaden weiterzuverfolgen und dabei seine Kenntnisse in der empirischen Wirtschaftsforschung auszubauen und zu vertiefen. Es war eine wichtige, hochspannende Zeit: Die Mauer fiel 1989, zur Deutschen Einheit kam es 1990, und fortan stellte sich die drängende Frage, wie die notwendige Systemtransformation im Osten zu gestalten sei.

Als Rüdiger Pohl, Mitglied des Sachverständigenrats, im Jahr 1994 von der Fernuniversität Hagen an die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und an das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) wechselte, ging Ragnitz mit und wurde dort Abteilungsleiter. Das Institut war 1992 auf Empfehlung des Wissenschaftsrats gegründet worden, mit der Absicht, eine in der ostdeutschen Forschungslandschaft klaffende Lücke zu schließen und zugleich der Transformationsforschung eine wissenschaftliche Heimat zu geben. Es war zunächst in Berlin ansässig, wobei die meisten Mitarbeiter noch aus dem früheren ökonomischen Forschungsinstitut der staatlichen Plankommission der DDR stammten und der neuen westdeutschen Leitung sehr misstrauisch gegenüberstanden. Zum Jahresbeginn 1994 fand dann als Ergebnis des beharrlichen Drängens von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher der Umzug in dessen Heimatstadt Halle statt, und es begannen mühsame inhaltliche wie auch personelle Anpassungen. „Vor allem das erste Jahr war eine schreckliche Zeit“, erinnert sich Ragnitz, nicht zuletzt deshalb, weil die Mitarbeiter nur notdürftig alle miteinander in einem verkommenen Wohnheim untergebracht werden konnten. Doch die anfänglichen Schwierigkeiten ließen sich allmählich überwinden, und das neue Institut etablierte sich zusehends in der deutschen Forschungslandschaft und Politikberatung.

Nach dem Rückzug Rüdiger Pohls 2003 und unter der neuen Leitung durch Ulrich Blum von 2004 an kam es im IWH noch einmal zu einer Neuausrichtung und zu tiefgreifenden organisatorischen Umbauten. Schließlich beschloss Ragnitz, dass es Zeit für einen Wechsel sei. Mittlerweile tief in der anwendungsorientierten Ostdeutschlandforschung verwurzelt, spezialisiert auf die Themen Strukturwandel, Regionalentwicklung, Demographie und öffentliche Finanzen, bot sich für ihn die Dresdner Niederlassung des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung förmlich an. Das kleine, heute etwa 15 Mitarbeiter zählende Institut besteht seit dem Jahr 1993. Es war auf Betreiben und unter Nutzung der Kontakte des damaligen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf gegründet worden, in bewusster Konkurrenz zum IWH. Es ist ebenfalls auf die Belange Ostdeutschlands fokussiert, freilich mit einem besonderen Augenmerk auf Sachsen. Zu den Themenfeldern gehören Konjunktur und Wachstum, Humankapital und Strukturwandel, Standortwettbewerb, Arbeitsmarkt und Sozialpolitik, Demographie, öffentliche Finanzen und Wirtschaftsförderung. Anfangs übernahm ifo Dresden, formal eine Abteilung des Münchner Instituts, auch noch gleichsam die Rolle einer Grundsatzabteilung für das sächsische Wirtschaftsministerium. Noch heute spielt in der Arbeit des Instituts die Beratung politischer Entscheidungsträger eine herausragende Rolle.

Seit 2007 bildet nun Joachim Ragnitz zusammen mit Marcel Thum, der an der Technischen Universität Dresden eine Professur für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft innehat, die Doppelspitze des Ifo Dresden. Thum ist hauptberuflich an der Universität tätig und kümmert sich daneben als Leiter des Instituts im Rahmen einer Teilzeitstelle vor allem um die wissenschaftliche Qualitätskontrolle und die Promotionen, während Ragnitz als stellvertretender Leiter hauptberuflich am Institut arbeitet und sich der Projektarbeit sowie der administrativen Dinge annimmt. Als Honorarprofessor lehrt er zudem an der TU Dresden, angedockt an Thums Lehrstuhl.

Dass er aus der Sicht der Ostdeutschen trotz seiner ererbten familiären Verbindungen in den Osten ein „Wessi“ ist, kann Ragnitz meistens ausblenden. Manchmal halte man ihm das zwar noch vor, sagt er, besonders wenn er sich auf provozierende Weise in den Medien äußere, was ihm durchaus ab und zu Vergnügen bereite. Erst kürzlich hat er das wieder getan, mit dem Hinweis, dass man angesichts der Entvölkerung des Ostens, die sich zu einer Bremse der Wirtschaftskraft entwickele, über das aktive Anwerben von Zuwanderern aus dem nicht-europäischen Ausland nachdenken müsse. „Aber im Alltag“, versichert er, „gibt es das Ost-West-Denken gar nicht mehr“. (orn.)

Online erschienen: 2019-11-01
Erschienen im Druck: 2019-11-18

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 7.12.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pwp-2019-0033/html
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